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ADF und DKP. Geldverdienen. Zertrümmerte Fiktionen.
21. Juli 1969. Der See gleißte im Sommersonnenlicht. Walser saß mit seinen Gästen, Reinhard Baumgart und Siegfried Unseld, vor dem flimmernden Fernsehgerät im abgedunkelten Wohnzimmer. Am Vormittag hatten sie Tennis gespielt, Walser hatte wie immer verbissen um jeden Ball gekämpft. Nun beobachteten sie, wie die Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin auf der Mondoberfläche herumspazierten, die amerikanische Flagge hißten und den historischen Satz zur Erde funkten: «Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit.»
Walser ließ sich von der Inszenierung nicht beeindrucken. Sein Amerikabild wurde durch die Bomben geprägt, die Tag für Tag auf Vietnam fielen. Seine Äußerungen radikalisierten sich. Politiker betrachtete er nur noch als Agenten des Kapitals. Seine Sprache verwandelte sich in agitatorischen Jargon. Das klang etwa so: «Jedes Wort, das hier über Demokratie hingeschwätzt wird, muß gemessen werden an dem täglich stattfindenden Völkermord in Vietnam, der stattfindet mit der Zustimmung und zum Profit derer, die hier von Demokratie reden.»1 An Schriftstellerkollegen schickte er eine Broschüre der Aktion demokratischer Fortschritt (ADF), die den Rechtsrutsch der Bundesrepublik anprangerte und dazu aufrief, das «konservativ-reaktionäre Machtkartell» zu sprengen. Bei der Bundestagswahl im September 1969 müsse «den Machern der formierten Ruhe-Ordnungsgesellschaft» eine demokratische Alternative entgegengesetzt werden. Diese Alternative sah Walser in der ADF, einem Linksbündnis, das schließlich in der neu gegründeten DKP versickerte. Viele Freunde aus dem Vietnambüro arbeiteten dort mit.
Böll, Baumgart, Wolfgang Koeppen und andere, die von Walser munitioniert wurden, antworteten verwundert und ablehnend. Johnson, um eine Unterschrift gebeten, reagierte mit beißendem Hohn auf den «Haufen voll Luft, den du mir heute durch die Post hast zukommen lassen». Was für ein Unsinn, linke Stimmen auf so eine «ad-hoc-Gründung zu verschwenden». Doch listig fügte er hinzu: «Ich sage das mit Vorbehalt, daß natürlich du der Ältere bist.»2 Walser versuchte, Johnsons «komische Stilkritik» zu ignorieren, mußte sich aber belehren lassen, daß es nicht um Stilistisches gehe, sondern um das «in diesem Stil Ausgedrückte, das man deiner Partei als Denken und Planen immerhin nachsagen darf. So kann ich nicht denken, und solchen Plänen vertraue ich nicht»3. Noch versuchten die Freunde, den politischen Gegensatz humoristisch zu überspielen und als Witz darzustellen, was sie mehr und mehr trennte. Als Walser um Rat fragte, wie «That’s what I am up to» korrekt zu übersetzen wäre, antwortete Johnson so: «‹That’s what I am up to› als ein Geständnis von dir wäre möglich in einem Gespräch, in dem ich dir eben vorgehalten hätte: – Das bedeutet doch, daß du am Ende Ehrensenator der Deutschen Kommunistischen Partei werden willst! Darauf kannst Du antworten: – das habe ich allerdings vor.»4
Walser ertrug den Spott. Er besorgte Johnson Lesungen in der Bodenseeregion, lud ihn nach Nußdorf ein und verschaffte ihm mit einer Lyrikübersetzung weitere, dringend benötigte Einnahmen. Er wollte die Freundschaft unabhängig vom trennenden Politischen weiterführen. Johnson hatte dafür weniger Talent. Bei einer Autofahrt von Biberach nach Nußdorf stieg er kurz vor Überlingen aus, als Walser schimpfte, er habe «Scheiße im Gehirn». Wütend marschierte er durch die dunkle Stadt. Walser fuhr im Schrittempo hinterher und öffnete immer wieder die Tür, um den Enteilenden zum Einsteigen zu bewegen.
Aufschlußreich ist ein Brief, den Joseph Breitbach aus Paris als Antwort auf die ADF-Propaganda schickte. Breitbach, Jahrgang 1903, war als 17jähriger der Kommunistischen Partei beigetreten, Dolmetscher Willi Münzenbergs gewesen und 1929 wieder aus der Partei ausgetreten. In Paris, wo er nach den Jahren des Exils blieb, hatte er sich zum eher konservativen Vertreter eines liberalen Bürgertums gewandelt, der nun von seinen Erfahrungen mit der kommunistischen Bewegung erzählte. Inakzeptabel war für ihn ein Text, in dem die DDR umstandslos anerkannt wurde. Einen Rechtsruck in der Bundesrepublik konnte er nicht feststellen, und wenn im ADF-Papier vom «Joch der repressiven Toleranz» die Rede war, hielt er dagegen: «immer noch besser (…) als das Joch der repressiven Intoleranz». Es sei sehr «zum Schaden des Marxismus», meinte Breitbach, wie die Komintern die westlichen KPs dazu zwinge, «das Dienstmädchen der russischen Außenpolitik zu machen».5
Damit hatte er den Punkt getroffen, der auch Walser davon abhielt, Mitglied der DKP zu werden, obwohl er sich andererseits nicht scheute, Kommentare für die DKP-Zeitung UZ zu schreiben. Der Geburtsfehler der DKP bestand darin, den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR zu verteidigen, so daß das Bekenntnis zu «lebendiger Demokratie» von vornherein Phrase blieb. Walser hoffte eher auf eine eurokommunistische Partei nach dem Vorbild der italienischen KP. Eine «hiesige» Partei nannte er das. Er war eine Zeitlang tatsächlich davon überzeugt, daß es noch vor der Jahrhundertwende einen westlichen sozialistischen Staat geben würde.6 Demgemäß beteiligte er sich an einem von Friedrich Hitzer und Reinhard Opitz im DKP-nahen Pahl-Rugenstein Verlag herausgegebenen Sammelband, der in Anspielung an «Die Alternative» von 1961 den Titel «Alternativen der Opposition» trug. Er steuerte dazu einen Text bei, den er für ein Teach-in an der Kölner Universität im Januar 1969 verfaßt hatte. Diese «Rede an eine Mehrheit» liest sich fast schon wie eine Ansprache von Rudi Dutschke, so streng ist hier seine Begrifflichkeit, so entschieden stellt er sich auf die Seite der revoltierenden Studenten mit radikaldemokratischer oder sozialistischer Tendenz – wenn er auch nicht einsehen mag, worin der Sinn zertrümmerter KaDeWe-Schaufenster bestehen soll.7
Die SPD betrachtete er inzwischen als rechtsstehende Partei, erklärte er in der Zeitschrift Pardon kurz vor der Wahl: «Ein krasses Beispiel für unseren Zustand: 1968 bezog Flick 44,5 Millionen D-Mark Dividende und für 106 Millionen D-Mark Gratis-Aktien; 90 000 Beschäftigte derselben Firma bezogen 27 Millionen D-Mark. Die SPD hat sich mit diesem Zustand abgefunden. Deshalb nenne ich sie eine Rechtspartei.» Seine Empfehlung für die Wahl galt also weder der SPD noch der DKP: «Ich wähle ADF, weil ich finde, daß die Bundesrepublik sich zur Zeit auf einem portugiesischen Kurs befindet, weil ich finde, daß die Diffamierung der Linken, die von Bismarck über Hitler zu Adenauer und Kiesinger hierzulande betrieben wird, endlich einmal ein Ende haben sollte. Allerdings bin ich der Ansicht, daß die ADF nur ein Anfang ist, ein rundum bedrohter Anfang; es wird noch einige Zeit dauern, bis wir eine sozialistische Partei haben werden wie die KPI oder die KPF. Aber wir können das nicht noch länger aufschieben.»8 Auch in konkret gab Walser eine Wahlempfehlung für die ADF ab, was Unseld den Stoßseufzer entlockte: «das ist blanker und barer Unsinn.»9 Unseld hatte wahltaktisch völlig recht. Die ADF spielte in der Endabrechnung keine Rolle, zumal daneben auch noch die DKP antrat. Für Walser aber zählte nur die linke Alternative zur SPD. Der Regierungswechsel von der Großen Koalition zur SPD-FDP-Regierung unter Willy Brandt war für ihn kein Aufbruch, sondern bloß eine neue Variation der Bonner Parteienoligarchie.
Neben den Auftritten bei Kongressen, in Universitäten, bei Demonstrationen und Treffen mit Freunden der ADF blieb wenig Zeit für die literarische Produktion und fürs Geldverdienen – oder für die Familie, deren Unterhalt viel Geld erforderte. Vier Töchter großzuziehen ist für einen freiberuflichen Autor keine Kleinigkeit. Der Südwestfunk bot ihm an, eine Fernsehreportage übers Ruhrgebiet zu drehen. Er solle mit Straßenbahnen von Duisburg nach Dortmund fahren und beobachten, was da zu sehen wäre. Ein Fernsehteam werde ihm für vier Wochen gestellt. Walser sagte zu, wollte aber erst einmal alleine fahren. Aus Essen meldete er sich telephonisch mit sehr leiser Stimme beim zuständigen Redakteur Jürgen Lodemann: Was ihm da an gesellschaftlicher Wirklichkeit zugemutet werde, sei dermaßen finster und deprimierend, das könne er nicht.10 Im Film, der dann doch entstand, verzichtete er auf jeden Kommentar. Die Menschen sollten selbst zu Wort kommen. Der Tonmann hatte sich als Briefträger verkleidet. Das Tonbandgerät steckte in seiner Ledertasche, mit der er sich unauffällig unters Volk mischte. So war zu hören, was von Arbeitern um fünf Uhr früh, von Schulkindern unterwegs oder von abendlichen Saufbolden gesprochen wurde: Bottroper Protokolle als Fernsehfilm.
Ein Jahr später verdingte er sich für mehrere Wochen als «Lohnschreiber» beim Film. Als Regisseur Peter Fleischmann «Das Unheil» drehte, übernahm er die Dialogbearbeitung und damit die Aufgabe, Fleischmanns Vorgaben in beiläufige Rede zu verwandeln – eine handwerkliche Fingerübung. Für den Hessischen Rundfunk entstand im Mai 1969 das Hörspiel «Welche Farbe hat das Morgenrot» – eine Montage aus Originalzitaten von Studenten, streikenden Arbeitern, Politikern, Intellektuellen, die den Vorzug hat, die Phrasenhaftigkeit der Rede und die Gestenhaftigkeit des Agierens aller Beteiligten vorzuführen. Der Politjargon ist für Walser auch in der Hochphase seiner Politisierung Spielmaterial. Er benutzt ihn zwar selbst, erkennt aber das Mimenhafte der Akteure und vermag sich in kämpferischer Pose nie ganz ernst zu nehmen. Ähnlich, als Montage aus Sprachmaterial und alltäglichem Sprachmüll, funktionierte auch das Hörspiel «Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe», das drei Jahre später in Luxemburg als Theaterstück auf die Bühne kam.
Der Roman «Fiction», den er im September 1969 im Verlag ablieferte, wurde vom Verleger ohne Begeisterung durchgewunken. Er blieb der wohl ungelesenste Roman Walsers, eine experimentelle Vorarbeit zum abschließenden, dritten Teil der Kristlein-Trilogie, «Der Sturz». Konzipiert war «Fiction» als epischer Versuch, die Arbeit des Bewußtseins im Vollzug mitzustenographieren. Das Bewußtsein, um das es da geht, ist das von Anselm Kristlein, der sich auf seine Tätigkeit als Leiter eines Erholungsheims am Bodensee vorbereitet. In der Beobachtung der Bewußtseinsinhalte entdeckt er, daß es sich weniger um einen «Strom» oder einen «inneren Monolog» handelt, als um Aktion, um Auseinandersetzung, um Kampf. Walsers zeitbedingte Erkenntnis: Das Bewußtsein als subjektives Erleben erweist sich als ein gesellschaftsabhängiger Ort.11 Das ist sein Thema seit «Halbzeit», aber er findet in «Fiction» keine Form dafür. Alle Ansätze zum Erzählen brechen ab. Die Folge der Sätze erscheint willkürlich. Die Fiktion, die der Titel verspricht, führt in eine Beliebigkeit, die man als Kehrseite der gleichzeitig protegierten Dokumentarliteratur verstehen muß. «Fiction» ist ein Dokument der Krise – das einzige Buch Walsers, das von Zweifeln am Erzählen diktiert ist. Nur deshalb ist es heute noch von Interesse, weil der Sprachgewaltige hier zwar nicht verstummt, aber doch einmal hochtourig im Leerlauf tönt.
Krankheitsbild Hölderlin. Paranoider Alkoholiker. Noch einmal: Sozialisierung.
In Hölderlin, der ihn mit seinen Gedichten seit früher Jugend begleitete, fand er auch in dieser Situation einen Vertrauten. Das Bild Hölderlins, das er zur Feier des 200. Geburtstages am 20. März 1970 im Stuttgarter Staatstheater entwarf, war wieder einmal ein verstecktes Selbstporträt, in dem er seine Empfindungen in dieser Phase vergeblicher Hoffnung und gesellschaftlicher Isolation unterbrachte. Jetzt führte er Hölderlin als Anhänger der Französischen Revolution vor, der sich für sein zurückgebliebenes Vaterland schämt. Exemplarisch leidet dieser Hölderlin an der Folgenlosigkeit der Literatur, an der er dennoch festhalten muß als schlechter Alternative zur revolutionären Tat. Er bleibt nur deshalb ein Dichter, weil er unfähig ist, eine andere Identität für sich zu entwerfen.
Weniger die Dichtung als Hölderlins Krankheitsbild rückten damit ins Zentrum des Interesses. Schizophrenie ist ein gesellschaftliches Leiden. Sie läßt sich als einen Liebesmangel diagnostizieren, der durch öffentliche Anerkennung hätte kompensiert werden können. Weil der Dichter sich selbst so wenig gewiß ist, braucht er die Anerkennung durch Freunde. Deshalb reißt ihn jede Beziehung hin, stürzt ihn in strudelnde Bewegung. Einsam geht er zugrunde, in Gesellschaft geht er unter. «Weil er keine privaten und schon gar keine öffentlichen Verhältnisse findet, in denen er sich wirklich bestätigt sehen kann, wird ihm fast alles nur noch zur Störung», schrieb Walser über Hölderlin12 und also über sich selbst. Das Krankheitsbild, das er am Beispiel Hölderlins entwickelte, glich auffallend der «Gallistl’schen Krankheit», die er in seinem nächsten Roman behandelte. Gallistl allerdings würde sich aus der gesellschaftlichen Isolation in die fragile Gemeinschaft der Sozialisten retten.
Die Pendelbewegung zwischen Bleibenwollen und Gehenmüssen, zwischen Aufbruch und Heimkehr, wie sie Walser ein Leben lang vollzieht, gelang Hölderlin nicht. Walser schaffte es immer wieder, die Spannung zwischen Teilhabe und Außenseitertum aufzubauen und auszuhalten und daraus seine Energie zu gewinnen: politisch in der Annäherung an Gruppierungen, in denen er eher Gast sein wollte als Mitglied; theoretisch im Erproben von Positionen, die er zugleich überwinden wollte; erotisch in der Spannung zwischen Eheverläßlichkeit und Freiheitsbegehren. Und schließlich im steten Wechsel zwischen der Einsamkeit des Schreibtischs und der Ruhelosigkeit des Reisens. Und doch ist das Bild des Pendels zu behaglich und zu gleichförmig, um diese Existenzweise zu beschreiben. Er will sich nicht fügen in diese sichere Bahn. In «Meßmers Gedanken» aus dem Jahr 1985 heißt es: «Das Schönste an meinem Zustand ist, daß er keiner ist. Mein zwischen Erwartung und Enttäuschung hin- und herrasendes Wesen läßt das nicht zu. Ich behaupte zwar gern, Erwartung und Enttäuschung, meine beiden Wesenskerne, seien eins und ich sei diese ihre Einheit, aber jeder weiß, daß diese Kerne nicht zu einer auch nur die kleinste Zeiteinheit überdauernden Verschmelzung zu bringen sind. Unaufhörlich tobt in der allergrößten Intimität der nukleare Orkan. Dieses allerkleinste und allermächtigste Hin und Her kann nicht aufhören.»13 Und so sah er Hölderlin: Er «hat wohl beides in hartem Wechsel andauernd an sich selbst erfahren, die Gefahr zu erstarren und, im Bewußtwerden dieser Gefahr, den Trieb aufzubrechen, sich riskant dem Entgegengesetzten auszusetzen, sich in ihm zu verlieren»14. Gegen diese existentielle Diagnose ist die Beschreibung der politischen Gegenwart, die Walser der Hölderlinlektüre entlockt, einigermaßen banal: «Zwei Parteien rotieren bewegungslos. In ihrer Umarmung soll der Prozeß endgültig einschlafen. Dabei ist das Entgegengesetzte, der Sozialismus, innerhalb der deutschen Tür.»15
Die Hölderlinverwandtschaft muß man im Ohr behalten, wenn man Walsers Feldzug gegen die «Neueste Stimmung im Westen» verfolgt. Der Aufsatz, der fast zeitgleich mit dem Hölderlin-Essay in Enzensbergers Kursbuch erschien, ist ein Ergebnis der fortgesetzten Auseinandersetzung mit Leslie A. Fiedlers Postmodernismus und einer Literatur, die Walser unter den Begriffen «Traum, Vision, Ekstase» zusammenfaßte. Angetrieben von der Hölderlinschen Verunsicherung, eine andere Identität als die des Schriftstellers nicht finden zu können und doch zu leiden unter der Rolle als «Freizeitgestalter in spätkapitalistischen Gesellschaften»16, suchte er nach einem brauchbaren Autorenmodell. Wo war der Autor gesellschaftlich zu verorten, wenn er sich eher für Weltveränderung als für Freizeitgestaltung zuständig fühlte? Wie ließen sich die Erfordernisse der Kunst mit dem Bedürfnis nach gesellschaftlichem Wandel verbinden? Wo also war sein Platz, wenn weder der Elfenbeinturm noch das Rednerpult in Frage kamen?
In Frankreich schrieb der Philosoph und Begründer der Diskursanalyse, Michel Foucault, 1969 den folgenreichen Aufsatz «Was ist ein Autor?». Er proklamierte das Verschwinden des Autors im Diskurs und setzte an die Stelle des empfindsamen Individuums die unsentimentale Autor-«Funktion». In Deutschland kultivierte Peter Handke dagegen die allerhöchste subjektive Sensibilität, und Rolf Dieter Brinkmann erprobte den Ego-Trip als Bewußtseinserweiterung mit Drogen. Walser hielt diese Spezialisierung auf Selbsterfahrung und Selbstdarstellung für «Verwilderung» und «Asozialität». Alles Ekstatische – Rockmusik, Drogen, Hippietum – war ihm fremd. Er bevorzugte konventionellere Formen des Rausches: Alkohol und, früher einmal, das Casino. Bernward Vesper bezeichnete in seinem Roman «Die Reise» Walsers Drogenskepsis als einen «Bogen, den ein paranoider Alkoholiker um die Selbsterkenntnis schlägt»17. Rolf Dieter Brinkmann erklärte, er ziehe eine Doors-Platte der Arbeit von «Schlampen» wie Heißenbüttel, Jürgen Becker, Baumgart oder Walser vor18, die er umstandslos dem kleinbürgerlichen Mief zuordnete. Umgekehrt sah Walser in Brinkmann den weggetretenen Egozentriker, der statt der Welt nur noch sich selbst verändern will. Drogenexperimente hielt er für hilflose Versuche, in der Konsumgesellschaft einen privaten Freiraum zu erobern und in unberührte Innenwelten zu emigrieren. An Handke, der mit seiner Beschimpfung der Gruppe 47 in Princeton Popularität erlangt hatte, störte ihn, daß der Autor berühmter war als sein Werk. Man kannte ihn, auch ohne ihn gelesen zu haben. Der Autor war die Botschaft. Er war zum Popstar geworden. Gegen diese Inszenierungsperfektion bewunderte Walser sogar Günter Grass als braven «engagierten Autor», nicht wegen der SPD-Positionen, die er vertrat, wohl aber wegen der unbeirrbaren Konsequenz, mit der er das tat.
Die Popautoren forderte er allen Ernstes dazu auf, dafür zu kämpfen, daß die Arbeitenden sich der Produktionsmittel bemächtigten. Weil er das nicht nur als Phrase verstanden wissen wollte, machte er im Suhrkamp Verlag einen neuen Vorstoß, um vielleicht doch noch die beim «Lektorenaufstand» 1968 gescheiterte Sozialisierung durchzusetzen. Er versuchte, das als Unselds ureigenstes Interesse darzustellen. War denn nicht die «altertümliche Konstitution» des Verlages daran schuld, wenn es immer noch keinen neuen, qualifizierten Lektor für die Theaterabteilung gab? Sein Brief an Unseld trug nicht gerade zur Befestigung der Freundschaft bei, wenn er schrieb: «Du kannst Dich nicht darüber beklagen, daß Mitarbeiter nur Bücher machen und nicht an den Verkauf denken, oder daß sie am Wochenende nichts wissen wollen, solange sie nur so angestellt sind. Es ist doch ein bißchen irrsinnig, Bücher zu machen, wie wir sie machen, und im Haus die Rechte zu stornieren, die in den Büchern gefordert werden. Wir hinken hinterher. Schon um konkurrenzfähig zu bleiben, d. h. um die besten Autoren zu bekommen, mußt Du die Rechtsverhältnisse ändern, also aus Haus-Egoismus. Wann legst Du den 1. Entwurf vor, daß wir diskutieren können?»19
Unseld reagierte spürbar genervt auf dieses Ansinnen, das doch darauf hinauslief, ihm die eigene Abdankung als ökonomische Ultima ratio plausibel zu machen. Ging das denn schon wieder los? «Lieber Martin», antwortete er, «zwischen Reisen, in denen ich mich aufreibe, nicht für die Profite des Suhrkamp Verlages, sondern für die Autoren, beantworte ich Deinen Brief. Du hast Sorgen, es sind nicht die meinen. Ich habe andere, und ich möchte Dich sehr bitten, mich nicht weiterhin unsicher zu machen und mir in dieser Richtung die Aktivität zu überlassen. Schon einmal ist eine solche Überlegung dadurch nicht realisiert worden, daß andere Unsinniges gefordert haben. Und denke stets daran, daß ein Verlag von der Qualität der Führung und der Mitarbeiter auf der einen Seite lebt, und auf der anderen Seite von der Substanz seiner Autoren. Arbeiten wir in fähiger Weise hier und haben wir gute Bücher, dann wird der Verlag überleben. Ich habe das in den letzten 10 Jahren gesehen und hoffe, das noch weitere 10 Jahre machen zu können. Davon, und nur davon hängt die Existenz des Verlages ab.»20
Doch Walser wollte nicht so leicht aufgeben. Er versuchte, Johnson für seine Idee zu gewinnen und eine kleine Palastrevolte anzuzetteln: «Ich falle Siegfried seit langem lästig, er reagiert auch von Mal zu Mal nervöser: ich möchte, daß der Teil oder ein Teil von dem Teil, der Siegfried gehört, auf die Mitarbeiter verteilt wird, daß daraus Rechte entstehen … das muß erarbeitet werden, gründlich. Siegfried möchte lieber eines SCHÖNEN Tages aus den Wolken treten mit einem GROSSEN Geschenk. Er ist so überanstrengt durch seine Arbeit, daß er in dieser Hinsicht die Entwicklung seiner Ansichten vernachlässigt. Wir wären also verpflichtet … ich habe meine Stimme an ihm verbraucht, er hört mich einfach nicht mehr. Überleg Du mal. Und komm mal zu einer Unterhaltung. Auch die Autoren sollten von ihrem Teil etwas überschreiben an die Verlagsmitarbeiter. Wir sollten einige Kollegen dazu bringen. Weiss, Enzensberger, Frisch und Kipphardt. Dann schließen sich vielleicht andere an.»21
Johnson war in dieser Richtung nicht erregbar. Mit dem Vorschlag, Walser solle erst mal einen Entwurf ausarbeiten, versuchte er, die Sache aufzuschieben, ohne den Freund gleich wieder zu verprellen. Die Einladung nach Nußdorf beantwortete er mit einem polemischen Gegenvorschlag: «Komm doch du hierher. Es wird dir gefallen hier. Ist doch die Waffenschmiede der Linken in dieser Stadt eingerichtet und sinken nicht bloß mehr Bankkassierer unter Kugeln zusammen, sondern auch Archivare; wird mit der Übernahme der Macht nicht mehr erst in drei Jahren, sondern bereits in drei Monaten zu rechnen sein. Und zwar hier, nicht wo du bist. Deshalb komm her, es wird dir gefallen.»22 Zwei Tage zuvor, am 14. Mai 1970 – und darauf bezieht sich Johnsons sarkastischer Kommentar –, konnte Andreas Baader mit tatkräftiger Unterstützung von Ulrike Meinhof und Horst Mahler aus der Haft entkommen. Unzureichend bewacht, nutzte er den Besuch eines Instituts der Freien Universität in Dahlem zur Flucht. Ein Angestellter wurde dabei erschossen. Damit begann die blutige Geschichte der RAF. Und es begann die Zeit, in der jede linke Bewegung für die RAF verantwortlich gemacht wurde. Der mit zunehmender Hysterie ausgetragene Kampf gegen den Terrorismus und die sogenannten Sympathisanten erhitzte das politische und kulturelle Klima in der Bundesrepublik.
Die Organisationsfrage. Antipode Grass. IG Kultur. Bachmann, Johnson, Weiss.
In der zähen Auseinandersetzung mit Unseld erlebte Walser, wie schwierig es ist, Eigentumsverhältnisse reformieren zu wollen – zumal dann, wenn auch noch die Freundschaft mit dem Verlagseigner dazwischenkommt. Einfacher als die konkrete Bemühung im kleinen ließ sich die große Umwälzung verkünden: statt der Sozialisierung eines Betriebes die Sozialisierung der Gesellschaft. Das müßte doch zu machen sein.
Das geeignete Instrument dafür war der im Sommer 1969 gegründete Schriftstellerverband. Er entstand aus dem verbreiteten Bedürfnis, die sozialpolitische Hilflosigkeit der vereinzelten Schreibenden organisatorisch zu überwinden. Damit trat er das Erbe der Gruppe 47 an, die als literarischer Freundeskreis nicht in der Lage war, die anstehenden sozialpolitischen Aufgaben zu bewältigen. Zum ersten Vorsitzenden wurde der Sozialdemokrat Dieter Lattmann gewählt, ein Grenzgänger zwischen Schriftstellerei und Politik, der später, von 1972 bis 1980, für die SPD in den Bundestag einzog. Er hatte es mit großem Geschick und mit der Unterstützung renommierter Autoren wie Heinrich Böll und Günter Grass geschafft, die in Landesverbänden zersplitterten Berufsgenossenschaften der Schriftsteller in einem einheitlichen Bundesverband, dem VS, zu vereinigen. Bei der Gründungsveranstaltung in Köln kündigte er vorsichtig die gewerkschaftliche Orientierung an. Lattmann mußte das Kunststück vollbringen, Linksradikale aller Art, Gewerkschaftstraditionalisten, Sozialdemokraten und konservativ Gestimmte zusammenzuführen. «Einigkeit der Einzelgänger» lautete die von Böll geprägte Parole. Von Anfang an litt die Arbeit im VS unter politischer Fraktionierung, unter ständigem gegenseitigem Mißtrauen der ideologischen Gruppierungen. Der VS war ein Spiegelbild der bundesdeutschen Linken. Fürchteten die einen die kommunistische Unterwanderung, kämpften die anderen gegen die Vorherrschaft sozialdemokratischer Politik des Machbaren.
Gewerkschaftliche Orientierung klang harmlos, bedeutete aber, ein neues schriftstellerisches Selbstverständnis durchzusetzen. In ihrer Mehrzahl begriffen die Autoren sich nicht mehr als ungebundene Dichter, sondern als arbeitnehmerähnliche Erwerbstätige im Mediengewerbe oder – wie es mit Adorno hieß – in der Kulturindustrie. Sie waren zwar «Freiberufler», aber als solche abhängig von ihren Auftraggebern in den Redaktionen und Verlagen. Der angestrebte Gewerkschaftsbeitritt war nicht nur eine praktische, sondern auch eine ideologische Frage. Damit entschied sich symbolisch die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Die Schriftsteller taten kund, nicht mehr dem Bürgertum, sondern dem Proletariat zugerechnet werden zu wollen.
Walser und seine Mitstreiter aus der DKP sahen im VS eine Plattform, um gesellschaftliche «Gegenmacht» zu den Verlagsmonopolen aufzubauen. Eine Gruppe mit Frank Benseler, Friedrich Hitzer, Agnes Hüfner, Oskar Neumann, Erika Runge, Josef Schleifstein, Erasmus Schöfer, Peter Schütt und Conrad Schuhler, die eine Art kommunistischer Plattform bildeten, traf sich in Frankfurt, um den Kongreß «vorzubereiten»23. Walser nahm an diesem konspirativ anmutenden Treffen nicht teil. Er machte gegenüber Hitzer deutlich, daß er für eine offen auftretende sozialistische Gruppierung innerhalb des VS sei. Das Herumtaktieren, Strategiepapierentwerfen und verklemmt für die Gewerkschaft werben, damit aber heimlich den Sozialismus meinen, das war nicht seine Sache. Verbandspolitik, Gremienarbeit, Ausschuß-Sitzungen und was alles dazugehört, ebensowenig. Und doch versuchte er während mehrerer Jahre, das politisch Visionäre, das ihm mehr lag, mit der mühseligen Alltagsarbeit zu verbinden. «Abhängigkeit» ist sein literarisches Lebensthema. Im Schriftstellerverband ging er es politisch an.
Der erste Bundeskongreß des VS im November 1970 in Stuttgart war ein großes kulturpolitisches Ereignis. Zur Abendveranstaltung im Beethovensaal kam Bundeskanzler Willy Brandt – eine Reverenz der Macht an die Intellektuellen. Nach ihm sprachen Heinrich Böll und Günter Grass, dann, als dritter prominenter Vertreter des VS, Martin Walser. Lattmann wollte mit ihm auch den linken Flügel einbinden. Walsers Rede machte Furore. Es ging ihm um mehr als um bessere Tarife. Ein VS als sozialdemokratische Tochtergesellschaft konnte nicht das erstrebte Ziel sein. Während Grass den Gewerkschaftsgedanken vorsichtig umkreiste, war Walser schon einen Schritt weiter. Wo Grass sich an den Beitritt zur IG Druck & Papier herantastete, schwebte ihm eine Großgewerkschaft aller Kulturschaffenden vor. Die Dienstleistungsfunktion der Gewerkschaft, die Verbesserung der sozialen Lage der Autoren – schön und gut. Die Verbesserung des Urheberrechts – durchaus wünschenswert, aber doch bloß eine Modifikation der Abhängigkeit auf dem kapitalistischen Markt der Meinungen. Am «Ausbeutungsprinzip» änderte sich damit grundsätzlich nichts. Während Grass versuchte, den Gewerkschaftern die Künstler als exotische Störenfriede schmackhaft zu machen, setzte Walser zur Kritik der Gewerkschaften an, die immer noch nicht begriffen hätten, daß es sich «da, wo Kunst und Kultur produziert werden, tatsächlich um eine Industrie handelt». Journalisten, Musiker, bildende Künstler, Grafiker, Bühnenbildner, Schauspieler, Kameraleute, Regisseure und «Literaturproduzenten» müßten sich Formen der Zusammenarbeit überlegen, um eine schlagkräftige Gegenmacht gegen Großkonzerne und Großkapital aufzubauen. Ziel: die «IG Kultur». Damit prägte Walser den Begriff, der die Entwicklung bis hin zur Gründung der IG Medien in den achtziger Jahren bestimmte.
Walsers Auftritt als Utopist verärgerte den Realisten Grass. Walser hatte ihm die Schau gestohlen. Schlimmer noch: Er hatte gegen sozialdemokratische Politik polemisiert, wo doch Brandt in seiner Rede um Unterstützung für die neue Ostpolitik geworben hatte. Sollte diese Politik scheitern – zwei Wochen nach dem Kongreß reiste Brandt nach Polen und kniete vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto nieder –, dann müsse sich auch Walser für dieses Scheitern verantwortlich fühlen. Grass schrieb am nächsten Tag einen geharnischten Brief, den Walser als «saugrob» empfand. Grass warf ihm einen demagogischen Diskussionsstil vor. Im «Verkünden von Maximalforderungen» sei er immer großzügig gewesen, nun aber habe er falsche Informationen verbreitet, um den Kollegen Thaddäus Troll als Gewerkschaftsgegner zu denunzieren. Grass tobte: «Ich weiß nicht, ob Du Dir bewußt bist, welchen Schaden Du – spontan oder überlegt – angerichtet hast; doch soviel sollst Du wissen: die Drecksarbeit, die politische Mühsal (und sie allein bewirkt Veränderungen) überläßt Du huldvoll Deinen Kollegen. Hochmütig spendest Du süperbe Ideen: vor einigen Jahren das Vietnam-Büro, diesmal den Feuilletonknüller Industriegewerkschaft Kultur; nur machen fällt Dir schwer, diesen Part überläßt Du gerne Deinen Kollegen: sie mögen’s ausbaden.»24
Doch Grass lag in seinem sozialdemokratischen Zorn falsch. Für Walser war die Arbeit keineswegs mit dem Kongreß erledigt. Zusammen mit Frieder Hitzer gründete er im Januar 1971 den «Arbeitskreis Kulturindustrie» und lud zu einem ersten Gespräch nach München, an dem unter anderem sein Malerfreund Carlo Schellemann, die Autoren Uwe Timm, Reinhard Baumgart und Erika Runge sowie der Journalist Eckart Spoo teilnahmen. Er mußte unbedingt den Eindruck zerstreuen, er habe sich mit seinem Stuttgarter Auftritt persönlich profilieren wollen. Sein Vorschlag: Eine Dokumentation über Abhängigkeitsverhältnisse in der Kulturindustrie sollte entstehen, um «die Erfahrungen der Abhängigkeit festzuhalten und dem Bedürfnis nach Organisierung entgegenzukommen»25.
Bis zum Hamburger VS-Kongreß 1973, auf dem der Beitritt zur IG Druck & Papier beschlossen wurde, arbeitete er kontinuierlich im Arbeitskreis mit. Die Vision der IG Kultur näherte sich in dieser Zeit an die Wirklichkeit der IG Druck an: Nicht mehr die Künstlergewerkschaft, sondern die Gemeinschaft mit Technikern, Druckern und allen, die die «Produktionsmittel» bedienten, stand nun im Vordergrund. Trotzdem warb Walser weiter um Künstler wie HAP Grieshaber. Und zusammen mit dem gewerkschaftsengagierten Berliner Autor Hannes Schwenger zeichnete er verantwortlich für ein Flugblatt mit dem dröhnenden Titel: «Gegen Abhängigkeit hilft nur gemeinsamer Kampf»26. Viermal traf sich der Arbeitskreis zum Erfahrungsaustausch.
Fast schon erstaunt reagierte der in den VS-Vorstand gewählte Reinhard Baumgart, als Walser ihm nach einem dieser Treffen von Ingeborg Bachmanns Roman «Malina» erzählte. Vor lauter Kampfrhetorik war die Literatur etwas in den Hintergrund geraten. Und doch waren es Bücher wie das der Bachmann, für die der «Kampf gegen Abhängigkeit» lohnte.27 In Stuttgart hatte Walser sich am Rande des Kongresses mit Unseld getroffen und über «Malina» gesprochen. In Unselds Auftrag flog er von dort aus nach Rom, um mit ihr die endgültige Fassung des Textes zu erarbeiten. Bachmann legte großen Wert darauf, daß Walser und möglichst auch Uwe Johnson ihr Manuskript läsen. Sie schätzte Walser als gründlichen Lektor. Tatsächlich wurde der Text, dessen Abgabe sie immer wieder verschoben hatte, nach den Tagen in Rom mit Walsers Rat und Hilfe endlich fertig.
Noch war er kommissarischer Leiter des Suhrkamp Theater-Verlages. Er arbeitete an der Übersetzung eines Stückes von Christopher Hampton, empfahl Franz Xaver Kroetz fürs Suhrkamp-Theaterstipendium, begeisterte sich für Yasushi Inoues «Stierkampf» und regte für die Bibliothek Suhrkamp Ausgaben von Dylan Thomas und Jewgenij Jewtuschenko an. Für freie Lektüre nebenbei blieb keine Zeit. Johnson war der einzige Autor, von dem er alles gelesen hatte, Thomas Bernhard daneben der interessanteste der jüngeren Autoren.28 Daß er außerdem schon wieder mit Häftlingsliteratur beschäftigt war, gefiel Unseld überhaupt nicht. «Ich Herby» oder «Herby Derby» oder «Meine erste Million» sollte der Tatsachenroman eines Wirtschaftskriminellen aus dem Gefängnis heißen, den Walser als «Traven der jüngsten Zeit» anpries. Unseld fand das Manuskript plump sozialkritisch und lehnte es mit den Worten ab: «Karl Marx als Antikapitalisten-Hippie muß ja auch Dir nicht sonderlich gefallen haben.»29
In den obligatorischen Skiurlaub zum Jahresende nahm Walser zwei wichtige Manuskripte nach Graubünden mit: den zweiten Teil von Johnsons «Jahrestagen» und das neue Stück von Peter Weiss mit dem Titel «Hölderlin». Dort, im Örtchen Sarn, hatte er 1969 ein kleines Haus erworben, das die Familie nun regelmäßig für Winterurlaube nutzte. Vormittags fuhr er Ski, nachmittags arbeitete er. Doch es war voll im Haus mit Frau und Töchtern, mit Tante und Hund, die sich gegen Abend alle in einem Raum versammelten. Lag es daran, daß er sich schwertat, in Johnsons «Jahrestage» hineinzukommen? Stolpernd las er die ersten achtzig Seiten, interessiert immer dann, wenn es um Jerichow und Mecklenburg ging, eher gelangweilt bei den New-York-Szenen. Daß Johnson ausgerechnet die New York Times in literarische Höhen hinaufzitierte – und das während des Vietnam-Krieges! –, wollte er nicht unwidersprochen akzeptieren. Diplomatisch bemängelte er: «Die Nachrichten sind eine Belastung, man kriegt ohnehin schon zuviel davon, jetzt stellst Du auch noch Dich dafür zur Verfügung. Und gesagt ist oft weniger dadurch, als Du zu glauben scheinst.»30 Obwohl er sich bemühte, Johnson zu ermuntern, und am Rand seines Briefes ergänzte: «Lieber Uwe, ich genier mich, weil ich Dir nicht gesagt habe, wie gut sich das doch liest. Wenn man drin ist. Eine Menge Bewunderung habe ich vergessen Dir auszudrücken für die Festigkeit dieser Erzählung oder des Erzählens» – Johnson war verstimmt. Könnte es sein, daß Martin mit den außerdeutschen Lokalitäten deshalb nichts anfangen könne, weil er sie nicht mit Assoziationen anzureichern vermöge?31 fragte er mit Beleidigungsabsicht und deutete damit an, daß sein Freund eben ein unverbesserlicher Provinzmuffel sei.
Mit Peter Weiss’ «Hölderlin» war Walser offiziell befaßt. Einen kompetenteren Lektor in Sachen Hölderlin hätte es kaum geben können. Einen, der Weiss weniger widersprochen hätte in der einseitigen Parteinahme für Hölderlin als kompromißlosen Revolutionär und gegen die angepaßten Etablierten Hegel, Goethe und Schiller, auch nicht. Anfang des Jahres hatte er in Verlagsmission bereits für Weiss’ «Trotzki» gekämpft, der nach der Uraufführung in Düsseldorf heftig verrissen wurde. Auf einen Artikel Ivan Nagels in der Süddeutschen hatte Walser sogar eine Gegendarstellung geschrieben und Nagel nahegelegt, sich in Zukunft mit seinen «hübschen schmerzlichen Gepflegtheiten» zu befassen und politische Stücke, von denen er nichts verstehe, zu meiden.32 Ein Mißerfolg wie mit dem «Trotzki» durfte sich nicht noch einmal wiederholen, und so kniete Walser sich in die Lektorenarbeit. Seinen langen Brief an Weiss schrieb er auf die Rückseite eines Manuskriptes des Ravensburger Kollegen Josef W. Janker. Es war, wie er Weiss erklärte, eine Gewohnheit seit 1941, stets die Rückseiten beschriebenen Papiers zu benutzen, auch für die eigene Arbeit.
Die Anmerkungen gingen bis ins Detail, enthielten alternative Szenenentwürfe und den Vorschlag, die Hölderlin-Figur dürfe nicht Onanist, sondern müsse Bettnässer sein, wenn es sich um ein Laster handeln solle. Der Lektor Walser ließ sich als Autor mitreißen, wollte sich aber nützlich in den Dienst des Kollegen stellen. Das Stück begeistere ihn, schrieb er. Alles, was er vorschlage, betreffe lediglich «das bessere Liegen des Stückes im Theaterelement». Am «Trotzki» habe man gesehen, daß die Theater etwas abstoßen, wenn es nicht «getrimmt» sei. Nun bat er um Geduld. «Trimmen» sei nichts Wesentliches, nichts, was die Substanz des Stückes verändere.33 Weiss dankte für die Kritik, die ihm helfe, auf den richtigen Weg zu geraten, und hoffte, sich eines Tages revanchieren zu können.34 Als er neun Monate später das fertige Stück schickte, dankte Walser überschwenglich: «Lieber Peter, heute ist Dein schöner Hölderlin hier eingetroffen. Ich war gerührt und noch etwas mehr beschämt, weil Du mir eine übertriebene Notiz gegönnt hast. Danke.»35
Ein Kinderspiel. Ein Versteckspiel. Der Dra-Drache. DKP-Forum.
Mit einem eigenen Stück erlebte Walser am 22. April 1971 einen neuerlichen, demoralisierenden Theatermißerfolg. Alfred Kirchner inszenierte «Ein Kinderspiel» am Stuttgarter Staatstheater. Walser wollte den Generationenkonflikt spielerisch auf die Bühne bringen. Er knüpfte an den «Schwarzen Schwan» an, verzichtete allerdings auf den historischen Hintergrund des Faschismus. Nun sind alle familiären Konflikte hausgemacht. Asti und Bille, Bruder und Schwester, warten in einem Ferienhäuschen in den Bergen auf den Vater und die Stiefmutter. Die Wartezeit nutzen sie, um sich Szenen ihrer Kindheit und die Konfrontation mit dem Vater vorzuspielen. Heuchelei, Dressur, sexuelle Unfreiheit sind die Stichworte, unter denen die Geschwister, zwanzig und 23 Jahre alt, ihre Erfahrungen in der «bürgerlichen Familie» abhandeln. Asti verspricht, den Vater bei seinem Eintreffen zu erschießen. Die Revolte bleibt dann aber aus. Sie ist selbst nur ein Spiel. Walser jongliert mit den revolutionären Sehnsüchten der Studentenbewegung. Ob es um sexuelle Libertinage geht oder um Fidel Castro und Che Guevara: Es ist alles nur Gerede. Handlung, Aktion, Veränderung sind nicht zu erwarten, schon gar nicht auf der Theaterbühne. Das Stück mußte entschlossenen Linken ebenso mißfallen wie dem bürgerlichen Publikum. Den einen, weil sie sich nicht ernst genommen, den anderen, weil sie sich durchschaut fühlen konnten.
Schon Wochen vor der Premiere fürchtete Walser, das Stück werde an seinem zweiten Akt untergehen.36 Tatsächlich fiel der zweite Akt deutlich ab. Die direkte Konfrontation des Sohnes mit dem Vater führte nicht über die Spielszenen des ersten Aktes hinaus. Um das Stück zu retten, schrieb er 1975 einen neuen zweiten Akt, der auch 1975 spielt, während der erste Akt 1968 angesiedelt ist. Asti wird dann zum hypererfolgreichen Spielzeugproduzenten, Bille blickt auf eine Laufbahn als Terroristin zurück. Damit trug er die Erfahrungen der siebziger Jahre nach und verschärfte seine Kritik an der Phrasenhaftigkeit der 68er-Revolte. Asti diente nun als Exempel dafür, wie bruchlos der Übergang vom anarchistischen Revoluzzertum in die Höhen des Kapitalismus zu bewältigen war. Erst in dieser überarbeiteten Fassung bekommt das Stück dramatisches Potential: Das Spiel der Revolution wird in den Ernst des Lebens überführt. 1971 aber verpufften die Konflikte im Spiel.
Reinhard Baumgart bezeichnete das Stück in der Süddeutschen als «Konfekt mit roten Schleifchen», mißverstand die Intention als «Wille zum Sozialismus» und sah bloß eine «Sketch-Serie». Walsers Fähigkeiten als Theaterautor stellte er mit Argumenten in Frage, die noch gegen jedes seiner Stücke erhoben worden waren: «Wieder einmal hängt diesen Walser-Figuren ihr Innenleben so geistreich aus dem Mund, sind die schon räsonierend derart fix und fertig, daß man sich zu bald und zu müde fragt, wozu sie denn überhaupt noch fleischlich und dreidimensional, als Schauspieler also, auf der Bühne erscheinen sollten. Waren das nicht Meinungen über Figuren eher als Figuren, Bündel von Aperçus, an denen Ohren, Beine, Arme, wie etwas Verlegenes und Überflüssiges, hängen würden?»37
Walser hatte es ja geahnt, und doch nahmen ihn die «neuesten Umstände» nach der mißglückten Inszenierung so sehr mit, daß er einen Besuch bei Johnson in Berlin absagte und auch den Plan einer gemeinsamen Wanderung vom Bodensee nach Graubünden aufschob. Ja, gestand er, es sei wegen Stuttgart, wenn auch nur zum Teil aus «tragischer Empfindung». Allein Baumgarts Kritik habe ihm «wirklich Schmerz zugefügt, weil er einen so (find ich) gemeinen Ton gewählt hat, den gemeinsten von allen, die ich las»38. Noch im September, als dann Peter Weiss’ «Hölderlin» in Stuttgart uraufgeführt wurde, hing ihm die Sache so sehr nach, daß er nicht zur Premiere kam, um den befürchteten Mitleids- und Spottbekundungen zu entgehen. Weil er die «teilnehmenden Blicke» fürchtete, bat er um Verständnis dafür, den «Hölderlin» erst eine Woche später anzuschauen – ohne die Gefahr, Kritikern zu begegnen.39
Mehr als die schlechte Kritik beunruhigten ihn die finanziellen Folgen. Ein Debakel wie in Stuttgart wirkte vernichtend auf den stets von Untergangsängsten und Verarmungsphantasien geplagten Autor, der eine sechsköpfige Familie ernähren mußte. Jetzt rechnete er voraus, daß er bis Herbst 1972 nichts mehr auf den Markt bringen würde, und auch dann könne er nur etwas verkaufen, wenn er sofort mit der Arbeit beginne. Wie könnte er sich in dieser Lage auf eine fröhliche Wanderung einlassen?40
So ganz entsprach diese Rechnung nicht den Tatsachen. Der nächste Roman war schon fertig. Im März hatte er «Die Gallistl’sche Krankheit» im Verlag eingereicht, allerdings nicht unter seinem Namen, sondern unter dem Pseudonym Carl O. Abrell. Zusammen mit Johnson hatte er das böse Spiel ausgeheckt und sich eine konspirative Berliner Tarnadresse zugelegt. Er wollte ausprobieren, ob er eine zweite Existenz als Autor starten könnte. Er glaubte, deshalb erfolglos zu sein, weil er in der Öffentlichkeit als DKPler galt und Kommunisten in der Bundesrepublik keine Chance erhielten. Nun wollte er wissen, wie der Verlag sich zum Manuskript eines unbekannten Autors verhielte, in dem es ausdrücklich um den Sozialismus ging. Ein anderes, schlichteres Motiv für die Aktion könnte einfach nur darin bestanden haben, dem nicht sonderlich geschätzten Lektor Thomas Beckermann einen Streich zu spielen.
Beckermann tat Walser den Gefallen und lehnte das Manuskript des unbekannten Autors Carl O. Abrell ab. Seine Begründung: «Dieser Roman ist teilweise gut geschrieben, doch stellt sich auf die Dauer ein ungutes Gefühl ein. Bedingt durch die radikale Subjektivität des Erzählanlasses werden die einzelnen Passagen gleichförmig, wird keine Krankengeschichte aufgezeichnet, sondern es wird eine endlose Reihe von Paraphrasen gegeben. Ich glaube, daß dies im wesentlichen durch additive Form verursacht wird.»41 Es wäre zu einfach, Beckermann Blindheit vorzuwerfen. Hätte er als Walser-Lektor die Walser-Prosa nicht sofort erkennen müssen? Zu wissen, daß der Name Abrell schon im «Einhorn» an verborgener Stelle42 vorkam, wäre zuviel verlangt, Walser an seinem Stil zu erkennen, trotzdem möglich gewesen. Und doch ist es das gute Recht eines Lektors, das Manuskript eines Namenlosen anders zu beurteilen, als er es im Werkkontext eines eingeführten Autors eingeordnet hätte. Beispielsweise kann es geraten sein, einen schwächeren Text mitzutragen, wenn der eine Entwicklungsstufe markiert.
Walser war in seinem Zustimmungshunger unersättlich. Er wollte, daß der Verlag sich jeden seiner Texte mit allem Nachdruck und rückhaltloser Überzeugung zu eigen mache. Er wollte nicht nur gedruckt, sondern auch geliebt werden, nicht ein Autor, sondern der Autor des Verlages sein. In dieser Hinsicht fühlte er sich in der letzten Zeit schlecht behandelt. Die Erfahrungen, die er mit dem «Gallistl» machte, verstärkten dieses Gefühl. Also spielte er das Spiel ein bißchen weiter und schickte das maskierte Manuskript an Unseld: «Hier das Manuskript von Carl O. Abrell. Bitte sprich mit niemandem darüber, sag mir einfach, was Du davon hältst und basta.»43 Das Inkognito war nicht mehr durchzuhalten. Thomas Beckermann mußte sich erneut mit dem Roman befassen, nun als Walser-Prosa, und er versuchte tapfer, die Kurve zu bekommen. Je länger er darüber sitze, so teilte er mit, um so interessanter und wichtiger werde ihm die «Gallistl’sche Krankheit», ja, er erkannte nun gar einen «Schlüsseltext» darin.44 Doch das Verhältnis war nicht mehr zu kitten. Nach dem «Gallistl» übernahm die Lyrikerin Elisabeth Borchers, die als neue Lektorin in den Suhrkamp Verlag kam, die Arbeit mit Martin Walser.
Die politische Empfindlichkeit Walsers, der sich als Sozialist in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit bis zur materiellen Vernichtung ausgegrenzt fühlte, zeigte sich erneut im Mai 1971 in Sachen Heinar Kipphardt. Wieder war Günter Grass der Gegenspieler. Kipphardt, 1959 aus der DDR in den Westen übergesiedelt, war seit 1969 Chef-Dramaturg der Münchner Kammerspiele. Dort zeichnete er für die Inszenierung von Wolf Biermanns Stück «Der Dra-Dra» verantwortlich, einer Bearbeitung der Stalinismus-Parabel «Der Drache» von Jewgenij Schwarz. Gemäß Biermanns Anweisung, jeweils den im eigenen Land herrschenden «Drachen» zu bekämpfen, interpretierte Regisseur Hansgünter Heyme das Stück antikapitalistisch um. Im Programmheft sollte eine Fotogalerie der Mächtigen des Landes verdeutlichen, wer zu den «Drachen» gehörte. Die Bilder reichten von Hermann Josef Abs über Axel Springer bis zum Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und zu Franz Josef Strauß. Zu sehen bekam sie allerdings niemand. Auf Geheiß des Intendanten August Everding wurden sie zurückgezogen. Das Programmheft erschien mit zwei weißen Seiten.
Kipphardts Vertrag wurde in der Folge nicht verlängert. Ein anklagender Artikel von Günter Grass trug zweifellos zu dieser Entscheidung bei.45 Grass sah in den Fotos eine «Abschußliste», einen Aufruf zur «Lynchjustiz». Aus Kipphardt, den er «zwischen Joseph Goebbels und Eduard von Schnitzler» verortete, machte er einen Sympathisanten des Terrorismus. Daß Biermanns Stück antikapitalistisch umgepolt wurde, mißfiel ihm ebenfalls. Walser dagegen solidarisierte sich entschieden mit Kipphardt und forderte dessen Wiedereinstellung. Er hatte erfahren, daß die schlechte Programmbuchidee gar nicht von Kipphardt stammte. Vielmehr habe Kipphardt sie dem Intendanten deshalb vorgelegt, weil er sie problematisch fand. Warum also sollte er bestraft werden? Grass hatte sich demnach der üblen Nachrede schuldig gemacht. Die «Hexenjagd», die Kipphardt vorgeworfen wurde, fiel als Vorwurf auf Grass zurück.46
Der wenig erquickliche Streit wirft ein Schlaglicht auf die politische Stimmung in der Bundesrepublik, in der die SPD wenig später den Radikalenerlaß vorbereitete, um die sogenannten linken Extremisten vom öffentlichen Dienst auszuschließen. Es ist leicht vorstellbar, was es bedeutete, wenn ein Autor wie Walser Mitte Juni 1971 beim Kulturpolitischen Forum der DKP in Nürnberg auftrat. In «Elf Punkten für ein Arbeitsprogramm» legte er dort ein Bekenntnis zum Sozialismus ab – ähnlich wie Peter Weiss das in den sechziger Jahren mit seinen «Zehn Punkten» getan hatte. Bei Walser aber kam das Bekenntnis weniger aus der Theorie als aus dem Gefühl oder, wie er es nannte, aus der Erfahrung. Er äußerte sich nicht als Theoretiker, sondern als Poet. Und wenn er von «Theorie» sprach, dann klang das so: «Schön blüht und ohne Zweifel rot die Tendenz: dem Bestehenden ziehen wir das Bessere vor: den Sozialismus wie er im Buche steht: schön und beweisbar.»47 Man könnte glauben, da habe jemand Bertolt Brecht mit Erich Fried gekreuzt. Es war aber tatsächlich Martin Walser, der sich da im Poesiealbumgenre versuchte.
Moskaureise. USA-Nachrichten. Lechts und rinks. Krankheitsbild Gallistl.
Eine Woche nach dem Auftritt in Nürnberg brach Walser zu einer vierzehntägigen Reise in die Sowjetunion auf. In Moskau war er zu einem internationalen Schriftstellerkongreß eingeladen. Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, «tödlich für jede Hoffnung»48. Vier Tage hörte er von früh bis spät Schriftstellern aus allen Sowjetrepubliken zu, die darüber berichteten, wie sie in den vergangenen fünf Jahren den literarischen Produktionsplan erfüllten oder übertrafen. Sogar die Apologeten des sozialistischen Realismus bemängelten die Leblosigkeit der Reden und der Literatur.49
Walser agierte erstaunlich naiv oder unbeeindruckt von den Verhältnissen. Als ihn eine Journalistin im Hotelzimmer abholte, fragte er in aller Unschuld und um überhaupt etwas zu sagen: «Wie geht es Herrn Solschenizyn?» Er sei wohl wahnsinnig, wurde er auf der Straße angeherrscht, im Hotelzimmer so etwas zu fragen.50 Solschenizyn, der mit seinen Romanen über die stalinistischen Straflager im Westen gefeiert und 1970 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war als Systemgegner in der Sowjetunion zunehmenden Repressalien ausgesetzt. Schon 1969 wurde er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Walsers Hauptbekanntschaft auf dieser Reise war der Schriftsteller Lew Ginsburg, mit dem er auch die Abende verbrachte. Ginsburg gehörte zu den Autoren, die er Unseld für den Suhrkamp Verlag empfahl. Eine andere Entdeckung war der Kirgise Tschingis Aitmatow, damals im Westen noch völlig unbekannt, eine imposante Figur: «40, muskulös, Star, Weltberühmtheitsbenehmen, hat versprochen, mir sein nächstes Buch zu schicken.»51
Daß Walser im Restaurant des Hotels «Moskwa» mit dem funktionärshaften DDR-Staatsdichter Hermann Kant an einem Tisch zu sitzen kam, hatte weniger mit gegenseitiger Sympathie zu tun als damit, daß die Gastgeber die Deutschen ohne Rücksicht auf Ost-West-Differenzen umstandslos nebeneinander plazierten. Kant berichtet von diesem Zusammentreffen in seinen Memoiren. Demnach führte Walser bei Tisch das große Wort und machte sich einen Spaß daraus, den ostdeutschen Kollegen ein bißchen zu ärgern. «Er brachte es fertig, mit Blick auf Gorkistraße, Manege, Kremltürme und Roten Platz die Abwesenheit von Welt und eigentlich auch Weltgeschichte zu beklagen, und weil er nun einmal dabei war, befand er, eine Siedlung, in der es keine Stadtpläne zu kaufen gebe, könne nicht verlangen, von ihm als urbaner Vorgang hoch veranschlagt zu werden.»52 Das wollte Kant nicht auf die sozialistischen Metropole kommen lassen. Er ging los, kaufte in einem benachbarten Kiosk einen Stadtplan und überreichte ihn Walser, damit der «Moskau die Stadtrechte nicht länger verweigere». Walser schloß daraus auf ein inniges Verhältnis zwischen Kant und dem KGB und ignorierte das peinliche Schweigen der Dolmetscher. Ein wenig säuerlich merkte Kant an: «Bruder Martin hatte seinen humorlosen Spaß, und das zählte.» Kant, der es gewohnt war, jedes Wort innerlich sämtlichen höhergestellten Instanzen zur Genehmigung vorzulegen, beneidete den Westdeutschen dafür, sich spontan äußern zu können, auch wenn er das als «machtgeschützte Oberflächlichkeit» abtat. Er sah in Walser nicht zu Unrecht einen Meister in der Kunst, Gedanken erst während des Redens zu entwickeln.
In Berlin blätterte Uwe Johnson jeden Tag gespannt die Zeitung durch, immer in Erwartung, einen Bericht von Walser zu finden. Er sammelte alle Texte über ihn, besonders die negativen, und heftete sie mit dem archivierten Briefwechsel ab. Was so entstand, glich eher einer Geheimdienstakte als einer Korrespondenz. Die Hinterlassenschaft zeugt vom zunehmenden Mißtrauen Johnsons und vom allmählichen Zerfall der Freundschaft. Aufmerksam verfolgte er einen Bericht in der Fernsehsendung Aspekte, wo Walser nach seiner Rückkehr erklärte, er suche nach einer Entsprechung für sozialistischen Realismus im Westen, also einen «kapitalistischen Realismus». Das müsse eine Literatur sein, die ihre Abhängigkeit durchschaue. Johnson schrieb Walsers Auskunft mit, er sei «noch kein Kommunist, wolle sich solchen Absimpelungen auch nicht zur Verfügung stellen, aber wenn er einer werde, wolle er ein wirklicher Kommunist werden». Gleich nach der Sendung rief er in Nußdorf an und notierte sich Walsers Antwort auf die Frage, ob er Solschenizyn kennengelernt habe: «Den brauche ich nicht kennenzulernen, den kennen schon so viele.»53 Ähnlich reagierte Walser in einem Zeitungsinterview auf die Frage nach sowjetischen Straflagern. Da konterte er die Solschenizyn-Frage mit dem Hinweis auf amerikanische Napalmbomben in Vietnam und sagte: «Wer Parteien unterstützt oder Regierungen, die das USA-Verbrechen in Vietnam seit Jahr und Tag billigen, der hat sein Recht verwirkt, auf die zwei bis vier Fälle von Verurteilungen russischer Schriftsteller hinzuweisen.»54
Das Argument war billig. Die Moral war geteilt. Parteilichkeit galt in der geteilten Welt mehr als Gerechtigkeit, und so erklärte Walser: «Die Literatur muß also parteilich sein. Das ist ein Vorgang, der bei uns dem Gelächter preisgegeben wird. Aber was ist denn Parteilichkeit bei uns? Wessen Partei vertrete ich, wenn ich glaube, keine Partei zu vertreten? (…) Ich meine, jeder fühlt sich frei und in Freiheit. Und jeder glaubt, in der Sowjetunion gebe es nur befohlene Haltungen. Wer merkt hier schon, daß das Bewußtsein, das sich ausdrückt in Theateraufführungen, in unseren Kritiken (…) gesellschaftlich bedingtes Ergebnis ist.»55 Seine Sätze wären richtiger gewesen, wenn er die Kritik an der Sowjetunion nicht ausgeblendet hätte. Das ist um so erstaunlicher, da er seine Moskau-Reise doch als so desillusionierend empfand. Darüber öffentlich zu sprechen wäre aber politischem Verrat gleichgekommen. Stalinismus war nicht kritisierbar, weil er damit den Antikommunisten Argumente geliefert hätte. Zwanzig Jahre später begründete Walser seine damalige Zurückhaltung anders. Sie sei aus Rücksicht auf Menschen in der Sowjetunion unterblieben. Es wäre ihm unanständig erschienen, sich kritisch über ihre Lebenssituation zu erheben.
Weniger skrupulös war er in seiner Kritik an den Verhältnissen in den USA. Die skandalöse Verhaftung der schwarzen Bürgerrechtlerin Angela Davis war ihm Anlaß, die «faschistischen Züge» der amerikanischen Gesellschaft anzuprangern. Der Rassismus, die Klassenverhältnisse, die in der Verhaftung einer schwarzen Kommunistin ihren konsequenten Ausdruck fanden, dienten als Exempel kapitalistischer Machtverhältnisse und ließen die westdeutschen Entwicklungsmöglichkeiten ahnen. Als Redner bei einer Demonstration auf dem Münchner Marienplatz rief er aus: «Das ist nicht mehr der Faschismus, der seine Taten unter Fahnen und Fanfaren, sondern seufzend vollbringt. Sozusagen widerwillig wendet er Gewalt an. (…) Man erwarte also nicht die Wiederauflage des Nazismus. Die wirklich gefährlichen Attentate auf die demokratische Entwicklung kommen nicht von der NPD, sondern von denen, die unsere Entwicklung zur Demokratie stoppen im Namen ihrer Schein-Demokratie.»56 Walser überhöhte damit seinen politischen Aktionismus zum neuen Antifaschismus und verlagerte den Faschismus nach Kalifornien, wenn er sagte: «Die kalifornischen Faschisten werden es nicht wagen, eine Angela Davis in die Gaskammern zu schicken, die von der aufmerksamen Sympathie der Weltöffentlichkeit getragen wird.»57
Wieder einmal zeigt sich, wie stark die deutsche Vergangenheit die geteilte politische Moral der Gegenwart dominierte. Wenn Auschwitz in Vietnam lag, war es nur logisch, daß Amerika für den neuen Faschismus stand und dort die Gaskammern der Gegenwart zu finden waren. Auch das andere, das sogenannte «bürgerliche» politische Lager argumentierte leichtfertig mit historischen Parallelen. Der allgegenwärtige Antikommunismus betrachtete die sowjetischen Gulags als Entsprechung der KZs und sah im Sozialismus die zweite totalitäre Diktatur des Jahrhunderts. Wenn die Demokratie sich demnach im Kampf gegen die Unfreiheit der sozialistischen Länder zu bewähren hatte, ließ sich auch diese Auseinandersetzung zum Antifaschismus veredeln. Der Zorn eines Günter Grass gegen die Münchner Inszenierung des Biermann-Stückes als antikapitalistische Parabel hatte ja auch damit zu tun, daß hier zwei Weltwahrnehmungsmodelle – Antikapitalismus und Antikommunismus – aufeinanderprallten. Der Streit darüber zeigt, wie betonverbunkert die Fronten «links» und «rechts» einander gegenüberstanden.
Walser war Teil dieser Anordnung. Er schärfte den Gegensatz mit seinen Statements und litt unter der zunehmenden Isolation. Die Jahre, in denen die Studentenproteste die westlichen Gesellschaften in Bewegung gebracht hatten, waren vorbei. Intellektuelle, die damals als Linke firmierten, reihten sich nun wieder als Liberale ins akzeptierte Spektrum ein. Die sozialliberale Koalition stärkte das Gefühl, es habe sich tatsächlich etwas geändert, man sei angekommen in einer demokratischeren Wirklichkeit. So verteidigte nun die etablierte Mitte ihre Position gegen die Radikalen von rechts und links. Es herrschte, wie Walser in einem Rundfunkessay beklagte, eine große Einheit, die von Süddeutscher Zeitung bis zur Welt, von Grass bis Thilo Koch, von Reinhard Baumgart bis Marcel Reich-Ranicki reichte. Und die Kritiker waren für ihn die schlimmsten Ideologen: «Verblüffend ist immer wieder, daß die Literaturkritiker ganz offensichtlich der Meinung sind, sie versähen ihr Urteilsgeschäft nach literarischen Maßstäben. Vielleicht kommt das von ihrer völligen Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie. Einen Schuh, in den man vollkommen paßt, spürt man nicht mehr.»58
Für Walser, den erklärten Sozialisten, war demnach kein Platz, weder im politischen Meinungsspektrum – das alles duldete außer Franz Josef Strauß und den Sozialismus – noch im Bereich des literarisch Erträglichen. Der Radikalenerlaß für den öffentlichen Dienst galt ja gewissermaßen auch für die Literatur. Wer wie Walser als Sozialist auftrat, hatte bald ein ökonomisches Problem, denn die Nachfrage nach «linkem Gedankengut» nahm in den siebziger Jahren kontinuierlich ab. Walser rettete sich in die heroische Geste dessen, der standhält. Das war ein Minderheitenprogramm. Dabei wollte er immer den großen Erfolg, wollte nicht nur ein paar tausend, sondern hunderttausend Leser gewinnen. Weil beides zugleich nicht zu haben war, nahm seine Rhetorik an Schärfe zu. Wenn man sich schon politisch konsequent für eine Seite entschied, dann konnte es keine Abstriche geben.
Im Rückblick, aus der historischen Distanz der Jahrzehnte, sagte Walser immer wieder, es habe damals ausgereicht, gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam zu sein, um als Kommunist abgestempelt zu werden. Diese Erinnerung täuscht. Es war doch ein bißchen mehr, was ihn der bürgerlichen Gesellschaft verdächtig machte. Sein Jargon war stark marxistisch geprägt. In der Süddeutschen Zeitung befaßte er sich beispielsweise mit Hans G. Helms’ Kritik an der Studentenbewegung und erklärte «die geschliffen genaue marxistische Analyse» zum «einzigen tauglichen Mittel, die Ideologie der Antiautoritären zu kritisieren». Eine Differenz zum Marxisten Helms wird in dieser Besprechung nicht spürbar. Walser setzte mit ihm auf die «Analyse der Klassenunterschiede», um «das Klassenbewußtsein zu stärken». Er sprach von der «Überwindung des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Gesellschaft» und kritisierte die Studenten dafür, aus der Revolution einen «Fetisch» gemacht zu haben. Er setzte auf die Organisationsmacht der Gewerkschaften.59
Es war eine prägende Erfahrung dieser Jahre, wie Freunde, Kollegen, Zeitungen, Institutionen ihn behandelten, solange sie ihn für einen Kommunisten hielten. Wirkliche Abweichung, das spürte er, war nicht vorgesehen: Als Dissident bist du auch in der westlichen Demokratie erledigt. Er fühlte sich wieder als der «Mann auf der Kellertreppe», als der er sich in den frühen fünfziger Jahren entworfen hatte: einer, der draußen steht, ausgeschlossen aus der Gesellschaft, und der nicht weiß, ob er sich angewidert abwenden oder sich anpassen soll. Je stärker er sich als Kommunist und kommunistischer Schriftsteller stigmatisiert sah, um so enger schloß er sich den kommunistischen Freunden an. Das war, wie er im Rückblick meinte, die zweite religiöse Erfahrung seines Lebens nach dem Katholizismus.60 Es ist kein Zufall, daß seine Kritik an der fremdbestimmten DKP mit ihrer «in grotesker Weise ausländischen Zentrale»61 bis in die Wortwahl der an der katholischen Kirche glich.
Die gesellschaftliche Isolation, das Leiden an Konkurrenzverhältnissen, die allgemeine Feindseligkeit sind die Ursachen der «Gallistl’schen Krankheit». In diesem Roman verdichtete Walser seine Erfahrungen als Sozialist in der westdeutschen Gesellschaft. Josef Georg Gallistl, dessen sprechender Name sich aus Galle und List zusammensetzt, hat sich ähnlich wie Anselm Kristlein in Passivität und Einsamkeit zurückgezogen. Neue Freunde bringen Rettung und Heilung. Mit ihnen erlernt er soziale Verhaltensweisen. Das kranke bürgerliche Individuum gesundet im kraftvollen Kollektiv der Genossen. Walser demonstriert an Gallistl die Einübung in den Sozialismus und tastet sich voran zu «Tonarten der Hoffnung»62. «Gallistl» ist ein religiöses Buch, an dessen Ende der Held ins rostige «Kalvarienauto» seiner Freunde einsteigt und mit ihnen die Pilgerfahrt ins Ungewisse antritt. Die Erlösungshoffnung ist brüchig, aber sie besteht. Walser zeigt sich in diesem Roman als versierter Verbergungsentblößungsspieler, der seine Schwächen verdeckt, indem er sie öffentlich macht. Die Kehrseite dieser exhibitionistischen Veranlagung ist die Angst, entdeckt und bloßgestellt zu werden. In seiner Melancholie, in seinem Überdruß, in seiner scharfen Selbstbeobachtung ist Gallistl ein direkter Vorläufer Meßmers, jener Figur, die Walser in «Meßmers Gedanken». (1985) und «Meßmers Reisen». (2003) zum fiktiven Autor seiner Notizbücher macht.
Die «Gallistl’sche Krankheit» läßt sich wie so viele Bücher Walsers als Schlüsselroman lesen, geht aber nicht in der Entschlüsselung auf. In der Figur des Moskau lobpreisenden, lebenslustigen und kraftvollen Kommunisten Pankraz erkannten Walsers Freunde den Maler Carlo Schellemann. Frieder Hitzer sah sich in der Figur des Rudi Rossipaul porträtiert, der stets mit Aktenköfferchen, adrettem Bärtchen und Anzug auftritt, als müsse er Uhren in der Schweiz verkaufen: ein «gemütlicher Eiferer, ein sozialistischer Gigolo»63. So manche Sitzung mit kürbiskern-Redakteuren und DKPlern in der Münchner Wirtschaft am Hasenbergl lieferte Material für diesen durchaus heiteren Roman, der mit Ironie gegenüber den sozialistischen Freunden nicht spart. Zwei weitere Bände – «Gallistls Verbrechen» und «Gallistls Lösung» – sollten folgen, blieben aber unausgeführt.
Als Buchumschlag wünschte Walser sich einen biegsamen Karton «in der Farbe eines blauen Anton». Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn alle seine Bücher in Zukunft so aussehen könnten.64 «Gallistl» ist keine Parteiprosa, ja, das Buch enthält Passagen, die bereits Walsers späteres Deutschlandgefühl zum Klingen bringen. Gallistl will die DDR nicht als Ausland akzeptieren, wenn er schreibt: «Andererseits reicht meine Empfindung tief nach Pommern hinein. Sachsen ist mir vertraut, ohne daß ich je dort war. Wie oft denke ich an Magdeburg! Ich will die DDR nicht erobern. Ich will mir aber nicht verbieten lassen, daß mein Gefühl einreist und ausreist, wie es ihm paßt.»65 Diese Sehnsucht scheint 1972 niemand anstößig gefunden zu haben. Von einem Sozialisten war ja nichts anderes zu erwarten, und außerdem handelte es sich nur um eine Romanfigur. In den achtziger Jahren machte Walser mit ähnlichen Äußerungen politischen Skandal. Plötzlich galt er als «rechts» und nationalistisch, dabei hatte seine Haltung sich gar nicht geändert.
Uwe Johnson, der das Ableben des Autors Carl O. Abrell bedauerte, gratulierte Walser zu dem Buch, dessen strenge Verknappung ihn beeindruckte. Ein bißchen hämisch merkte er an, daß dieser Subjektivismus in der DDR großen Neid auf die westliche Freiheit der Kunst hervorrufen dürfte, und zeigte sich gespannt auf Kritiken aus DKP-Feder.66 Verstört reagierte dagegen Max Frisch. Er bezog die Schilderung eines westlichen Intellektuellen auf sich, der beim Besuch der UdSSR auf Schritt und Tritt Noten verteilt, ohne irgend etwas zu kapieren, sich dagegen im Weißen Haus in Washington ironisch und auf Zehenspitzen bewegt, als müsse er Distanz und Einverständnis zugleich ausdrücken.67 Frisch meldete gegen diese Darstellung zwar Widerspruch an, doch was ihm bei der Lektüre «weiche Knie» machte, war etwas anderes. Er bewundere die «rasante Aufrichtigkeit» des Romans, schrieb er an Walser: «Ich habe dein Buch nicht als Literatur konsumiert; manchmal bedauere ich, daß Gallistl nicht Martin Walser heißt, ganz direkt. Du nämlich bist es, dem ich seine Einsichten glaube. Sie machen mich betroffen. Sie sind mir nicht völlig fremd, aber sie sind schonungsloser, als wenn ich selber denke. (…) Als ich dich zum letzten Mal sah, war’s auf dem Bodensee, auf deinem Boot, vor der Bundestagswahl, ich wußte nichts zu sagen. Bei voller Sympathie, die du nie ganz glauben magst. Zugehört habe ich schon. Nicht daß du nicht zuhören könntest; nur fällt dir beim Zuhören so viel ein und so rasch, dazu die Sprachfähigkeit – ich glaube es (ohne Ironie), daß dir viele, wenn nicht alle, wie A. B. C. D. E. erscheinen.» Frisch akzeptierte die Diagnose, die Walser mit dem Leiden Gallistls der kapitalistischen Gesellschaft ausstellte. Die therapeutische Wendung zum Sozialismus wollte und konnte er nicht mitgehen, schon gar nicht den Weg in die Partei. Er gab aber zu, selbst keinen Ausweg zu wissen. «Du bist weiter», schrieb er, «du wirst uns sagen oder zeigen, ob es stimmt.»68
Walser war erleichtert über Frischs offene Reaktion. Er habe gerade ihm, dem Meister der Genauigkeit, den «UdSSR-Affekt» nicht durchgehen lassen können. «Übrigens», ergänzte er, «glaub ich, daß ich der gemachten Figur dringend bedarf, weil ich sonst in eine Selbstvertrautheit verfalle, die entweder zur Stummheit oder zur Geschwätzigkeit verführt.»69 Gallistl aber ist nur eine sehr dünne Haut, die er als Kunstfigur um sich herum gelegt hat.
Frisch gelang es einmal, das zärtliche, ehrerbietige und durchaus nicht spannungslose Verhältnis mit einem Geburtstagsgeschenk zum Ausdruck zu bringen. Er überreichte Walser ein zierliches, aus Elfenbein geschnitztes Händchen an einer feingliedrigen Kette. Sein Kommentar dazu: Als Faust war sie leider nicht zu haben. Walser mußte zugeben: Es steht 1 : 0 für dich.