20n

Als Alexandrine wieder zu sich kam, schmerzte ihr Kopf dermaßen, dass ihr übel davon wurde. Es war, als hätte sie nichts als Brei im Gehirn, und sie meinte, einen Hauch von heißem Sand zu riechen. So unmöglich das war, genau das roch sie! Wüste in der Mittagsglut.

Zusammenhängende Gedanken kamen … sehr … langsam. Am liebsten hätte sie sich ganz der sanften Hitze in ihrem Kopf hingegeben.

Seltsam, dachte sie, und es fühlte sich immer noch so an, als steckten ihre Gedanken in einem Sumpf. Oder Brei. Sie hörte auch nicht gut. Als ob dieses Zeug auch ihre Ohren verstopfen würde.

Irgendetwas hielt sie fest. So fest, dass ihre Rippen schmerzhaft zusammengequetscht wurden. Angenehm war das nicht. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, ihr Körper war gegen etwas Hartes gepresst, ihr rechter Arm dazwischen gefangen. Auch das war alles andere als angenehm.

Au. Ja, das tat definitiv weh. Ihre Schulter schmerzte. Ihr anderer Arm baumelte in der Luft.

Dann fiel ihr plötzlich ein, dass sie vielleicht ihre Augen öffnen könnte, um zu sehen, was los war. Es war nicht einfach, die Lider nach oben zu zwingen. Toll, da war etwas, direkt vor ihr. Etwas … Schwarzes! Stoff, oder? Von einem leicht angegrauten Schwarz.

Alexandrine wusste, sie hätte erkennen müssen, worauf sie schaute, doch ihr matschiges Gehirn schaffte es nicht, ihr die Information zu übermitteln. Für eine Weile kehrte das Gefühl zurück, dass sie einfach dahintrieb. War sie in der Lage dazu, sich zu bewegen? Zappeln half nicht. Was auch immer sie umklammerte, gab nicht nach. Alexandrine versuchte, sich zu konzentrieren, herauszufinden, in welcher Situation sie sich befand. Und sie kämpfte gegen die Verlockung an, sich einfach in der riesigen Leere, die sie umgab, versinken zu lassen. Denk nach!

Jemand, etwas hielt sie. Ihre Füße fanden keinen Grund. Es roch nach heißem Sand. Schwarze Baumwolle. Leute. Nein. Keine Leute. Was war mit Xia? Sie musste bei ihm bleiben.

Der Gedanke an Xia brachte ihr Gehirn ein wenig in Schwung, aber nicht genug, um herauszufinden, wer Xia war. Lediglich das Wissen, dass sie bei ihm sein musste, hatte sich in ihren Verstand eingegraben. Aber da war noch was … durcheinander … bewusstlos … Angst … Alexandrine kämpfte ihre Panik nieder. Und spürte, wie sich die Tore ihrer Erinnerung zu öffnen begannen.

Da war ein großer Mann, der sich über jemanden beugte, der in einem Bett lag. Ein Erinnerungsfetzen blitzte auf, sie selbst stand in der Dusche mit einem Mann mit dunklem Haar und einem Körper, der fast schmerzhaftes Verlangen in ihr weckte. Nein, nicht der Mann, der sich über das Bett beugte.

Immer und immer wieder, wie in einem Film, lief diese Szene in ihrem Kopf ab. Auch das Bild eines sehr großen und gefährlichen Mannes mit braunem Haar, nicht mit schwarzem, tauchte ständig auf. Himmel, tat ihr der Kopf weh! Sie hatte diesen Typen angegriffen, ihn gerammt? Sie wusste es nicht. Warum konnte sie sich nicht erinnern? Aber der Mann auf dem Bett, das musste Xia sein, oder?

Es knackste in ihren Ohren. Ihr Hörvermögen kehrte unvermittelt zurück. Für einen Moment war Alexandrine wieder vollkommen desorientiert. Dieses Knacksen war schmerzhaft gewesen, und nichts ergab irgendeinen Sinn. In ihrem Kopf hörte sie nur den Ozean an den Strand branden, doch zwischen jedem Wellenschlag erkannte sie andere Laute. Und dann

»… hat nicht gezogen, du Idiot!« Die Stimme des Sprechers schien aus großer Entfernung zu kommen. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du so viel Magie auf sie losgelassen hast? Du hättest sie umbringen können.«

Alexandrine war sicher, dass er über sie sprach. Wie nett, dass jemand wollte, dass sie am Leben blieb. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch die Worte fanden nicht den Weg aus ihrem Mund. Sie schaffte es nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben.

»Na und?«, erwiderte jemand.

Dieser Jemand musste derjenige sein, der sie gepackt hielt – so viel erkannte ihr gemartertes Hirn. Er hielt sie fest. Zu fest. Und auch seine Stimme erkannte sie nicht.

Dann erklang die angenehmere Stimme erneut. »Also, sie hat nicht gezogen, und außerdem ist sie Harshs Schwester. Also lass sie endlich los.«

»Sie hat mich angegriffen«, erwiderte der Jemand, der sie hielt.

Sosehr sie sich auch bemühte, es gelang Alexandrine nicht, ihre Erinnerungen zu einem sinnvollen Bild zusammenzufügen. Sie hielt die Augen geschlossen und strengte sich erneut an. Xia war verletzt oder krank – was auch immer es war, es war schrecklich falsch. Ein Fremder hatte versucht, ihm wehzutun, und da hatte sie ihn angegriffen. Das war das Letzte, woran sie sich erinnerte.

Xia … sie musste bei ihm bleiben … niemand durfte sie trennen. Sonst würden schreckliche Dinge geschehen.

»Hol sie wieder in die Welt zurück!«

»Warum?«, sagte der Jemand, der sie hielt.

»Idiot.« Seine Stimme klang angespannt. Xia. Ja. Er musste Xia sein. Sie kannte ihn.

Alexandrine schaffte es, ihren Kopf zu drehen. Ihre Augen schmerzten höllisch, als Licht auf ihre Netzhaut fiel. Sie blinzelte. Und konnte einen großen, muskulösen Mann erkennen, der anderthalb Meter von ihr entfernt stand. Mit schwarzem lockigem Haar.

Sie spürte, er war ihr vertraut. Irgendwie. Und doch wusste sie nicht, was sie verband. Nur, dass sie ihm nahe sein musste. Die Dusche. Sie hatte mit ihm geduscht.

Ihre Erinnerung arbeitete fieberhaft. Setzte wie ein Puzzle Stimme, Aussehen, Handlungen zusammen. Das, was geschehen war. Ja, er war Xia. Der mit der angenehmen Stimme. Er war nackt. Stützte sich mit einer Hand an einer Kommode ab, eine Schulter vorgebeugt, als schmerze es ihn zu sehr, aufrecht zu stehen.

Er sah nicht sie an. Sein Blick war auf jemand anderen gerichtet. Auf den Mann, der sie hielt. Sie konnte erkennen, dass Xias Augen flackerten. In einem unwahrscheinlichen Blau. Himmel, ihr Kopf schmerzte immer noch wie verrückt. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Und plötzlich öffneten sich die Tore ganz weit, und eine Flut von Erinnerungen strömte heraus. Xias Nacktheit war nicht länger peinlich oder alarmierend. Schließlich hatten sie miteinander geschlafen.

Doch dann wurde sie erneut von Panik gepackt. Xia. Er war so wichtig. Es war wichtig, dass sie bei ihm war, ganz nah. Lebenswichtig. Überlebenswichtig. Sie waren zu eng miteinander verbunden, jetzt war er ihr Talisman.

»Verdammt«, sagte der Mann, der sie hielt. Denn die Panik, die in ihr aufgeblitzt war, hatte pure Energie in seinen Geist gesandt.

Seine Stimme war Alexandrine nicht gänzlich unvertraut, doch sie konnte nicht einordnen, woher sie ihn kannte. Magie, dachte sie, sie hatte Magie gewirkt und sie gegen diesen Mann gerichtet, der sie gefangen hielt, wenn auch ohne sichtbaren Erfolg.

Erneut versuchte sie zu sprechen, doch sie war immer noch nicht in der Lage dazu. Und die eiserne Umklammerung, in der sie sich befand, hinderte sie daran, sich zu bewegen.

»Sie kommt zu sich.« Der Mann, der sie hielt, vergrößerte die Distanz zwischen ihr und Xia.

Irgendetwas in ihr schien zu reißen. Das Erinnerungspuzzle vervollständigte sich weiter. Sie war Alexandrine Marit, und sie hatte einen Bruder namens Harsh.

Wieder strengte sie sich an, sich zu bewegen, nicht ganz erfolglos, denn der Griff des Mannes verstärkte sich.

»Loslassen«, murmelte sie undeutlich, aber er schien dennoch zu begreifen, was sie wollte.

»Halt still!« Er entfernte sich weiter mit ihr, hielt auf die Treppe zu.

Alexandrine ruderte mit dem freien Arm. Sie begann, so viel Magie zu ziehen, wie ihr möglich war. Ein Funkenregen blitzte in der Luft über ihr auf, fiel dann in sich zusammen. Hübsch, aber vollkommen nutzlos. Ihr Gehirn schien zu brennen, die Hitze verzehrte sie von innen heraus. Der Mann stieg die Stufen hinunter, doch das wollte sie nicht. Dieses Gefühl war anders als alles, was sie empfand, leicht zu isolieren – und mehr als unheimlich.

»Ich sagte, bring sie zurück, Kynan!«, rief Xia.

Der Mann, der versucht hatte, Xia wehzutun, hieß Kynan Aijan. Er war es, der sie umklammert hielt. Der sie wegbrachte.

Sie schrie, und diesmal funktionierte ihre Stimme tadellos. Mehr als tadellos sogar. Gleichzeitig hieb Alexandrine mit dem Handrücken in Kynans Gesicht, traf seinen Wangenknochen. So fest, dass es auch ihr selbst wehtat. Der Schmerz schoss bis in ihren Ellenbogen hinauf.

Kynan ließ sie fallen, und sie rollte ein paar Stufen hinunter, bis sie Halt fand. Irgendwie schaffte sie es, sich hochzuziehen, schließlich stand sie auf der untersten Stufe, vornübergebeugt, die Hände über ihren Mund gelegt. Die Luft um sie herum pulsierte, drang wie zerschmetternde Wellen auf sie ein. Sie hob den Kopf und überlegte kurz, ob sie es schaffen konnte, an diesem Idioten vorbeizukommen und zu Xia zurückzukehren. Doch innerlich war sie ganz zittrig, die Hitze brannte sich bis in ihre Knochen ein.

Kynan legte eine Hand auf seine Wange. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragte er drohend.

Xia, der in der Schlafzimmertür stand, begann zu brüllen. »Kynan, nein!« In ohrenbetäubender, seelenzerstörender Lautstärke.

Das war der Moment, in dem Alexandrine begriff. Was mit ihr und Xia passiert war. Es ähnelte nicht nur ihrer früheren Verbindung mit dem Talisman, es war die Verbindung zu ihm. Ohne irgendeinen Zweifel. Xia hatte die Magie aus ihr gelöst, aber nicht sie von der Magie. Und nun, da er die Lebenskraft des Talismans beherbergte, war sie auf die gleiche Weise an ihn gebunden wie zuvor an den Talisman.

»Das ist nicht gut«, murmelte sie vor sich hin. »Das ist überhaupt nicht gut.«

»Was ist los mit dir?«, wollte Kynan wissen.

Er war groß. Zu groß. Und er sah gut aus, auch wenn er in diesem Moment so wirkte, als wolle er etwas zerstören. Dort, wo ihre Hand ihn getroffen hatte, war seine Wange gerötet. Sie erinnerte sich wieder an ihn. An das, was er war. Sie hatte ihn ins Haus gelassen, weil Xia behauptet hatte, er würde helfen, wenn etwas schiefging. Also dann, hallo, großer, starker Dämon. Da war wirklich etwas ganz schrecklich schiefgelaufen.

Alexandrine versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie gerade eine Meile in unter fünf Minuten gelaufen. Ohne vorher dafür trainiert zu haben.

»Geht schon«, antwortete sie nun. »Ich muss nur wieder nach oben, wenn es dir nichts ausmacht.«

Immer mehr Details fielen ihr ein. »Ich habe dich angerufen. Dich hereingelassen, als du kamst. Weil Xia den Talisman aufgebrochen hat und es ihn umgehauen hat.« Sie versuchte, ganz bewusst ein- und auszuatmen, bis ihre Furcht sich wieder gelegt hatte. »Irgendwas ist falsch gelaufen, und er braucht deine Hilfe, damit wieder alles in Ordnung kommt.«

»Ach wirklich«, meinte Kynan und fügte leiser hinzu: »Gottverdammte Hexe.«

Xia hieb mit der Hand gegen die Tür, und Kynan wandte sich ihm zu. Auch Alexandrine blickte zu ihm hin und sah für einen Moment nur Weiß. Grelles, blendendes Weiß. Sie wollte hinauf zu ihm, doch Kynan packte sie am Arm. Es gelang ihr, sich nicht zu wehren, auch wenn es sie fast ihre ganze Kraft kostete.

»Sie sagt die Wahrheit, Kynan«, bestätigte Xia.

»Ich lasse sie nicht in deine Nähe. Nicht, solange du dich in diesem Zustand befindest. Ich habe es gerade erst geschafft, dich wieder zurückzuholen. Glaubst du, da lasse ich zu, dass sie dich wieder fertigmacht?«

»Kynan …«

»Wenn sie nicht mehr auf Copa ist, lasse ich sie vielleicht mit dir in einem Raum sein.«

Alexandrine versuchte wirklich, sich aufrecht zu halten, doch ihr Inneres wurde zerrissen. Ihre Knie gaben nach. Sie konnte gerade noch verhindern, dass sie mit dem Kopf auf die Treppe aufschlug.

Kynan stand über ihr, und während er sie beobachtete, veränderten sich seine Augen. Von Goldbraun über Amber zu einem Schwarz, so tief wie die Sünde. Und jede Farbe war von Hass erfüllt.

Xia schwankte, sein Gesicht war kalkweiß. Er stand immer noch nach vorn gebeugt, als ob sein ganzer Körper schmerzte. »Lass sie heraufkommen. Sie muss in meiner Nähe sein. Ich brauche sie so, wie sie mich braucht.«

Kynan bückte sich und packte Alexandrine unsanft am Arm.

»Verpiss dich und lass mich in Ruhe!«, stieß sie hervor.

»Hast wohl die gepflegte Ausdrucksweise von Xia gelernt, was?«, fragte er, während er sie die Treppe hinaufzog.

Je näher sie Xia kam, desto weniger zitterte sie, desto weniger hatte sie das Gefühl, dass ihr ganzer Körper auseinandergerissen würde. Desto normaler fühlte sie sich. Als sie das oberste Stockwerk erreicht hatten, stand sie wieder sicher auf ihren Beinen und streckte ihre Hand nach Xia aus.

Xia wandte seinen Blick von Kynan ab und richtete ihn auf Alexandrine, und im selben Moment verbanden sie sich.

Klick.

Sie erblickte sich selbst durch Xias Augen. Sie sah furchtbar aus. Xia blinzelte, und sie befand sich wieder in ihrem Körper.

»O mein Gott«, flüsterte sie. »Xia, wir sitzen ganz schrecklich in der Tinte, oder?«

Alexandrine wollte es nur noch einmal ausprobieren: Sie ging ein paar Schritte weg, bis ans Ende des Flurs – und begann wieder zu zittern. Sie kehrte zurück – und alles war in Ordnung. Normal. Keine Probleme. Blieb sie in seiner Nähe, war alles wunderbar; ging sie fort, zeigten sich sofort die körperlichen Auswirkungen.

»Alexandrine …« Xia schwankte, als er einen Schritt auf sie zumachte. Kynans Hand schoss vor, um ihn zu stützen.

Wieder entfernte sie sich von ihm, und plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Ein paar Schritte zu ihm hin, und das Gefühl zu ersticken schwand.

Alexandrine schloss die Augen, und alles, was sie in Gedanken sah, war Xia. Nicht das Amulett, denn das existierte ja nicht mehr, sondern Xia. Ihr Herz machte einen erschrockenen Satz.

»O Shit«, murmelte sie vor sich hin.

»Geht beide wieder rein«, forderte Kynan sie auf und deutete auf das Schlafzimmer. Doch während er Xia zum Bett führte, überließ er es Alexandrine, allein zurechtzukommen.

Als sie sich dem Bett näherte, auf dem Xia nun mit überkreuzten Beinen saß, hielt er sie auf. »Näher kommst du nicht, und schon gar nicht so nah, dass du ihn berühren könntest«, sagte Kynan. »Weiß der Teufel, was du ihm damit antun würdest.« Er griff nach einem Stuhl, schwang ihn herum, schob ihn ans Bett und machte ein Zeichen, dass sie sich setzen sollte. »Wage es, zu ziehen, und du bist tot. Verstanden?«

Alexandrine zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er seine Drohung ernst meinte, genauso wenig, wie sie bezweifelte, dass er sie ausführen könnte, ohne auch nur einen Tropfen Schweiß zu vergießen. Oder einen Anflug von schlechtem Gewissen zu haben. Im Gegenteil, vermutlich würde es ihm sogar Spaß bereiten.

»Manchmal passiert es einfach«, erwiderte sie. »Ich kann es weder in Gang setzen noch irgendwie aufhalten.«

Kynan sah zu Xia hin, der bestätigend nickte. »Tja, ich fürchte, dann ist jetzt eine kleine Unterhaltung über dich und deine Hexe fällig.« Er wandte seinen Blick Alexandrine zu, und obwohl seine Aufmerksamkeit nicht allzu lange auf ihr ruhte, hatte sie das Gefühl, er hätte tief in sie hineingeschaut.

»Du wirst nicht mit ihm über Sex reden, oder?«, fragte sie. »Das ganze Thema mit fruchtbar sein und so haben wir nämlich bereits hinter uns gebracht.«

Kynan wandte sich wieder an Xia. »Sag mir, dass sie nicht das meint, wovon ich fürchte, dass sie es meint.«

Xia zuckte nur mit den Schultern.

»Xia ist ein großer Junge«, mischte sich Alexandrine ein. »Er weiß, was so läuft in der Welt.« Sie hätte sich liebend gern auf den Stuhl gesetzt, doch sie wollte Kynan nicht die Genugtuung geben. »Ich übrigens auch. Und deshalb hatten wir guten Sex, falls es dich interessiert. Richtig, richtig guten. Um ehrlich zu sein, er war fantastisch.«

»Setz dich, Alexandrine«, sagte Xia.

Ganz langsam zählte sie bis fünf. »Xia, was wir beide getan haben, geht ihn wirklich nichts an.«

Kynan berührte die Lehne des Stuhls, den er Alexandrine hingeschoben hatte, in der spöttischen Nachahmung eines Gentlemans, der einer Lady eine Sitzgelegenheit anbietet. »Ich werde dir nicht aufhelfen, falls du umkippst. Im Gegenteil, ich werde es als etwas betrachten, was mir den Tag versüßt.«

Sie sah ihn an und überlegte, ob sie lieber stehen bleiben und riskieren wollte, auf ihren Hintern zu plumpsen, oder ob sie sich lieber setzte und ihm noch mehr Grund gab, so selbstzufrieden zu sein.

Unwillkürlich glitt ihr Blick zu Xias panthergezeichneten Hand, deren Finger nun ganz locker und gelöst waren. Er wirkte auch nicht mehr so verschwitzt, dennoch war sie sicher, dass sie Fieber fühlen würde, wenn sie ihn berührte.

Sie wollte zu ihm gehen, doch wieder hielt Kynan sie mit ausgestrecktem Arm auf.

»Wage es nicht, ihn anzufassen.« Er drängte sie zurück, bis sie gegen den Stuhl stieß. »Ich brauche Antworten von euch beiden«, fügte er mit einem hässlichen Lächeln hinzu.

»Wie wär’s mit einem kleinen Ratespiel?«, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Findest du nicht gut? Okay … lass mich überlegen …«

»Mir ist es doch völlig egal, ob du abkratzt«, sagte Kynan. »Glaub mir das. Es wäre mir ein echtes Vergnügen, höchstpersönlich dafür zu sorgen. Und zwar jetzt gleich.«

»Ich war davon überzeugt, dass du ihm wehtun wolltest«, gab sie zu.

»Du bist eine Hexe. Ich wollte mich einfach nur vergewissern, dass er noch lebt.«

»Was du auch behaupten würdest, wenn du versucht hättest, ihn umzubringen, oder?« Sie hatte die Schultern gestrafft und sah ihm direkt in die Augen. »Woher soll ich wissen, dass du nicht auf deren Seite bist?«

Kynans Augen wechselten von Goldbraun zu einem rauchigen Quarz. »Und wessen Seite sollte das sein?«

»Von einem der Typen, gegen die Xia in meiner Wohnung gekämpft hat. Ein Magiegebundener.«

»Du kannst den Unterschied zwischen einem magiegebundenen und einem freien Dämon nicht erkennen?«, fragte er aufgebracht. Die Luft schien sich plötzlich zu verdichten, und im selben Moment fühlte Alexandrine Eiseskälte in ihrem Nacken.

»Kynan, sie weiß nicht, was du bist«, warf Xia ein. »Sie weiß es wirklich nicht.«

»Schätzchen …« Er unterstrich dieses Kosewort mit einem spöttischen Grinsen. Wie reizend! »Wenn ich für Rasmus arbeiten würde, dann wärst du schon längst tot. Und Xia auch.« Seine Augen flackerten erneut. »Aber wenn man bedenkt, in welchem Zustand sich Xia befindet, könnte ich dir genau die gleiche Frage stellen.« Seine Stimme klang hart.

Alexandrine verdrehte die Augen. »Sind eigentlich alle deine Freunde so charmant?«, wollte sie von Xia wissen.

»Ja.«

Alexandrines Lippen wurden schmal. Sie traute Kynan nicht. Kein bisschen. Nicht das geringste kleine bisschen. »So, wie du dich aufführst, Hübscher, habe ich eigentlich nur wenig Lust, dir irgendetwas zu erzählen. Wir können uns auch gleich darauf einigen, dass alles mein Fehler ist, weil ich hier die große böse Hexe bin.«

Xia stieß einen Seufzer aus. »Ist schon okay, Alexandrine«, sagte er. »Glaub mir, Kynan ist ein Freund. Mehr oder weniger. Kynan, bitte, wirst du dir wenigstens anhören, was passiert ist?«

»Schön. Dann erzähl«, forderte Kynan ihn auf.

Alexandrine hatte plötzlich das Gefühl, als hätte man die Luft aus ihr herausgelassen. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken. Kynan hätte es wahrscheinlich besser gefallen, wenn sie auf dem Boden gelandet wäre, dann hätte er wenigstens auf ihr herumtrampeln können.

Sie legte die Hände an ihren Hinterkopf und begann, die Linien auf dem Parkett zu zählen. Der verzweifelte Drang, Xia nahe zu sein, war verschwunden. Sie fragte sich inzwischen sogar, ob sie sich die Panikattacke nicht nur eingebildet hatte.

»Sie hatte einen instabilen Talisman«, berichtete Xia gerade. »Und Rasmus war hinter ihm her.«

Ohne aufzublicken sagte sie: »Quatsch. Er war hinter dir her. Klar wollte er den Talisman, aber dich wollte er noch viel mehr.«

»Natürlich«, meinte Kynan und klang zum ersten Mal vernünftig. »Kein Magier erträgt es, einen Magiegebundenen zu verlieren. Außerdem, wenn er Xia bekommen hätte, wäre es ein Klacks gewesen, auch an den Talisman zu gelangen.«

Xia redete weiter. Gott sei Dank sparte er sich die Details, als er erzählte, dass sie Sex gehabt hatten, weil das Kynan nun wahrhaftig nichts anging. Stattdessen bot er dem Dämon eine langweilige Beschreibung, wie sie schließlich zugestimmt hatte, Copa zu nehmen, damit sie zusammenarbeiten konnten, als er den Talisman brach.

Danach äußerte Xia eine Vermutung darüber, wieso sie nun auf diese Weise verbunden waren: dass nämlich die »klebrigen Teile« der Talismanmagie in Alexandrine verblieben waren, sodass die Verbindung zu den Teilen, die er inzwischen in sich aufgenommen hatte, nicht abgerissen war.

Kynan war in der Zwischenzeit um das Bett herumgegangen und lehnte nun mit verschränkten Armen an der gegenüberliegenden Wand. Um mich besser im Auge zu haben, dachte Alexandrine.

Gut, das musste man zugeben: Was das Aussehen betraf, konnte er Xia durchaus Konkurrenz machen. Sie wollte gar nicht leugnen, dass er gut aussah. Fantastisch, um ehrlich zu sein. Ob er sich wohl auch wandelt? Und wenn ja, wie mag er dann ausschauen? So großartig wie Xia? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen.

Wie auch immer, im Moment wirkte er vor allem gefährlich. So wie auch Xia manchmal gefährlich wirkte. Beide würden sie, ohne zu zögern, töten. Kynan jedoch hatte irgendetwas Wahnsinniges an sich. Auch Kynan würde töten. Aber auf andere Weise. Bei ihm hielt sie es für wahrscheinlicher, dass er sein Opfer irgendwo verletzt zurückließ, sodass es langsam und qualvoll starb. Während er zuschaute und sich merkte, was er beim nächsten Mal besser machen könnte.

»Ist das alles?«

Unter Kynans Blick begann Alexandrines Haut zu prickeln. Das Schweigen wurde unbehaglich. Schließlich hob sie den Kopf und blickte auf. Kynan war der Grund für die Kälte, die von ihrem Nacken aus zu ihren Armen wanderte.

Kynan blickte kurz zu Xia hin, dann wieder zu Alexandrine. »Hexe, du solltest nicht hier sein«, sagte er sehr sanft und sehr gemein. »Nicht bei Xia. Das Letzte, was er braucht, ist eine gottverdammte Hexe.«

»Toleranz ist mein Name«, spottete sie und schaute zu Xia hin. Aber wahrscheinlich hatte Kynan recht. Sie sollte nicht hier sein. Aber sie war es nun mal.

»Erklär uns genau, was du getan hast, Xia«, fuhr Kynan fort. »Es muss mehr dahinterstecken als nur der Talisman.«

»Ich habe ihre Magie mit meiner verflochten.«

»Was heißt das?«, wollte Alexandrine wissen.

»Eure Magie ist mehr oder weniger eins.« Kynan zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, dass ihr zwei euch nun fast so nahe seid wie ein Blutzwillingspaar, nur dass ihr nicht ganz so durchgeknallt seid.«

Xia schwieg. Weder leugnete er, noch gab er es zu.

Alexandrine wusste nicht, was sie von seinem Schweigen halten sollte. Sie hatte keine Ahnung, was Blutzwillinge waren, konnte es nur vom Wort her vermuten.

»Verdammt. Es ist einfach passiert, klar?«

»Was ich nicht glaube«, meinte Kynan. »Zum Teufel, sie bedeutet dir so viel, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das rein zufällig passiert ist.«

Xia ballte die Hände. »Du hast recht«, gab er zu.

Kynan kräuselte die Lippen. »Was hat sie mit dir gemacht? Hör endlich auf, sie zu schützen, und sag mir die Wahrheit, Xia. So oder so, wir finden einen Ausweg.«

»Es ist meine Schuld«, erwiderte Xia. »Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, Kynan, aber dieses ganze Durcheinander habe allein ich zu verantworten. Ich hatte sie und den Talisman bereits getrennt, jedenfalls zum größten Teil, aber danach bin ich noch ein bisschen weitergegangen.« Er zeigte auf sich. »Und nicht in dieser Gestalt.«

»Du hast tatsächlich auf diese Weise mit ihr geschlafen?«

»Ja, Kynan. Wir haben miteinander geschlafen. Auf diese Weise. Wie Alexandrine vorhin schon angedeutet hat.«

Alexandrine wedelte mit der Hand. »Wäre nett, wenn ihr nicht vergessen würdet, dass ich auch noch da bin!«

»Sie ist eine Hexe, und du hast sie gehabt, während du gewandelt warst?«

Xia blickte finster drein. Finster wie die schwärzeste Nacht. Noch finsterer als der Tod. »Sie war fantastisch, Kynan. Es war noch nie so gut für mich. Wärst du an meiner Stelle gewesen, hättest du das Gleiche getan.«

»Bestimmt nicht. Und falls doch, dann kannst du darauf wetten, dass sie es nicht überlebt hätte.«

Sie sprang auf, und sofort stieß sich Kynan von der Wand ab. Alexandrine durchbohrte ihn mit ihrem Blick.

»Krieg dich wieder ein, ja?«, fuhr sie ihn an. Sie zitterte. Sie hatte nicht alles von dem verstanden, was Xia gesagt hatte, aber genug, wie sie fand. Sie holte tief Luft. »Was auch immer passiert ist, Xia, lässt es sich wieder richten?« Ihr Blick wanderte weiter zu Kynan, und sie widerstand dem Drang, sich die Arme zu reiben. Schließlich sah sie erneut zu Xia hin, der noch blasser als zuvor wirkte. Himmel, sie fühlte eine schreckliche Leere in sich.

»Wie bringen wir das in Ordnung?«, wiederholte sie. »Geht das überhaupt?«

Xia schüttelte den Kopf, obwohl … war Carson nicht etwas Ähnliches gelungen, als sie Iskander von seiner Zwillingsschwester getrennt hatte? Er schaute Kynan an. »Warlord?«

Augenblicklich richtete Alexandrine ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kynan. Warlord? Oh, verdammt. Wenn ein Magiegebundener das Zweitschlimmste war, was einem Mädchen begegnen konnte, dann, nun ja, dann war ein Warlord das Schlimmste.

»Er hat dich gemeint, stimmt’s?«, fragte sie. Nach all dem, was sie bisher über Warlords gelesen hatte – wovon vieles sicher fraglich war –, hatte sie sich gerade in eine neue Welt des Schreckens begeben. Warlords waren Dämonen, die über genug Magie verfügten, um ein Dutzend Magier zu brutzeln, ohne auch nur ein Tröpfchen Schweiß zu vergießen. Warlords befehligten ganze Armeen von Dämonen, die ihnen treu ergeben waren und ausführten, was auch immer ihnen befohlen wurde.

»Ja«, bestätigte Kynan und genoss es offensichtlich, wie die Erkenntnis in sie einsickerte. »Ja. Mich hat er gemeint.«

Alexandrine wusste nicht allzu viel über die Welt, in der Magier lebten – viele der Informationen, zu denen sie Zugang hatte, waren lückenhaft oder falsch –, doch sie wusste genug, um sich darüber klar zu sein, dass es nicht besonders clever war, sich mit einem Warlord anzulegen.

»Genau das bin ich«, fügte Kynan hinzu.

Eis umhüllte ihr Herz, und dennoch verspürte sie, so merkwürdig es auch war, einen Funken Hoffnung. Wenn er so viel Macht besaß, dann musste er mehr aufweisen können als nur ein aufbrausendes Wesen und Gerede. Er konnte ihr helfen.

»Also, Warlord, auf welche Weise richten wir es?«

Er lächelte, doch es war kein beruhigendes Lächeln. »Ich fürchte, meine Antwort wird dir nicht gefallen.«

»Wenn es eine Möglichkeit gibt, dann möchte ich wissen, welche das ist.« Sie setzte sich wieder hin.

»Gern«, erwiderte er. »Es beginnt mit deinem Blut und endet damit, dass ich die Kontrolle über deine Magie übernehme.«

»Für immer«, fügte Xia hinzu. »Er meint für immer.«