Neuntes Kapitel
Jonny war ein junger Mann, der sich neben den Wandschrank niederkniete und in einem kostbar wirkenden ledernen Etui eine unglaubliche Fülle derber und feiner Instrumente ausbreitete.
»Er ist ein Künstler«, sagte Kischkewitz stolz.
»Wie soll ich es machen?«, fragte Jonny seinen Chef.
»Am besten ohne jede Schramme«, antwortete der.
»Das dauert dreißig Sekunden länger«, stellte Jonny fest. Er nahm ein kleines Gerät, das so aussah wie eine feine Spirale, aus dem Etui, setzte mit einer Pinzette irgendeine metallene Winzigkeit auf den Kopf der Spirale und sagte: »Seid jetzt mal ruhig.«
Mittlerweile hatten sich sechs oder sieben Leute eingefunden, die mit Verblüffung auf die Szene starrten. Unter anderem Vera, die sich zu mir hinbewegte und meinen Arm festhielt. »Was ist das?«, flüsterte sie.
»Vermutlich der Schrank dieses Haushaltes«, murmelte ich zurück.
»Okay«, sagte Jonny zufrieden. »Aufmachen?«
»Aufmachen«, nickte Kischkewitz.
Jonny zog ganz vorsichtig und die Tür ging auf.
Es befanden sich sämtliche Herrlichkeiten darin, die die Kommission erwarten durfte, um die Frage zu beantworten, wie denn das Leben in dieser Bude ausgesehen haben könnte.
»Heiliger Strohsack«, stöhnte jemand.
»Das ist ja irre«, seufzte Vera.
»Nichts anrühren«, befahl Kischkewitz. »Nichts anfassen. Stück für Stück rausnehmen, auf Fingerabdrücke achten, nummerieren, in Plastiktüten packen, ab in den Laborwagen. Und damit ihr euch nicht gegenseitig behindert, nimmt Vera mit ihren empfindsamen Hausfrauenhänden die Sachen raus. Und du, Gerald, du nimmst sie an und stellst sie weg. Und jemand vom Laborwagen soll kommen und uns sagen, was er wie zuerst haben will.« Er kicherte vor Aufregung. »Das ist wie Weihnachten, nur viel schöner.«
Der Schrank war in vier Lagen unterteilt, die Bretter waren lang und dick. Unten befanden sich Bettwäsche, Kopfkissen, Bettdecken, dazu ein Stapel frischer, ungebrauchter Wäsche. Darüber in dem Fach standen Geschirr, Tassen, Teller, ein Kasten mit Besteck. Dazu Konserven aller Art, von Würstchen bis Artischockenherzen, sicherlich mehr als vierzig Dosen. In der Abteilung darüber war alles, was Frau und Mann im Badezimmer brauchen, von der Rasierseife über Aftershave bis hin zur Tagescreme für die selbstbewusste Dame. Im Fach ganz oben fand sich alles, was ich in der so sauberen Toilette vermisst hatte. Und der Stapel frischer Trockentücher fehlte auch nicht.
»Das ist wirklich erstaunlich«, sagte Emma. »Nun können wir Abschied nehmen von der bösen, bösen Windenergie und dreckigen Politik. Jetzt ist es nur noch eine stinknormale spießbürgerliche Geschichte.«
»Da wäre ich vorsichtig«, murmelte Kischkewitz. »Wilma Bruns ist todsicher nicht ins Moor geworfen worden, weil sie hier mit Driesch in den Betten rummachte.«
Es war still.
»Du hast Recht«, nickte Emma. »Ich habe nicht an Wilma gedacht.«
»Das solltest du aber«, mahnte er. »Würdest du bitte deinen Mann aktivieren?«
»O ja, natürlich«, sagte sie und ging hinaus auf die Straße.
»Dann will ich mal arbeiten«, seufzte Vera und fragte mich: »Sehe ich dich noch?«
»Ich gehe jetzt schlafen«, erwiderte ich. »Ich biete dir den Platz neben mir, wenn du anschließend nicht schimpfst und erklärst, im Grunde sei jede Beziehungskiste nutzlos und sowieso scheiße.«
»Ich werde mich daran halten.« Sie war verlegen. Und um diese Verlegenheit zu überwinden, setzte sie hinzu: »Vielleicht bist du für eine deutsche Beamtin sowieso untragbar.«
»Das wird es sein«, sagte ich.
Sie nahm einen Block und rief energisch: »Wo bleibt der Kerl aus dem Laborwagen, verdammt noch mal?«
Rodenstock erreichte das Gelände, ich beobachtete, wie Kischkewitz ihn entdeckte und dann auf ihn zurannte, als würde Rodenstock das Ende aller Qual bedeuten.
»Hast du gehört? Baumeister hat einen Schrank entdeckt. Es war die perfekte Absteige.«
»Ja, ja«, erwiderte Rodenstock und war ganz der Großvater, der vor Unbesonnenheiten mahnt. »Es fragt sich jetzt bloß, was wir damit anfangen, nicht wahr? Wir wissen, dass Driesch hier war. Aber wir haben keine Ahnung, wer die Frau gewesen ist. Also stehen wir vor der nächsten Mauer.«
Emma näherte sich mir aus dem Dunkel jenseits der grellen Fluter. Sie nahm meine Hand und zog mich mit sich fort. »Ich muss einfach reden«, sagte sie. »Ich weiß, dass du kaputt bist, aber zehn Minuten vielleicht.«
»Was quält dich denn?«
»Ich verstehe diesen Driesch nicht. Stell dir vor, wir hätten heute die Nacht von Sonntag auf Montag ... Gut. Also, ich bin Driesch, ich bin hier in dieser heimlichen Bleibe oder Bude. Ahne ich, dass mich jemand töten will? Und wenn ich das ahne, warum will jemand mich töten? Ich bin mit der Frau in diesem Raum, liege auf den Wasserbetten.« Sie kicherte. »Ganz schön raffiniert, nicht wahr? Sie konnten es nicht riskieren, Betten zu kaufen und in das Haus tragen zu lassen. Sie kauften schlaffe Plastiksäcke, in die sie nur Wasser zu füllen brauchten. Niemandem fiel das auf ... Nun gut, nehmen wir an, ich bin Driesch und ich habe keine Ahnung, dass ich getötet werden soll. Ich fühle mich sicher. Niemand kennt dieses Versteck, niemand hat einen zweiten Schlüssel. Jetzt klopft es. Draußen steht der Mörder. Öffne ich? Öffne ich nicht? Und wo klopft der Mörder?«
»An der Tür zum Laufenbach«, sagte ich.
»Wieso dort?«
»Weil ich Driesch bin, weil ich plötzlich weiß, dass ich getötet werden soll. Ich bin Driesch, renne die Straße entlang. Der Mörder hat das gehört, geahnt, was weiß ich. Er rennt hinterher und schießt. Er trifft nicht. Es ist schwer, mit einer Flinte im Laufen zu schießen, treffen ist fast unmöglich. Ich bin Driesch, ich renne. Ich renne eine ganze Weile, dann gelingt es mir, einen Haken zu schlagen, und der Mörder verliert mich, er muss mich suchen. Ich bin Driesch und ich will dorthin zurück, woher ich kam. In diese Wohnung. Warum will ich das?«
»Weil ich für die Frau da sein will, die ich hier zurückgelassen habe«, sagte Emma. »Ich komme auf die Idee, im Fluss zurückzugehen. Ich nehme an, dass der Mörder nicht damit rechnet. Also steige ich weit oberhalb, meinetwegen ungefähr dort, wo die Glashütte ist, in den Fluss. Ich bewege mich vorsichtig flussabwärts. Ich gehe davon aus, dass der Mörder irgendwo in den Straßen nach mir sucht, während ich im Schutz der Dunkelheit auf diesem ungewöhnlichen Weg am Mörder vorbeikomme und die Wohnung erreiche. – Wo liegt jetzt mein Denkfehler?«
Ich überlege einen Moment. »Dein Denkfehler ist der, dass du den Fluss für einen ungewöhnlichen Weg hältst und dass du annimmst, der Mörder würde nicht auf die Idee kommen.«
»Aber er kommt drauf«, murmelte Emma nachdenklich.
»Viel schlimmer. Er kommt nicht nur drauf, sondern er stellt sich darauf ein. Denk an diese dreißig Minuten zwischen den Gewehrsalven. Du schlägst einen Haken, du versteckst dich, du bewegst dich an irgendeiner Stelle zum Flussufer hin. Du lässt dir Zeit, du gehst ganz vorsichtig, Schritt für Schritt. Und in Wirklichkeit sucht der Mörder dich gar nicht. Er steht irgendwo im Schutz einer Hauskante und wartet. Er geht davon aus, dass du zurückkehrst. Dann marschierst du im Wasser an ihm vorbei und er setzt sich wieder hinter dich. Du bemerkst ihn und fängst an zu rennen, aber du hast keine Chance mehr.«
»Und die dritte Person, die die Zeugen gesehen haben, das war also die Frau, die mit ihm in der Wohnung war?«
»Das nehme ich an«, nickte ich.
»Und wenn es doch Wilma Bruns war? Wenn die beiden ein perfekt verstecktes Verhältnis hatten?«
»Das glaube ich nie und nimmer. Dann hätte Wilma sich anders verhalten. Nein, nein, nicht Wilma.«
»Was ist mit Annette von Hülsdonk?«, fragte Emma.
»Unwahrscheinlich«, sagte ich. »Sie könnte seine Tochter gewesen sein. Er war ein Mann, aber kein kopfloser Mann.«
»Das ist alles sehr verzwickt«, meinte sie nach einer Weile. »Ich glaube, ich gehe wieder in mein Bett und denke nach.«
Als sie davongeschlendert war, kehrte ich zurück zum Haus. Rodenstock und Kischkewitz waren in ein Gespräch vertieft, Vera räumte vorsichtig Stück für Stück den Schrank aus, Männer rannten hin und her, schweigend und angestrengt.
Da drehte ich mich um und ging zu meinem Wagen, in dem Cisco immer noch von einer deftigen Karnickeljagd und einer netten Gefährtin oder Ähnlichem träumte. Ich empfand plötzlich die Stadt mit dem Haus darin als Einengung. Ich brauchte Luft. Aber ich nahm nicht den Weg nach Deudesfeld, sondern fuhr zu meinem zerstörten Haus in Brück. Ich wollte meine Katzen sehen, mit ihnen reden und die Fische im Teich füttern.
Im Hof standen drei große Container für den Schutt, der verbrannte Dachstuhl war abgeräumt, das Ganze
sah gewissermaßen nach aufgeräumter Katastrophe aus. Günther Froom und Rudi Latten hatten sich darum gekümmert. Und da alle beide über Ehefrauen, Kinder und eine zahlreiche Verwandtschaft verfügten, hatten sich wahrscheinlich sechs bis sechsundzwanzig Leute drum gekümmert, damit Baumeister sich nicht drum kümmern musste. Wenn ich die Sachlage richtig einschätzte, verfügte ich auch schon über einen Architekten, einen Spezialisten für abgebrannte Fälle.
Und richtig, es gab ihn, an der Haustür war mit Heftzwecken sorgfältig ein Schreiben befestigt. Ich löste es, kletterte wieder in den Wagen, weil Tageslicht noch Mangelware war, und las im Schein der Leselampe:
Sehr geehrter Herr
Baumeister,
machen Sie sich keine Sorgen, ich regele den Fall. Ich kenne mich
aus mit dem Wiederaufbau solcher Häuser, ich bin darauf
spezialisiert. Mit Ihren Versicherungen bin ich übereingekommen,
dass ich für Sie gutachterliche Arbeit leiste und den Wiederaufbau
leite. Auch Ihre Bank ist einverstanden. Ich hoffe auf gute
Zusammenarbeit und es sollte wohl möglich sein, dass Sie Ihren
Weihnachtsbaum wieder in diesem Haus aufstellen können.
Mit herzlichen Grüßen
Helmuth Kramp.
Den Mann musste der Himmel geschickt haben.
Im Osten kroch ein heller Schein über den Horizont. Cisco jaulte leise auf der Hinterbank, kletterte dann über den Sitz zielsicher in mein Genick und verhielt dort, um mir den Hals zu waschen.
»Gleich lernst du Katzen kennen!«, drohte ich. »So viele Katzen sind dir noch nicht mal im Traum begegnet. Drei wunderbare, hart trainierte Dorftiger, die dich fetzen werden, dass wir deine Einzelteile weit verstreut im Dorf suchen müssen.«
Ich stopfte mir die dänische Pfanne von Stanwell und rauchte eine Weile schweigend vor mich hin. In den Schuttbergen vor dem Haus entdeckte ich plötzlich gegen den hellen Hintergrund eines Blatt Papiers einen weiteren Pfeifenkopf.
Ich stieg aus und holte ihn mir. Es war eine Pfeife vom Designer Georg Jensen, das Mundstück war abgebrochen und fehlte. Wahrscheinlich war einer der Feuerwehrleute draufgetreten. Gelegentlich musste ich nach Euskirchen segeln und mir bei Quaedvliegs ein neues Mundstück verpassen lassen. Zwei Dinge vermag ich nicht einmal im Zustand des Totalschadens wegzuwerfen: Bücher und Pfeifen.
»Also los, mein kleiner Hund. Du wirst in der kommenden Stunde deinen Charakter beweisen müssen. Und sei immer artig zu den Goldfischen, falls du überlebst.«
Meine Katzen hatten wahrscheinlich eine Ahnung von dem, was ihnen bevorstand, denn sie hockten in trauter Dreisamkeit vor dem Teich und harrten der Dinge, die da kommen würden.
Ich ließ die Autotüre offen. Cisco folgte mir sofort, hielt sich eng an meinen Beinen und war offensichtlich ängstlich. Nach tierischen Gesichtspunkten stank wahrscheinlich jeder Grashalm nach Katze und also war es einwandfrei feindliches Gelände.
»Nun sei mal ruhig und zeig Charakter«, mahnte ich. »Guten Morgen, ihr Katzen, und vielen Dank fürs Haushüten. Und das hier ist Cisco und er ist hilflos und ängstlich. Gebt euch die Hand, sagt euren Vornamen und vertragt euch.«
Es geschah nichts. Cisco hielt sich zwischen meinen Beinen, ich musste stehen bleiben, um ihm nichts zu brechen. Die drei Katzen saßen unglaublich arrogant und gelangweilt ungefähr vier Meter entfernt, unmittelbar vor der Wasserfläche.
»Paul, du könntest unseren Gast wenigstens höflich begrüßen.«
Cisco winselte sanft, die drei Katzen standen plötzlich aufrecht mit hochgebogenem Körper.
»Jetzt macht keinen Scheiß!«, bat ich.
Cisco folgte dem Kindchen-Schema. Er bellte vorsichtig und wedelte heftig und um Freundschaft bemüht mit dem Schwanz. Aber er traute sich nicht, den Platz zwischen meinen Beinen zu verlassen.
Also musste ich mich bewegen. Ich ging auf meinen Kater Paul zu, bückte mich und kraulte ihn ausgiebig. Dann kamen Satchmo und Willi und ließen sich ebenfalls streicheln. Allerdings schielten sie unablässig zu diesem Miststück von Schäferhund, der ja möglicherweise außer Kontrolle geraten konnte.
Cisco hatte beschlossen, Friedenskundgebungen zu veranstalten. Er legte den Kopf auf seine ausgestreckten Vorderpfoten und reckte den Arsch wie eine Trophäe steil in den Himmel. Und ohne Unterlass wedelte freundlich sein Schwanz. Dabei kläffte er leise und hell.
»Nun spielt schon mit ihm!«, riet ich meinen Katzen.
Aber sie wollten nicht. Sie waren sich einfach zu schade für diesen miesen Eindringling, der sich dazu auch noch so benahm, als sei die Welt ein freundlicher Ort.
Als mindestens drei Minuten lang absolut nichts geschah, fühlte Cisco sich bemüßigt, den Frontalangriff zu starten. Er hopste hin und her, legte possierlich den Kopf schief, schoss mal einen Meter nach links, mal zwei Meter nach rechts. Er legte Kurzsprints ein, tanzte sekundenlang auf den Hinterläufen und benahm sich einfach wie ein wild gewordener Köter, dem sämtliche Instinkte vorübergehend abhanden gekommen sind.
Die Katzen blinzelten, sahen sich gelangweilt an.
Cisco wurde mutiger, entfernte sich von seinem ursprünglichen Platz und hatte es vor allem auf Paul abgesehen, von dem er wahrscheinlich zu Recht annahm, dass er der Boss sei. Dabei rutschte er zu nahe an Paul heran, der zog pfeilschnell die rechte Pfote durch und erwischte dabei Cisco voll auf der Schnauze.
Der Hund verfiel in panisches Jaulen und konnte sich bei mir nicht verkriechen, weil hier Satchmo und Willi hockten, die fasziniert zuschauten. Cisco schoss laut heulend unter die Brombeeren an der Mauer, machte sich platt wie eine Flunder und war untröstlich. Da ist man als junger Hund auf Liebe angewiesen und kriegt stattdessen eins auf die Schnauze. Die Welt ist ekelhaft.
Es hatte mordsmäßig getaut, das Gras war klitschnass. Da ich aber zwischen den Parteien vermitteln wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als einen nassen Hintern in Kauf zu nehmen. Ich setzte mich auf den Rasen und benahm mich so, als hätte ich mit nichts irgendetwas zu tun, als interessierten mich die Viecher gar nicht. Katzen können in dieser Situation nicht widerstehen, sie sind einfach zu neugierig. Mit Cisco hatte ich keine Erfahrung, allerdings sah er nicht mehr wie ein Welteroberer aus, eher wie jemand, dem das Wasser bis zum Hals steht.
Mein kleiner Kater Satchmo machte sich nun auf, um diesen Hund zu besuchen. Wahrscheinlich war er der Meinung, wenn Paul den Hund vertrimme, dann dürfe er es auch. Hunde sind für alle Katzen da. Satchmo zog zunächst einen weiten Kreis um die Brombeerranken und bedachte Cisco mit keinem Blick. Hätte er in die Luft geguckt und laut gesungen, hätte es mich auch nicht gewundert. Bei der dritten Einkreisung geriet Satchmo dann in das unmittelbare Einzugsfeld des kleinen Hundes, der den Kopf immer noch flach auf dem Boden hielt und an dem sich nur die Ohren bewegten.
Der kleine Kater vollführte einen merkwürdigen Bocksprung, als wollte er sagen: Sieh an, hier bin ich! Jetzt war er vielleicht noch vierzig Zentimeter von Cisco entfernt. Sicherheitshalber machte er einen furchtbar beeindruckenden Buckel und fauchte gewaltig. Cisco reagierte nicht, bewegte nicht einmal die Ohren, wofür ich ihn sehr bewunderte.
Dann wendete Satchmo und schlich erneut an Cisco vorbei. Und dieses Mal konnte er sich nicht zurückhalten, dieses Mal sprang er unvermittelt. Doch ich hatte den Eindruck, dass er noch während seines kurzen Fluges umdisponieren wollte. Eigentlich war es nicht mehr vorgesehen, auf Cisco zu landen. Jedenfalls strampelte mein kleiner Katzenrüpel gewaltig und bat schon vor seiner Landung um Verzeihung. Cisco nahm es mit der Ruhe eines Eiflers, hob die rechte Vorderpfote, nagelte Satchmo für den Bruchteil einer Sekunde auf dem Rasen fest und biss ihm dann genussvoll ins linke Ohr.
Eindeutig unentschieden.
Nun wurde Willy neugierig und Pauls Gelassenheit wich dem großen Staunen. Sieh mal einer an, da hatte der Köter doch zurückgeschlagen. Nichts würde je wieder so sein wie vorher. Paul also näherte sich von links, Willi von rechts. Und sie hätten eigentlich Cisco lustvoll und nach Belieben verprügeln können. Doch sie taten es nicht, sie legten sich beide, die Köpfe dem Hund zugewandt, ins Gras und betrachteten ihr Gegenüber.
»Ihr seid richtig gut«, sagte ich hochbefriedigt. Es war zwar klar, dass sie sich tagelang prügeln würden, aber es war nun auch klar, dass dabei nichts Lebensgefährliches geschehen würde.
»Sehr gut, Cisco!«, lobte ich. Da kam er zu mir und sprang an mir hoch und pinkelte dabei nicht mal. Ein gewaltiger pädagogischer Fortschritt.
Ich holte das Fischfutter aus der Küche, musste dabei über ziemlich große Schuttberge klettern und versorgte meine geschuppten Freunde, während ich ununterbrochen mit meinen Viechern redete und lauter Zeug von mir gab, wie man es von Erwachsenen gewöhnt ist, die sich mit dem Inhalt eines Kinderwagens unterhalten und dabei garantiert keine Blödheit auslassen.
Die Sonne zeigte sich matt, von Dunst verschleiert, und ich freute mich an der Idylle, wenngleich Driesch wie ein Fremdkörper in meiner Seele festsaß und keine Sekunde Ruhe gab.
Anna, ich musste noch mal mit Anna reden. Unbedingt. Wie hatte das anonyme Schreiben gelautet? -›Du wirst auch sterben! ‹
Aber ehe ich irgendeine Entscheidung treffen konnte, fuhr Vera auf den Hof, kam zu mir an den Teich und meinte: »Ich wusste, du würdest hier sein.«
»Ich dachte gerade an Anna. Hat sie Bewachung bekommen?«
»Hat sie. Zwei Leute, rund um die Uhr. Darf das Haus nicht mehr verlassen.«
»Hast du dieses anonyme Schreiben gesehen? Sind da brauchbare Spuren drauf?«
»Ich habe es gesehen«, nickte sie. »Wahrscheinlich hat der Absender Küchenhandschuhe benutzt. Und er schickte es nicht mit der Post, es lag im Briefkasten zusammen mit den Reklamebögen der hiesigen Geschäftswelt. Willst du in diesem Leben nicht noch mal schlafen gehen?«
»Doch, natürlich. Wenn ich müde bin. Ich bin nur nicht mehr müde, ich bin saumäßig aufgedreht. Habt ihr noch was rausgefunden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die ganze Kommission ist irgendwie gestört. Wer hatte das erwartet? Driesch als Lover, Driesch in der Rolle eines späten Liebhabers mit weiß Gott wem.«
»Habt ihr denn eine Ahnung? Habt ihr Anna inzwischen dazu befragt?«
»Nein, noch nicht und wir wollen sie zunächst auch nicht dazu befragen. Die Presse ist erst einmal beruhigt, wir haben das Haus heruntergespielt, so dass niemand auf den Gedanken kommen kann, es stecke eine gute Story dahinter. Wie auch immer, ich habe die Nase gestrichen voll und Zeit bis morgen früh zum Wecken. Ich habe den Befehl meines Vorgesetzten, mich zu erholen, nicht an den Scheißfall zu denken und überhaupt so zu tun, als sei ich eine ganz normale Frau. Was treiben wir jetzt?«
»Wir könnten eine Keimzelle für Gruppensex gründen«, erwiderte ich lahm. »Im Ernst, ich fahre heim, ich lege mich was hin. Cisco, komm her, wir fahren nach Hause.«
Die Katzen begleiteten uns bis zu den Autos und schauten uns nach, als wir in den frühen Morgen fuhren.
Ich fand es schön, dass sie bei dem zerstörten Haus blieben und nicht eine Sekunde die Absicht erkennen ließen, sich abseilen zu wollen, in die Wälder zu laufen oder sich ein neues Haus zu suchen. Ich weiß, dass Tröstungen dieser Art hoffnungslos vermenschlicht sind, trotzdem wirken sie.
Als wir in Deudesfeld aus den Autos stiegen, hatte ich die wesentlichen Organisationsfragen meines Lebens geklärt und mit Hilfe des Handys abgearbeitet.
Bald würde ich mit segnender Hand über die hiesige Wirtschaft streichen und all das kaufen, was das Feuer in meinem Haus vernichtet hatte. Andererseits war es ganz erstaunlich, mit wie wenig man auskommen kann. Da reichen zwei Jeans, drei Unterhosen, vier Paar Strümpfe und ein halbes Dutzend Hemden.
»Wenn ihr ein Frühstück wollt«, rief Alwin in der Tür, »könnt ihr gleich in die Küche rutschen.«
Also rutschten wir in seine Küche und ließen es uns gut gehen. Langsam wurde ich müde, verzichtete auf die Dusche und legte mich einfach so oben auf das Sofa. Ich bekam nur noch mit, dass Vera sich zwei Sessel zusammenschob und träge murmelte: »Schlaf gut, bis später.«
Zehn Stunden später wurde ich dadurch wach, dass Vera telefonierte und schrill so etwas wie »ganz neu anfangen« sagte.
Ich trollte mich grußlos ins Badezimmer und hatte Mühe, zu akzeptieren, dass es sechs Uhr gegen Abend war, die Sonne schien und das Leben wieder einigermaßen normal floss.
»Ich gehe mit Cisco Gassi«, rief Vera und die Tür klackte.
Dr. Ludger Bensen, dachte ich, du bist mir eine Auskunft schuldig. Die Frage war nur, ob er sie mir geben würde. Erfolgreiche Politiker sind immer eine harte Nuss, weil sie die Kunst beherrschen, in einem einzigen Satz drei grundlegende Weltanschauungen zum Ausdruck zu bringen, die einander widersprechen.
Ich taperte nackt durch die Wohnung, ließ mir von der Sonderkommission in Monschau Bensens Telefonnummer geben und rief den Anwalt an.
»Der ist zurzeit nicht erreichbar«, sagte eine geübte Frauenstimme.
»Dann richten Sie ihm bitte aus, dass ich ihn sprechen möchte. Ich bin Journalist, ich kümmere mich um den Fall Driesch und habe eine interessante Theorie.«
Ich gab ihr meine Nummer und harrte der Dinge. Es dauerte keine sechzig Sekunden.
»Sie haben eine Theorie?«, fragte er gut geölt.
»Ja. Wie ist es mit neun Uhr heute Abend?«
»Warten Sie, ich muss nachgucken.« Kurz darauf sagte er: »Okay. Aber erwarten Sie nicht zu viel von mir, ich bin in dem Fall nicht gut zu Hause.«
»Ich instruiere Sie«, versprach ich.
»Ist das Bad frei?«, fragte Vera von der Tür. Sie musterte mich eingehend und murmelte: »Hm, richtig schnuckelig.«
Cisco sprang neben mir auf das Sofa und leckte intensiv meine Hüfte ab. Dabei stand er mit beiden Vorderpfoten auf meinem linken Oberschenkel und hinterließ Dreckspuren. Wahrscheinlich hatte er die einzige Pfütze in einem Umkreis von zehn Quadratkilometern entdeckt.
Mir war das egal, ich rief Rodenstock an. »Pass auf, ich bin mit Ludger Bensen verabredet, du weißt schon, der Anwalt, der Driesch in seinen Parteiämtern beerben wird.«
»Da würde ich gern mitgehen«, sagte er. »Was willst du von ihm wissen?«
»Er hat doch vor einiger Zeit, das muss Monate her sein, einmal behauptet, Driesch habe eine Geliebte.«
»Stimmt. Gute Idee.«
»Was hat die Untersuchung der Wohnung in Monschau ergeben?«
»Also, das Sperma stammt einwandfrei von Driesch. In allen Fällen. Der Nachweis von Weiblichkeit stammt ebenfalls nur von einer Person, aber natürlich wissen wir nicht, von welcher. Ich würde für mein Leben gern wissen, ob Driesch so etwas wie Torschlusspanik hatte.«
»Selbst wenn«, sagte ich, »es ändert nichts.«
»Ja, da hast du Recht. Also, bis später.«
Vera kam mit einem Handtuch um die Hüften hereingeschlendert. »Ich möchte wissen, ob Driesch dabei glücklich war.«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete ich.
»Warum hat er es dann getan?«
»Vielleicht rann ihm das Leben durch die Finger.«
»Du hast so erschreckend viel Verständnis«, klagte sie. »Wenn er ein Verhältnis hatte, war er ein Arsch!«
»Ich erinnere dich an eine gewisse Vera, die vor kurzem sagte, alle Beziehungskisten ihres Lebens seien im Grunde nichts wert, weil sie zu viel zu arbeiten habe. Also bist du auch ein Arsch.«
»Aber ich töte dabei nicht«, entgegnete sie schnell.
»Jetzt verlierst du die Bodenhaftung!«, mahnte ich. »Driesch hat nicht getötet, er ist getötet worden.«
Sie hockte sich in einen der Sessel. »Aber er hat andere dazu gebracht, zu töten, verdammt noch mal!«
»Das könnte ein sehr wahrer Satz sein«, nickte ich. »Wenn wir jetzt noch die dazu passende Frau finden, haben wir den Fall gelöst.«
»Aber nicht die Sache mit Mallorca und der Million in bar. Und auch nicht den Tod von Wilma Bruns und all die verdammten Kleinigkeiten, von denen wir noch nichts wissen.«
»Du hast Recht, Frau.«
Cisco hatte sich inzwischen auf den zweiten Sessel verzogen und schlief ruhig und fest, japste nur hin und wieder. Wahrscheinlich jagte er im Traum einen Elefantenbullen in Afrika.
»Wir finden diese Frau nie«, unkte Vera ohne Hoffnung. »Es ist ja möglich, dass die Verbindung als One-Night-Stand begann. Vielleicht stammt die Frau aus Belgien oder aus dem Großraum Aachen, vielleicht hat sie überhaupt keine Bindung nach Monschau und tauchte auf und wieder ab. Und wenn sie verheiratet ist, wird es erst recht unmöglich, sie zu finden.«
»Schlechte Aussichten«, stimmte ich zu. »Wir fahren gleich zu Dr. Ludger Bensen. Wenn du magst, kannst du mitkommen.«
»Was heißt gleich?«
»Na ja, so in anderthalb Stunden«, sagte ich »Und jetzt zieh dir was an, du machst mich kribbelig.«
»Du sollst mich nicht rumkommandieren, Baumeister«, sagte sie sanft. Als sie auf mich zuging, ließ sie das Handtuch fallen.
Es gibt Formen gesellschaftlichen Umgangs, denen ich nicht widerstehen kann. Fallenden Handtüchern zum Beispiel.
Dr. Ludger Bensen residierte in Roetgen in einem Haus, das wie eine Mischung aus Tegernseer Landhaus und Gelsenkirchener Barock wirkte. Links und rechts an den Hausecken waren Türmchen angeklebt und durch den ganzen Vorgarten erstreckte sich eine an Stahlseilen aufgehängte Aluminiumkonstruktion mit Acrylplatten.
Rodenstock murmelte: »Seid ehrfürchtig, Kinderchen, das ist der Geist der neuen Zeit, da kündigt sich das Millennium an, da haben wir braven Provinzler keine Chancen mehr mitzukommen.«
Emma, die sich unserer Gemeinde ebenfalls angeschlossen hatte, sagte resolut: »Ich will nicht das Haus, ich will den Mann!«
»Pfui!«, sagte ich.
»Schön!«, lobte Vera.
Bensen öffnete die Tür. Er war so recht ein Mannsbild wie der Werbung von JOOP! entsprungen. Mein erster Verdacht war: Der trägt ein Toupet, doch dann gestand ich ein: Das ist echt, die Wolle ist echt. Sein Gesicht konnte durchaus als schön und edel und männlich bezeichnet werden. Es war braun gebrannt, die Zähne glitzerten wie Sternchen. Er trug einen himmelblauen Pulli über einem weißen Oberhemd. Dazu dunkelfarbene Hosen und schwarze Slicks. Er nahm mir einfach den Atem.
»Baumeister«, stellte ich mich vor. »Das sind Freunde von mir, die am gleichen Fall arbeiten.«
»Oh, das macht nichts«, strahlte er. »Mein Haus ist groß genug.« Er gewährte jedem von uns einen sehr intensiven Händedruck. »Ich geh mal vor.«
Wir bewegten uns im Gänsemarsch einen von Spots erleuchteten Gang hinab und gerieten in eine Art Wintergarten von Ausmaßen, die einem Tanzsaal glichen. Da standen Zitronenbäumchen, Bananenstauden, Olivenbüsche und andere heimische Gewächse, wie man sie in den Eifler Wäldern findet.
»Meine Frau liebt die Toskana über alles!«, erklärte Bensen. »Nehmen Sie doch Platz, wo es Ihnen beliebt. Schatz, wir brauchen noch ein paar Gläser. Ich nehme doch an, Sie trinken ein Gläschen?« Er lachte allerliebst. »Ich sorge auch dafür, dass die Polizei im Revier bleibt.«
Die Hausherrin tauchte auf und klagte: »Mein Gott, Therese hat die Gläser wieder falsch eingeräumt!«
»Tja«, murmelte Emma, »so was nervt! Mein Name ist Emma Rodenstock und ich vermute, Sie sind die Frau von Dr. Bensen.«
»So ist es«, bestätigte sie. »Mein Gott, die Kinder wollten heute überhaupt keine Ruhe geben. Da habe ich die Notbremse mit Bier gezogen.«
»Da haben Sie was?«, fragte Vera mit aufgerissenen Augen.
»Oh, meine Liebe. Ich nehme an, Sie haben keine Kinder. Aber ich sage Ihnen, zwei, drei Schluck Bier tun wahre Wunder. Ich meine, sie trinken es ja nicht mal gern, aber wenn sie es trinken, sind sie binnen Minuten hinüber.«
»Aha!«, nickte Rodenstock höflich. »Was Sie nicht sagen. Ein schönes Haus haben Sie.«
»Tja«, sagte der Hausherr und wollte einen ausgedehnten Vortrag starten.
»Tja«, unterbrach ihn seine Frau. »Da haben wir uns was angetan, sage ich Ihnen. Dreihundert Quadratmeter Wohnfläche! Haben Sie mal dreihundert Quadratmeter Wohnfläche sauber halten müssen?«
»Selten«, sagte Emma herzlich. »Sehr selten.«
»Und das Personal heutzutage ist ja auch nicht mehr von der Arbeit überzeugt.«
»Sage ich auch immer!«, bestätigte ich, weil sie mich so ansah, als erwartete sie von mir eine Antwort.
»Die Gläser, Schatz!«, erinnerte der Hausherr.
»Ach, Gottchen, ja«, nickte sie gequält und verschwand.
»Tja, dann müssen Sie mir aber sagen, was Sie eigentlich wollen«, sagte Bensen und setzte sich bequem in seinem Rattansesselchen zurecht.
»Die Wahrheit«, verlangte Rodenstock, »nichts als die Wahrheit.«
Sofort bekam das Gesicht des Anwalts einen harten Ausdruck und er schloss einen Augenblick lang die Augen. »Das ist aber viel verlangt«, erwiderte er sachlich.
»Das stimmt!«, nickte Emma.
»Sie meinen mit Wahrheit sicherlich Jakob Driesch?«
»Richtig«, antwortete ich.
Bensens Frau kam zurück und schob einen rollenden Teewagen vor sich her, auf dem mindestens zwanzig Gläser standen. »Wasser, Saft, einen trockenen Wein? Kaffee vielleicht? Ist schon fertig.«
Wir bedienten uns, kamen uns dabei in die Quere, entschuldigten uns sicherheitshalber in alle Himmelsrichtungen und setzten uns dann wieder brav hin, als seien wir in der Sonntagsschule.
»Sie werden nun wohl bald in den Bundestag einziehen, nicht wahr?«, fragte Rodenstock listig.
Der Kandidat fiel darauf herein. »Nun ja, es ist peinlich, die ganze Sache ist furchtbar traurig. Und ich weiß auch nicht, ob ich in den Riesenschuhen des Jakob Driesch laufen kann. Aber wir sind gewählt, wir müssen unsere Pflicht tun, der Wähler hat so entschieden. Daher werde ich nach Berlin gehen und so gut wie möglich Jakob Drieschs Aufgaben übernehmen. Ich habe ein Votum, ich muss eine Pflicht erfüllen.«
Vera stöhnte in die Stille: »Also eigentlich haben wir gar keine Zeit für Wahlkampf.«
»Wir haben nur einige sachliche Fragen«, nickte Emma.
»Und wir können uns kurz fassen«, schlug ich vor. »Ich denke, unser Kriminaloberrat sollte die erste Frage stellen. Es geht doch nichts über einen Profi.«
»Wieso Kriminaloberrat? Ich denke, Sie sind Journalisten?« Der Anwalt war sichtlich irritiert.
»Bin ich auch«, sagte ich. »Und mein Freund Rodenstock hier beobachtet die Sache offiziell im Namen des Bundesnachrichtendienstes – Sie wissen schon, die aus Pullach.«
»Kenn ich«, sagte er verkniffen. »Und um was, bitte, geht es hier jetzt?«
»Um eine Äußerung von Ihnen«, sagte Rodenstock. »Ich erkläre Ihnen kurz den Hintergrund. Sie haben vor etwa einem Jahr Jakob Driesch mit der Behauptung attackiert, er habe eine Geliebte. Erinnern Sie sich?«
Er wich sofort aus. »Was heißt hier attackieren? Wir waren innerhalb der Region hier Gegner, aber äußerst faire Gegner.«
»Na ja, es ist nun nicht gerade fair, vom Gegner zu behaupten, er habe eine Geliebte«, meinte Emma.
»Aber er hat sich dafür entschuldigt!«, sagte seine Ehefrau spitz. »Ich war dabei.«
»Im Übrigen«, sagte Bensen nun, »ist meine Bemerkung völlig aus dem Zusammenhang gerissen worden. Ich habe niemals behauptet, Jakob Driesch habe eine Geliebte. Das konnte ich gar nicht behaupten, weil ich so etwas nicht wusste und weil es nicht meine Art ist, einen Gegner unter die Gürtellinie zu schlagen, nicht in diesem Leben. Schatz, sag selbst, bin ich nicht bekannt für eine geradezu englische Auffassung von Fair Play?«
»Das bist du, mein Lieber. Wahrhaftig, das bist du.«
»Was also haben Sie genau gesagt?«, fragte ich.
»Ich sagte dem Sinn nach, wo kämen wir denn hin, wenn einer von uns über den anderen etwas Übles sagt. Wenn ich beispielsweise behaupten würde, Driesch habe eine Geliebte. So etwa habe ich es formuliert. Es war«, er hob den Zeigefinger, »ein Konjunktiv, meine Damen und Herren, ein reiner Konjunktiv. Ich habe eine Möglichkeit durchgespielt, nicht mehr, nicht weniger.«
»Es gibt Zeugen, dass Sie keinesfalls den Konjunktiv benutzt, sondern es als Tatsachenbehauptung hingestellt haben«, erklärte ich. Ich sah Rodenstock an. »Das müssen wir dann notfalls gerichtlich klären lassen.«
Er nickte und wandte sich sofort wieder an Bensen.
»Sehen Sie, wir vom Geheimdienst sind daran interessiert, dass Drieschs Leben klar vor uns liegt. Er lebt nicht mehr, er kann sich nicht mehr wehren. Aber es gibt ja noch seine Frau. Und uns liegt sehr daran, ihr Schmerz zu ersparen. Ich denke, das können Sie verstehen. Wir wissen, dass Sie ein Konkurrent von Jakob Driesch waren, der schärfste Konkurrent. Wir wissen auch, dass Sie im Zorn oder bei klarem Verstand von einer Geliebten gesprochen haben. Also, was war es? Zorn? Klarer Verstand?« Er bot ihm eine Entschuldigung an und Bensen war dumm genug, darauf hereinzufallen.
»Natürlich war es Zorn. Ich war einfach wütend, ich war es Leid, mich stets und ständig mit ihm auseinander setzen zu müssen. Außerdem habe ich mich entschuldigt, die Geschichte ist also Geschichte.«
»Ist sie nicht«, sagte ich.
»Das ist sie wahrlich nicht«, dröhnte Emma.
»Wir glauben genau zu wissen, was damals tatsächlich passierte«, begann Rodenstock erneut. »Sie hatten allen Grund anzunehmen, dass Driesch wirklich eine Geliebte hatte, nicht wahr? Wollen Sie uns nicht freiwillig davon erzählen?«
»Gottchen, diese schändliche Politik«, seufzte Bensens Frau. »Ich erinnere mich genau, dass du noch gesagt hast, mein Lieber, sie könnte seine Enkelin sein. Nun sag es diesen Leuten schon.«
Wenn Blicke töten könnten, wäre sie augenblicklich Tartar gewesen. »Also, da ist was gelaufen«, gab der Anwalt zu. »Ich nehme an, Sie können mich und meine Aussage schützen?«
»Wir können alles«, nickte Rodenstock.
»Es war so, dass ich im vorigen Sommer des Öfteren eine Gaststätte hier in der Nähe besuchte, wenn ich mit dem Bürokram fertig war. Man sitzt unter Kastanien und trinkt Berliner Weiße mit Schuss. Manchmal vermieten sie auch an Durchreisende Zimmer, ich glaube, sie haben sechs oder sieben Fremdenzimmer. Also, ich hocke da und habe den Empfangstresen genau im Blick. Da steht plötzlich Jakob Driesch mit einer ganz jungen Dame. Sie tragen sich ein und gehen dann die Treppe hoch. Ich habe gedacht, ich sitze im falschen Film, weil es immer hieß, Driesch sei ein Familientier und führe eine wunderbare Ehe. Ich habe nicht reagiert, ich habe ...«
»Du hast es mir erzählt, mein Lieber«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Mir hast du es erzählt.«
»Ja, ja«, sagte er gequält. »Ich habe es also meiner Frau erzählt, aber sonst niemandem. Dann hatten wir eine Gebietsausschusssitzung und Driesch spielte den Biedermann. Da bin ich geplatzt. Denn inzwischen war noch mehr passiert. Ich hatte noch ein paarmal das Vergnügen, Driesch samt jugendlicher Freundin in das Zimmer gehen zu sehen. Und damit nicht genug, lag das Zimmer im ersten Stock zum Biergarten hinaus. Und die junge Frau trat einmal splitternackt an das Fenster und schloss es.«
»War es Wilma Bruns?«, fragte Vera.
»Nein«, sagten Emma und ich gleichzeitig. »Annette von Hülsdonk.«
»Richtig«, nickte Bensen. »Ich kannte sie zwar, aber nicht gut genug, um sie wieder zu erkennen. Erst als ihr Bild in der Zeitung erschien, weil dieser ... dieser Kranke sie erschossen hatte, da war ich mir ganz sicher. Das war die Frau, mit der Jakob Driesch hier das Zimmer teilte.« Er warf beide Arme theatralisch in die Luft. »Damals ist mir das dann rausgerutscht, weil ich wütend war.«
»Und später haben die beiden das Zimmer nicht mehr gemietet?«, fragte Vera.
»Nein«, sagte er bestimmt. »Das wäre ja nun der Gipfel an Idiotie gewesen.«
»Sie hätten damit zur Polizei gehen müssen«, wandte Rodenstock ein. »Sie hätten uns viele Tage Arbeit erspart.«
»Wir wollen mit diesem Dreck nichts zu tun haben«, empörte sich seine Frau.
»Ach du liebe Güte«, sagte Emma heiter. »Die beiden liebten sich. Dass Ihnen so etwas nicht passieren wird, ist mir klar, aber glauben Sie mir: So was kann verdammt schön sein. Nichts für ungut, aber ich gehe schon mal.«
Wir verabschiedeten uns alle, wir ließen den Dr. Ludger Bensen stottern, verlegen sein, nach Ausflüchten suchen, hilflos rumfuchteln. Seine letzte Bemerkung war: »Wenn Sie darauf bestehen, entschuldige ich mich beim Oberstaatsanwalt. Sofort.«
»Schon gut«, sagte Rodenstock abwinkend.
Dann standen wir auf der Straße und sahen uns an.
»Mal ehrlich«, meinte Vera, »wer konnte das ahnen?«
Niemand antwortete.
»Es geht eben nichts über eine Spießergeschichte«, erklärte ich. »Jetzt interessiert mich der Vater von Annette. In welchem Krankenhaus liegt er?«
»Maria Hilf in Daun«, sagte Rodenstock. »Gut, teilen wir uns. Vera, wir fahren zur Kommission. Da muss einiges abgesprochen werden. Kischkewitz muss zwei Leute freimachen, die den Onkel von Driesch aufsuchen.«
»Wieso das denn?«, fragte Vera.
»Weil er der Jäger in der Familie ist«, erklärte ich. »Er hat Gewehre. Macht es gut. Ich komme, wenn ich in Daun fertig bin. Du lieber Himmel, ist das ein triviales Spiel.«
»Das ist es meistens«, murmelte die kluge Emma.
Von unterwegs rief ich das Krankenhaus an und sagte, ich müsse Manfred von Hülsdonk sprechen, ob das so spät noch möglich sei. Sie antworteten, dagegen sei nichts einzuwenden, es ginge ihm gesundheitlich gut.
Ich fuhr so rasch wie möglich. Ich wollte es hinter mich bringen. Driesch, warum hast du diesen tödlichen Kreislauf in Bewegung gesetzt? Du musstest doch wissen, dass so eine Geschichte schief geht.
Dann erinnerte ich mich an Cisco und änderte die Route. Man sollte kleine Hunde auch wegen einer Notsituation nicht so lange allein lassen. Ich fuhr von Hillesheim nach Gerolstein hinüber, dann an der Adler- und Wolfsburg vorbei nach Pelm, Gees und Neroth, Oberstadtfeld, Niederstadtfeld, Schutz. Es war so gut wie kein Betrieb auf der Straße, ich kam zügig voran.
Cisco lag auf dem Sofa und wurde gerade wach, als ich hereinkam. Er hatte sorgsam vor das Sofa auf den neuen Teppich geschissen und sich dann schlafen gelegt.
»Hör mal, das kann aber nicht so weitergehen. Komm jetzt mit.«
Er war ganz jeckig vor Begeisterung, sprang herum wie ein Vollgummiball und landete dabei versehentlich in seinen eigenen Exkrementen, was sowohl dem Teppich wie dem Parkett eine ganz neue, eigenwillige Note gab. Doch er war gehorsam und folgte mir willig, sprang auf die Rückbank, stellte die Pfoten hinter meinem Kopf auf die Nackenstütze und schnüffelte an mir herum, wobei er ständig Laute des höchsten Entzückens ausstieß und hin und wieder nieste, was schön feucht war – und er stank.
Ein Assistenzarzt erwartete mich auf der Station und erklärte, es solle möglichst nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Ich versicherte ihm, ich sei in ein paar Minuten fertig.
Manfred von Hülsdonk hatte ein Einzelzimmer und sah elend grau aus wie jemand, der keine Hoffnung mehr hat, noch mal ein besseres Leben zu erreichen.
»Ich gebe keine Interviews«, stellte er monoton fest.
»Ich will kein Interview«, sagte ich. »Nach mir wird die Staatsanwaltschaft hier aufkreuzen. Die weiß, dass ich hier bin. Das mit Annettes Tod tut mir aufrichtig Leid, und ich kann Ihnen in Ihrem Schmerz nicht beistehen. Ich frage mich nur, warum Sie nicht eingegriffen haben.«
»Hatte gar keinen Zweck«, erwiderte er abfällig. »Kannten Sie meine Tochter?«
»Nein.«
Er stemmte seinen schweren Körper ein wenig nach oben und baute sich aus den Kissen eine Kopfstütze. »Wenn sie etwas wirklich haben wollte, dann kriegte sie es auch. Und sie ließ sich seit Jahren schon von niemandem mehr reinreden.«
»Und sie wollte Jakob Driesch?«
»So könnte man es ausdrücken.« Er wirkte muffig wie jemand, der an nichts wirklich interessiert ist.
»Haben Sie sie nicht gewarnt?«
»Habe ich. Seit es anfing, habe ich nichts anderes getan. Ich habe sie nicht nur gewarnt, ich habe sie auf Knien angefleht, die Finger von dem Mann zu lassen. Sie sagte eiskalt: Der oder keiner! Und das war es dann.«
»Haben Sie mit Driesch gesprochen?«
»Viermal.«
»Was sagte er?«
»Er sagte, er meine es ernst. Er wüsste nicht, was draus werden würde, aber er meine es ernst.«
»Wollte er sich scheiden lassen?«
»Ja, später. Hat er jedenfalls behauptet. Ist ja nun auch egal.«
»Und die Million, mit der er auf Mallorca aufkreuzte, stammte von Ihnen, nicht wahr?«
»Ja.« Von Hülsdonk hustete heftig. »Das war mein Geschenk an Annette.«
»Zuerst haben Sie aber doch diesen Gutshof hier in der Eifel gekauft, damit sich Annette darin ein Hotel einrichten konnte. Was passierte dann?«
»Ich wollte gerade mit dem Umbau loslegen, als Annette kam und die ganzen Pläne umschmiss. Einfach so. Sie sagte: Verkauf das Ding wieder, ich mache ein Hotel auf Mallorca auf.«
»Und das wollten Sie nicht?«
»Nein, natürlich nicht. Ich meine, ich bin nicht mehr der Jüngste, ich habe den Betrieb in Hellenthal. Den hätte sie sowieso geerbt. Wozu brauchte sie noch eine Klitsche auf Mallorca? Dann hätte ich sie ja noch seltener gesehen, irgendwann vielleicht dann gar nicht mehr. Irgendwie ... irgendwie ging sie mir doch verloren.« Er hatte angefangen zu weinen.
»Aber sie liebte Driesch, oder?« »O ja, sie liebte den wirklich. Jedenfalls kam sie und sagte, ich solle den Hof wieder verkaufen, Driesch hätte auf Mallorca was an der Hand. Ich redete mit Driesch, er bestätigte die Sache und sagte, das Günstigste wäre Bargeld. Ich fand einen Käufer, bekam einen Scheck und ließ mir das Geld in einen Koffer packen. Der Banker, ein alter Freund von mir, warnte mich noch: Junge, ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich ahne, du baust Scheiße. Kann man wohl sagen. Jedenfalls flog Driesch runter und kaufte das Anwesen, wurde als Eigentümer notariell festgeschrieben und schloss mit Annette und mir einen Vertrag: jeder ein Drittel. Das war sauber und klar. Eine Zeit lang habe ich wirklich geglaubt, die Geschichte gehe gut aus.«
»Wann wollten die beiden denn runterziehen?« »Im März kommenden Jahres. Annette sagte immer: Zweitausend wird mein Jahr, Papa! Und die ganze Zeit hatte ich ein beschissenes Gefühl...«
»Als Driesch tot war, was haben Sie da gedacht?« »O Gott, ich ahnte es, ich ahnte sofort, was da los war, aber hatte ich Beweise? Und Annette war so verwirrt, so durcheinander. Ich wusste, wir stecken alle knietief in der Scheiße. Da bekommt der Freund meiner Tochter, der Bundestagsabgeordneter ist, von mir eine Million und düst nach Mallorca und kauft einen Bauernhof. Das ist nichts Kriminelles, aber irre genug, dass sich jede Zeitung darauf stürzt. Dann passierte das mit Annette, das mit Bastian. Und dann war auch noch Wilma tot, die ja nun für gar nichts konnte. Mörder sind doch irre, die sind doch ... Ich hab daran gedacht, zur Polizei zu rennen und zu schreien: Ihr Arschlöcher, seht doch mal genau hin! Aber ich habe es nicht geschafft, ich wollte nur noch ... ich wollte nur noch weg.« Er schluchzte laut.
Hinter mir war ein Geräusch. Ich drehte mich um und sah den Assistenzarzt dort stehen.
»Es ist nicht mehr zu verantworten«, sagte er sanft, aber knallhart.
»Schon gut«, erwiderte ich. »Ich habe genug gehört.«