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D
ER MANN SCHEINT JA unermüdlich zu sein«, sagte Warmund von Picquigny, der Erzbischof von Jerusalem, und de Payens lächelte schwach, während er den Blick weiter auf das Spektakel vor ihnen gerichtet hielt.
»Diesen Eindruck könnte man in der Tat bekommen«, stimmte er zu. »Aber Ihr solltet doch besser als jeder andere wissen, dass der Schein trügen kann. Irgendwann wird er genauso ermüden wie alle anderen. Der Unterschied liegt darin, dass er viel jünger ist als die anderen und die Kraft und das Durchhaltevermögen der Jugend hat. Ha! Seht Euch das an. Er bewegt sich wie eine Katze. Ich wünschte, ich hätte noch vier Männer wie ihn.«
Sie beobachteten einen Übungswettkampf zwischen fünf Schwertkämpfern, vier gegen einen, und dieser eine, der jüngste von ihnen, ließ seine Gegner wie alberne Anfänger aussehen. Seine Waffe war ein zweihändiges Schwert mit einer langen, spitz zulaufenden Klinge, gegen das die Waffen seiner Gegner wie Spielzeug aussahen. Und in seiner Meisterhand verwandelte es sich in einen undurchdringlichen Vorhang aus schimmernder Bewegung.
Gerade hatten zwei seiner Gegner gleichzeitig angegriffen – der eine, indem er seine Klinge parierte, der andere, indem er seinen Vorteil nutzte und einen Satz nach vorn machte. Doch der junge Mann drehte sich geschickt, sprang zur Seite und suchte mit dem ausgestreckten Fuß Halt auf einer niedrigen Mauer. Einen Moment lang rang er dort mit gebeugten Knien um sein Gleichgewicht, dann sprang er wieder davon und verdoppelte den Abstand zu seinen Angreifern, bevor einer von ihnen auch nur auf seine erste Bewegung reagiert hatte. Als seine Füße wieder auf dem Boden landeten, lachte er und steckte die Spitze seines Schwertes in den Boden, um eine Pause zu signalisieren, in die seine Gegner nur zu gern einwilligten.
»Gut gemacht, Stephen«, rief de Payens, während die fünf Männer langsam wieder zu Atem kamen, und der Patriarch sah ihn lächelnd an.
»Ich verstehe ja, warum Ihr so beeindruckt seid, aber warum solltet Ihr nicht noch vier Männer wie ihn finden? Und warum nur vier? Warum nicht zwanzig?«
De Payens lachte laut auf.
»Warum nicht? Ich hätte gern zwanzig Männer wie ihn, da habt Ihr Recht, aber das wird nie geschehen, denn der Junge ist ein Phänomen. Er ist … man kann es gar nicht glauben. Ich kann es immer noch kaum fassen, dass er hier ist und zu uns gehört. Das ist mein Ernst, Mylord, Wort für Wort. Nur wenige Männer in seinem Alter – vielleicht nur einer von fünf- oder sogar zehntausend – besitzen dieses Kampfgeschick, das er so mühelos demonstriert. Und kaum einer dieser Wenigen, die schließlich in der Blüte ihrer Jugend stehen, käme je in die Versuchung, die Vergnügungen des Lebens aufzugeben, um eine Mönchskutte anzulegen.«
»Aye, da habt Ihr Recht. Die Welt und das Fleisch üben eine große Anziehungskraft auf junge Männer aus. Aber woher habt Ihr dann dieses Prachtexemplar? Ihr habt mich hergeholt, um ihn zu sehen, aber Ihr habt mir nicht einmal seinen Namen gesagt. Wer ist er, und woher stammt er?«
»Man könnte wohl sagen, ich habe ihn geerbt.«
Der Hauch eines Lächelns umspiele de Payens’ Lippen, während er dem jungen Ritter weiter zusah und sich dabei mit dem Patriarchen unterhielt.
»Sein Großvater war mein Pate, der alte Sir Stephen St. Clair. Der Sir Stephen St. Clair, der im Jahr 1066 mit den Normannen in England einmarschiert ist und später ein enger Vertrauter des englischen Königs wurde.«
Er richtete den Blick auf den Patriarchen, der jedoch höflich den Kopf schüttelte.
»Ihr habt noch nie von ihm gehört? Sir Stephen St. Clair? Das erstaunt mich. Es hieß, er sei der Mann gewesen, der Harold Godwinson während der Invasion getötet hat. Er selbst hat das zwar hartnäckig geleugnet, aber König William hat persönlich behauptet, Zeuge gewesen zu sein, und geschworen, dieser Tatsache verdanke er seine Krone – und natürlich hat man ihm geglaubt.«
»Und was hat das damit zu tun, dass sein Enkel hier in Outremer ist und Mönch werden will?«
»Eigentlich nichts. Ich war mit dem Vater des jungen Stephen befreundet, als ich jünger war – nicht sehr eng, aber wir haben uns gegenseitig sehr geschätzt, und das, obwohl er fünf Jahre älter war als ich. Robert hat jung geheiratet, und seine Frau hat einen Sohn zur Welt gebracht, nämlich unseren Stephen.«
Kurz darauf, so fuhr de Payens fort, war die junge Frau an einer Krankheit gestorben, die sie mitsamt ihren Hofdamen dahinraffte. Sie lebten damals im Nordosten Englands in einer der Burgen, die der König hatte bauen lassen, um die Sachsen zu unterwerfen und im Zaum zu halten. Es war Feindesland, und sie hatten keinerlei Verbündete in der näheren Umgebung, sodass der Junge völlig ohne Frauen von den Mönchen und Kirchenmännern aufgezogen wurde, die sein Vater mitgebracht hatte, um die Sachsen zu missionieren.
Jeder hatte den Jungen gerngehabt, aber die Art, wie er aufwuchs, hatte ihm ihren Stempel aufgedrückt. Gleichzeitig entwickelte er sich zu einem außergewöhnlichen Kämpfer – zwei Seiten derselben Münze –, da er vom Waffenmeister seines Vaters ausgebildet wurde, als dieser das Talent des Jungen erkannte.
Sein Vater Robert führte ein ausgefülltes Leben, und seine Pflicht ließ ihm keine Zeit für die Suche nach einer neuen Frau oder für seinen heranwachsenden Sohn, sodass er erst, als dieser schon erwachsen war, begriff, dass Stephen … ein ganz besonderer Mensch war. Robert hatte keine Ahnung, was er mit ihm anfangen sollte. Der Junge war in allen Kampfdisziplinen unbesiegbar, doch er verbrachte jede freie Minute im Gebet. Sein Vater hatte das verständlicherweise für unnatürlich gehalten.
Doch dann hatte das Schicksal Hugh de Payens in die Hände gespielt.
»Erinnert Ihr Euch noch, Bischof, dass uns Graf Fulk von Anjou vor zwei Jahren besucht hat?«
Der Patriarch nickte, und de Payens fuhr fort.
»Aye, nun, als er nach Anjou zurückkehrte, waren Vater und Sohn St. Clair dort zu Besuch, und Fulk muss Robert sehr begeistert von unserer Bruderschaft erzählt haben. Robert hat sich natürlich an mich erinnert, und er hatte das Gefühl, dass unsere Arbeit hier genau das Richtige für seinen Sohn sein könnte – und Stephen war derselben Meinung. Innerhalb kürzester Zeit befand er sich auf einem Schiff, das ihn über Zypern hierhergebracht hat. Er ist zwar noch sehr jung, aber er scheint mir perfekt geeignet zu sein für –«
Der Patriarch wartete zwei Herzschläge ab, dann fragte er: »Perfekt geeignet wofür?«
Doch de Payens blickte in eine andere Richtung und bat ihn mit einer Geste zu schweigen. Leicht entrüstet richtete sich der Patriarch zu voller Größe auf.
»Was? Was ist los? Warum antwortet Ihr nicht?«
Doch noch während er die Frage aussprach, sah er die Antwort selbst. Ein prachtvoll gekleideter Offizier, der von drei weniger auffallenden Erscheinungen flankiert wurde, hatte sich ihnen von hinten genähert und passierte sie jetzt, sehr vorsichtig auf dem steinigen Untergrund. Er hielt auf die fünf Kämpfer zu, die immer noch dastanden und sich unterhielten. Ihre hellblauen, mit goldenen Eicheln verzierten Übergewänder wiesen die Neuankömmlinge als Mitglieder der Palastwache aus. Die fünf Ritter, die ihre eigenen, wenn auch schlichten braunen Uniformen trugen, bemerkten sie, kurz bevor sie sie erreichten. Argwöhnisch und herausfordernd wandten sie sich den Palastwachen zu, die abrupt vor ihnen stoppten, doch de Payens und der Patriarch waren zu weit von ihnen entfernt, um zu verstehen, was gesagt wurde. Nur die Stimme des Hauptmanns, der mit dem jungen Ritter sprach, drang zu ihnen.
Dann wandte sich de Payens vollständig um und sah eine geschlossene Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde und von einer großen Eskorte umringt war. Die Vorhänge in der Kutsche waren zugezogen.
»Die königliche Kutsche«, sagte er leise zu Picquigny. »Ob das die Königin ist?«
Auch der Patriarch sah sich jetzt um, schüttelte aber den Kopf.
»Nein, nicht die Königin, nicht heute. Ihre Gnaden ist schon seit einigen Tagen krank – nichts Ernstes, aber ernst genug, um sie an ihre Gemächer zu fesseln. Der König ist es auch nicht. Er wäre längst bei uns, um sich mit uns zu unterhalten. Nein, es muss eine der Töchter sein – mindestens eine. Die Kutsche ist zwar groß genug für alle vier, aber ich bezweifle, dass sich nur eine von ihnen dazu herablassen würde, eine Fahrt mit einer der anderen zu unternehmen.«
Er spähte nach links, wo der junge Ritter und seine Begleiter nun mit dem Hauptmann auf die Kutsche zugingen. Die drei anderen Wachen flankierten sie unauffällig. Die vier älteren Ritter hatten ihre Schwerter in die Scheiden gesteckt, aber der junge St. Clair hatte sich das seine beiläufig über die Schulter gelegt, und seine lange Klinge glänzte in der Sonne.
»Alice«, sagte Warmund von Picquigny mit einem seltsam resignierten Unterton. »Das kann nur Alice sein. Nur sie ist so kühn, jeden Anstand zu vergessen. Euer Ritter könnte in Gefahr sein, de Payens.«
»Durch die Prinzessin?« De Payens lachte. »Aber sie ist doch nur ein winziges Ding.«
»Ich meine damit keine Gefahr für Leib und Leben, sondern für seine Seele. Am besten gehen wir hinüber und versuchen zu retten, was zu retten ist. Die Prinzessin wird gewiss … entzückt sein, mich hier zu sehen.«
De Payens konnte den triefenden Sarkasmus in den Worten des Bischofs hören, doch er hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war. Deshalb beschloss er, den Mund zu halten und nur zu sprechen, wenn man ihn dazu aufforderte. Er folgte dem Patriarchen.
Aus dem Halbdunkel im Inneren der Kutsche bemerkte Alice, wie sich die beiden älteren Männer in Bewegung setzen, doch sie beachtete sie nicht weiter, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem jungen Mann mit der ernsten Miene und den leuchtend blauen Augen.
Ohne sich bewusst zu sein, dass sie ihn durch einen Schlitz in den Ledervorhängen beobachtete, hatte er gerade sein langes Breitschwert in den Boden gesteckt. Dann hatte er mit beiden Händen den Verschluss unter seinem Kinn gelöst und sich die Kapuze seines Kettenpanzers vom Kopf gezogen. Darunter war überraschend langes goldenes Haar zum Vorschein gekommen, das er wie ein Hund schüttelte, bevor er die verschwitzten Strähnen grob mit den Fingern auskämmte. Dann griff er wieder nach seinem Schwert, das er sich unter den Arm klemmte, bevor er geradewegs auf die Kutsche zusteuerte.
Alice ließ den Vorhang los und zog sich hastig in die äußerste Ecke der Kutsche zurück, als sie hörte, dass sich einer der Soldaten anschickte, die Tür zu öffnen. Licht strömte in die Kutsche, und der Fremde trat heran, bis seine Schultern die Tür blockierten. Seine breite Stirn kräuselte sich sacht, als er sich nun vorbeugte, um in das Dämmerlicht zu blinzeln, das Alice verbarg.
»Mylady, Ihr wünscht, mich zu sprechen?«
Sein Blick wanderte über sie hinweg, ohne sie zu sehen, und sie antwortete erst mal nicht. Ihr war klar, dass er vom abrupten Wechsel aus der Sonne in den Schatten geblendet war und ihr einige Sekunden blieben, um ihn ungehindert zu betrachteten, bis sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
Er war die Perfektion in Person: unfassbar blaue Augen unter blassgoldenen Augenbrauen; ein Mund, dessen volle, harmonisch geschwungene Lippen wie zum Küssen geschaffen schienen, ebenmäßige, leuchtend weiße Zähne und langes seidiges Haar, das ihm jetzt in Wellen über den kräftigen Hals fiel. Die meisten Ritter trugen lange Vollbärte und kurzes Haupthaar, weil es in ihren engen Kapuzen so angenehmer war. Dieser Mann hielt es umgekehrt; er hatte sich das Kinn rasiert und trug die Haare lang. Aus Eitelkeit?, fragte sie sich.
Es war purer Zufall gewesen, dass sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Sie war auf dem Heimweg von einer Freundin gewesen, welche die Unverschämtheit besessen hatte, krank zu werden, sodass Alice nun unerwartet zu einem Abend voller Langeweile verdammt war und entsprechend schlechte Laune hatte. Schmollend war Alice durch die Straßen gefahren, die Ledervorhänge fest gegen das aufdringliche Sonnenlicht geschlossen.
Dann hatte sie Waffenklirren und Gelächter gehört, und selbst jetzt konnte sie nicht sagen, warum sie als Reaktion auf dieses Geräusch den Vorhang geöffnet hatte, denn Soldaten, die ihre Waffenfertigkeit trainierten, waren nichts Ungewöhnliches. Jerusalem war in ständiger Bedrohung durch Feinde jenseits der Grenzen, und ihr Vater unterhielt eine große Armee, die sich in fortwährender Kriegsbereitschaft befand, sodass die ganze Stadt von den Geräuschen aufeinanderprallender Waffen, lauter Anfeuerungsrufe und lachender Männerstimmen erfüllt war.
Ausgerechnet diese Gruppe miteinander rangelnder Rüpel hatte ihre reizbare Laune noch mehr verschlechtert, und sie hatte schon die Vorhänge zurückgerissen und sich vorgebeugt, um ihre Wut an ihnen auszulassen. Doch als sie den Mund öffnete, um ihren Wachen etwas zuzurufen, hatte sie den Mann gesehen, der jetzt vor ihr stand, und alles um sich vergessen.
Selbst aus der Ferne, gesichtslos und von Kopf bis Fuß von seinem Kettenpanzer verhüllt, hatte er den Eindruck erweckt, als sei er anders als die anderen. Möglich, dass es die Art war, wie er sich bewegte, denn das Erste, was Alice von ihm sah, war, wie er sich mit der Eleganz eines Leoparden durch die Lüfte schwang.
Allein dieser erste Eindruck müheloser Anmut hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis geprägt.
Für gewöhnlich waren Ritter Muskelberge – was ja nicht ausblieb, wenn man jahrelang tagaus, tagein unter größtem körperlichen Einsatz den Kampf probte. Was sie jedoch selten an den Tag legten, waren Anmut, Eleganz und Leichtigkeit. Durch ihre eigenen Muskelmassen behindert, bewegten sie sich langsam und vornübergebeugt mit o-beinigen Schritten, eine Haltung, in der es sich zu Fuß am besten kämpfen ließ, Nase an Nase und Schwert an Schwert, bis der beste Mann siegte.
Dieser hier schien jedoch ganz anders zu sein. Das erste Mal tauchte er als verschwommener Schatten im Gesichtsfeld der Prinzessin auf, der sich extrem schnell bewegte. Ihre Augen begriffen jedoch schnell, was sie da sahen, und sie beobachtete, wie sich vier gebeugte Gestalten gleichzeitig, aber viel zu spät umdrehten, um dem Gegner zu folgen, der längst eine niedrige Mauer als Sprungbrett benutzt hatte, um mit einem Salto über sie hinwegzuschnellen. Er landete hinter ihnen in der Hocke, fuhr geschickt herum und hieb den Nächststehenden mit der flachen Klinge auf den Rücken, bevor er sich erneut umdrehte und mit einem Satz einen vorstehenden Dachbalken ergriff, um sich mit einer Hand auf eine Fensterbank zu schwingen. Dort wandte er sich lachend um und winkte seinen Begleitern zu, um gleich darauf im Inneren des Hauses zu verschwinden.
Das alles hatte nur Sekunden gedauert, und bis Alice ihrem Kutscher befehlen konnte anzuhalten, war der Kämpfer verschwunden.
Schon war der Hauptmann ihrer Wachen an ihrer Seite, und sie befahl ihm abzusteigen. Dann wies sie auf die vier überrumpelten Ritter, die jetzt in das leere Fenster blickten und nach ihrem verschwundenen Gegner riefen. Es gehöre noch ein fünfter Mann zu ihnen, sagte die Prinzessin, größer als alle anderen, und diesen wünsche sie zu sprechen – doch noch während sie mit ihrem Hauptmann sprach, tauchte der Ritter wieder auf. Er kam um das Haus gebogen, in dem er verschwunden war, und stürzte sich jetzt von hinten auf die anderen, die ihn noch nicht bemerkt hatten.
»Das ist er«, sagte sie unnötigerweise. »Bringt ihn sofort zu mir.«
Der Hauptmann, dem solche Grillen der Prinzessin vertraut waren, neigte wortlos den Kopf, salutierte und setzte sich in Bewegung. Dabei signalisierte er dreien seiner Männer, abzusteigen und ihm zu folgen. Alice hatte die Vorhänge wieder geschlossen und durch den schmalen Schlitz zwischen den beiden Hälften zugesehen, wie die Wachen sich den Männern näherten und sie ansprachen.
Als sie nun dem Mann, den sie hatte rufen lassen, ins Gesicht blickte, war Alice froh, dass sie ihrem Impuls gefolgt war und aus dem Fenster gelugt hatte.
Unterdessen rieb sich der Mann die Augen, dann öffnete er sie wieder. Er blinzelte noch mehrmals, dann ergriff er das Wort.
»Verzeihung, Mylady, aber die plötzliche Dunkelheit hat mich geblendet, und ich konnte Euch zunächst nicht sehen. Euer Offizier sagte mir, Ihr wünscht, mich zu sprechen?«
»So ist es. Dürfte ich Euren Namen erfahren, Sir?«
»Meinen Namen? Stephen, Mylady … Sir Stephen St. Clair aus York und Anjou.«
»Nun denn, Sir Stephen. Und wisst Ihr auch, wer ich bin?«
Der junge Ritter schüttelte den Kopf. Er konnte jetzt besser sehen.
»Ich bin Alice de Bourcq.«
Er nickte, doch es war offensichtlich, dass der Name für ihn keine Bedeutung hatte, und sie runzelte die Stirn.
»Seid Ihr neu hier? Warum habe ich Euch noch nie gesehen?«
Wieder schüttelte St. Clair den Kopf.
»Neu nicht unbedingt, Mylady, aber ich bin auch noch nicht lange hier. Ich bin vor ungefähr drei Monaten hier eingetroffen, um mich den Brüdern von der Patrouille des Patriarchen anzuschließen.«
Alice riss erstaunt die Augen auf.
»Den Brüdern! Seid Ihr etwa ein Mönch?«
»Bald, so hoffe ich, Mylady. Ich bin noch Novize und befasse mich mit dem Studium der Regel.«
»Regel? Welcher Regel denn?«
»Der Regel des heiligen Benedikt, Mylady. Das Leben, das er den Mönchen vorschreibt.«
»Ah! Natürlich.«
Aus der Nähe konnte Alice deutlich sehen, dass er zwar einen schönen Körper hatte, es ihm aber an Fantasie mangelte und er keine Spur von Humor besaß.
Ein Staubwölkchen wehte ins Innere der Kutsche; winzige Partikel schwebten flimmernd im Licht, und Alice hustete geziert in das Leinentüchlein in ihrer Hand.
»Bitte kommt doch herein und schließt die Tür. Ich habe einige Fragen an Euch, und es wäre mir lieber, wenn ich keinen Staub einatmen muss, sobald ich den Mund öffne.«
»Fragen, Mylady? Was könntet Ihr für Fragen an mich haben? Ihr kennt mich doch gar nicht.«
Es war wirklich hinreißend, wie er mit großen, unschuldigen Augen so überrascht vor ihr stand. Im Mundwinkel der Prinzessin zuckte ein ironisches Lächeln.
»Das lässt sich leicht beheben, glaubt mir«, murmelte sie so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu hören. »Ich dagegen kenne Eure Brüder. Sie haben meiner Mutter einmal das Leben gerettet. Obwohl das Jahre her ist, ist sie ihnen immer noch dankbar und hat oft mit ihnen zu tun. Aber ich wüsste vor allem gern, wie Ihr gelernt habt, so zu fliegen, obwohl Ihr von Kopf bis Fuß in einem Kettenpanzer steckt. Also setzt Euch bitte mir gegenüber und schließt die Tür, damit wir vor dem Staub und der Sonne geschützt sind.«
Darauf wusste St. Clair sichtlich nicht zu reagieren, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Doch dann nickte er, zog das Schwert unter seinem Arm hervor und lehnte es gegen die rechte Sitzbank der Kutsche, bevor er mit beiden Händen nach den Türpfosten griff, um sich hineinzuhieven.
Doch bevor er das tun konnte, erklang hinter ihm eine tiefe Stimme, und Alice sah, wie er überrascht die Augen aufriss, bevor er zurücktrat und sich nach dem Sprecher umwandte. Voller Wut über die Unterbrechung steckte Alice blitzartig den Kopf zur Tür hinaus – um sich Erzbischof Warmund von Picquigny gegenüberzusehen.
»Prinzessin Alice«, rief er mit völlig veränderter Stimme aus. »Was für ein unerwartetes Vergnügen, Euch hier anzutreffen. Darf ich fragen, was Euch herführt – und kann ich Euch irgendwie behilflich sein?«
Er war an ihre Tür getreten und klappte nun mit einem Fuß das Einstiegstreppchen herunter, während er der Prinzessin die Hand entgegenhielt, um sie beim Aussteigen zu stützen. Alice blieb nichts anderes übrig, als ihm Folge zu leisten. Vorsichtig und gesenkten Blickes trat sie aus der Kutsche. Sie hatte gesehen, wie dem jungen Ritter der Mund aufklappte, als von Picquigny sie mit ihrem Titel ansprach. Und sie war außer sich, weil sie wusste, dass ihr das Objekt ihrer Begierde nun nur noch mit großer Befangenheit begegnen würde. Am liebsten hätte sie den alten Ränkeschmied angespuckt, doch sie zwang sich zu einem liebreizenden Lächeln.
»Danke, Mylord, aber ich bedarf keiner Hilfe. Ich habe Sir Stephen nur gefragt, wie es ihm bei den Brüdern Eurer Patrouille gefällt.«
»Ah, die Patrouille … verzeiht mir, Prinzessin, doch mir wird erst jetzt klar, dass Ihr meinem Begleiter hier schon begegnet seid, auch wenn Ihr Euch vielleicht nicht mehr an ihn erinnert. Darf ich Euch Bruder Hugh de Payens vorstellen, den Gründer der Bruderschaft, welcher auch Bruder Stephen angehört. Ihr seid Bruder Hugh am Tag nach der Rettung Eurer Mutter vor den Sarazenen begegnet.«
Als Alice den Kopf hob, um de Payens anzusehen, griff der Erzbischof ins Innere der Kutsche und holte St. Clairs Schwert heraus, das immer noch an der Sitzbank lehnte. Dann wandte er sich wieder den anderen zu.
Alice richtete die ganze Wärme ihres Lächelns auf de Payens, der zum Salut die Faust an seine Brust hob. Auch seine Lippen wurden von einem Lächeln umspielt.
»Ich erinnere mich genau, Bruder Hugh, auch wenn ich damals noch sehr jung war«, sagte sie sittsam. »Ich habe Sir Stephen gerade davon erzählt. Ist es nicht so, Sir Stephen?«
»Einfach nur Bruder Stephen, Mylady.« St. Clair war jetzt tief errötet – womöglich, dachte Alice, weil sie so dreist gelogen und ihn mit hineingezogen hatte.
»Bruder Stephen.« Sie nickte. »Natürlich, Ihr habt ja der Welt entsagt. Das hatte ich ganz vergessen.«
»Nicht ganz, Prinzessin«, murmelte der Patriarch, der St. Clair jetzt das Schwert entgegenhielt. Dieser wurde noch röter, als er es entgegennahm. »Noch ist Bruder Stephen Novize, aber er wird demnächst sein Gelübde ablegen und der Welt entsagen … der Welt und dem Fleisch, um sein Leben Gott zu weihen. Ein höchst erstrebenswerter Weg für einen Mann.«
Alice zwang sich, weiter zu lächeln, obwohl sie sich später noch lange fragte, wie es ihr gelungen war, ihre Wut angesichts der kaum verhüllten Unverschämtheit des alten Heuchlers zu verbergen. Sie wusste zwar, dass er ihren Lebenswandel missbilligte, doch das kümmerte sie nicht. Mochte er noch so mächtig sein und noch so sehr das Vertrauen ihres Vaters genießen – was hatte er schon gegen sie in der Hand?
Jetzt aber hatte er sie in die Enge getrieben, und ihr blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie neigte zunächst anmutig das Haupt vor de Payens und vor St. Clair, denen sie alles Gute wünschte, bevor sie sich herzlich an den Patriarchen wandte, ihm für seine Fürsorge dankte und ihm versicherte, dass sie ihrer kranken Mutter seine Grüße überbringen würde. Dann wandte sie sich wieder ihrer Kutsche zu und legte ihre Hand erneut in die des Patriarchen, als sie einstieg.
Sobald sie sich gesetzt hatte, trat von Picquigny zurück und winkte dem Fahrer loszufahren. Die Pferde zogen an, die Kutsche setzte sich schwankend in Bewegung, und Stephen St. Clair stand in Habachtstellung da und sah der Kutsche nach, als könnte sein Blick die Wände durchdringen und die junge Frau in ihrem Inneren sehen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie eine so schöne Frau gesehen, und vor seinem inneren Auge sah er immer noch, wie sie sich auf ihn zubeugte und dabei die lange Goldkette an ihrem Hals langsam durch ihre Hand gleiten ließ.
Er wusste, dass es gefährlich war, an ihre Schönheit nur zu denken, und dass er um Kraft beten sollte, der Versuchung zu widerstehen. Doch auch als ihn die Stimme seines Ordensoberen missbilligend an seine Pflicht erinnerte, war ihm klar, dass ihr lächelndes Gesicht das Letzte sein würde, was er an diesem Abend sehen würde, bevor er einschlief.
2
A
LICE WIES IHREN KUTSCHER an, sie unverzüglich heimzufahren. Allein im Inneren des dunklen Gefährts, konnte sie ihren Tränen des Zorns freien Lauf lassen, denn die Erniedrigung aufgrund der subtilen und erfolgreichen Zurechtweisung durch den Erzbischof saß tief.
Am liebsten hätte sie geschrien und um sich geschlagen, stattdessen bohrte sie die Zähne fest in ein Stück Stoff, das sie als Haarband getragen hatte. Sie wusste, welche Genugtuung – und welchen Gesprächsstoff – es ihrer Eskorte und später den Bediensteten geboten hätte, wenn sie eine Szene gemacht hätte.
Also saß sie schweigend da, angespannt wie ein Trommelfell, während sie das Stoffstück in den Händen verdrehte und sich die Peinigungen ausmalte, die sie dem Erzbischof am liebsten mit ihren eigenen Händen zugefügt hätte.
Es gab nur wenige Dinge und noch weniger Menschen in ihrem Leben, die Alice de Bourcq nicht vollständig in der Hand hatte. Doch Warmund von Picquigny gehörte nun einmal dazu. Und das ärgerte sie gehörig.
Schon vor zwei Jahren hatte er sich einmal über Gebühr in ihre Angelegenheiten eingemischt, wobei ihr Versuch, ihn in seine Schranken zu verweisen, dramatisch fehlgeschlagen war. Ihr Vater hatte einen Wutausbruch bekommen, was nur höchst selten geschah, und sie in aller Öffentlichkeit getadelt. Von diesem Tag an hatte Alice große Vorsicht walten lassen, was den Erzbischof anging. Sie hatte sich größte Mühe gegeben, ihn zu meiden, und ihn weitgehend ignoriert, wenn die Umstände sie doch einmal zusammenführten.
Ihr Vater gehörte natürlich ebenfalls zu diesen Wenigen, obwohl es nach außen hin meistens den Anschein hatte, als sei Baldwin viel zu nachsichtig mit ihr. Doch Alice wusste, dass sie bei ihm auf keinen Fall zu weit gehen durfte, und sie hätte ihm niemals bewusst getrotzt. Baldwin war ein Autokrat, der niemandem Rede und Antwort stehen musste, und seine seltenen Wutanfälle waren unvorhersehbar, brutal und sehr gefährlich. Alice de Bourcq zweifelte nicht daran, dass er, einmal entfesselt, bis zum Äußersten gehen würde, also begegnete sie ihm mit größter Vorsicht.
Die mit Eisen beschlagenen Räder der Kutsche begannen jetzt, über Pflastersteine zu rattern – es war nicht mehr weit bis zum Haupttor der königlichen Residenz, und Alice wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und hüllte ihren Kopf in das seidene Tuch, das sie um die Schultern getragen hatte. Der Hauptmann ihrer Eskorte öffnete die Tür, doch sie blieb reglos sitzen, bis er das Treppchen heruntergeklappt hatte. Dann stieg sie rasch aus, ohne den Arm zu ergreifen, den er ihr hinhielt, und steuerte sofort auf den Palast zu, das Gesicht hinter dem Tuch verborgen, wie es bei den Moslems üblich war.
Ohne irgendjemanden eines Wortes zu würdigen, hielt sie durch die hohen Flure auf ihre persönlichen Gemächer zu. Erst als sie im oberen Stockwerk die Tür zu den Räumen ihrer Mutter offen stehen sah, blieb sie stehen und zögerte. Sollte sie einfach vorbeigehen und hoffen, dass sich niemand im ersten Zimmer befand, oder sollte sie kehrtmachen und eine Etage tiefer den rückwärtigen Flur nehmen, der es ihr erlaubte, ihre Gemächer von der anderen Seite zu betreten?
Sie entschloss sich für Ersteres und setzte sich erhobenen Hauptes in Bewegung, doch als sie die offene Tür erreichte, wurde sie von der Stimme ihrer Mutter begrüßt, als hätte diese auf sie gewartet.
»Alice? Alice, um Himmels willen, Kind! Was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als wärest du unter die Räuber gefallen. Komm sofort zu mir.«
Alice blieb stehen und fluchte unhörbar vor sich hin. Dann wandte sie sich zur Seite und blickte in das Zimmer jenseits der offenen Tür, wo Königin Morfia im Kreis ihrer Hofdamen saß und sie gebieterisch betrachtete.
»Mutter«, sagte sie ungerührt und nickte zum Gruß kaum merklich mit dem Kopf. »Ich dachte, du bist krank und kannst das Bett nicht verlassen?«
»Das war ich auch«, erwiderte ihre Mutter ausgesprochen kühl. »Aber ich bin wieder gesund, und anscheinend geht es mir besser als dir. Wo bist du gewesen, Kind, und was hast du getan, und woher kommt dein wildes Äußeres?«
»Ich habe geweint, Mutter. Tränen der Wut und der Erniedrigung.« Die Kälte in Alices Stimme stand dem Ton ihrer Mutter in nichts nach.
»Tränen? Ausgelöst wodurch, wenn ich fragen darf?«
»Durch das Leben, Mutter, und nein, mehr darfst du nicht fragen.«
Morfia richtete sich steil auf. Auch ihr stand jetzt die Wut ins Gesicht geschrieben.
»Deine Unverschämtheit überrascht mich zwar nicht, dennoch steht sie dir nicht gut zu Gesicht. Ich schlage vor, dass du dir das verquollene Gesicht wäschst, bevor dein Vater dich zu Gesicht bekommt. Du darfst dich wieder zu uns gesellen, wenn dein alberner Anfall vorüber ist und du dir zumindest einen zivilen Anschein gibst.«
Alice wandte sich ab und schlich in ihre eigenen Gemächer. Immerhin hatten die Hofdamen ihrer Mutter es nicht gewagt, in ihre Richtung zu blicken. Sie waren ihrer Mutter zwar treu ergeben, doch sie wussten auch, dass alle Wachsamkeit der Königin sie nicht vor Alices Zorn bewahren konnte, wenn sie sich amüsiert darüber zeigten, wie Morfia mit ihr umging.
Morfia von Melitene war der Fluch im Leben ihrer Zweitältesten Tochter – und gleichzeitig musste Alice einräumen, dass sie sie widerstrebend respektierte. Ihre Mutter, so fand Alice, war zehnmal der Kerl, der ihr Vater war. So deutlich es für die Außenwelt gewesen war, dass Baldwin die Grafschaft Edessa mit eiserner Hand regiert hatte, so deutlich hatte Alice schon als kleines Mädchen wahrgenommen, dass ihre Mutter den Grafen nicht minder streng beherrschte. Allein deshalb respektierte Alice Morfia.
Doch Respekt war nicht dasselbe wie Zuneigung, denn diese hatte es zwischen Mutter und Tochter nie gegeben. Sie hatten sich niemals nahegestanden, ohne dass Alice gewusst hätte, warum. Doch es war ihr auch längst gleichgültig geworden. Sie wusste nur, dass sie tun konnte, was sie wollte, die Missbilligung ihrer Mutter war ihr ohnehin gewiss.
Alice hatte große Ähnlichkeit mit ihrem Vater – als einzige der vier Töchter hatte sie seine blonden Haare, seine helle Haut und seine grünbraunen Augen geerbt. Die anderen drei ähnelten Morfia, die auch heute noch eine exotische Schönheit mit einem makellosen Gesicht und einem zarten Körperbau war, der ihre adelige armenische Herkunft verriet.
Morfia war vom ersten Tag an in ihre erstgeborene Tochter Melisende vernarrt gewesen, die unleugbar ihre Mutter en miniature war, sich in dieselben Farben kleidete und schon als Kleinkind ein Geschöpf von solcher Schönheit gewesen war, dass ihr Anblick überall lautstarke Bewunderung auslöste.
Damit hatte Alice niemals konkurrieren können. Sie war zwar alles andere als hässlich, doch neben ihrer älteren Schwester sah sie schlicht gewöhnlich aus. Allerdings hatte sie auch den wachen Verstand ihres Vaters geerbt, und so merkte sie rasch, dass ihre bildschöne Schwester Melisende keinen Funken Esprit besaß.
Dennoch war sie lange auf Melisende eifersüchtig gewesen, bis die beiden jüngeren Töchter heranreiften. Je ähnlicher diese ihrer Mutter wurden, um so mehr Zuwendung hatten sie erfahren – und um so zielstrebiger waren sie darauf vorbereitet worden, die Gemahlinnen mächtiger Männer zu werden. Nur Alice, die niemals lächelte und häufig schmollte, die launisch war und sich den Gästen ihrer Mutter gegenüber unfreundlich zeigte, hatte sie nur dann wahrgenommen, wenn es etwas zu kritisieren gab.
Morfia jedoch wurde schon bald zum Gegenstand der Beobachtungsgabe der kleinen Prinzessin. Alice war noch keine elf Jahre alt gewesen, als ihr klar wurde, dass ihre Mutter eine hochinteressante Persönlichkeit war, die ein faszinierendes Eigenleben führte. Morfia, das blieb Alice nicht verborgen, hatte ihre eigenen Pläne. Und die Methoden, die sie zu ihrer Durchsetzung anwandte, waren mannigfaltig.
Natürlich war ihr sehr wichtig, dass dieses Eigenleben anderen verborgen blieb, und sie zu beobachten, entwickelte sich für Alice zu einer wahren Wissenschaft.
In der Öffentlichkeit spielte sie die getreue und ergebene Gattin des Grafen von Edessa. Sie war die Würde in Person. Im Kreis ihrer Familie und Freunde spielte sie die liebevolle Freundin und fürsorgliche Mutter. So hatte sie sich den Ruf einer lebenden Heiligen erworben, deren ganzes Leben sich allein um das Wohlergehen ihres Gemahls und ihrer Töchter drehte.
Ganz privat jedoch war Morfia einfach nur Morfia – eine Frau, die nur wenige zu Gesicht bekamen und die die meisten gar nicht erkannt hätten.
Diese Frau zu beobachten bedeutete, dass Alice zur Spionin werden musste. Wenn Morfia in diesen zurückgezogenen Stunden Gesellschaft wünschte, so wurde die entsprechende Person zu ihr gerufen. Sonst jedoch blieb die Gräfin von Edessa allein und arbeitete mit Konzentration und Hingabe an der Durchsetzung ihrer Interessen.
Genauso hätte Alice am liebsten auch gelebt, weshalb sie mühelos in der Lage war, sich in den Winkeln der Räume, die ihre Mutter benutzte, unsichtbar zu machen. Und sie begriff schnell, dass sie von ihrer Mutter vieles lernen konnte, selbst wenn Morfia nicht das geringste Interesse daran hatte, ihre Tochter etwas zu lehren. Umso sklavischer hatte sich Alice darangemacht, das Verhalten ihrer Mutter zu studieren und sich ihre Methoden anzueignen. Ohne etwas zu ahnen, lehrte Morfia ihre Tochter ein Geheimnis, das Melisende niemals brauchen würde, selbst wenn sie klug genug gewesen wäre, es sich zunutze zu machen: Morfia lehrte ihre zweitjüngste Tochter, wie man Männer manipulierte.
Alice wusste, wie sich die Männer in der Gegenwart ihrer Mutter verhielten – und wie überraschend sich ihre Mutter manchmal in der Gegenwart von Männern verhielt, die sie zu beeinflussen gedachte. Sie wusste, wie Männer in der Öffentlichkeit mit ihrer Mutter umgingen – wo Morfia die Gemahlin des Grafen war und sie, so mächtig sie auch in ihren eigenen Domänen sein mochten, dessen Untertanen waren. Doch wenn sie Morfia unter vier Augen begegneten, tanzten sie einen ganz anderen Tanz, ebenso formell, aber intimer, voller geheimer Nuancen und Absichten, die dadurch, dass sie unausgesprochen blieben, nur umso deutlicher zutage traten.
Während ihre Mutter bei diesen Begegnungen die Grenzen des Anstandes nie überschritt, stolzierten die Männer um sie herum wie exotische Vögel beim Balztanz, unzweifelhaft überzeugt, dass ihr königliches Gegenüber kurz davor war, sich ihnen zu ergeben. Besonders spannend waren die Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter ganz offen auf solche eindeutigen Angebote einging, indem sie mit den Augen klimperte und ihre weiblichen Rundungen besonders aufreizend zur Schau stellte. Und doch ließ Morfia niemals zu, dass sie die Kontrolle über die Situation verlor oder einer der Männer sie berührte.
Einmal hatte Alice gar beobachtet, wie sich ein Mann ihrer Mutter gegenüber im Zustand völliger Erregung entblößte – doch auch das konnte Morfia nicht aus der Fassung bringen.
»Mylord«, hatte sie ihn lächelnd angesprochen und ihm direkt in die Augen gesehen, als sei nichts Ungewöhnliches an dieser Situation, »es ist nicht zu übersehen, dass ich etwas besitze, das Ihr begehrt. Und wie Ihr wisst, besitzt Ihr auch etwas, was ich begehre. Beide Wünsche sind zu erfüllen, ohne dass es jemand anderer erfährt. Aber die wahre Herausforderung liegt doch in der Entscheidung, wer von uns beiden den ersten Schritt tut, nicht wahr? Nun mögt Ihr ja beschwören, dass ich im Unrecht bin, aber im Innersten wisst Ihr genauso gut wie ich, dass ich eine Närrin wäre, wenn ich diejenige wäre.«
Der Mann war auf sie zugetaumelt, doch Morfia hatte warnend die Hand erhoben. Er war stehen geblieben und hatte sie angestarrt, während das Corpus Delicti dahinwelkte. Dann hatte er abrupt genickt, seine Kleidung wieder zurechtgerückt und ihr gesagt, dass sie natürlich Recht habe und beobachten solle, wie er sich in den darauffolgenden Tagen verhalten werde. Davon, dass er zurückkommen würde, um sich seine Belohnung abzuholen, sagte er nichts, und Alice hatte die Geistesgegenwart ihrer Mutter gar nicht genug bewundern können.
Auf diese Weise hatte sie noch viele andere Lektionen gelernt, doch sie waren alle auf das eine, allumfassende Bewusstsein hinausgelaufen, dass Männer in der Hand einer entschlossenen, besonnenen Frau zu Wachs wurden, wenn diese ihnen mit erotischer Befriedigung winkte. Und dass es wichtig war, diskret vorzugehen. Hätte ihr Vater nur den geringsten Verdacht geschöpft, was sich unter seinem Dach abspielte, hätte es mit Sicherheit Blutvergießen gegeben, und auch Morfia wäre nicht verschont geblieben. Und dass auch Schuldgefühle eine machtvolle Waffe sein konnten, wenn man sie geschickt ins Spiel brachte.
Nun brauchte sie nur noch eine Gelegenheit, das Gelernte zu erproben.
BISCHOF GROSBEC war der amtsälteste kirchliche Würdenträger der Grafschaft Edessa, und er stand bei allen Kirchenmännern in hohem Ansehen – eine Tatsache, die Morfia zu nutzen wusste, als Edessas ehrgeiziger Bischof Odo eine Synode einberief, um die Machtposition der Geistlichen gegenüber den weltlichen Machthabern zu stärken.
Alice hatte zunächst nicht verstanden, was vorging, wenn sich die Gräfin und der alternde Kleriker in der Kapelle trafen, die an die Gemächer der Gräfin angrenzte. Denn weder unterhielten sie sich noch beteten sie.
Alice wusste, in welche Richtung ihre Mutter den Bischof beeinflussen wollte. Doch ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne dass Grosbec von einer Entscheidung der Synode berichten konnte. So saß er wortlos mit Morfia in der Kapelle, ohne dass Alice begriff, warum ihre Mutter, die nicht besonders fromm war, so viel Zeit damit verbrachte, den Altar anzustarren, während Grosbec sie anstarrte. Immer trafen sie sich zur selben Zeit – um die dritte Stunde des Nachmittags –, und immer verbrachten sie eine Viertel- oder halbe Stunde zusammen, bis sich der Bischof erhob und Morfia den Kopf senkte, um seinen Segen zu empfangen und dann allein in ihre Gemächer zurückzukehren.
Es war an einem Freitagnachmittag, als der Bischof plötzlich aufkeuchte und sein ganzer Körper krampfhaft erzitterte, sodass er sich auf die Rückenlehne einer Bank stützten musste. Er hatte – wie üblich – dagestanden und Morfia betrachtet, war dabei aber langsam hin- und hergeschwankt, als ließe er seine Hüften kreisen. Als er dann plötzlich erstarrte und zu ersticken schien, war Alice so erschrocken, dass sie sich fast verraten hätte. Doch sie hatte sich wieder gefangen – nicht zuletzt, weil Morfia nichts von seinem Ausbruch gehört zu haben schien, denn sie legte nicht das geringste Anzeichen von Besorgtheit an den Tag. Sie erhob sich lediglich von ihrer Kniebank und wandte sich ihm zu. Nachdem sie ihn einige Sekunden lang schweigend und mit einer Miene betrachtet hatte, die Alice noch nie gesehen hatte, hatte sie mit züchtig gesenktem Kopf den Segen des Bischofs abgewartet. Dann wandte sie sich ab und ging davon, und Grosbec sah ihr nach, erschöpft und verhärmt.
Als sie später darüber nachgedacht hatte, was sich in diesen Minuten ereignet hatte, begriff Alice nicht nur, was geschehen war, sondern sie verstand auch die Bedeutung des Wechselspiels zwischen den beiden, das sie bis jetzt so verwundert hatte.
Grosbec war ein Voyeur, und sie wusste, was das bedeutete. Trotz ihrer Jugend schockierte es sie nicht, dass Bischof Grosbec ein Sexualleben hatte. Die Welt war voller zügelloser Geistlicher, und niemand dachte sich etwas dabei. Das einzig Ungewöhnliche hier war, dass der Bischof ein Voyeur war und nicht selbst aktiv wurde.
Alice kannte einen Jungen – vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie selbst –, der anderen Menschen gern zusah, und Alice hatte ihn einmal dabei beobachtet, wie er sich währenddessen selbst befriedigte. Seine Umgebung wusste, was er war, und obwohl man ihn deshalb auslachte und beschimpfte, versuchte er nicht, sich zu ändern.
Auch Grosbec war also so, und es war klar, dass Morfia dies wusste und dieses Wissen für ihre Zwecke benutzte.
Drei Tage später hatten die Kirchenmänner den Entschluss gefällt, den sich Morfia gewünscht hatte, und am selben Nachmittag hatte sie sich noch einmal mit Grosbec in der Kapelle getroffen.
Alice war selbst geradezu körperlich erregt gewesen, weil sie jetzt wusste, worauf sie achten musste. Sie sah, wie sich Grosbec mehr und mehr anspannte, während er Morfia betrachtete. Dann erhob sich Morfia und trat an den Altar, wo sie eine Reihe von Kerzen anzündete. Alice war sich sicher, dass sie damit ihre Dankbarkeit demonstrieren wollte, denn die Art, wie sich die Königin vorbeugte, um nach den Kerzen zu greifen, und sich dann reckte, um sie hoch oben auf dem Kerzenhalter zu platzieren, brachte ihren Körper und ihre Bewegungen aufreizend zur Geltung. Es war nicht zu übersehen, welche Wirkung diese Gesten auf Grosbec hatten.
Als er sich danach wieder aufrichtete, wusste sie auf die Sekunde genau, wann sich Morfia umdrehen würde. Diesmal jedoch lächelte die Gräfin offen dabei und dankte Grosbec für alles, was er für sie getan hatte. Dann teilte sie ihm mit, dass sie sich bedauerlicherweise nicht mehr regelmäßig mit ihm treffen könne. Bei diesen Worten sackte Grosbec erneut in sich zusammen, doch er nickte nur widerspruchslos.
NATÜRLICH LERNTE PRINZESSIN Alice de Bourcq in der Folge, dass die Geschichten, die sie über die Freuden der Sexualität gehört hatte, stimmten.
Kurz bevor Bischof Grosbec nach Frankreich reiste, um sich dort zur Ruhe zu setzen, machte ihn Alice zu ihrer ersten Eroberung. Und nachdem sie den Erfolg erst einmal gekostet hatte, entwickelte sie rasch das nötige Selbstvertrauen, ihren eigenen Überzeugungen zu folgen.
Doch es war die Art, wie ihre Mutter das Verhalten des lüsternen Bischofs in der Kapelle geduldet hatte, die in Alice endgültig den Entschluss reifen ließ, das gleiche Spiel zu spielen wie ihre Mutter. Und zwar offen und ohne die geringste Spur von Scheinheiligkeit – allein schon, um ihre Mutter zu provozieren.
Und so folgte das Leben der Familie des Grafen Baldwin schon bald einem festgesetzten Muster. Alice gab sich nicht einmal mehr den Anschein, sich ihrer Mutter gegenüber freundlich oder gar gehorsam zu zeigen. Als Reaktion darauf nahm die Missbilligung ihrer Mutter weiter zu, und sie kritisierte ihre Tochter bei jeder Gelegenheit.
Da der Graf irgendwie mit der konstanten Disharmonie zwischen den beiden Frauen leben musste, begann er, ihre Streitereien vollständig zu ignorieren. Zusätzlich sorgte er dafür, dass er nie mit beiden gleichzeitig in einem Zimmer war.
Morfia gönnte sich weiterhin täglich ihre »einsamen Stunden«, und ihre Tochter tat es ihr in der Zurückgezogenheit ihrer eigenen Gemächer gleich.
Und dann starb König Baldwin der Erste von Jerusalem. Überraschenderweise hatte man ihrem Vater die Krone angetragen. Dieser war zu Baldwin dem Zweiten ernannt worden, und seine Frau war nun Königin.
Alice eröffnete sich ein völlig neuer Horizont. Da das Königspaar keine Söhne hatte, würde die älteste Tochter einmal den Thron besteigen. Alice wusste zwar noch nicht, wie, doch sie würde Melisende um diese Ehre bringen. Eines Tages würde sie Königin von Jerusalem sein.
Bis ihr Blick auf den Novizen Bruder Stephen fiel, hatte Alice noch nie einen Mann nur zum Vergnügen begehrt. Die Tatsache, dass sich in ihm der Idealismus des Mönchs mit der Kraft und Männlichkeit des Kriegers paarte, entfachte eine neue Art von Lust in der Königstochter. Und sie setzte ihre ganze Besessenheit daran, ihn zu bekommen.
3
I
N DEN SECHS WOCHEN, die auf ihre erste Begegnung folgten, traf Stephen St. Clair die Prinzessin noch drei weitere Male – und jedes Mal schien es purer Zufall zu sein. In seiner weltfremden Art wäre ihm die Möglichkeit, dass Alice ihn beobachten ließ, nie in den Sinn gekommen. Er wäre schockiert gewesen, wenn jemand angedeutet hätte, dass sie ihn als Mann begehrte.
Zwar wunderte er sich über die plötzliche Häufigkeit ihrer Begegnungen – doch das lag auch daran, dass sie ihm stets im Kopf herumspukte, was ihn häufig in Verlegenheit brachte. Ständig träumte er von ihr und vergoss dabei seinen Samen. Dass es ununterbrochen derselbe Traum von einer bestimmten Person war, der dazu führte, hatte er noch nie erlebt. Immer öfter jedoch wurde er während der Klimax zitternd wach und sah nur das Gesicht der Prinzessin vor seinem inneren Auge, während er sich an ihre Berührung zu erinnern glaubte.
Die Intensität dieser Träume verfolgte ihn zunehmend auch am Tage. Inzwischen besorgte ihn dies so sehr, dass er schon daran dachte, einen Priester aufzusuchen und seine vermeintlichen Sünden zu beichten. Noch hatte er das nicht getan, doch sein Bedürfnis, es zu tun – sich von seinen Schuldgefühlen zu reinigen –, bestimmte seine Reaktionen, wann immer er sich Alice in Person gegenübersah.
Beim ersten Mal – in der Nacht zuvor hatte er zum ersten Mal von ihr geträumt – hatte er ihr nicht in die Augen sehen können und vor lauter Verlegenheit kein Wort herausgebracht. Alice hatte sich davon nicht beirren lassen und Belustigung über seine Schüchternheit an den Tag gelegt, bevor sie ihn nach wenigen Minuten wieder seinem Elend überließ.
Ihre zweite Begegnung war ähnlich verlaufen. Allerdings hatte St. Clair diesmal ein paar gestammelte Worte als Antwort auf die Fragen der Prinzessin herausgebracht. Auch diesmal hatte Alice jedoch beschlossen, dass es noch nicht an der Zeit war, den jungen Ritter in ihr Spinnenetz zu locken. Also hatte sie lediglich versucht, ihm seine Nervosität zu nehmen, indem sie ihm den Eindruck vermittelte, dass ihr Interesse an seinen Brüdern und ihrer Tätigkeit aufrichtig war.
Sie war zwar über drei Jahre jünger als er – sie war achtzehn, er war einundzwanzig –, aber an Lebenserfahrung war sie ihm um Jahrzehnte voraus. St. Clair war noch unberührt; nichts in seinem bisherigen Leben, das er fernab von jeder Frau in der Gesellschaft frommer Männer und großer Krieger im nasskalten England verbracht hatte, hatte ihn auf den Umgang mit weiblicher Schönheit vorbereitet.
Alice dagegen hatte ihre Jungfräulichkeit mit vierzehn verloren, und sie sonnte sich in der Macht, die sie über die Männer hatte. Sie verführte jeden, den sie sich gefügig machen wollte, ohne sich jedoch jemals selbst verführen zu lassen. Das Vergnügen lag für sie in der Kontrolle. Niemals ließ sie es zu, sich selbst umwerben zu lassen und sich womöglich eine Blöße zu geben. Genau wie ihre Mutter war Alice bei ihren Affären die treibende Kraft, und sie hatte noch nie einen Misserfolg erlebt.
Bis jetzt. Angesichts dieses gut gebauten, aber unfassbar verlegenen Mönches war sie ratlos. Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte, denn regelmäßig, wenn sie ein Gesprächsthema anschnitt, das ihm nicht vertraut war, geriet er in Panik. Jede Formulierungsgabe kam ihm abhanden. Wie hätte sie ahnen sollen, dass er Angst hatte, sich zu versprechen und seine lüsternen Gedanken zu verraten.
Andererseits spürte sie, dass es ihn in ihre Nähe zog, denn die Freude, die bei ihrem Anblick in seinen Augen aufleuchtete, war unmissverständlich. Deshalb setzte sie ihren Angriff weiter fort und kochte innerlich vor Ungeduld, während in ihm das schlechte Gewissen mit dem Vergnügen rang.
Es war ihre dritte Begegnung, die den Ausschlag gab und Alice über die Grenzen des Erträglichen hinweg in Rage trieb.
Sie hatte Spione auf St. Clair angesetzt, die ihr Bericht erstatteten, sobald er von einem Patrouillenritt zurückkehrte, und die auch herausbekommen hatten, wie er die Tage nach seiner Rückkehr verbrachte. Nachdem er den Ordensoberen Bericht erstattet hatte, schlief er einen ganzen Tag, um nach dem langen Ritt unter der Wüstensonne wieder zu Kräften zu kommen. Am folgenden Tag besuchte er den Markt vor dem Südwesttor der Stadt, wo er den Morgen verbrachte und sich satt aß und trank. Dann kehrte er zum Tempelberg zurück, wo er tagelang nicht mehr gesehen wurde, bis der Zeitpunkt kam, an dem er erneut auf Patrouille ritt.
Er war so verlässlich wie der Auf- und Untergang der Sonne; er verhielt sich immer gleich und nahm immer denselben Weg vom Tempelberg zum Markt.
SULEIMAN AL KHARIF wusste, dass die Ferenghiprinzessin mit ihren Gedanken anderswo war. Sie war eine seiner geschätztesten, zugleich aber kritischsten Kunden. Trotz ihrer Jugend wusste sie alles über die Kunst der Teppichherstellung, und sie war schwer zufriedenzustellen.
Heute dachte sie an etwas anderes als die Qualität seiner Waren. Doch er war zu alt und zu gerissen, um sich anmerken zu lassen, dass ihm das aufgefallen war. Stattdessen dankte er Allah für seine Gunst, denn die Prinzessin hatte bereits exorbitante Preise für zwei Teppiche bezahlt, die sie an normalen Tagen nicht einmal genauer betrachtet, geschweige denn gekauft hätte. Die Art, wie ihr Blick immer wieder in die Menge auf der Straße abschweifte, sagte dem Alten, dass sie sich heute nicht für seine Teppiche interessierte, sondern nur seinen Stand benutzte, um auf jemanden zu warten.
Deshalb ließ er sie in Ruhe und kletterte auf die Plattform, auf der sein Stuhl stand und von der er den Überblick über seinen gesamten Stand hatte. Dort wartete er geduldig ab, was geschehen würde. Er ließ sie ungestört so tun, als inspizierte sie seine Waren, während er ebenfalls die Menge beobachtete.
Er hatte zwar keine Ahnung, wen sie erwarten mochte, doch er hatte auch keinen Zweifel daran, dass es ein Mann war. Daher fragte er sich, ob er den Mann wohl ausmachen konnte, bevor sie selbst ihn sah. Sein Aussichtspunkt war ja weitaus besser als der ihre.
Und dann sah er am anderen Ende eine hochgewachsene Gestalt, die die Menschen ringsum überragte, und er wusste, dass er aufhören konnte, sich zu fragen. Der herannahende junge Mann war ein hünenhafter junger Ferenghi mit blonden Haaren, breiten Schultern und blauen Augen, die so leuchteten, dass selbst der alte Suleiman sie aus fünfzig Schritten Entfernung erkennen konnte. Alle Köpfe wandten sich nach ihm um, wenn er vorüberging.
Suleiman beobachtete die Prinzessin, die den Mann noch nicht gesehen haben konnte. Sie war eine faszinierende junge Frau, diese Frankenprinzessin. Paradoxerweise genoss sie großes Ansehen unter den Einheimischen, unter Suleimans Volk, das den Anblick der Ferenghis mit ihren sonnenverbrannten Gesichtern und ihrer arroganten Haltung, ihren schweren Kettenpanzern und ihren langen Schwertern kaum ertragen konnte.
Doch Alice war unter Rechtgläubigen geboren worden, und obwohl sie Christin war, sprach sie fließend Arabisch und verhielt sich in der Öffentlichkeit, wie es sich für eine Moslemin geziemte, indem sie ihr Gesicht sittsam verhüllte und weite Übergewänder trug, an denen niemand Anstoß nehmen konnte.
Er hatte Gerüchte gehört, dass ihre eigenen Leute der Meinung waren, dass die Prinzessin Schande über sie brachte, doch er hatte noch nichts gesehen, was darauf hindeutete. Auch heute war sie verschleiert und trug ein Moslemgewand aus einem blauen Stoff, das mit goldenem und grünem Faden bestickt war und sie von Kopf bis Fuß verhüllte – bis auf ihre Augen, die aufblitzten, als sie sah, dass der blonde Hüne auf den Marktstand zukam.
Ein einziger Blick verriet Suleiman, dass der Franke nicht ahnte, dass die Prinzessin überhaupt hier war. Der Mann, der bequeme Wüstenkleidung trug anstatt der erdrückenden Ferenghirüstung und nur mit einem Schwert bewaffnet war, das an einem Schultergurt hing, schlenderte gemächlich vor sich hin und kaute an einem Stück Fleisch, während er sich umschaute. Das Einzige, was seinem Blick entging, war das Gesicht der jungen Frau, die sich jetzt aufgeregt vorbeugte und ihn durch eine Lücke zwischen zwei hängenden Teppichen musterte.
Suleiman sah, wie sie gebieterisch mit den Fingern schnippte und ihren Diener auf die Straße schickte, um den Hünen zu ihr zu holen. Der hochgewachsene Franke runzelte die Stirn, packte die Scheide seines langen Schwertes und folgte dem Ruf, anscheinend ohne zu ahnen, wem er sich gegenübersehen würde.
Gebückt betrat er den Teppichstand, und seine Verwirrung und Überraschung, als er sich dann aufrichtete und die Prinzessin entdeckte, waren beinahe komisch anzusehen.
Suleiman, der schon im Begriff gewesen war, von seiner Plattform hinunterzusteigen, blieb, wo er war, und sah und hörte weiter zu.
»Bruder Stephen«, begrüßte die Prinzessin den jungen Mann. Sie legte ihren Gesichtsschleier ab und lächelte ihm zu. »Was für eine angenehme Überraschung. Ich hätte wirklich nicht erwartet, Euch auf dem Markt anzutreffen. Hätte mich jemand gefragt, so hätte ich gesagt, dass ihr auf Patrouille in der Wüste seid und den Banditen einen Schrecken einjagt.«
Es war nicht zu übersehen, dass der Mann, dessen Gesicht rot angelaufen war, verblüfft war und sich beklommen fühlte. Der Teppichhändler arbeitete sich etwas dichter an die beiden heran, um hören zu können, was er wohl sagen würde.
»Prinzessin«, murmelte er und stotterte beinahe vor Nervosität. »Verzeiht mir. Ich wusste nicht, dass Ihr …«
»Was, dass ich hier bin?« Die Prinzessin lachte. »Wie hättet Ihr das wissen sollen? Bis vor einer Stunde wusste ich es ja selbst nicht. So etwas nennt sich Zufall.« Sie zögerte. »Ich wollte gerade eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Darf ich Euch einladen? Es wäre mir ein großes Vergnügen.«
Wieder klatschte sie in die Hände und befahl ihrem Diener, eine Erfrischung für sie aufzutragen. Erst dann schien ihr einzufallen, wo sie sich befand, und sie sah sich nach Suleiman um, der sofort vortrat und den hünenhaften Franken mit einem Lächeln begrüßte. Auf die Frage der Prinzessin hin, ob es ihr gestattet sei, hier etwas zu essen, winkte er ab und bot ihr selbst eine Erfrischung an. Doch davon wollte Alice nichts wissen; es reichte, so sagte sie, dass er es ihr gestattete. Sie habe selbst Speisen und Getränke dabei, weil sie eigentlich vorgehabt habe, unter freiem Himmel zu speisen. Sie sei ihm sehr dankbar.
Suleiman verneigte sich erneut und ließ sie mit ihrem unerwarteten »Gast« allein.
Bis das Essen aufgetragen war, stand St. Clair beklommen da und betrachtete die Teppiche, die überall um ihn herum aufgestapelt lagen oder an Querstangen aufgehängt waren, sodass sie wie Wände wirkten. Seine Augen huschten hin und her und sahen sich alles an – außer Alice.
»Herrliche Teppiche, nicht wahr?«
Er runzelte die Stirn, als wüsste er nicht, was er darauf antworten sollte, und Alice brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass er es tatsächlich nicht wusste.
»Ist es möglich, dass Ihr noch nie einen Teppich gesehen habt, Bruder Stephen?«
Er schüttelte den Kopf, eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen.
»Nein, Mylady, so etwas habe ich noch nie gesehen. Was ist das, und wozu ist es gut?«
»Gut?« Sie lachte, entzückt über seinen sichtlichen Mangel an Weltgewandtheit. »Man legt sie auf den Boden und geht darauf. Es muss doch Teppiche in der Christenwelt geben? Jeder hat Teppiche.«
Er fuhr plötzlich zu ihr herum und sprach sie mit zusammengebissenen Zähnen an. Seine angespannten Kiefermuskeln ließen ihn wütend aussehen, obwohl sie wusste, dass er nicht wütend war.
»Da, wo ich herkomme, Mylady, sind die Fußböden aus Lehm, und wir bestreuen sie mit getrockneten Binsen, die Schlamm und Wasser aufsaugen. In England regnet es viel, Mylady, und die Tage sind meistens kalt und nass und unfreundlich. Kurze Sommer und wenig Sonne. Wenn wir so etwas wie diese Teppiche hätten«, er wies mit der Hand auf Suleimans Waren, »so würden wir sie an die Wand hängen, um den Durchzug fernzuhalten. Wir haben Wandbehänge, aber sie sind lieblos gemacht. So etwas Herrliches haben wir nicht – all diese Farben und weichen Materialien. Es wäre eine Sünde, so etwas Schönes auf einen festgetretenen Lehmfußboden zu werfen, wo es nur in den Schlamm getreten und von den Hunden besudelt würde.«
Er räusperte sich, bevor er fortfuhr.
»Natürlich weiß ich, dass in diesem Land alles anders ist. Alles ist wärmer. Sauberer. Geräumig und luftig. Das liegt an der Hitze. Wenn es nicht ständig nass und kalt ist, kann man vieles anders machen. Aber die Fußböden in unserem Quartier sind aus Stein, und auch hier sind sie mit Stroh bestreut –«
Er brach ab, weil ihm bewusst wurde, dass er sie direkt ansah und sie seinen Blick mit einem Lächeln erwiderte. Sie wartete, und als sie merkte, dass er nichts mehr sagen würde, lachte sie laut.
»Ihr könnt ja sprechen. So viel habe ich Euch noch nie auf einmal sagen hören, Bruder Stephen. Wusstet Ihr das?«
Er zog ein sorgenvolles Gesicht.
»Jetzt weiß ich es. Und ich bin Bruder Stephen. Ich sollte gar nicht hier sein.«
»Oh, bitte, bitte, bleibt und esst etwas mit mir. Da kommt es ja schon.«
Der junge Ritter verharrte unsicher, doch auf Alices Geste ließ er sich schließlich auf einen der drei Stühle sinken, die Suleiman für seine Kunden bereitstehen hatte.
Fast eine Stunde lang bemühte sich die Prinzessin gewissenhaft, ihm seine Anspannung zu nehmen und ihn für ihre Reize empfänglich zu machen.
Sie servierte ihm Honigplätzchen, die ihre Bediensteten speziell für sie mitgebracht hatten und die mit geriebenen Mandeln gebacken waren – und einer gehörigen Dosis des Opiats, das sich Haschisch nannte.
Nach wie vor ahnte sie nicht, dass sein zerbrechliches Selbstbewusstsein daher rührte, dass er hoffnungslos von ihr besessen war. Er hatte sich in ihrer Nähe stets gehemmt und wortkarg verhalten. Alice hatte dies als Teil seines natürlichen Charmes betrachtet – der schüchterne Junge im Körper eines Helden. Nichts deutete daraufhin, dass er im Wachen wie im Schlaf von ihr träumte – und deshalb von tiefer Schuld erfüllt war. Und so schritt Alice zuversichtlich weiter voran, ohne etwas davon zu merken, wie nah er der Verzweiflung war.
Um ihn in Sicherheit zu wiegen, vermied sie jedes verführerische Verhalten und behandelte ihn stattdessen so natürlich, wie sie glaubte, dass eine Schwester es tun würde.
Doch anstatt sich in ihrer völlig ungekünstelten Gegenwart zu entspannen, sah St. Clair viel mehr, als sie ihm zeigte: Er sah, wie ihre Gewänder sie unter dem formlosen Übergewand umschmeichelten und ihre Rundungen nachzeichneten; er sah, wie sie sich niedersetzte und sich in ihrem Sessel zurücklehnte, sodass ihre Brüste betont vorstanden, und ihre Oberschenkel, die unter dem dünnen Stoff ihres Kleides so deutlich gespreizt waren, wurden der unwiderstehlichste Anblick des ganzen Universums.
Er wand sich im Geiste vor Schuld und Selbstverachtung, denn er glaubte, seine Lust sei eine Abartigkeit – ein Verbrechen an einer unbefleckten, unschuldigen jungen Frau.
Hätte Alice nur einen Hauch vermutet, was in seinem Kopf vorging, wäre sie außer sich vor Glück gewesen und hätte ihre Gefühle sehr viel aggressiver gezeigt. Weil sie sich sicher war, unter dem schweren Brokat ihres Gewandes jede Zurückhaltung und jeden Anstand zu wahren, schütteten ihre unbewussten Bewegungen allerdings weiteres Öl in das Feuer der überhitzten Fantasie des jungen Mannes, bis er so erregt war, dass ihm nur noch eine Wahl blieb, wenn es nicht zum Äußersten kommen sollte: Er sprang totenbleich auf und lief davon.
Selbst als sie später in Ruhe darüber nachdenken konnte, begriff Alice nicht, was geschehen war. Er war vor ihr geflüchtet, so viel stand fest, und ihre Wut hatte auch Stunden später kaum nachgelassen. Doch sie hatte keine Ahnung, was sie getan hatte, um diese erstaunliche Reaktion hervorzurufen. Noch nie hatte ein Mann sie so beleidigt, und dafür würde sie sich rächen.
Natürlich war er ein Mönch, natürlich war er an sein Keuschheitsgelübde gebunden. Das war Grosbec jedoch ebenfalls gewesen. Was ihn nicht von ihrem Bett ferngehalten hatte. Wie konnte ein schlichter Eid stärker sein als so etwas Unwiderstehliches wie sie?
Also dachte Alice über andere mögliche Gründe für das Verhalten des Mönches nach – angefangen mit der Vermutung, dass er schon eine Geliebte hatte. Diese konnte nur eine Frau von hoher gesellschaftlicher Stellung sein, da es nur wenige Christenfrauen in Jerusalem gab. Nicht einmal Alice hätte geglaubt, dass ein gläubiger christlicher Mönch ein Verhältnis mit einer Moslemfrau einging.
Hatte sie ihn bis jetzt nur tagsüber bespitzeln lassen, so befahl sie ihren Spionen nun, ihn Tag und Nacht im Auge zu behalten.
Einen Monat später musste sie widerstrebend einräumen, dass Bruder Stephen kein Verhältnis hatte, weder mit einer Christin noch einer Moslemin. Dank ihrer Spitzel hatte er keinen unbeobachteten Schritt mehr getan; sie hatten Protokoll darüber geführt, mit wem er sprach und was er auf dem Markt kaufte. Sie waren ihm sogar in die Wüste gefolgt, hatten aber nichts gesehen, was ihren Verdacht erregt hätte.
Ob er Männer liebte? Das war die einzige Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten, die Alice noch blieb. Möglich, dass sie ihn körperlich anwiderte und er deshalb davongelaufen war. Sie konnte es sich zwar nicht vorstellen, doch diese Möglichkeit war Balsam für ihre verletzte Seele.
Nach einem weiteren Monat intensiver Bemühungen konnten ihre Spitzel ihr allerdings nichts liefern, was ihren Verdacht bestätigt hätte. Die einzigen Menschen, mit denen St. Clair Umgang hatte, waren seine Ordensbrüder, und er war mit Abstand der jüngste von ihnen. Sie verschwanden jeden Abend zum Schlafen in den Stallungen, und sie beteten zu den merkwürdigsten Tages- und Nachtstunden, die ihnen die Benediktinerregel vorschrieb. Bei allem Vorsatz konnte man nichts entdecken, was darauf hingedeutet hätte, dass die Mönche ein Sexualleben hatten.
Auch zwei Monate nach dieser unglückseligen Begegnung war Alice noch so wütend und unversöhnlich wie zuvor, ohne dass ihr der junge Mönch jedoch aus dem Kopf gegangen wäre. Wann immer ihr ein Liebhaber nicht genug Befriedigung brachte, stellte sie sich vor, der Mann, der sie mit Leidenschaft nahm, sei Stephen St. Clair.
4
H
EREIN!« Ohne auch nur aufzublicken, erkannte Bischof Odo de Fontainebleau, der frühere Bischof von Edessa und jetzige Privatsekretär König Baldwins des Zweiten von Jerusalem, die Schritte, die sein Gemach betraten. Er lehnte sich bequem zurück, legte seinen Federkiel beiseite, rieb sich die Augen und gähnte herzhaft, dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf.
Vor ihm stand ein schmächtiger Mann mit viel zu kleinen Augen und einer langen Nase, der einen schweren, mit Leder bezogenen Behälter umklammerte, der als große Dokumentenmappe getarnt war.
Das Gesicht des Mannes war ausdruckslos, seine Haltung bescheiden und seine Kleidung so eintönig, dass er alles andere als dazu einlud, dass man Notiz von ihm nahm. In jeder Menschenansammlung wäre er quasi unsichtbar gewesen.
Odo betrachtete den Mann einige Sekunden lang, bevor er die Hände sinken ließ und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Also, sprich. Was hast du herausgefunden?«
Das darauffolgende Kopfschütteln war kaum zu sehen.
»Nichts, was eine Antwort auf Eure Frage wäre. Da gibt es nichts herauszufinden. Die Spitzel der Prinzessin sind überall; sie sind mindestens zu sechst, und sie wechseln sich alle paar Stunden ab, aber sie verschwenden nur ihre Zeit – und werden wahrscheinlich gut dafür bezahlt. Ihr habt mich beauftragt, sie zu beobachten und herauszufinden, was sie entdecken. Die Antwort, Mylord, ist, dass sie nichts finden. Was aber noch erstaunlicher ist – wenn auch nicht überraschend, falls Ihr versteht, was ich meine –, ist, dass sie zudem gar keine Ahnung haben, wonach sie suchen sollen. Sie sollen den jungen Mönchskrieger beobachten, und das tun sie. Sie wissen jedoch nicht, warum. Ich habe in den letzten drei Tagen mit einem halben Dutzend von ihnen gesprochen. Sie haben alle dasselbe gesagt: Sie haben nichts gesehen und nichts entdeckt.«
»Das heißt also, dass nicht nur Alice ihr Geld und ihre Zeit verschwendet hat, sondern ich ebenso? Ist es das, was du mir sagen willst?«
»Ganz und gar nicht, Mylord. Ich habe nur gesagt, dass ich keine Antwort auf Eure Frage gefunden habe.«
»Aber du hast etwas anderes gefunden.«
»Vielleicht. Ich glaube schon, aber es kann ja sein, dass Ihr anderer Meinung seid. Jedenfalls habe ich eine interessante Entdeckung gemacht.«
»Eine interessante Entdeckung, aber nicht die, mit der ich dich beauftragt hatte. Ich verstehe. Muss ich dir Bakschisch geben, damit du damit herausrückst? Spuck es aus, Mann.«
Der Besucher ließ sich durch den Unmut des Bischofs nicht beeindrucken. Er öffnete den Behälter, zog ein schmutzig aussehendes Tüchlein heraus, wischte sich damit über die Nase, steckte es zurück und zog geziert die Nase kraus.
»In diesen Stallungen geht etwas vor.«
Der Bischof riss ungläubig die Augen auf.
»Natürlich geht dort etwas vor! Es lebt eine ganze Mönchsbruderschaft darin, mit ihren Pferden.«
»Nein, nicht nur das. Etwas Seltsames.«
»Seltsam … verstehe. Betreiben die Mönche dort ein Bordell?«
»Möglich. Vielleicht treiben sie es auch mit den Pferden. Man kann es nicht sagen. Ich bin nicht dicht genug herangekommen, um etwas zu sehen – wenn auch dichter als alle anderen. Diese Mönche sind ein merkwürdiger Haufen. Die Männer, die sie Sergeanten nennen, wohnen in Häusern, die vor dem Eingang zu den eigentlichen Stallungen stehen; nur die Mönche selbst leben in den Stallungen. Und es gibt nicht viel Verbindung zwischen ihnen … den Mönchen und den Sergeanten, meine ich. Ich glaube zwar, dass sie alle Mönche sind, und nach allem, was ich weiß, sind alle Mönche gleich. Diese aber nicht.«
»Gar nichts weißt du, und das meiste von dem, was du glaubst, ist ein Irrtum. Zum einen sind sie Ritter und Sergeanten – Edelmänner und ihre Gefolgsleute –, zum anderen sind sie jetzt Mönche und Laienbrüder. Ein guter Grund für die Trennung. Jetzt sag mir doch bitte, was du glaubst, was dort vor sich geht.«
»Ich sage doch, dass ich es nicht weiß, aber es ist auf jeden Fall merkwürdig. Es hat so ausgesehen, als gäbe es im Inneren eine Tür, die niemand durchschreiten darf, der nicht zu den neun Rittern gehört. Und dahinter habe ich Geräusche gehört, als grübe sich jemand in den Felsen.«
»Als grübe sich jemand in den Felsen. Ist dir bewusst, dass diese Stallungen teilweise in den Tempelberg gehauen sind? Stellen wir uns also einmal vor, dass die Mönche gern ihre Unterkunft verbessern möchten. Die einzige Möglichkeit, sie zu vergrößern, ist, in den Felsen zu graben. Würdest du dem zustimmen?«
»Aye, vielleicht, aber –«
»Ich weiß, ich weiß … aber du hast den Verdacht, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht. Dann sag mir doch, was es ist. Diese Tür zum Beispiel, die nur die Ritter durchschreiten dürfen, wo ist sie?«
»Im Inneren … im dunkelsten Teil ihrer Unterkunft, an der Rückwand der Höhle.«
»Du meinst die Unterkunft der Ritter?«
»Aye, die Höhle ist zweigeteilt, ein Bereich ist für die Pferde, der andere für die Mönche.«
»Und die Sergeanten, sagst du, leben außerhalb der Höhle?«
»Aye, einige von ihnen arbeiten zwar in den Stallungen, aber sie wohnen nicht dort. Sie haben eine Art Kasernengebäude errichtet, das an die Mauer angrenzt.«
»Es leben also nur die Ritter in den Stallungen – warum ist es dann merkwürdig, dass nur die Ritter diese Tür benutzen, wenn doch außer ihnen niemand dort lebt? Bist du nicht auf den Gedanken gekommen, dass dort vielleicht ihre Latrine ist?«
»Das ist sie nicht, Mylord. Die Latrinen befinden sich auf der anderen Seite. In der Stallhälfte herrscht ein Kommen und Gehen, doch es befindet sich immer ein Ritter in der Nähe dieser Tür. Er ist zwar nicht eindeutig als Wache dort postiert, doch jedes Mal, wenn sich einer der Sergeanten dieser Tür bis auf eine gewisse Entfernung nähert, erscheint jemand, der ihn fortschickt … zwar immer freundlich und liebenswürdig, aber dennoch immer. Wer würde denn einen Wachtposten vor einer Latrine aufstellen? Ich habe es wochenlang beobachtet, und niemals ist ein Sergeant durch diese Tür geschritten.«
»Und das hat deinen Argwohn geweckt, oder gibt es etwas, was du mir noch nicht erzählt hast?«
Der schmächtige Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das ist alles.«
»Ich verstehe. Nun, du wirst das wahrscheinlich nicht gern hören, Gregorio, aber deine Vermutungen interessieren mich nicht. Dafür wirst du nicht bezahlt. Verdächtigungen und Vermutungen kann ich selbst in die Welt setzen, so viel ich will, über alles und jeden, auch über dich. Was ich von dir verlange, du kleines Licht, sind handfeste Tatsachen und die Beweise dafür. Deine Vermutungen zählen nicht dazu, solange du nichts mit Sicherheit sagen kannst und dir die Beweise fehlen. Verstehst du mich, Gregorio?«
Gregorio nickte, und der Bischof brummte nur als Antwort. Er beugte sich wieder vor und griff nach seiner Feder.
»Dann geh, und komm erst wieder, wenn du mit Gewissheit sagen kannst, dass du auf der richtigen Fährte bist.«
Odo hatte sich bereits in seine Arbeit vertieft, bevor sich Gregorio auch nur abwenden konnte. Doch sobald sich die Tür hinter seinem Spitzel schloss, erhob sich der Bischof, warf sein Schreibwerkzeug auf den Tisch und schritt zum Fenster, das auf einen der kleineren Höfe des Königspalastes hinunterblickte. Dort plätscherte ein Marmorspringbrunnen, der von Palmen umstanden war.
Odo war wütend, und er war eifersüchtig. Zwar war Wut für ihn nichts Neues, doch Eifersucht war es mit Gewissheit. Damit konnte er nicht umgehen.
Er machte sich keine Illusionen über das, was er empfand. Natürlich hätte er die gesamte Schuld gern auf die Prinzessin geschoben, und er hätte jedem detailliert schildern können, wie geschickt sie ihn umgarnt hatte. Doch natürlich konnte er mit niemandem darüber reden, und im Grunde seines Herzens kannte er auch die Wahrheit: Alice traf keine Schuld. Sie hatte ihn nicht gezwungen, mit ihr zu schlafen, weder beim ersten Mal noch später. Er hatte selbst zugelassen, dass er so vernarrt in sie war, obwohl er wusste, dass die Prinzessin die Beine jederzeit nach Lust und Laune für jeden breit machen würde, der ihr Interesse weckte. Sie schien unersättlich zu sein. Sie war eine Schönheit, und sie war jung – und darin lag der Grund für seine Eifersucht. Mit zweiundvierzig war er nicht mehr jung genug, um Alice auf die Dauer zu befriedigen. Schon als es vor vier Jahren begonnen hatte, war er nicht mehr jung genug gewesen.
Außerdem hatte er von Anfang an genau gewusst, warum ihm ihre Gunst zuteil wurde. Er war ihr Beichtvater, und als sie zur Frau zu werden begann, hatten ihn ihre detaillierten Schilderungen ihres körperlichen Erwachens in tiefe Erregung versetzt. Monatelang hatte sie ihm ausführlich davon berichtet, wie sie sich zu einem der jüngeren Höflinge ihres Vaters hingezogen fühlte und welche Fantasien sie um ihn spann. Sie hatte immer größere Freude daran gefunden, ihrem Beichtvater aufs Intimste zu erzählen, wie sie den arglosen Mann verführt hatte. Erst als er ihrem Charme selbst vollständig erlegen war, hatte Odo herausgefunden, welch perverse Freude sie daran gehabt hatte, den Mann hinter dem Gitter des Beichtstuhls zu manipulieren. Als die Zeit gekommen war, ihn zu verführen, war sein Untergang schon von langer Hand vorbereitet.
Natürlich hatte sie ihren Preis. Als Gegenleistung für die Benutzung und den Genuss ihres herrlichen jungen Körpers lieferte Odo der Prinzessin Informationen; wichtige und streng vertrauliche Informationen über alles, was sich hinter den verschlossenen Türen der königlichen Ratsversammlungen abspielte. Die Tatsache, dass sie anfangs erst vierzehn war, war dabei kein Hinderungsgrund gewesen. In ihrem Herzen und ihrem Verstand war Alice de Bourcq nie ein Kind gewesen. Schon damals war sie eine Frau von großer Raffinesse gewesen, deren wacher Verstand die Kunst der Intrige perfekt beherrschte. Sie hatte schon konkrete Pläne für ihr Leben geschmiedet, als ihre Freundinnen und Geschwister noch im Sandkasten spielten.
Odo hatte das gewusst, genau wie er gewusst hatte, dass sie versuchen würde, ihn sich unterwürfig zu machen und ihn für ihre Ziele zu benutzen. Das hatte ihm widerstrebt. Doch als es darum ging, seine Skrupel gegen seine Gelüste abzuwägen, den Wert seiner Prinzipien gegen das Gefühl ihres nackten weichen Schenkels in seiner Hand, da vergaß er all die noblen Ideale, auf die er einmal so stolz gewesen war.
Seine derzeitige Übellaunigkeit rührte daher, dass einer seiner Spitzel vor einiger Zeit entdeckt hatte, dass Alice sich von dem jungen Mönchsritter St. Clair fasziniert zeigte. Es war eine Hausdienerin gewesen, die Alice meistens so nah war, dass sie unsichtbar geworden und ihre ständige Anwesenheit eine Selbstverständlichkeit war. Er hielt sie für absolut vertrauenswürdig. Sie war es gewesen, die hörte, wie Alice ihrem Faktotum, einem Eunuchen namens Ishtar, die Anweisung gab, St. Clair – oder Bruder Stephen, wie er sich selbst nannte – beobachten zu lassen und sie darüber ins Bild zu setzen, wer seine Geliebten waren und was er mit ihnen machte.
Natürlich hatten sie keine Geliebten gefunden, und nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich St. Clair zweifelhaft verhielt. Das hatte Alice allerdings nur dazu getrieben, weiter nachzubohren. Odo wusste zwar, dass sich St. Clair nicht das Geringste hatte zuschulden kommen lassen. Doch als er die Besessenheit der Prinzessin stetig weiterwachsen sah, hatte Odo seine eigenen Spitzel auf die ihren angesetzt, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das den Mönch in Misskredit bringen würde – vor aller Welt und vor Alice.
Während er nun am Fenster stand, in den Hof hinunterstarrte und darüber nachdachte, was Gregorio gesagt hatte, erkannte Odo den ersten Hauch einer Idee, die ihm vielleicht helfen würde, selbst wieder in den Mittelpunkt von Alices Interesse zu rücken.
Durch diesen Gedanken ermutigt, begann er, einen Plan zu schmieden. Als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte, pfiff er leise vor sich hin – für jeden, der ihn kannte, ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Bischof angestrengt nachdachte.
5
A
LSO WIRKLICH, ODO, Ihr seid heute ausgesprochen anstrengend. Ich habe Euch kommen lassen, weil ich gehofft hatte, Ihr würdet mir heute Nachmittag Ablenkung verschaffen, doch Ihr habt die ganze Zeit nichts anderes getan, als wie ein Greis zu jammern.«
»Unsinn, werteste Prinzessin, sprechen wir doch lieber die Wahrheit aus. Ihr habt mich kommen lassen, weil Ihr gehofft habt, mir Neuigkeiten über Euer jüngstes Lieblingsthema zu entlocken. So, wie Ihr es immer versucht. Aber so sehr ich Euch auch verehre und so gern ich Euch zu Willen wäre, ich konnte Euch heute nichts erzählen, weil ich nicht weiß, was Ihr wollt. Wenn Ihr lieber ein Spielchen spielt, anstatt mich direkt zu fragen, dann gebt mir wenigstens nicht die Schuld dafür, dass ich Eure wahren Absichten manchmal nicht entschlüsseln kann.«
Alice de Bourcq zählte schweigend bis zehn und kniff die Augen zusammen.
»Ich bin sehr froh, dass Ihr bei diesen Worten gelächelt habt, Mylord«, sagte sie frostig. »Sonst hätte ich Euch vielleicht für dreist gehalten. So jedoch habt Ihr mich endlich zum ersten Mal amüsiert. Also kommt her und setzt Euch neben mich. Ich würde Euch gern ein Geheimnis ins Ohr flüstern.«
Während er sich erneut wunderte, wie jemand, der so jung war, so reif und weltgewandt klingen konnte, erhob sich Bischof Odo langsam und sah sie einige Sekunden lächelnd an, bevor er das Zimmer durchquerte. Alice, die ihn nicht aus den Augen ließ, ruhte auf einer Couch und hatte die Füße sittsam unter ihren langen Röcken verborgen.
Trotz all ihrer verblüffenden Raffinesse, so dachte er, konnte sie ihren Mangel an Jahren und an Erfahrung doch nicht immer verbergen. In mancherlei Hinsicht war ihre Jugend noch so durchsichtig wie feines Glas. Und diese unverblümte Gier, ihren Willen zu bekommen, war ein solcher Punkt.
Er selbst hatte seine Rolle heute Nachmittag perfekt gespielt, dachte er, als er jetzt auf sie zuging. So gekonnt hatte er den Zerstreuten und Abgelenkten gegeben, dass sie nun ihrerseits neugierig geworden war, obwohl sie sich ärgerte. War ihre Neugier erst einmal geweckt, konnte sie noch so verärgert sein – es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie nicht mehr widerstehen konnte.
Schon konnte er ihrem Gesicht ansehen, dass es kein Zurück mehr gab. Sie würde jetzt keine Ruhe mehr geben, bis sie sicher sein konnte, dass sie ihm auch das letzte bisschen Wissen entlockt hatte.
Unmittelbar vor ihr blieb er stehen, sodass sie den Kopf zurücklegen musste, um zu ihm aufzublicken. Damit stellte sie ihren schneeweißen Hals und die glatte Haut ihres Dekolletés aufs Einladendste zur Schau, und er spürte, wie seine Lenden auf ihre Nähe reagierten.
Lächelnd hob sie träge die Hand und winkte mit den Fingern, bis er sie ergriff. Da fasste sie zu und zog ihn zu sich herunter.
»Kommt, setzt Euch zu mir.«
Er setzte sich auf die Kante der Couch, doch sie legte sich auf die Seite und presste ihren Rücken ganz an die Lehne der Couch, um ihn dann an sich zu ziehen. Er spürte ihren Körper an seinem Rücken, und sie legte ihm die Hand flach auf den Bauch, bis er sich ganz gegen sie lehnte.
»So! Sitzt Ihr bequem?«
Er nickte lächelnd, während er mit der Hand ihre Hüfte liebkoste. Sie erwiderte das Lächeln mit einem zufriedenen Murmeln, und er verstärkte den Druck seiner Hand.
»Oh, wie verrucht«, hauchte sie und hob dann langsam ihr Bein, bis ihr Fuß auf der Sofalehne ruhte. Seine suchenden Finger glitten an ihrem Oberschenkel entlang, während sie sich ihrerseits mit kundiger Hand daranmachte, in seine bischöfliche Robe einzudringen.
Dies ließ Odo jedoch nur einige Sekunden lang zu. Dann packte er mit der freien Hand ihr Handgelenk, denn er wusste, wie schnell diese geschickten Finger seinen Samen vergießen konnten, und er gedachte, mehr von diesem Nachmittag zu haben.
»Halt, meine Teuerste. Geduldet Euch noch eine Weile.«
Alice sah ihn mit gespielter Verwunderung an. Doch sie lockerte ihren Griff auf ein zwar nach wie vor berauschendes, aber weniger gefährliches Maß. Auch Odo ließ von ihr ab.
»Wenn Ihr wirklich wissen wollt, was meine Gedanken heute so beschäftigt, dann haben wir vieles zu bereden. Ich bin mir des ganzen Ausmaßes dessen, was ich heute erfahren habe, immer noch nicht bewusst. Ihr wünscht doch sicher ebenso, dass ich ganz bei der Sache bin, wenn ich es Euch erzähle, anstatt zu früh meine Konzentration zu verlieren … falls Ihr wisst, was ich meine. Findet Ihr nicht auch?«
Alice betrachtete ihn einige Sekunden lang nachdenklich, dann nickte sie lächelnd, und ihre Finger berührten ihn wie ein Schmetterling.
»Ich pflichte Euch bei«, sagte sie. »Besser, man hält den Geschichtenerzähler wach, als dass man riskiert, dass er einschläft, weil er seiner eigenen Geschichte nicht mehr folgen kann.«
Sie lächelte, und ihre Hand schob seine Robe auseinander, sodass seine Mitte entblößt war.
»Nun, worum geht es denn in dieser Geschichte? Ihr habt meine ganze Aufmerksamkeit.«
»Und Ihr die meine, Mylady.«
Es folgte Schweigen, das nur von keuchenden Atemgeräuschen unterbrochen wurde, bis die Prinzessin ihre Hand fortzog, sich erhob und sich mit gespreizten Beinen auf ihn setzte. Sekunden später hatte sie ihn in sich aufgenommen und lehnte sich auf die Waden zurück, um ihn mit ihrem ganzen Gewicht festzuhalten.
»Also gut«, flüsterte sie. »Wenn Ihr so bleibt und Euch eine Zeit lang nicht bewegt, solltet Ihr in der Lage sein, Euch ganz Eurer Erzählung zu widmen. Aber langweilt mich nicht, Mylord, denn wenn ich die Lust verliere, Euch zuzuhören, wird diese Wonne ein abruptes Ende finden. Nun sagt mir, was Euch den ganzen Nachmittag so abgelenkt hat.«
Odo schloss die Augen, um seine Gedanken zu sammeln. Hin und wieder hielt er inne, um sich sacht zu bewegen, und jedes Mal bewegte sich Alice mit ihm, die Hände leicht auf seine Schultern gestützt, den Blick auf sein Gesicht gerichtet, um ihn genau zu beobachten, während sie seine Lust wachhielt, ohne seine Erregung weiter zu steigern.
»Es sind diese verdammten Mönche«, begann er. »Warmunds liebste Kinder.«
»Was ist mit ihnen?« Alice achtete sorgsam darauf, ihre Frage ausdruckslos und gelangweilt klingen zu lassen. »Ihr meint die Patrouille des Patriarchen? Was ist so verdammenswert an ihnen? Soweit ich weiß, haben sie sich schon oft nützlich gemacht, und ihre Wünsche sind sehr bescheiden. Was haben sie mit Euch zu tun?«
»Oberflächlich betrachtet gar nichts. Aber darunter entwickeln sie sich zu einem Ärgernis, das mich Zeit kostet, die ich nicht habe.«
»Wie denn?«
Alice verlagerte kaum merklich das Gewicht, um seine Aufmerksamkeit weiter ganz auf sich zu lenken.
Er stöhnte auf und schloss einen Moment die Augen; dann kehrte er zu seinem Thema zurück.
»Nun, sie sind gar nicht mehr so bescheiden und so selbstlos. Sie nennen sich schon seit Jahren nicht mehr die Patrouille des Patriarchen. Heutzutage nennen sie sich die Armen Soldatenkameraden Jesu Christi.« Er gab sich keine Mühe, seine Abneigung gegenüber den Mönchsrittern und ihrem neuen Namen zu verbergen.
Alice lachte laut auf.
»Die was? Was für ein lächerlicher Name! Die Armen Soldatenkameraden Jesu Christi. Diese Kerle haben ja den Verstand verloren. Aber warum macht Euch das Gedanken?«
»Es ist nicht der Name. Von mir aus können sie sich die Töchter der Heiligen Jungfrau nennen, solange sie es für sich behalten. Nein, es ist das, was sie tun, was mir Gedanken macht.«
Alice saß reglos da und starrte ihm in die Augen.
»Was tun sie denn, das Euch keine Ruhe lässt?«
»Ich –« Odo schnappte plötzlich nach Luft und erstarrte. Seine Finger bohrten sich in Alices Oberschenkel, bis die unerwartete Gefahr der Explosion vorüber war, dann lehnte er sich keuchend wieder zurück. »Himmel, das war knapp.«
»Aye, aber nun ist es ja vorbei. Sagt mir, was die Mönche tun.«
»Graben«, sagte Odo immer noch mit zittriger Stimme. »Ich glaube, sie graben.«
Alice ließ seine Schultern los und richtete sich auf.
»Graben? Wovon redet Ihr?«
»Sie graben einen Tunnel. Ich glaube, die Armen Soldatenkameraden Jesu Christi graben einen Tunnel in ihren Stallungen.«
Die Prinzessin blinzelte ihn verblüfft an, dann begann sie zu lachen.
»Einen Tunnel? Warum sollten sie das tun?«
»Weil sie offensichtlich nach etwas suchen. Darum gräbt man schließlich Tunnel … entweder um am anderen Ende etwas zu finden, oder um irgendwohin zu flüchten. Falls sie flüchten wollten, brauchten sie nur davonzuspazieren … also suchen sie nach etwas.«
»Aber was in aller Welt könnten sie suchen? Und wie habt Ihr das herausgefunden?«
Odo schüttelte den Kopf.
»Das sind zwei Fragen. Welche Antwort wollt Ihr zuerst?«
»Die erste. Wonach suchen sie?«
»Ich weiß es nicht, deshalb ärgert mich die ganze Angelegenheit ja so. Erstens können sie nur senkrecht in den Felsen graben. Die Stallungen sind Teil einer Höhle im Tempelberg. Massiver Fels.«
Alice runzelte die Stirn.
»Und was wollt Ihr damit sagen?«
»Ich will damit sagen, Mylady, dass sie möglicherweise einen Tunnel in den Felsen schlagen, doch wenn sie einen Schatz suchen, ergibt das keinen Sinn, denn in massivem Fels kann kein Schatz verborgen sein.«
»Nein, es sei denn, der Fels unter ihnen ist weniger massiv, als es den Anschein hat, und weil sie das wissen, graben sie, um diese weniger massiven Stellen zu finden.«
»Aber wie können sie –«
»Still. Lasst mich überlegen. Wie habt Ihr herausgefunden, dass sie einen Tunnel graben?«
»Einer meiner Männer hat es mir erzählt.«
»Eure Männer? Was denn für Männer? Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr Spitzel unter den Mönchsrittern habt?«
Der Bischof zuckte mit den Achseln, und Alice fuhr fort, ohne ihre Frage weiterzuverfolgen.
»Nun denn, was hat Euch dieser Spitzel erzählt?«
Odo bewegte sich, doch er war nicht länger steif und spürte nur noch feuchte Wärme. Er seufzte und ergab sich in sein Schicksal.
»Dass in den Stallungen etwas Verdächtiges vor sich geht, etwas, woran nur die Mönche teilhaben und was sie vor den Sergeanten, den Laienbrüdern, geheim halten. Diese scheinen tatsächlich nichts davon zu ahnen, was in einer solch kleinen Gemeinschaft ja erstaunlich ist.«
»Und was genau hat Euer Mann herausgefunden? Was hat er gesehen?«
»Nun, gesehen hat er nichts … nichts Konkretes. Aber ihm sind über eine lange Zeit hinweg gewisse Vorgänge aufgefallen.«
»Und hat er gesehen, wie sie graben? Hat er den Tunnel gesehen?«
»Nein, das nicht. Aber er hat es gehört.«
»Hat was gehört?«
»Hämmern. Er hat Geräusche aus den Stallungen gehört, gedämpftes nächtliches Hämmern.«
»Euer Mann könnte genauso gut ein Lügner und ein Narr sein, Odo, und ich wäre eine Närrin, wenn ich Euch glauben würde, ohne dass Ihr mir Beweise liefert.«
»Aye, da habt Ihr Recht, Prinzessin. Ich habe keine Beweise, aber ich habe gewisse Vermutungen – und hinreichend Grund zu der Annahme, dass ich damit Recht habe. Daher wäre ich selbst ein Narr, wenn ich Eurem Vater diese Vermutungen nicht vortragen würde. Die Stallungen sind sein Eigentum, und egal was diese Mönche dort tun: Wenn sie dort ohne Erlaubnis einen Tunnel graben oder sonstige Veränderungen vornehmen, müssen sie sich vor dem König verantworten. Genau wie ich es müsste, wenn ich nicht von meinen Annahmen berichten würde. Ich glaube, dass diese Mönchsritter etwas zu verbergen haben, und es sollten Ermittlungen gegen sie eingeleitet werden, damit es ans Licht kommt.«
Alice hatte ihm nachdenklich zugehört, und jetzt nickte sie bedächtig. Odo räusperte sich, doch bevor er weitersprechen konnte, brachte sie ihn mit einer Geste zum Schweigen. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, während sie sich mit der anderen zu der Stelle vortastete, an der sie vereint waren, und ihn mit suchenden Fingern erneut zum Leben erweckte.
Den Kopf zurückgelehnt, lag er da, während sie sich über ihm erhob und ihn an den Punkt brachte, an dem er zu beben und zuzustoßen begann. Doch bevor er die Vollendung erreichen konnte, gebot sie ihm Einhalt. Odo war der Ekstase nahe und erschauerte, während ihn Alice nachdenklich betrachtete. Als sie sah, dass ihm allmählich wieder bewusst wurde, wer und wo er war, begann sie erneut, sich zu bewegen, wohl wissend, dass er diesmal alles daransetzen würde, es zu Ende zu bringen. Sie sah zu, wie sich sein Lächeln in eine Grimasse verwandelte – um sich einen Herzschlag vor dem richtigen Moment zu erheben und ihn mit dem Arm auf Abstand zu halten, bis er schließlich keuchend aufgab und sie fragte, was in Gottes Namen sie da tat.
Sie schenkte ihm ein liebreizendes Lächeln.
»Ich enthalte Euch die Erfüllung vor, Mylord, und verlängere Eure Erregung. Ihr liebt doch meinen Körper, oder nicht? Ihr liebt das Vergnügen und die Sünde unseres Tuns. Die Lust, die Ihr für mich empfindet, macht Euch wild und hält Euch jung. Und die Gefahr lockt Euch immer wieder aufs Neue zu mir. Ihr suhlt Euch in dem Genuss, mit der Königstochter zu verkehren, sie zu verderben und von ihrer ruchlosen Jugend verdorben zu werden, obwohl … oder vielleicht weil es Euer Tod wäre, wenn man Euch dabei ertappen würde. Ist es nicht so? Genauso ist es, teuerster Odo. Deshalb möchte ich, dass Ihr über das, was ich Euch jetzt sage, sehr genau nachdenkt und mir glaubt, dass es mir sehr ernst ist. Verstehen wir uns? Denn dann könnten wir fortfahren.«
Odo nickte. Seine Miene war zwar verwundert, doch er konnte den Blick nicht von dem gelockten Haar lösen, das sie ihm wie beiläufig präsentierte, indem sie ihre Röcke um die Taille gerafft hielt.
»Verstehen wir uns, Odo? Seht mir in die Augen und antwortet mir.«
Widerstrebend hob er den Blick und antwortete. »Ja.«
»Gut. Nun hört mir aufmerksam zu.«
Sie ging ein wenig in die Knie und bewegte sich so weit auf ihn zu, dass er sie zwar nicht berühren, aber doch alles sehen konnte.
»Seht mich an, Odo. Seht Euch an, was ich hier habe, und dann denkt nach. Ihr werdet diesen Körper nie wiedersehen, berühren, küssen oder sonstwie liebkosen, wenn Ihr auch nur ein einziges Wort von unserem Gespräch weitersagt, sei es dem König oder dem Hochheiligen Erzbischof.«
Odo fuhr erschrocken zurück und zog ungläubig die Augenbrauen hoch, während sie sich unvermittelt wieder auf ihn, senkte, bis er in sie eindrang.
»Spürt mich, Odo, spürt das, und dann fragt Euch, ob Ihr mir glaubt.«
Sie entzog ihm ihre Hitze genauso abrupt, wie sie über ihn gekommen war, und als sie stand, ließ sie ihre Röcke fallen.
»Glaubt Ihr mir?«
Odo de Fontainebleau nickte langsam.
»Ich glaube Euch. Ich weiß zwar nicht, warum Ihr so etwas von mir verlangt oder eine solche Drohung aussprecht, aber ich möchte nicht, dass Ihr sie in die Tat umsetzt. Ich werde zu niemandem etwas sagen. Aber ich werde mich wahrscheinlich noch auf dem Totenbett fragen, warum.«
Das Grinsen der Prinzessin kam als plötzlicher Ausbruch der Freude, einer jener atemberaubenden und viel zu seltenen Beweise, dass sie doch kaum mehr war als ein Kind, in dem Begeisterung und Entzücken brannten. Odo ging das Herz auf, wie stets, wenn er Zeuge dieser flüchtigen Magie wurde.
»Nein, das werdet Ihr nicht«, sagte sie und vollführte auf einem Fuß eine Drehung auf der Stelle. »Das braucht Ihr nicht, Mylord, weil ich Euch sofort sagen werde, warum es so sein muss.«
Sie hielt auf den Zehenspitzen inne, und in ihren Augen glitzerte immer noch eine mädchenhafte Freude.
»Zumindest werde ich das tun … gleich … wenn wir unser Vergnügen gehabt haben.«
Sie raffte ihre Röcke wieder bis zur Taille hoch und kam auf ihn zu. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, leckte sie sich lasziv die Lippen.
Diesmal gab es keine Zurückhaltung mehr, und ihre Vereinigung war so kurz und stürmisch, dass sie beinahe vorüber war, bevor sie begonnen hatte.
»Warum wollt Ihr mich so hart bestrafen, wenn ich Eurem Vater von meiner Vermutung erzähle? Ihr habt gesagt, Ihr erzählt es mir.«
Sie waren nun vollständig bekleidet und saßen mit Naschereien und gekühltem Wein an einem Tisch am Fenster.
»Ich werde es Euch erzählen, aber zuerst muss ich noch etwas wissen. Glaubt Ihr wirklich, dass die Mönchsritter einen Tunnel in den Tempelberg graben?«
»Ja, das glaube ich.«
»Also gut. Wisst Ihr auch, was darunter liegt?«
»Unter dem Tempelberg? Nichts, nehme ich an, es sei denn, der Berg hätte Wurzeln.«
»Wisst Ihr, woher der Berg seinen Namen hat?«
Odo zuckte mit den Achseln.
»Weil einmal der Hebräertempel darauf gestanden hat, den Herodes erbaut hat.«
»Nicht nur darauf, sondern auch ringsum. Der Tempel war riesig, Odo, viel größer, als man erwarten würde, wenn man die Überreste sieht. Warmund interessiert sich sehr für die Geschichte Jerusalems und vor allem des Tempels. Er hat mir erzählt, dass ein weitläufiges Gelände dazugehört hat. Wisst Ihr, wann er zerstört worden ist?«
»Ich weiß nur, dass es lange her ist.«
»So ist es. Ein römischer General namens Titus hat vor über tausend Jahren die Stadt und den Tempel zerstört und die meisten Bewohner umgebracht. Die Überlebenden sind in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden. Die Stadt ist wiederaufgebaut worden, aber nicht von den Juden, denn es gab in ganz Judäa fast keine mehr. Und ohne Juden brauchte man demzufolge keinen jüdischen Tempel mehr. Die Römer hatten ganze Arbeit geleistet, und seitdem ist der Tempel unbenutzt geblieben.«
Odo nickte. Dann fragte er: »Ist das wichtig?«
»Natürlich ist es wichtig, genauso wichtig wie Eure Vermutung, dass die Mönche jetzt im Tempelberg Grabungen vornehmen. Warum sollte jemand seine Zeit damit vertun, einen Berg auf der Suche nach dem Schutt eines Gebäudes zu durchwühlen, das vor tausend Jahren zerstört worden ist? Wonach könnten sie suchen?«
»Nach einem Schatz?«
»Nach tausend Jahren? Was für ein Schatz könnte dort liegen, und wie sollten sie davon erfahren haben?«
Odos Miene erhellte sich.
»Sie haben eine Karte. Sie müssen eine Karte haben!«
»Was für eine Karte, und wer sollte sie gezeichnet haben?«
Ihre Stimme war voller Skepsis, aber sie dachte weiter laut nach.
»Warmund hat mir erzählt, dass der Tempel zur Zeit Jesu errichtet wurde und erst kurz vor seiner Zerstörung fertig geworden ist. Und wir wissen, dass die Römer mit Sicherheit alles Wertvolle an sich genommen hätten. Doch Warmund ging davon aus, dass der Tempel an der Stelle eines kleineren, viel älteren Tempels errichtet worden ist, nämlich des Salomonstempels.«
»Ihr meint König Salomon den Weisen?«
»Kennt Ihr noch einen anderen Salomon, der einen Tempel gebaut hat?«
Auf diese sarkastische Frage gab Odo keine Antwort. Ungerührt sprach sie weiter.
»Was ich nicht verstehe, ist Folgendes: Wenn diese Männer tatsächlich einen Tunnel graben, wie Ihr glaubt, warum tun sie es dann in den Stallungen. Und warum graben sie in den Fels?«
»Weil ihnen nur diese Möglichkeit offensteht. Denkt doch einmal nach. Sie können dort im Verborgenen graben, während man sie an jedem anderen Ort bemerken und ihnen Fragen stellen würde. Die Stallungen gehören ihnen, denn der König hat sie ihnen zur Verfügung gestellt. Selbst wenn die Arbeit dort schwieriger ist, ist es nicht verwunderlich, dass sie dort graben.«
»Nein. Nicht, dass ich an Eurer Begründung zweifle, doch es muss noch mehr dahinterstecken. Der Schatz muss ganz in der Nähe liegen. Trotz allem, was Ihr gesagt habt, würden sie ihre Grabungen niemals dort beginnen, wenn ihr Ziel eine Meile entfernt läge.«
»Das erscheint mir logisch.«
»Also müssen sie einen guten Grund gefunden haben, ihre Suche nach … dem vergrabenen Schatz dort zu beginnen. Sie müssen irgendetwas gefunden haben. Und vergesst nicht, dass sie Mönche sind, und zwar gerade erst, Odo. Sie sind voller Begeisterung und haben Armut gelobt, also dürften sie der Versuchung durch Habgier nicht erliegen. Was sie gefunden haben, muss von solchem Wert sein, dass sie dafür ihre gerade erst abgelegten Gelübde verraten würden.«
Sie hob die Hand, um ungestört weitersprechen zu können.
»Und da Ihr ein solch edler und pflichtbewusster Mensch seid, würdet Ihr also nun mit diesem Wissen zu meinem Vater gehen, wie es Eure Pflicht ist. Der König wird dann Eurem Bericht nachgehen, die Wahrheit herausfinden, und was auch immer er dann findet, landet zum Wohle des Reiches in der königlichen Schatzkammer. Und wer weiß, je nachdem, wie wertvoll es ist, würdet Ihr vielleicht sogar eine kleine Belohnung für Eure Treue erhalten …«
»Ihr klingt so, als wäre das schlecht.«
»Aber nicht doch. Es wäre hervorragend … für meinen Vater. Eine Quelle des Reichtums, vielleicht sogar unermesslichen Reichtums, von der er bisher keine Ahnung hatte. Und er brauchte ihn mit niemandem zu teilen, weil er in seinem Hoheitsgebiet gefunden wurde. Er würde ganz allein ihm gehören.«
»Ich verstehe.« Odo lächelte jetzt ganz offen. »Und Euch wäre lieber, er würde ganz allein Euch gehören?«
Alice klimperte mit den Augen, und auf ihrer Wange erschien ein Grübchen.
»Aber natürlich. Ginge es Euch an meiner Stelle anders? Natürlich würde ich mich Euch gegenüber sehr viel großzügiger zeigen als mein Vater. Das müsste ich schließlich, nicht wahr, wo Ihr doch mein Geheimnis kennen würdet?«
»Wir sprechen hier von Hochverrat, Mylady. Von einem Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht.«
»Unsinn, mein teuerster Bischof. Wir sprechen von Träumen und Fantasiegespinsten, mehr nicht. Bloßen Ideen, hinter denen wahrscheinlich gar nichts steckt.«
»Im Moment …«
»Das ist wahr.«
»Wie würdet Ihr denn vorgehen, Mylady, sollte sich das ändern?«
»Ich habe noch keine Ahnung, aber wenn das geschieht, werde ich es wissen. Diese Mönche sind nur zu neunt, diese Armen Soldatenkameraden Jesu Christi. Und sie haben ihre Laienbrüder nicht in ihr Tun eingeweiht. Es sollte also nicht schwierig sein, sie zu unterbrechen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.«
Auch sie lächelte jetzt breit.
»Ich bin mir sicher, dass wir einen Weg finden werden, die armen Brüder zu entschädigen, selbst für ihr verräterisches Tun. Werdet Ihr auf meiner Seite stehen?«
»Es ist gefährlich.« Der Bischof zögerte mit nachdenklicher Miene.
»Sollte der König es herausfinden …«
Doch dann begann er zu nicken, zuerst langsam, dann voller Nachdruck.
»Dennoch, ja. Ja, so ist es. Ich bin auf Eurer Seite.«
»Ausgezeichnet, Odo.«
Alice hatte die Stimme zu einem zufriedenen, kehligen Schnurren gesenkt.
»Nun kommt her zu mir, und dann schauen wir, ob wir beide nicht einen Weg finden, unseren Pakt zu besiegeln.«
6
N
ACHDEM ODO ENDLICH gegangen war, machte es sich Alice mit einem Fächer auf ihrem Diwan gemütlich, um nachzudenken. Obwohl sie Odo gegenüber die Zuversichtliche gespielt hatte, hatte sie keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte, um das Geheimnis der Mönchsritter herauszubekommen.
Sie kannte Hugh de Payens zwar nur flüchtig, aber das reichte aus, um sie zu der Überzeugung zu bringen, dass es Zeitverschwendung sein würde, wenn sie versuchte, ihn sich gefügig zu machen. Zu lange hatte de Payens als Krieger gelebt, um sich mit einer Frau einzulassen, die beinahe seine Enkeltochter hätte sein können. Sein engster Vertrauter, Godfrey St. Omer, war aus dem gleichen Holz geschnitzt, freundlich und sympathisch, aber absolut nicht zu beeinflussen. Alice war schon öfter mit solchen Männern zusammengestoßen – humorlos, halsstarrig, die einzigen männlichen Wesen, die sie mit nichts erpressen konnte.
So blieb ihr nur eine andere Quelle – Stephen St. Clair. Sie zweifelte so sehr daran, dass sie bei ihm Erfolg haben würde, dass sie nicht in der Lage war, unvoreingenommen darüber nachzudenken. Er war der einzige junge Mann, der einem Frontalangriff ihrerseits widerstanden hatte, und sie glaubte nicht mehr, daran noch etwas ändern zu können. Ihr fiel keine List ein, die sie noch hätte versuchen können, denn sie hatte ihr ganzes Können schon bei jenem letzten unglücklichen Zusammentreffen eingesetzt.
Trotz der Wut, die sie empfunden hatte, weil er vor ihr geflüchtet war wie ein verängstigter Fasan, hatte sie nicht versucht, ihn zu bestrafen. Sie hatte sich eingeredet, dass sie ihn aus purer Menschlichkeit verschont hatte, weil er ein weltfremder Mönch war. In Wirklichkeit hatte es nur ihrem eigenen Schutz gedient: Niemand wusste von ihr und ihm, und sie hatte Angst, dass jemand die Wahrheit herausfinden würde, wenn sie der Sache weiter nachging, und dass man sie dann verspotten würde. Alice de Bourcq hasste den Gedanken, dass jemand über sie lachen könnte.
Irgendwann hatte sie sich selbst eingeredet, dass das Verhalten des jungen Mannes an jenem Tag mit seinen eigenen Problemen zu tun gehabt hatte und nicht als Beleidigung gedacht gewesen war. Gewiss waren seine angsterfüllte Blässe und seine plötzliche Flucht die Frucht seiner religiösen Überzeugungen gewesen – obwohl sie nicht leugnen konnte, dass es genauso gut eine Folge des Haschischs in den Honigplätzchen gewesen sein konnte, die sie an jenem Nachmittag gegessen hatten. Sie selbst war hinreichend an die Droge gewöhnt, aber einem Neuling wie St. Clair konnte leicht übel davon werden.
Doch egal was es gewesen war, Alice empfand keinerlei Freude bei der Vorstellung, den Mönchsritter wiederzusehen. Und das musste sie, wenn sie hoffen wollte herauszufinden, was die Mönche in ihren heiligen Stallungen trieben. Schließlich konnte sie nicht einfach selbst dort auftauchen, nicht einmal als Prinzessin von Jerusalem, da die Tempelstallungen inzwischen offiziell als heilige Stätte galten, zu der Frauen keinen Zugang hatten – aber auch kein Mann, der nicht der Bruderschaft angehörte. Nur die Ritter des Ordens der Armen Soldatenkameraden Jesu Christi durften sie betreten.
Eine Idee flackerte am Rand ihres Bewusstseins auf, unerwartet und unverlangt, und sie hielt inne, um darüber nachzudenken. Es war nur ein verschwommener Gedanke, doch sie wusste auf Anhieb, dass dies der Weg war und dass sie ihn bald deutlicher sehen würde. Sie ergriff ein dreifaches Messingglöckchen und klingelte. Kurz darauf erschien Ishtar, der Eunuch.
»Prinzessin?«
Alice sah ihn stirnrunzelnd an.
»Hast du mir nicht gestern gesagt, dass Hassan, der Pferdehändler, zurück ist?«
»Ja, Prinzessin. Er kam am frühen Morgen mit einer kleinen Herde auf den Markt geritten.«
»War etwas Besonderes dabei?«
»Aye, Mylady. Er hat zwei weiße Ponys mitgebracht, die wie Zwillinge aussehen. Sie haben einen makellosen Eindruck auf mich gemacht.«
Alice nickte und biss sich auf die Unterlippe. Ishtar war mit Pferden groß geworden, und sie schätzte seine Meinung sehr. Pferde waren die einzigen Wesen, denen sie rückhaltlos vertraute.
»Ruf ihn herbei, so schnell es geht. Er soll gleich zu mir kommen. Ich warte hier auf ihn.«
Ishtar verneigte sich und eilte davon, um ihren Auftrag zu erfüllen. Alice trat ans Fenster und schlang die Arme um sich selbst, während sie in das Licht des späten Nachmittags blickte. Doch alles, was sie sah, waren die Bilder in ihrem Kopf.
Hassan war mehr, als man auf den ersten Blick sah. Sie kannte ihn, seit er ihr an ihrem dreizehnten Geburtstag ein Geschenk ihres Vaters überbracht hatte, eine herrliche schwarze Araberstute. Seitdem hatte sie ihn jedes Mal aufgesucht, wenn er in Edessa Station machte. Und auch in Jerusalem hatte sie weiter Pferde bei ihm gekauft. Doch sie vertraute ihm längst ebenso in ganz anderen Dingen.
Einige Monate vor dem sechzehnten Geburtstag war eine ihrer engsten Freundinnen vergewaltigt und brutal zusammengeschlagen worden. Das Mädchen, Farrah, war Moslemin, die einzige Tochter eines arabischen Händlers. Farrah war auf dem Heimweg von einer Freundin am helllichten Tage überfallen worden, doch es gab keinerlei Zeugen, und niemand schien eine Ahnung zu haben, wer die Täter sein könnten. Die einzige Spur war ein Ohrring, den Farrah mit der Faust umklammert hielt. Er war aus Gold, und es klebte Blut daran, weil sie ihn dem Angreifer abgerissen hatte.
Alice war außer sich vor Wut gewesen, und sie hatte eine beträchtliche Belohnung für jeden Hinweis ausgesetzt, der zur Ergreifung des Vergewaltigers führte. Doch alles hatte nichts genützt – bis sie Hassan beinahe einen Monat später bei seinem nächsten Besuch in seinem Lager aufsuchte. Sie hatte mit ihm in seinem Zelt gesessen und über ein besonders schönes Pferd diskutiert, als er ihr eine kleine Schachtel reichte und den Deckel entfernte. Ein sorgsam zusammengefaltetes Stück Samt kam zum Vorschein. Alice hatte danach gegriffen, um den Stoff auseinanderzufalten, doch Hassan hatte ihr mit warnend erhobenem Finger Einhalt geboten. Er hatte die Schachtel umgekippt, sodass ihr Inhalt auf den Tisch fiel. Alice hatte mehrere Sekunden gebraucht, um zu erkennen, dass es zwei abgetrennte menschliche Ohren waren, von denen eines ein zerrissenes Ohrläppchen hatte. Das andere trug einen goldenen Ohrring, der mit dem, den man in Farrahs Faust gefunden hatte, ein Paar bildete.
Im ersten Moment war sie entsetzt und erschrocken gewesen; die dann folgende Übelkeit hatte sie niedergekämpft, denn schon folgte ihr ein überwältigendes Hochgefühl. Vor ihr auf dem Tisch lagen ihre Rache und die Rechtfertigung für eine Suche, die jeder in ihrer Umgebung für vergeblich gehalten hatte. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und sich gezwungen, sich vorzubeugen und das Ohr mit dem Ring in die Hand zu nehmen. So etwas hatte sie noch nie gefühlt – es war hart und kalt, und nichts erinnerte mehr daran, dass es einmal menschlich, warm und lebendig gewesen war.
Alice hatte die Finger geöffnet, um es wieder auf den Tisch fallen zu lassen, und der Ring war laut klappernd gelandet. Dann hatte sie Hassan angesehen, der sie mit unergründlicher Miene betrachtete.
»Wo ist er? Wo habt Ihr den Rest des Mannes?«
Alice sprach fließend Arabisch, denn sie war an einem Ort zur Welt gekommen, an dem Französisch die Sprache der Ferenghi war, der fränkischen Fremden. Arabisch konnte sie lange, bevor sie die Muttersprache ihres Vaters gelernt hatte.
Ein winziges Zucken, vielleicht ein unterdrücktes Lächeln, flackerte in Hassans Mundwinkel auf, doch er schüttelte ohne jede Spur von Humor den Kopf.
»Nirgendwo. Der Mann ist bei seiner Ergreifung umgekommen. Es ist schon einige Zeit her.« Er wies mit dem Daumen auf die abgetrennten Ohren. »Das hier hat man mir gestern überbracht, in Eis und Salz eingepackt.«
Um ein ausdrucksloses Gesicht bemüht, nickte Alice.
»Ich lasse Euch heute noch die Belohnung schicken.«
»Das ist nicht nötig. Ich bin nicht auf eine Belohnung aus. Ich brauche kein Geld.«
»Ihr nicht, aber vielleicht der Mann, der sie Euch gebracht hat.«
Hassan schüttelte kaum merklich, aber entschlossen den Kopf.
»Er hat seine Bezahlung schon, ich habe ihn selbst entlohnt, als er seine Beweise überbracht hat.«
»Ich verstehe. Ihr wollt damit sagen, dass er es für Euch getan hat, nicht für mich oder um meiner Belohnung willen.«
Es war eine Feststellung, keine Frage, und als der Moslem zustimmend nickte, richtete sich Alice auf.
»Warum habt Ihr ihn dann damit beauftragt? Was wollt Ihr von mir?«
Jetzt lächelte Hassen.
»Ich will gar nichts von Euch, Prinzessin Alice. Ich möchte Euch nur etwas zu Bewusstsein bringen.« Er hielt kurz inne, doch bevor sie eine Frage an ihn richten konnte, fuhr er fort. »Ihr seid eine höchst bemerkenswerte Frau, Prinzessin. Ihr seid Euren Jahren weit voraus, und ich rechne damit, dass Ihr einmal große Veränderungen in diesem Land bewirken werdet, für die Moslems wie die Christen. Da bei Euch im Frankenland auch eine Frau Regentin werden kann, gehe ich davon aus, dass Ihr einmal an die Stelle Eures Vaters treten werdet … und ich glaube, dass Ihr eine bessere und mächtigere Regentin sein werdet als er.«
»Das werde ich. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
Ihre Stimme war todernst, und ihr Zuhörer schien sie exakt genauso ernst zu nehmen, als sie jetzt fortfuhr.
»Aber warum sollte Euch das interessieren, einen Moslem und Pferdehändler?«
»Weil ich weit mehr bin als das.«
Alice runzelte die Stirn, doch Hassan grinste breit.
»Um das zu tun, was ich in Allahs Heiligem Namen tun muss, muss ich den menschlichen Charakter studieren. Wenn ich also Euer Stirnrunzeln und Eure blitzenden Augen sehe, empfinde ich große Hoffnung für die Zukunft, weil Ihr keine Angst davor habt zu tun, was Ihr für nötig haltet.«
Sein Finger wies beiläufig auf die Ohren auf dem Tisch.
»Ihr habt keine Angst davor, die Wahrheit auszusprechen; keine Angst davor, zu verlangen und Euch zu nehmen, was Ihr wollt und was Ihr für richtig haltet. Das macht Euch einzigartig unter den Menschen in Eurer Umgebung. Die meisten von ihnen ertragen lieber jede Schmach und schlucken jede Beleidigung herunter, anstatt offen zu sprechen und Dinge zu sagen, die später Unannehmlichkeiten nach sich ziehen könnten. Schon in Eurem jungen Alter bringt Ihr frischen Wind in eine Gesellschaft, in der Kompromisse und Korruption an der Tagesordnung sind.«
Natürlich genoss Alice dieses Gespräch mehr und mehr.
»Und was hat das mit den Dingen zu tun, die Ihr mir zu Bewusstsein bringen wolltet?«
»Alles.«
Hassans Miene war jetzt nüchtern, und jede Spur von Leichtigkeit oder Humor war daraus verschwunden.
»Auf Eurem Weg durchs Leben werdet Ihr feststellen, dass es Menschen gibt, die Euch Kummer und Ärger verursachen, die Euch das Leben schwer machen und Euch in Rage versetzen; Menschen, die Euch im Weg stehen, die danach trachten, Eurem Ruf zu schaden und Eure Pläne zu durchkreuzen. Mit vielen von ihnen werdet Ihr selbst fertigwerden. Ich bin mir sicher, dass Ihr längst selbst wisst, wie man solche Menschen in ihre Schranken verweist. Aber es wird immer wieder jemanden geben, Prinzessin, der sich als unerträglich erweist und Euch ein ständiger Dorn im Auge ist … und dem Ihr dennoch nicht die Strafe angedeihen lassen könnt, die er verdient. Dann gibt es stets noch einen anderen Weg.«
Er wies noch einmal auf die abgetrennten Ohren.
»Der Besitzer dieser Körperteile wird nie wieder auftauchen. Er ist von der Erde und aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden.«
Hassan hielt erneut inne und sprach dann sehr deutlich weiter.
»Jeder kann verschwinden, Prinzessin. Jeder. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, den man nicht auf plötzliche und rätselhafte Weise spurlos verschwinden lassen kann. Die meisten Menschen können sich das gar nicht vorstellen. Ihnen ist nicht klar, dass sich solche Dinge leicht arrangieren lassen und dass sie überall täglich geschehen. Und es geht noch weiter, Prinzessin: Kein Mensch ist davor sicher, zu jeder beliebigen Zeit vor aller Augen ebenso plötzlich wie brutal für ewig aus dem Weg geräumt zu werden.«
Der Mund der Prinzessin war trocken geworden, und sie musste sich die Lippen anfeuchten, bevor sie antwortete. Sie verstand genau, was er ihr sagen wollte.
»Ihr meint, man bringt ihn um, und zwar um der Wirkung willen, die der Mord erzielen wird.«
»Exakt.«
»Ihr meint wie die Assassinen. Die morden, um Schrecken zu verbreiten.«
Hassan zuckte viel sagend mit den Schultern.
»Es überrascht mich, dass Ihr von ihnen gehört habt, aber ja, wenn Ihr so wollt, wie die Assassinen. Die Hashshishin. Doch es ist unklug, von den Hashshishin und ihren Taten zu sprechen. Außerdem ist es unnötig. Mütter benutzen dieses Wort, um ihren Kindern Angst zu machen, damit sie sich benehmen. Die meisten Menschen glauben jedoch gar nicht, dass es die Hashshishin wirklich gibt … Wie dem auch sei, Prinzessin, ich möchte, dass Ihr ein Geschenk von mir annehmt: das Bewusstsein, dass sich die Dinge, von denen wir gesprochen haben, mit Leichtigkeit arrangieren und mit großer Wirksamkeit ausführen lassen. Ihr könnt mich jederzeit rufen lassen, und die Sache ist erledigt. Versteht Ihr, was ich Euch gesagt habe?«
Es folgte eine lange Pause, bevor Alice den Kopf schüttelte, als sei sie verwundert, und dann sagte: »Ja, aber –«
»Es gibt kein ›Aber‹, Prinzessin. Nur dieses Wissen. Vergesst es nie, aber behaltet es für Euch.«
ALICE HATTE HASSANS DIENSTE nie in Anspruch genommen. Allerdings hatte sie den Mann so gut kennengelernt, dass sie nicht gezögert hätte, ihn zu rufen, wenn es nötig wurde. Zwar hätte ihr Vater ihn sofort hingerichtet, hätte er Hassans wahre Identität gekannt, doch Alice bewunderte und respektierte ihn – und sie war sich der Ehre wohl bewusst, die er ihr zuteil werden ließ. Schließlich war sie eine Frau, eine Christin und die Tochter eines Franken, drei Gründe, die ihm jeden Umgang mit ihr hätten verbieten sollen.
Wie sie seit jener Unterhaltung vermutet hatte, gehörte er dem gefürchteten Geheimbund der Assassinen an. Er war ein schiitischer Moslem aus dem Jemen, der von Kind an dazu aufgezogen worden war, den Fedayeen zu folgen, einem Kult religiöser Eiferer, die bereit waren, für ihre Sache zu sterben. Den Namen Hassan hatte er zu Ehren al-Hassans gewählt, des Scheichs von Alamut, der eine besonders charismatische Figur in der vierhundertjährigen Geschichte der Assassinen war – und von dem jeder nur im Flüsterton sprach.
Das Ziel der Assassinen war die Beseitigung der sunnitischen Elite; sie achteten peinlich darauf, dass bei ihren Anschlägen niemals Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden – und die Waffe ihrer Wahl war der Dolch.
Letzteres trug mit dazu bei, dass ihre Überfälle stets plötzlich, unerwartet und brutal vonstatten gingen und großen Schrecken verbreiteten. Oft bediente sich der Mörder irgendeiner Verkleidung, um sich seinem Ziel in aller Öffentlichkeit nähern zu können, sodass die Tat größtmögliche Aufmerksamkeit erregte. Natürlich hatten die Mörder oftmals keine Chance mehr zu fliehen, doch niemals begingen sie Selbstmord. Sie zogen den traurigen Ruhm vor, von ihren Häschern ermordet zu werden.
Der Name Hashshishin, der bei den Franken zu Assassinen geworden war, bedeutete Haschischesser. Es hieß, ihre Todfeinde, die Sunniten, hätten ihn sich ausgedacht, weil sich die Assassinen vor ihren Überfällen mit Haschisch in Trance versetzten – ein lächerliches Gerücht, meinte Hassan. Natürlich, so räumte er ein, benutzten seine Männer Haschisch, jedoch nur als Teil bestimmter religiöser Rituale. Er erinnerte Alice an ihre eigenen Erfahrungen mit der Droge. Sie diente zur Entspannung, nicht nur Stimulation, und war denkbar ungeeignet für die brutalen, gewissenlosen Einsätze der Assassinen, bei denen es auf Geistesgegenwart ankam.
Hassan selbst vermutete, dass der Name im Dialekt der jemenitischen Ismailiten »Gefolgsmänner al-Hassans« bedeutete.
Alice machte sich keine Illusionen, was Hassans Offenheit betraf; sie wusste, dass sein Wohlwollen nicht auf Selbstlosigkeit beruhte. Doch in der Welt, in der sie lebte, konnte sie kaum etwas anderes erwarten, und eine erkannte Gefahr war letztlich eine gebannte Gefahr.
SIE HÖRTE das Klicken des Perlenvorhangs hinter ihrem Rücken und wandte sich um.
»Ihr habt mich rufen lassen, Prinzessin. Womit kann ich Euch dienen?«
»Setzt Euch, Hassan, und hört Euch an, was ich zu sagen habe. Ich habe ein Problem, das ich, glaube ich, nur mit Eurer Hilfe lösen kann –«
Sie sah die Neugier in seinen Augen aufflackern und hob lächelnd die Hand.
»Nein, ich möchte niemanden verschwinden lassen, doch ich brauche Eure Hilfe bei einem Mann.«
Hassan grinste.
»Ihr braucht Hilfe bei einem Mann?«
Ohne diese Anspielung zu beachten, erzählte ihm Alice von St. Clair, dem Mönchsritter, der ihrem Haschisch gegenüber immun gewesen war. Ohne sich anmerken zu lassen, dass sie nur Antworten von Bruder Stephen wollte, fragte sie Hassan, ob er ein Mittel kannte, das einem Mann die Erinnerung an alles nehmen würde, was mit ihm geschah, während er unter seinem Einfluss stand – mochte Hassan ruhig seine lasziven Schlüsse aus ihrer Frage ziehen.
Nach einer Weile erhob sich Hassan. Er verneigte sich tief und führte die Hand grüßend von der Stirn an seine Lippen und sein Herz. Dann ging er – und Alice wusste, dass sie morgen um die gleiche Zeit das Mittel besitzen würde, um den Widerstand Bruder Stephen St. Clairs zu brechen.
7
S
T. CLAIR TRÄUMTE, einen angenehmen, lethargischen, irgendwie aber auch beängstigenden Traum. Weil er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte und er eigentlich nicht schlafen dürfte, versuchte er aufzuwachen.
Es war nicht die Frau in seinem Traum, die ihn so beunruhigte, denn sie war in schwere Gewänder eingehüllt; er konnte so gut wie nichts von ihr sehen, und ihr einziger Berührungspunkt war die schmerzhafte Umklammerung, in der sie sein linkes Handgelenk hielt. Sie zog ihn schneller hinter sich her, als er sich bewegen wollte, sodass er hin und wieder stolperte, weil er nicht mit ihr Schritt halten konnte. Irgendwie wusste er, dass sie ein hübsches Gesicht hatte, dunkelhäutig mit riesigen braunen Augen, doch hätte ihn jemand gefragt, woher er das wusste, hätte er es nicht sagen können.
Die Traumfrau war in einem halbdunklen Zimmer zu ihm gekommen, hatte ihn halb wach gerüttelt und dann in drängendem Ton unverständlich auf ihn eingeredet und unablässig an ihm gezerrt, während er sich aus dem Bett erhob. Wahrscheinlich hatte sie ihm auch beim Ankleiden geholfen, obwohl er sich daran nicht eindeutig erinnern konnte. Dann hatte sie ihn durch ein alptraumhaftes Labyrinth finsterer, gewundener Gässchen geführt, die alle gleich aussahen. Und jedes Mal, wenn er versucht hatte, seine Schritte zu verlangsamen, hatte sie an ihm gezerrt. Hin und wieder war sie aus unerfindlichen Gründen plötzlich stehen geblieben, um ihn gegen eine Wand zu drücken und ihm die Hand vor den Mund zu halten, als wollte sie ihn daran hindern zu rufen. Jedes Mal, wenn sie das tat, hatte er das Gefühl gehabt, dass seine Handgelenke brannten.
Dann waren sie zu einer Tür gekommen, durch die gleißendes Licht fiel, sodass er die Augen schließen musste. Doch sie hatte ihn gnadenlos weitergezogen.
Jetzt jedoch war sie stehen geblieben, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit stand er still. Seine Handgelenke fühlten sich an, als stünden sie in Flammen, und seine Brust schmerzte unerträglich, sobald er versuchte, zu tief Luft zu holen. Doch er wusste, dass er nicht mehr träumte … seine Schmerzen waren echt.
Außerdem erklangen jetzt irgendwo gedämpfte, verzerrte Geräusche. Er lauschte angestrengt und bemühte sich noch angestrengter, wach zu werden.
Die Frau hatte seine Hand losgelassen, das Licht in seinen Augen schmerzte nicht mehr so sehr, und er konnte eine Wand an seinem Rücken spüren, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sich dagegengelehnt zu haben.
Träume konnten etwas sehr Verwirrendes sein, und allmählich wurde er frustriert.
Langsam und vorsichtig öffnete er die Augen und richtete sich auf, um die Frau anzusehen, doch sie war verschwunden – wenn es sie denn überhaupt gegeben hatte –, und er stand allein in einer Gasse mit hohen, nackten Wänden. In der Nähe kreuzte eine Straße, und von dort kamen auch die Geräusche. So viel nahm er wahr, bevor plötzlich der Boden auf ihn zuraste und er das Bewusstsein verlor.
»BRUDER STEPHEN!«
Wieder rief die Stimme wie aus großer Ferne seinen Namen, doch sie klang beharrlich, und er konnte sie nicht weiter ignorieren, so sehr er auch den Kopf schüttelte und sich abzuwenden versuchte, um weiterzuschlafen.
»Bruder Stephen! Master St. Clair, wacht auf!«
Er öffnete blinzelnd die Augen und sah jemanden über sich stehen. Schlagartig übernahm seine Ausbildung die Kontrolle, und er rollte sich zur Seite, warf sich heftig nach hinten und griff nach seinem Dolch. Doch es war kein Dolch in seinem Gürtel. Er trug gar keinen Gürtel. Und seine blitzschnelle Rollbewegung war das hilflose Wälzen eines Betrunkenen. Er runzelte die Stirn und spähte zu der Gestalt über ihm auf.
»Bruder Stephen? Ihr seid es doch, oder? Bruder Stephen von den Armen Soldatenkameraden Jesu Christi?«
»Wer seid Ihr?«
Die Frage war ein kaum verständliches Gemurmel, doch die Antwort kam prompt.
»Ihr seid es wirklich! Gott sei gepriesen, wir dachten alle, Ihr wärt tot.«
St. Clair versuchte mit aller Kraft, sich zusammenzureißen, und schüttelte heftig den Kopf. Der andere Mann half ihm, sich aufzusetzen, indem er ihm den Arm um die Schultern legte. Stephen hatte nicht einmal die Kraft, ihn von sich zu stoßen, und so blieb er erst einmal an ihn gelehnt sitzen und holte tief mehrmals Luft, um die aufsteigende Panik zu bekämpfen.
Dann richtete er sich noch weiter auf und blickte an sich hinunter. Seine Handgelenke trugen Armbänder aus roter, aufgescheuerter Haut, und er war mit einem groben, braunen, knielangen Gewand bekleidet, das er noch nie gesehen hatte.
Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund war wie zugeklebt. Er spuckte auf den Boden und versuchte es erneut, und das Krächzen, das dann herauskam, schien alles zu sein, was ihm von seiner Stimme geblieben war.
»Wo bin ich … und wer seid Ihr? Sagt mir das als Erstes. Wer seid Ihr?«
»Giacomo Versace, Bruder Stephen. Ich bin einer Eurer Sergeanten, aber ich bin neu. Ihr kennt mich noch nicht.«
St. Clair versuchte angestrengt, Speichel zu sammeln, um sprechen zu können.
»Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich müsste Euch erkennen und könnte es nicht. Wo bin ich, und wie bin ich hierhergekommen?«
»Wir sind in einer Gasse in der Nähe des Souks, aber ich habe keine Ahnung, wie Ihr hierhergeraten seid. Ich bin zufällig vorbeigekommen und habe Euch hier liegen gesehen. Ich dachte, ihr wärt tot oder betrunken, und ich wäre an Euch vorübergegangen, wenn mir Eure weiße Haut nicht aufgefallen wäre. Dank sei Gott, dass ich angehalten habe, denn ich habe ein Wunder gesehen: Lazarus ist aus dem Grab gestiegen.«
Stephen gab sich Mühe, die Worte seines Gegenübers zu verstehen. Er legte den Kopf zur Seite.
»Lazarus, sagt Ihr? Meint Ihr mich damit?«
»Aye, gewiss. Wir haben vor über einem Monat das Requiem für Eure Seele gesprochen, weil wir dachten, Ihr wärt überfallen und ermordet worden, denn Ihr wart spurlos verschwunden, und unsere Suche war fruchtlos geblieben. Wo seid Ihr nur gewesen?«
»Was meint Ihr damit, wo bin ich gewesen? Ich bin doch seit meiner Rückkehr von der Patrouille hier in Jerusalem –« Er zögerte. »Wann war das, gestern? Ja, so muss es gewesen sein. Wir haben bei einem Scharmützel mit den Sarazenen zwei Männer worden – den Engländer, Osbert von York, und Grimwald von Brüssel.«
»Das ist über einen Monat her, Bruder Stephen. Seitdem seid Ihr vermisst worden, und wir haben Euch für tot gehalten.«
Stephen saß lange still, dann streckte er die Hand aus.
»Bitte helft mir auf. Am besten bringt Ihr mich, glaube ich, unverzüglich zu meinen Brüdern. Mir ist furchtbar übel, und mein Verstand arbeitet nicht richtig. Bringt mich wieder zum Tempelberg.«
ALS ER DAS NÄCHSTE MAL ZU SICH KAM, wusste St. Clair, wo er war, und er konnte sich daran erinnern, zu Bett gegangen zu sein. Was er nicht wusste, war, wie viel Zeit seitdem vergangen war – wie man ihm später sagte, hatte er zwei Tage geschlafen, und danach hatte er fünf Tage wie im Fieber gelegen. Sein Körper musste ein großes Bedürfnis nach Ruhe gehabt haben – und nach Nahrung. Denn als er nun aus seinem Schlafmarathon erwachte, hatte er solchen Hunger, dass er sein eigenes Pferd hätte verspeisen können.
Ihm war klar, dass ihn die anderen aus Sorge um sein Wohlergehen genau beobachteten. Doch bis jetzt machte niemand Anstalten, ihm Fragen zu stellen.
Das war anfangs anders gewesen. Seine Rückkehr zum Tempelberg hatte für großes Aufsehen gesorgt – offenbar war der Vergleich mit Lazarus ausgesprochen passend gewesen. Seine Freunde und Brüder hatten sich voller freudigem Erstaunen um ihn gedrängt und ihn immer wieder berührt, als hätten sie sich versichern wollen, dass er tatsächlich leibhaftig unter ihnen war. Dann hatten die Fragen begonnen, Fragen, von denen St. Clair keine einzige beantworten konnte, weil er sich an nichts erinnern konnte.
Man sagte ihm, dass er sich auf der Rückkehr von einer langen, kräftezehrenden Patrouille befunden hatte, die ihn und seine Männer bis vor die Tore von Askalon geführt hatte, der berüchtigten Räuberstadt mehr als zwanzig Meilen nordwestlich von Jerusalem. Eine Sarazenenbande hatte eine Karawane überfallen, die es unbehelligt von Edessa bis fast nach Jerusalem geschafft hatte, nur um dann wenige Stunden vor dem Ende ihrer Reise in einen Hinterhalt zu geraten.
Die Räuber waren kaum geflohen, als Stephen und seine Männer den Ort des Überfalls erreichten, und er hatte beschlossen, sofort die Verfolgung aufzunehmen. Zwei Tage später waren er und sein Trupp bei der Überquerung eines ausgetrockneten Flussbetts angegriffen worden, und während sie den Zusammenstoß zwar gewonnen und die Beute zurückerlangt hatten, hatten sie im Kampf zwei Männer verloren.
Wieder daheim, war er nicht in Feierstimmung gewesen, und nachdem er der Bruderschaft Bericht erstattet hatte, hatte sich Stephen in die Stadt begeben, um mit seiner Trauer um die beiden Freunde allein zu sein.
Er war an diesem Abend nicht zurückgekehrt, und die gründliche Suche der Brüder hatte nur ergeben, dass er keinen seiner üblichen Lieblingsplätze aufgesucht hatte. Drei Tage lang hatten sie gesucht. Die Palastwache hatte genauso dabei geholfen wie viele der Ritter in der Stadt, bei denen die Brüder auf dem Tempelberg und vor allem der junge St. Clair in hohem Ansehen standen.
Doch irgendwann war der Punkt gekommen, an dem sie sich hatten eingestehen müssen, dass sie überall gesucht hatten, ohne dass die geringste Spur aufgetaucht wäre, die darauf hätte schließen lassen, was aus Bruder Stephen geworden war.
Hugh de Payens selbst war es gewesen, der nach ausführlicher Beratung mit seinen Brüdern und sogar dem Erzbischof zu dem Schluss gekommen war, dass alles Menschenmögliche getan worden war, und ihn fünfzehn Tage nach seinem Verschwinden für tot erklärt hatte – höchstwahrscheinlich sei er aus Rache für seinen Einsatz gegen die Briganten von Unbekannten entführt und ermordet worden.
Es waren mehrere Messen für den Seelenfrieden des toten Ritters gelesen worden, die alle gut besucht gewesen waren. Sogar der König selbst war in Begleitung der Königin und ihrer Töchter dazu erschienen.
Doch nun war Stephen St. Clair wie durch ein Wunder zurückgekehrt. Obwohl er keinerlei Erinnerung daran hatte, wo er gewesen oder was ihm zugestoßen war, schien er bei guter Gesundheit zu sein. Der Patriarch war persönlich am Nachmittag seiner Rückkehr auf dem Tempelberg erschienen, um den verlorenen Sohn zu begrüßen und ihn in den Armen der Mönchsgemeinschaft willkommen zu heißen, und er hatte angekündigt, seinerseits eine Reihe von Dankesmessen für die sichere Rückkehr des jungen Mannes zu lesen.
St. Clair hatte den Großteil dieses Tages im wachen Zustand erlebt und abends sogar ausgiebig mit den anderen Mönchen gespeist. Doch dann hatte er sich in sein Quartier zurückgezogen und war vom Schlaf übermannt worden.
Nun war er endlich wach; er fühlte sich ausgeruht und kräftig und hatte großen Hunger. Doch man ließ ihn noch nicht aufstehen, und so war er gezwungen zu bleiben, wo er war, während man ihn mit heißem Eintopf und frischem, knusprigem Brot versorgte.
Am frühen Nachmittag besuchten ihn de Payens und St. Omer, und er wusste sofort, dass sie in offizieller Funktion gekommen waren, denn sie baten Gondemare und Roland, die an seinem Bett saßen, zu gehen.
Stephen begrüßte sie mit einem wortlosen Kopfnicken und setzte sich im Bett auf. Er überließ ihnen das erste Wort, denn er wusste, dass sie weitere Nachforschungen über sein Verschwinden angestellt hatten und mit ihm darüber sprechen wollten.
»Es ist schön zu sehen, dass du wieder du selbst bist, Bruder Stephen«, begann de Payens, »denn einige Zeit mussten wir befürchten, dass ein böser Geist von dir Besitz ergriffen hatte. Der Patriarch hat dich jedoch persönlich am Krankenbett besucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass du nur genug Zeit brauchst, um zu genesen. Es freut mich zu sehen, dass er Recht hatte.«
Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort.
»Ausgehend von den Dingen, die du uns nach deiner Rückkehr erzählt hast, haben wir unsere Spurensuche fortgesetzt, und es scheint festzustehen, dass du entführt worden bist. Aber wir konnten nicht herausfinden, wo man dich festgehalten hat oder warum, und im Moment stehen wir vor mehr Rätseln als wir zählen können.«
St. Clair runzelte die Stirn. »Und was heißt das?«
»Man hat dich also entführt. Aber warum? Niemand hat eine Lösegeldforderung gestellt, und außerdem bist du ein bettelarmer Mönch. Wahrscheinlich auch nicht als Bestrafung, denn sonst wärst du wirklich tot. Aber man hat dich gefoltert. Du warst mit Brandwunden und blauen Flecken übersät, und du hast einige Rippenbrüche. Dein Körper trug die Spuren von Hand- und Fußeisen, doch selbst das ist verwunderlich, denn du warst über einen Monat fort, und keine deiner Verletzungen war mehr als zehn Tage alt.«
De Payens schüttelte ratlos den Kopf.
»Außerdem warst du sauber. Kannst du dich daran erinnern?«
St. Clair riss erstaunt die Augen auf und runzelte dann die Stirn.
»Sauber? Wie meinst du das, sauber? Wovon redest du?«
»Ich meine sauber, frisch gebadet, wie es die Sarazenen tun.«
»Frisch gebadet? Das ist unmöglich. Ich habe mit den anderen als Teil der Osterriten gebadet, seitdem aber nicht mehr. Du musst dich irren.«
De Payens zuckte mit den Achseln.
»Ich irre mich nicht. Der Arzt, der dich untersucht hat, hat mich darauf aufmerksam gemacht. Er hat gesagt, dass du zwar die Spuren der Folter trägst, dass dein Körper aber danach gewaschen und … wie hat er es ausgedrückt, Godfrey? … genau, verhätschelt worden war.«
»Aber das ist unmöglich, Bruder Hugh. An solche Entwürdigungen würde ich mich doch erinnern, und ich weiß von nichts. Wie erklärst du dir das?«
De Payens zuckte mit den Achseln.
»Wie soll ich das erklären, Bruder Stephen? Ich kann dich nur erneut bitten: Fällt dir irgendetwas ein, das möglicherweise tief in deinem Inneren vergraben liegt und uns zu einer Antwort verhelfen könnte? Vielleicht gibt es ja etwas, das du aus irgendeinem Grund nicht genügend beachtest oder bis jetzt nicht wichtig genug gefunden hast?«
St. Clair saß einige Sekunden lang still. Schließlich begann er zu sprechen. Dabei nickte er so heftig, als müsste er sich die Dinge bestätigen, die er vor seinem inneren Auge sah.
»Entführt. Ja, du hast Recht. Ich weiß jetzt, wie es passiert ist … zumindest teilweise. Ich bin auf dem Markt umherspaziert, als ein Dieb vor meiner Nase einem Kaufmann die Börse gestohlen hat. Er hat gesehen, dass ich es bemerkt habe. Einen Moment lang hat er dagestanden und mich angestarrt, in der einen Hand die Börse, in der anderen ein kleines Messer. Dann hat er kehrtgemacht und ist davongerannt. Er hat gehumpelt, und ich bin ihm in eine kleine Gasse gefolgt. Dort war es dunkel, aber ich konnte ihn weglaufen sehen. Dann habe ich rechts von mir Gestalten bemerkt, die auf mich zukamen. Und dann hat mich etwas am Kopf getroffen … Das Nächste, woran ich mich erinnern kann ist, dass ich in der Gasse aufgewacht bin – möglich, dass es dieselbe Gasse war –, als mich der Sergeant gefunden hat.«
»Und das ist alles, woran du dich erinnerst? Denk genau nach. Alles, woran du dich erinnerst, könnte wichtig sein.«
St. Clair schüttelte den Kopf.
»Nein, sonst nichts, außer der Frau, und sie war nur ein Traum.«
»Warum sagst du das? Woher willst du wissen, dass sie nicht mehr war als ein Traum?«
»Weil sie nicht mehr da war, als ich die Augen geöffnet habe und mich bei ihr bedanken wollte. Ich war allein in der Gasse.«
»Aber sie hat dich dorthin geführt.«
St. Clair zuckte nur mit den Achseln, denn er konnte das weder bestätigen noch verneinen. Also bedrängte de Payens ihn weiter.
»Was? Du zweifelst daran? Wenn es nicht so war, wie bist du dann dorthin gekommen? Oder glaubst du etwa, dass es tatsächlich dieselbe Gasse war und du einen ganzen Monat dort gelegen hast?«
»Halt.« St. Clair hob stirnrunzelnd die Hand. »Da ist noch etwas … Ich erinnere mich, wie sie zu mir gekommen ist. Beim ersten Mal bin ich in einem dunklen Zimmer auf einem Bett gelegen und konnte mich nicht bewegen. Ich glaube, ich litt große Schmerzen. Sie hatte eine Lampe dabei, und sie hat sich über mich gebeugt und mir in die Augen gesehen. Dann wischte sie mir das Gesicht mit einem kalten Tuch ab und ist wieder gegangen. Doch ich habe gesehen, wie sie dabei jemandem zunickte, der außerhalb meines Blickfeldes stand. Ich weiß noch, wie ich versucht habe, mich umzudrehen und nachzusehen. Aber davon bekam ich solche Rückenschmerzen, dass ich das Bewusstsein verloren habe.«
»Und sie hat dich mehrfach aufgesucht?«
»Aye, noch einmal, als sie mich geweckt und fortgebracht hat. Da war sie allein, und alle Türen standen offen. Sie führte mich durch ein Labyrinth von Tunneln und Gässchen zu der Stelle, wo mich der Sergeant gefunden hat, und sobald wir dort waren, muss sie davongeschlüpft sein, während ich von der Sonne geblendet war.«
»Gut. Der Sergeant kennt die Stelle – vielleicht können wir mit seiner Hilfe deinen Fluchtweg zurückverfolgen.«
De Payens und St. Omer, der kein Wort gesagt hatte, erhoben sich, und de Payens beugte sich vor, um St. Clair auf den Oberarm zu klopfen.
»Ruh dich aus und mach dir keine Sorgen. Wir lassen uns von Giacomo zu der Stelle führen. Das sollte uns den Weg zu deinen Entführern zeigen.«
DAS TATEN SIE AUCH. Sergeant Giacomo führte sie genau zu der Stelle, wo er den jungen Ritter gefunden hatte. Doch so gründlich sie die umliegenden Gebäude auch absuchten, fanden sie absolut keinen Hinweis auf Bruder Stephens Entführer oder den Ort, wo man ihn festgehalten hatte.
So gaben sie schließlich auf, und St. Clairs rätselhaftes Verschwinden trat langsam, aber sicher, in den Hintergrund.