»Bis er wieder nach draußen durfte.«
Ein langsames, trauriges Nicken.
»Seine Erinnerungen«, sagte ich. »Nachdem ihr ihn wieder erwischt hattet, wurden sie nicht wieder gelöscht, oder?«
»Das können wir gar nicht. Wir können nur die Erinnerungen aus dem Leben löschen. Aber ich nehme an, in diesem Fall ist das auch gut so.«
»Sonst wüsste er nämlich nicht mehr, wie er die Nixe gefunden hat. Ich werde ihn also überreden müssen, es mir zu sagen, und zu diesem Zweck in eine Hölle voller Serienmörder hinuntersteigen, für die ich die erste Frau und das erste potenzielle Opfer bin, die sie je gesehen haben.« Ich seufzte.
»Na ja, wenigstens empfinden sie Schmerz. Bitte sagt mir, dass ich meine Formeln und meine AspicioKräfte einsetzen kann.«
Als sie nicht antwortete, stöhnte ich. »Lasst mich raten. Es sind alles Paranormale, also ist es eine magiefreie Zone das eliminiert alle speziestypischen Vorteile.«
Das kleine Mädchen erschien. »Na ja, es soll dort magiefrei hergehen. Aber wenn jemand hinginge, der einen Typ von Magie praktiziert, für den keiner von denen da unten in Frage kommt «
»Zum Beispiel einen, über den nur Frauen verfügen, wie die Hexenmagie?«
»Magie zu blockieren ist schon schwierig genug. Es hat keinen Zweck, es auch noch bei einer Sorte Magie zu machen, die niemand dort jemals anwenden kann.«
»Hm. Meine Magierformeln wären mir lieber, aber Hexenmagie ist besser als gar nichts. Ich nehme an, es kommt nicht drauf an, welcher Spezies diese anderen Killer angehören, wenn sie ihre Kräfte nicht einsetzen können, aber sagt es mir trotzdem.«
Die junge Parze rasselte die Bewohner dieser spezifischen Höllendimension herunter. Die meisten waren Halbdämonen, ein Nekromant und ein Werwolf waren auch dabei. Keine Magier, und das war im Grunde alles, worauf es mir ankam, denn unter Umständen wären sie nach wie vor in der Lage gewesen, eine Hexe zu erkennen. Es war schon schlimm genug, dass ich dieses Problem möglicherweise bei Dachev haben würde.
Als Nächstes erklärten mir die Parzen, wie ich aus der Höllendimension wieder herauskam. Ich konnte nicht einfach gehen oder einen Teleportationscode verwenden, dafür waren die Sicherheitsvorkehrungen zu streng. Stattdessen würden sie mir einen Trank geben, einen Höllenbann. Wenn ich ihn schluckte, würde ich draußen sein.
Schließlich wollten die Parzen, dass ich die Formel, die die Aufrichtigkeit meines Gesprächspartners sicherstellte, ein paarmal ausprobierte. Sosehr ich darauf brannte, loszuziehen ich wusste ja, dass die Zeit in der Sphäre des Thronsaals verlangsamt war. Eine Stunde, die ich damit verbrachte, die neue Formel zu üben, konnte mir später eine Menge Ärger ersparen, und in der Außenwelt würden währenddessen nur ein paar Sekunden vergehen.
»Gebt mir die Formel, und ich fange gleich an.« Ich sah über die Schulter zu Kristof hin. »Dafür könnte ich einen Partner brauchen.«
Er lächelte. »Aber mit Vergnügen. Ein magischer Lügendetektor genau das, was man in einer guten Beziehung benötigt.«
40
Kris Augen würden schwarz werden, wenn er log. Eine lange Nase wäre ja unterhaltsamer gewesen, aber offenbar hatte derjenige, der die Formel entwickelt hatte, die Geschichte von Pinocchio nicht gekannt.
»Rolling Stones oder Beatles?«, fragte ich.
»Die Stones, aber das hättest du auch so wissen können. Das ist das Problem wenn du die Antwort kennst, dann weißt du, ob ich lüge, mit oder ohne Formel.«
»Okay, dann habe ich was Besseres. Wärst du lieber intelligent oder attraktiv?« Er verdrehte die Augen, aber ich hob eine Hand, bevor er antworten konnte.
»Warte. Das muss ich ausführen. Wenn du Intelligenz nimmst, kannst du nicht gut aussehen und umgekehrt.«
Er schob die Lippen vor. »Definiere ›nicht gut aussehen‹.«
»Hässlich wie ›drei Tüten überm Kopf reichen nicht‹. Aber brillant auf Nobelpreisniveau. Und dumm wie Bohnenstroh, aber einfach umwerfend.«
Er lachte. »Du zuerst.«
»Option B. Doof und umwerfend.«
»Nie im Leben. Schon durchgefallen.«
»Probier’s aus.«
Er sprach die Formel. Als ich meine Antwort wiederholte, beugte er sich vor, sah mir in die Augen und fiel vor Lachen fast hintenüber.
»Ich glaub’s nicht. Du meinst das ernst?«
»Überleg doch mal. Nimm das Hirn, und du wirst immer wissen, wie hässlich du bist. Nimm die Schönheit, und du bist zu dumm, um etwas zu vermissen. Ich wäre lieber glücklich als unglücklich. Und ich bin mir sicher, der Sex wäre auch besser
oder zumindest häufiger. Mit Option A kannst du auch gleich Priester werden.«
Er schüttelte den Kopf und lachte immer noch vor sich hin.
»Na, ich bleibe dabei. Lieber Hirn als Schönheit.«
Seine Augen wurden dunkel.
Ich prustete. »Lügner!«
Er seufzte. »Das Zölibatsargument hat mich erledigt.«
Ich begann zu lachen, und er zog mich auf seinen Schoß und küsste mich.
»Du musst mir etwas versprechen, Eve.«
»Hmm?«
»Wenn es schiefgeht da unten wirklich schief, und du gerätst in eine Situation, aus der du nicht rauskommst . . . « Er zögerte; dann schloss er die Hand um meine. »Die Parzen haben gesagt, wenn du dich umentscheidest und ein Engel werden musst «
»Nein.«
Er nahm mein Kinn in die Hand und hob mein Gesicht an.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich finde eine andere Möglichkeit, Kris. Es gibt immer eine andere Möglichkeit. Ich habe diesen HöllenbannTrank, schon vergessen?«
»Aber wenn du wirklich in der Klemme bist und es wäre der einzige Ausweg sag mir, dass du ihn nehmen würdest.« Als ich zögerte, strich er mir mit dem Finger über die Wange. »Wenn es so weit käme, würden wir einen Ausweg finden, Eve. Ich würde einen finden. Für jetzt und alle Zeit. Ich habe das gesagt, und ich habe es auch so gemeint. Ich habe einmal aufgegeben, aber ich tu es nie wieder.«
»Aufgegeben? Du hast nie «
»Ich hatte keinen Einfluss darauf, als du das letzte Mal verschwunden bist, aber ich hatte Jahre, in denen ich alles hätte aufgeben können, um dich zurückzugewinnen. Ich habe es nicht getan. Nicht, weil ich dich nicht geliebt hätte oder nicht genug geliebt hätte, sondern aus Feigheit.«
»Du warst nie «
»Ich hatte Angst, du würdest mich nicht wollen. Also habe ich mir eingeredet, ich wollte dir Zeit lassen, und als du dann nicht zurückgekommen bist, habe ich mir gesagt, meine Befürchtungen wären vollkommen richtig gewesen, du hättest mich nur meiner Stellung wegen gewollt . . . und selbst die wäre es nicht wert gewesen, bei mir zu bleiben.«
»Kris, ich habe niemals «
»Ich weiß. Sogar damals war mir klar, was das wirklich war
schwachsinniges Selbstmitleid. Aber es hat mir eine Rechtfertigung für meine eigene Feigheit geliefert. Dann bin ich hergekommen und habe dich hier gefunden, und da wusste ich, dass ich unrecht gehabt hatte.« Er lächelte. »Noch als du mir gesagt hast, ich sollte zur Hölle gehen und versucht hast, mich mittels eines Energiestrahls hinzubefördern , habe ich es gewusst. Also habe ich mir geschworen, ich würde dich zurückgewinnen, und dann würde ich dafür sorgen, dass nichts mehr dazwischenkommt, weder deine Obsession mit Savannah noch irgendwelche Kopfgeldjägergeschichten und nicht mal unglaublich gutaussehende Engelmentoren.«
»Aber du bist größer.«
Er grinste. »Siehst du? Du hast es also auch gemerkt.«
Ich lachte. Er drehte mein Gesicht zu sich herum.
»Worauf ich hinauswill ich gehe nicht, und keiner kann mich dazu zwingen. Ganz gleich, was passiert, ich werde kämpfen. Wenn du da drin feststeckst, wirklich feststeckst, dann lässt du mich auch nicht im Stich. Du kämpfst, selbst wenn du dieses verdammte Schwert annehmen musst, um es zu tun.«
Ich zögerte; dann nickte ich. »Ich verspreche es.«
Als ich so weit war, brachte Trsiel mich zu Dachevs Hölle. Auf dem Weg durch den Gebäudekomplex gab er mir ein paar Informationen über Dachev selbst. Ich löcherte ihn nach seinen Erfahrungen mit dem Mann alles von harten Tatsachen bis zu allgemeinen Eindrücken. Und dann erklärte ich mich für hinreichend vorbereitet.
»Er ist hinter dieser Tür«, sagte Trsiel.
Ich sah in die Richtung, in die er zeigte, und bemerkte eine schmale Tür in der Wand hinter mir. »Da drin ist er?«
»Es ist jedenfalls seine Hölle. Dachev wirst du selbst finden müssen. Ich weiß nicht, was da drin . . . « Er schüttelte den Kopf.
»Du brauchst mehr Details. Ich suche Katsuo, er war dort «
»Nein«, sagte ich. »Wir haben keine Zeit. Wenn Dachev da ist, finde ich ihn.«
Er nickte. »Aber sei vorsichtig. Denk daran, was ich gesagt habe und die . . . Männer da unten haben keine Frau gesehen, seit «
»Ich weiß.«
»Sie können dir weh tun, Eve. Wirklich weh tun. Du musst «
»Ich weiß.« Ich streckte den Arm aus und drückte ihm die Hand. »Ich weiß, Trsiel.«
Er zögerte, als gäbe es noch hundert Dinge, die er gern gesagt hätte, aber stattdessen erwiderte er den Händedruck und holte mit der freien Hand eine kleine Ampulle aus der Tasche.
»Ah, der Höllenbann«, sagte ich. »Den sollte ich wirklich nicht vergessen.«
»Wenn du es tätest oder ihn verlieren würdest, dann würden wir jemanden schicken. Du bist nicht da unten gefangen. Aber versuch ihn nicht zu verlieren. Die Zeit vergeht langsamer dort, wenn etwas schiefgeht, könnte es dir vorkommen wie Tage, bevor wir dich rausholen können.«
»Ich habe tiefe Taschen«, sagte ich.
»Gut. Noch eine Sache . . . das heißt, zwei . . . « Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Einfach nur . . . «
»Geh«, sagte ich lächelnd.
»Und sei vorsichtig.«
»Das bin ich«, sagte ich, wandte mich ab und öffnete die Tür.
41
I ch stand in einer grüngoldenen Wiese, leuchtende Wildblumen neigten sich im warmen Sommerwind. Über mir schien die Sonne von einem aquamarinfarbenen, mit wattigen Wölkchen gesprenkelten Himmel. Vögel sangen in den Bäumen. Ein Schmetterling flatterte an mir vorbei.
»Serienkillerhölle, was?«, murmelte ich, während ich mich umdrehte. »Trsiel! Du hast die falsche Tür «
Die Tür war verschwunden. Stattdessen sah ich einen Fahrweg zwischen hohem Gras und weiteren Wildblumen. Er führte zu einer Gruppe postkartenhübscher Steinhäuschen.
»Trsiel«, seufzte ich. »Wenn du irgendwas vermasselst, dann machst du’s richtig, oder?«
Als ich auf das Dorf zuging, fiel mir auf, wie still es war. Die Vögel zirpten und trillerten, aber rings um die winzigen Häuser sah ich keine Bewegung. Ich schauderte, und mir fiel einer dieser Filme aus den Siebzigern ein, die nach dem Atomanschlag spielen die Bombe ist eingeschlagen, und die Kamera schwenkt durch die hübsche kleine Stadt, die tot ist bis auf das fröhliche Klingeln eines Glockenspiels im Wind.
Genau so sah es hier aus.
Eine Geisterstadt. Nur, dass man in jeder Straße jeder wirklichen Stadt Lebenszeichen sieht, selbst wenn im Augenblick kein Mensch zu sehen ist: ein offenes Taschenbuch unter einem Baum, Gartenhandschuhe, die über einem Busch hängen, ein leerer Kaffeebecher auf einer Veranda. Hier sah ich nichts von all dem.
Ich ging am ersten Häuserpaar vorbei, mein Blick flog von einem zum anderen. Die Häuser starrten zurück mit leeren Augen, Fenstern ohne Vorhänge und Jalousien . . . ein blindes, totes Starren.
Ich zählte acht Häuser, auf jeder Seite vier, gleichmäßig angeordnet auf kleinen Rasenflächen. Es gab keine Nebenstraßen, nur diesen einen Fahrweg, der sich auf jeder Seite nach ein paar Dutzend Metern verlor in der Wiese auf einer Seite, in einem Waldstück auf der anderen.
Ich sah mich um, aber meine Vorsicht war überflüssig es war niemand da. Ich ging den Fußweg zur Tür des Hauses zu meiner Linken hinauf. Sie war ebenerdig; es gab keine Veranda, kein Vordach, nur die Tür zwischen zwei leeren Beeten mit jeweils einem Fenster darüber. Ich spähte durch das linke Fenster ins Innere. Ein Schlafzimmer . . . das nahm ich zumindest aufgrund des Mobiliars an. Das einzige Möbelstück im Raum war ein Doppelbett oder vielmehr eine nackte Matratze auf einem Bettgestell. Sehr gemütlich.
Ich ging zu dem Fenster auf der anderen Seite der Tür hin
über. Ein Wohn und Esszimmer mit einem Sofa, einem kleinen Tisch und einem einzigen Stuhl. Mein Blick fiel auf zusammengeknülltes Bettzeug in einer Ecke. Ein Laken und eine Bettdecke, die zu einem improvisierten Schlafplatz angeordnet waren, wie ihn ein Hund hätte bauen können.
Ich sah zurück zur Straße. Wenn es hier einmal Hunde gegeben hatte, waren sie längst fort. Die Geisterwelt war in dieser Hinsicht nicht anders als die Städte der Menschenwelt; es wimmelte nicht gerade von Tieren, aber wenn man genau hinsah, entdeckte man sie. Ein Kaninchen, das über den Rasen huschte, ein Hund, der auf einer Vortreppe schlief. Aber hier sah ich nicht einmal ein Phantomeichhörnchen. Eine leere Welt. Nur dass es dann keine Erklärung für dieses Deckenlager gab . . .
Als ich mich wieder zum Haus umdrehte, glaubte ich das Spiegelbild eines Gesichts hinter einem Fenster gegenüber zu sehen. Ich fuhr herum, versuchte instinktiv, meinen Blick zu schärfen, und fluchte, als es nicht funktionierte. Ich musterte die beiden Fenster dort drüben, wartete auf einen Schatten, die Spur einer Bewegung. Nichts.
Wo zum Teufel blieb eigentlich Trsiel? Ich griff in die Tasche.
Als meine Finger sich um die Ampulle mit dem Höllenbann schlossen, raschelte etwas neben mir. Ich fuhr herum und sah einen großen Zierstrauch an der Hausecke, ein paar Meter entfernt. Der leichte Wind flüsterte in den Blättern. War es das, was ich gehört hatte? Es musste wohl so sein, aber
Ein Dielenbrett knarrte. Mein Kopf fuhr hoch. Ich konnte das Knarren unmöglich durch die Steinmauer des Hauses hindurch gehört haben. Also w. . . ? Mein Blick fiel auf die hölzerne Veranda des Nachbarhauses. Leer. Ich horchte mit angespannten Muskeln und hörte nichts. Nichts, nicht einmal die Vögel. Ich drehte mich wieder zum Fenster um.
»Was bist du?«
Ich fuhr herum. Ein. Mann stand hinter mir, ein kleiner Mann, eins sechzig groß und dünn, mit brauner, ledriger Haut, die straff über seine Knochen gespannt war. Sein Gesicht war ein fleischfarbener Schädel mit spärlichen Büscheln von eisengrauem Haar. Als er mich studierte, legte er den Kopf schief, erst nach einer Seite und dann nach der anderen, die Bewegung war ruckartig wie bei einem Vogel. Seine Augen hoben sich zu meinen; sie waren trübe graue Scheiben, die nicht zwinkerten, als sein Kopf mit ebenso ruckartigen Bewegungen auf und ab zu wippen begann, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern.
»Was bist du?«, wiederholte er. »Antworte. Jetzt.«
Ich hörte ein Geräusch hinter mir, sah mich um und entdeckte einen weiteren Mann, der im Wohnzimmerfenster stand.
Durchschnittsgröße, jung nicht älter als Anfang zwanzig , mit dunkelblondem Haar, das ihm in die blauen Augen fiel.
Seine Augen tasteten meinen Körper ab und erwiderten dann meinen Blick, seine Oberlippe zog sich nach oben und gab den Blick auf spitz zugefeilte Eckzähne frei. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.
Noch ein Rascheln weiter links, und ein dritter Mann kam von der Veranda des Nachbarhauses herüber. Er war rundlich und hatte ein Babygesicht mit großen braunen Augen, einer kleinen Nase und fliehendem Kinn. In seiner Hand baumelte eine große hölzerne Keule. Er hob sie und lächelte mich an.
»Anscheinend hat Trsiel es doch nicht vermasselt«, murmelte ich.
Der Vogelmann versuchte es zuerst. Er sprang mir in die Seite und legte einen Arm um meinen Hals, um mich zu Boden zu werfen. Ich vereitelte dies mit einem heftigen Stoß in seine Rippen, und er kreischte und fiel zurück.
»Es kämpft«, sagte der Mann mit dem Knüppel, während er über den Rasen geschlendert kam. »Wie gut kämpft es?«
»Verdammt gut«, sagte ich. »Aber ihr werdet mir das wahrscheinlich nicht einfach so glauben.«
Er beschleunigte seinen Schritt und schwang die Keule dabei über dem Kopf. Gleichzeitig stürzte sich der Vogelmann wieder auf mich. Ich wirbelte aus dem Weg und trat den Knüppelschwinger in die Weichteile. Als er sich krümmte, riss ich ihm die Keule aus der Hand und schleuderte sie zur Seite.
»Wenn ihr Waffen verwendet, tu ich es auch. Und ihr werdet meine nicht mögen.«
Während der Knüppelmann sich erholte, sah ich weiter links eine Bewegung, fuhr herum . . . und entdeckte einen weiteren Mann, der uns mit schräg gelegtem Kopf umkreiste und wohl herauszufinden versuchte, wer oder was ich war.
Ich wandte mich wieder dem Knüppelmann zu . . . und ein Arm packte mich von hinten. Ich verlor das Gleichgewicht.
Zähne gruben sich in meine Schulter. Ich quiekte, mehr aus Schock, weil ich überhaupt Schmerzen spürte, als wegen der Schmerzen selbst.
Die Zähne gruben sich tiefer. Ich rammte dem Angreifer die Faust ins Gesicht, sein Kopf flog nach hinten und nahm ein Stück meiner Schulter mit. Schmerz jagte durch mich hindurch, und mein Angreifer sprang schon wieder. Ich packte ihn und schleuderte ihn von mir. Es war der junge Mann aus dem Haus, der mit den gefeilten Zähnen.
Ich tat einen schnellen Schritt rückwärts gegen die Tür, so dass ich alle Gegner sehen konnte. Vier inzwischen . . . und ein fünfter näherte sich langsam vom Ende der Straße her.
»Qu’estce que c’est?« fragte der Mann, der uns umkreist hatte.
»Und was machen wir damit?«
»Das Geräusch«, sagte der Knüppelmann, während er sich die Lippen leckte. »Das laute Geräusch. Macht, dass es das wieder macht.«
Der Mund des vierten Mannes verzog sich zu einem dünnen Lächeln, und er zog etwas aus dem hinteren Hosenbund . . .
eine Klinge, die mit einer getrockneten Liane an einem hölzernen Griff befestigt war. Die Klinge war aus Stein und zu einer scharfen Spitze zurechtgeschlagen; sie sah aus wie etwas, das ein Archäologe hätte ausgraben können. Wie tief musste ein Bedürfnis eigentlich sitzen, dass ein Mann eine solche Waffe anfertigte?
Der junge Mann mit den Eckzähnen knurrte. Er war der Werwolf, das war mir mittlerweile klar. Wandeln konnte er sich hier nicht mehr, aber der Wolfsinstinkt reichte aus, ihn auf dem Boden schlafen und sich die Zähne anspitzen zu lassen.
Und welche paranormalen Instinkte hatten die anderen sich erhalten?
Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, als der Werwolf auf mich zusprang. Ich warf mich zur Seite, und das Messer des anderen Mannes rammte sich in meine Handfläche und nagelte sie an die hölzerne Tür. Eine Sekunde lang konnte ich nur ungläubig nach unten starren. Dann wurde mir mein Fehler klar, und ich richtete meine Aufmerksamkeit schleunigst wieder auf die Männer. Zu spät. Der Werwolf erreichte mich als Erster; seine Zähne senkten sich in meine Schulter. Ich riss die Hand von der Tür los, zog das Messer heraus und hieb damit nach ihm, aber er schlug es mir aus der Hand.
Als er wieder auf mich losging, griff der Knüppelmann im gleichen Augenblick nach meinem Haar und riss mich nach hinten. Ich fiel. Feuer schien auf meiner Kopfhaut zu brennen, als er mich an den Haaren herumschwang. Ich bezwang den instinktiven Wunsch, mich zu wehren, und sprach eine Bindeformel.
Der Knüppelmann erstarrte, sein Griff löste sich, und ich landete hart auf dem Boden. Sie stürzten auf mich zu. Ich warf mich aus dem Weg und sprach einen Tarnzauber, und sie blieben abrupt stehen.
»Wo ist es hin?«, fragte der Knüppelmann. Seine Lippen begannen zu zittern. »Ist es weg?«
Der Werwolf ging zu der Stelle, an der ich zuletzt gewesen war, und etwa zum einmillionsten Mal in meinem Leben verfluchte ich die Begrenztheit der Hexenmagie. Weil der Zauber nämlich in dem Moment brach, in dem der Kerl mich anrempelte, und ich absolut nichts dagegen tun konnte. Als er sich auf mich stürzte, sprang ich auf und sprach einen Bindezauber.
Ich erwischte ihn. Und den Vogelmann, nur um wieder an die Grenzen des Zaubers zu stoßen, als Nummer drei gerannt kam.
Ich hielt die beiden anderen in dem Bindezauber fest und trat den Knüppelmann in die Eingeweide. Er knickte ein, aber der Messermann war unmittelbar hinter ihm, und ich steckte in dem Dilemma, ob ich den Bindezauber von dem Werwolf oder dem Vogelmann auf ihn übertragen sollte, als eine Hand sich um seine Schulter schloss.
Hinter ihm stand der Mann, der in der Zwischenzeit langsam näher gekommen war, ein dunkelhaariger, bärtiger Mann Mitte dreißig, schlank, mit dem entspannten Grinsen, bei dem Frauenherzen kleine Sätze machen. Sein Blick traf auf meinen, und ich sah in seinen Augen nicht die tierische Gerissenheit der anderen, sondern etwas Komplexeres, eine Stufe der Erkenntnis, die die anderen verloren hatten. Ich sah außerdem, dass er ein Magier war . . . oder doch zumindest Magierblut hatte. Und von seiner Sorte gab es hier nur einen.
Er sagte ein paar Worte in einer Sprache, die ich zunächst nicht verstand, bevor die Bedeutung bei mir ankam. »Ich glaube, unsere hübsche Besucherin ist meinetwegen hier«, sagte er, ohne meinen Blick loszulassen. »Habe ich recht?«
»Vollkommen«, sagte ich.
Sein Blick glitt über mich hin, und er lächelte. »Wenn die Engel mir eine Frau schicken, sind sie jedenfalls nicht kleinlich.«
Links von mir fauchte der Werwolf, den Blick starr auf Dachev gerichtet.
»Das Spiel ist vorbei«, sagte Dachev. »Geht wieder in eure Baue.«
Sie zögerten, aber dann zogen sie sich mit dem einen oder anderen Murmeln und Knurren zurück.
»Komm«, sagte Dachev. »Wir unterhalten uns in meinem Haus.«
»Nein, wir unterhalten uns da drüben«, sagte ich mit einer Handbewegung zu der Wiese hin.
Er nickte und versuchte mich an sich vorbeizuwinken. Ich zeigte stattdessen auf die Straße, und mit einem kleinen Lächeln ging er voran.
42
Währen dich Dachev folgte,sah ich mich mehrmals um.
Keiner der anderen kam uns nach. Dachev musste hier eine gewisse Macht haben wie der erste Mann, der sein prähistorisches Dorf verlassen und eine größere Welt gesehen hatte. Aber im Gegensatz zu diesen frühen Entdeckern hatte Dachev sein Wissen wohl kaum mit seinen Gefährten geteilt. Er würde den Vorteil, den es ihm bot, so lange wie irgend möglich behalten wollen.
Als wir die Mitte der Wiese erreicht hatten, schaute ich mich erneut um, um sicherzustellen, dass nichts in der Nähe war, das sich auf mich stürzen konnte; dann wandte ich mich Dachev zu und stellte fest, dass er mich studierte nicht mit dem Grinsen von vorhin, sondern mit einem forschenden Starren und einem leichten Stirnrunzeln.
»Wir sind uns schon mal begegnet, oder?«, sagte er. »Du kommst mir bekannt vor . . . andererseits . . . « Das Stirnrunzeln wich einem breiten Grinsen. »Ich bin mir sicher, diesen Engel hätte ich nicht vergessen. Du bist so viel hübscher als der andere, den sie geschickt haben. Er war absolut nicht mein Typ.«
»Wir sind uns nie begegnet«, sagte ich. »Als du das letzte Mal oben warst, war ich noch nicht mal geboren.«
Ein weiterer forschender Blick, er war offensichtlich verwirrt.
Irgendetwas erkannte er, er war sich nur nicht sicher, was es war. Zu traurig für ihn. Wenn er nicht wusste, dass ich eine Hexe war, würde ich ihn bestimmt nicht aufklären ebenso wenig wie ich ihm sagen würde, dass ich kein Engel war.
»Hast du einen Namen, meine Schöne?«, fragte er.
»Den hat wohl jeder.«
Er wartete. Als ich nichts mehr sagte, verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln.
»Der Austausch von Namen ist der erste Teil jeder höflichen Unterhaltung«, sagte er.
»Stimmt«, sagte ich.
Er begann zu lachen. »Du hast nicht vor, dich gut mit mir zu stellen, stimmt’s? Der andere hat es getan. Er war sehr höflich. Sehr . . . verständnisvoll. Er hat mich nicht mitten in der Wiese stehen lassen. Er hat an meinem Tisch gesessen und mir erklärt, dass er verstanden hatte ich war in Versuchung geraten und hatte ihr nachgegeben. Er war schließlich selbst ein Mensch gewesen, er wusste Bescheid. Die Parzen hatten einen Fehler gemacht, als sie einen armen Sünder wie mich in die Nähe eines Wesens wie die Nixe hatten kommen lassen. Sie hatte mich in Versuchung geführt, und ich war gefallen.«
»Aha. Können wir weitermachen? Du weißt, warum ich hier bin, also «
»Siehst du? Jetzt bist du unhöflich. Katsuo war viel netter. Er hatte es nicht eilig. Er hat mir zugehört, hat aufmerksam zugehört, als ich meine Sünden bekannt und ihm erzählt habe, was die Nixe und ich getan hatten. Dann habe ich ihm erzählt, was ich mir wünschte, getan zu haben . . . in wundervollem Detailreichtum, alles, was ich mit diesen Frauen gemacht hätte, wenn ich im Körper des Mörders gesteckt hätte. Jeden Schnitt, den ich angebracht, jede Entwürdigung, die ich ihnen zugefügt hätte.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem gespielten Stirnrunzeln. »Da ist er dann gegangen. Ohne sich auch nur zu verabschieden.«
Er sah mich an. »Meinst du, Katsuo erinnert sich an mich? In seinen Träumen vielleicht?« Ein breites Lächeln. »Ich hoffe es wirklich.«
Ich sagte nichts.
»Träumen Engel?«, fuhr er fort. »Haben sie Alpträume? Oder sind alle Träume wie das hier?« Er schwenkte die Hand zu der Wiese hin. »Wildblumen und sonniger Himmel. Wir träumen, weißt du. Wenn wir schlafen, öffnen sich die Risse in unserem Gedächtnis, eben weit genug, um hier und da ein Bild durchzulassen. Und es sind keine Wildblumen und keine sonnigen Himmel. Manchmal höre ich die anderen schreien. Es hält mich nachts wach.«
»So ein Jammer.«
Ein Haifischlächeln. »Ein Jammer allerdings. Du hast nicht vor, auch nur Mitgefühl zu heucheln, oder?«
»Wenn du Mitgefühl willst, schicke ich Katsuo. Wenn du einen Deal willst, wirst du mit mir vorliebnehmen müssen.«
»Ein Deal? Das klingt gut. Sehen wir mal . . . was sollte ich mir wünschen? Na ja, als Erstes will ich natürlich hier raus.«
Ich lachte.
»Oh, nicht dauerhaft. Nur ein Besuch, mit Begleitung natürlich. Ich «
»Das könnte ich nicht arrangieren, nicht mal, wenn ich wollte.«
»Dann also Bilder.«
»Bitte?«
»Als ich da draußen war, mit der Nixe, und wir jemanden getötet haben, hat die Polizei jedes Mal Bilder gemacht. Klick, klick, klick. Jeder Winkel, jede mögliche Nahaufnahme.« Er schloss die Augen und seufzte. »So viel Sorgfalt im Detail. Sogar ich war beeindruckt.«
»Und diese Fotos willst du?«, fragte ich.
»Nein, nein. An die erinnere ich mich. Und es waren ja auch nicht wirklich meine. Ich will meine eigenen die, an die ich mich nicht erinnere. Ich habe Zeitungsausschnitte von dem gefunden, was ich getan habe, aber es waren keine Bilder dabei.
Wirklich enttäuschend.«
»Damals hat die Polizei auch noch keine Tatortfotos gemacht«, log ich.
»Nein?«
Ich sah ihm in die Augen. »Nein.«
»Ich verstehe. In diesem Fall nehme ich auch Beschreibungen. Diejenigen, die über meinen Fall berichtet haben, waren ausgesprochen knauserig bei den Details. Kein Wort darüber, was genau ich getan habe. Ich möchte «
»Details«, sagte ich. »Ich hab’s schon verstanden. Aber kriegen wirst du sie nicht, weil ich sie nicht kenne, und das Einzige, was hier geboten ist, sind Dinge, die ich liefern kann.«
»Dann setz deine Vorstellungskraft ein. Erzähl mir, was du glaubst, das ich mit diesen Mädchen gemacht habe. Oder vielleicht erzähle ich dir, was ich glaube, getan zu haben, was ich sehe, wenn ich die Augen schließe.«
»In Ordnung, machen wir das. Du erzählst mir, was du getan zu haben glaubst, und ich höre zu. Du hast eine Stunde. Hinterher wenn ich dann noch da bin, nicht in die Ecke gekotzt habe und auch nicht zur Tür rausgerannt bin , erzählst du mir, wie du die Nixe gefangen hast. Und du wirst es mir erzählen, während ich eine LügendetektorFormel spreche.«
Enttäuschung malte sich auf seinem Gesicht und erstarrte zu einem missgelaunten Stirnrunzeln, als ihm aufging, dass der Deal nicht so vergnüglich ausfallen würde, wie er gehofft hatte.
Ich legte keinen Wert darauf, mir seine sadistischen Fantasien anzuhören, aber zuhören würde ich, und zwar ohne ihm die Reaktionen zu liefern, die er sehen wollte. Schließlich waren es bloß Worte, Worte, die mit mir nichts zu tun hatten, Worte, die nicht einmal auf Tatsachen beruhten, einfach nur die Fantasien eines kranken Schweins, das nie mehr Gelegenheit haben würde, sie in die Tat umzusetzen.
»Vergiss das«, sagte er schließlich. »Ich habe etwas Besseres.
Ein Spiel für zwei.«
»Lass mich raten. Verstecken, und ich bin nicht derjenige, der bis fünfzig zählt.«
Eine Spur Verwirrung, dann lächelte er. »Ja, Verstecken, wie du sagst. Du wirst wegrennen. Wenn ich dich fange . . . « Sein Blick glitt an mir herunter; seine Augen wurden dunkel. »Kann ich tun, was ich will. Und dann werde ich dir sagen, was du wissen willst.«
»Wenn du mich fängst, in Ordnung, dann machen wir es so.
Aber wenn du mich nicht fängst, dann hast du verloren und erzählst mir, wie man die Nixe fängt.«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn du auf diese Art spielen willst, dann hast du verloren, wenn ich dich fange. Ich mache, was ich will, und erzähle dir nichts.«
»Abgemacht.«
Er zog eine Braue hoch. »Du bist dir deiner Sache ziemlich sicher, was?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich auf meine Bedingungen nicht einlassen würdest, und es hat keinen Zweck, lange herumzustreiten. Wir sollten einen Zeitpunkt festlegen«, sagte ich. »Die Sonne fängt an zu sinken, also sagen wir doch «
»Keinen Zeitpunkt. Ein Ziel. In meinem Haus ist ein Buch.
Katsuo hat es mir mitgebracht. Irgendeine Sorte Lyrik. Ich habe keine rechte Verwendung dafür, aber ich dachte, vielleicht kann ich es noch mal brauchen, also habe ich es in den Kellerraum im Sockel meines Hauses gelegt. Wenn du es findest «
»Wo?«, fragte ich. »Mach es spezifischer, sonst wirst du mich wahrscheinlich erwischen, wenn ich noch am Suchen bin. Wo ist die Luke, und wo genau da unten ist das Buch?«
Er sagte es mir.
»Okay, und welches ist dein Haus?«
Er lachte. »Alles werde ich dir nicht erzählen.«
»In Ordnung, ich finde es selbst raus. Jetzt werde ich eine Formel sprechen, und du wirst ein paar Worte davon sagen; dann wiederholst du die Bedingungen und sagst, dass du dich an sie halten wirst.«
Er seufzte und murmelte etwas über meinen völligen Mangel an Vertrauen, aber er tat, was ich sagte. Seine Augen blieben grün.
Das allerdings war das letzte Mal, dass er die Wahrheit sagte.
Nachdem ich mit der Formel fertig war, versprach er mir einen Vorsprung von fünf Minuten und gab mir nicht einmal drei.
Ich schaffte es bis in den Wald, und zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits genug vom Wegrennen. Ich würde Dachev geben müssen, was er wollte, jedenfalls eine Weile lang, aber wenn er mich in die Enge trieb, würde ich kämpfen. Ungeachtet der Tatsache, dass ich ein Loch in der Hand und eine Fleischwunde in der Schulter hatte und mir ganze Haarbüschel fehlten. Das mit der Hand und der Schulter machte mir vergleichsweise wenig Sorgen, aber ich hoffte sehr, dass das Haar nachwachsen würde. In der Zwischenzeit war es besser, wenn ich mir nicht noch mehr Blessuren zuzog.
Es gab einen Pfad durch den Wald. Auf den ersten Blick war die Versuchung groß, ihn zu verlassen und einen Weg durchs Unterholz zu suchen, aber mir ging es um Geschwindigkeit, nicht um Heimlichkeit. Wenn ich mich verstecken musste, dann hatte ich meine Hexenformeln und seit meinem Tod hatte ich mir noch ein paar offensivere Formeln zugelegt, die Sorte, die selbst die immer auf Formeln erpichte Paige vielleicht zu gefährlich gefunden hätte. Sie brauchten allerdings etwas Zeit, wenn man sie richtig wirken wollte. Wenn ich sie brauchte, würde ich dafür sorgen müssen, dass ich diese Zeit hatte.
Ich rannte den Pfad entlang und sah mich mehrmals um. Als ich Dachev das erste Mal hinter mir sah, betrug der Abstand etwa fünfzehn Meter, aber nach der ersten Viertelmeile hatte er sich mindestens verdoppelt. Er war offensichtlich nicht daran gewöhnt, ehemalige Leichtathletinnen zu jagen.
Weiter rechts erkannte ich Häuser der Pfad schlug einen Bogen um das Dorf herum. Als ich auf der anderen Seite des Dorfes angekommen war, teilte er sich; auf einer Seite führte ein Weg ins Dorf, auf der anderen ging es tiefer in den Wald.
Ich nahm den Weg zu den Häusern hin. Auf halber Strecke zwischen der Gabelung und dem Dorf machte ich einen Satz in den Wald und sprach einen Tarnzauber. Dann wartete ich . . .
Eine Minute später erschien Dachev an der Gabelung und sah sich um.
»Bist du weitergerannt?«, murmelte er. »Oder bist du jetzt schon hinter dem Buch her?«
Ein kurzes Zögern, dann ging er an mir vorbei ins Dorf und verschwand. Ich erwog, hinter ihm herzuschleichen, um zu sehen, zu welchem Haus er ging, aber das war zu riskant.
Ursprünglich war er vom Ende des Dorfes gekommen, also gehörte ihm wohl eins der beiden letzten Häuser. Nach etwa zehn Minuten kam er zurück und lief wieder an mir vorbei.
Diesmal ging er an der Gabelung in die Richtung weiter, aus der er gekommen war. Das kam mir etwas merkwürdig vor, aber er würde schon wissen, was er tat.
Als seine Schritte verklungen waren, schlich ich mich zum Rand des Dorfes. Es begann bereits dunkel zu werden, aber solange noch Tageslicht herrschte, war es mir zu gefährlich, nach dem Buch zu suchen. Als ich nahe genug dran war, um die Häuser sehen zu können, hielt ich Ausschau nach einem geeigneten Baum, kletterte auf einen kräftigen Ast, sprach eine Tarnformel und wartete auf die Dunkelheit.
Dachev suchte mindestens eine Stunde lang nach mir. Zweimal kam er bis an den Waldrand und musterte das Dorf, um sicherzustellen, dass ich nicht zurückgekommen war. Beim dritten Mal verließ er den Wald, sah sich um und rannte zum letzten Haus auf der linken Seite hinüber.
»Danke«, dachte ich. »Ein Problem weniger.«
Als er wieder ins Freie trat, kamen zwei der anderen Bewohner aus ihren Häusern und versuchten offenbar zu sehen, was er da trieb. Er fauchte etwas und verschwand wieder im Wald.
Einer der beiden folgte ihm. Der Vogelmann er schoss von einer Seite zur anderen, hielt sich dicht an Bäumen und Bü
schen, jederzeit bereit, beim ersten Anzeichen, dass Dachev sich umsah, in Deckung zu gehen.
Dachev war in den dämmerigen Wald verschwunden, bevor sein Verfolger auch nur den Waldrand erreicht hatte. Der Vogelmann ging in die Hocke und wartete dort, bis Dachev etwa eine halbe Stunde später zurückkam er musste das kleine Waldstück durchsucht haben. Ich hoffte, seine Rückkehr würde den Vogelmann verscheuchen, aber der versteckte sich im Gebüsch, ließ ihn vorbei und spähte dann hinter ihm her.
Dachev musterte kurz das Dorf und kehrte in den Wald zurück.
Es wurde Zeit für einen neuen Plan.
Ich schob mich auf meinem Ast entlang und suchte mir ein paar möglichst reißfeste Lianen, die ich aufrollte und mir griffbereit an der Wade festband. Als Nächstes zog ich eine Socke aus und stopfte sie mir in die Hosentasche.
Ich glitt an dem Baum hinunter, bis ich den untersten Ast erreicht hatte, der mich noch tragen würde. Dann schob ich mich im Schutz der Blätter auf dem Ast vorwärts, so weit ich es wagte. Ich brach einen Zweig ab und ließ ihn fallen. Er blieb im Laub weiter unten hängen. Ich riss einen weiteren Zweig ab, beugte mich vor, so weit es ging, und warf ihn hinunter. Er landete im trockenen Unterholz; das Prasseln kam mir vor wie ein Gewehrschuss. Der Vogelmann schoss aus seinem Versteck hoch und sah sich mit ruckartigen Kopfbewegungen um. Ich ließ einen dritten Zweig fallen. Er tat einen Schritt in meine Richtung. Dann noch einen. Ein weiterer Schritt, und ich ließ mich auf ihn hinunterfallen.
Als ich auf seinem Rücken landete, rammte ich ihm den Unterarm gegen den Mund. Er biss zu, hart genug, dass ich mich fragte, ob ich jetzt das nächste Stück Fleisch verlieren würde.
Ein kurzes Gerangel, dann hatte ich meinen Arm losgerissen und ihm stattdessen die Socke in den Mund gestopft. Ich fesselte ihn und schnürte ihn an dem Baumstamm fest. Irgendwann würden sein Stöhnen und sein Gezappel Dachev aufmerksam machen, aber ein paar Minuten blieben mir bestimmt.
Ich hielt mich auf dem Weg zu Dachevs Haus so lang wie möglich im Schutz des Waldes. Am Himmel stand ein voller Mond, und ich wagte nicht, zur Haustür zu gehen, also schlich ich mich zu einem offenen Seitenfenster. Als ich hindurchkletterte, hörte ich jemanden durch den Wald gehen. Ich machte einen Satz, landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Fußboden und sprang auf. Ich war im Wohnzimmer. Dachev hatte gesagt, die Luke zu dem Kellerraum sei unter seinem Bett.
Ich stürzte durch die einzige Tür ins Schlafzimmer, packte das Bettgestell und zerrte es zur Seite; dann griff ich nach der Kante des Lukendeckels. Draußen stürmten Schritte den Fahrweg entlang. Ich riss die Luke auf und sprang hindurch.
43
Dachevs »Keller«war nichts weiter als ein niedriger Hohlraum, in dem man kaum auf allen vieren kriechen konnte.
Wenn ich mich umdrehen wollte, musste ich mich zusammenkauern und den Kopf einziehen.
Im Erdgeschoss war das Mondlicht hell genug gewesen, um etwas zu sehen. Hier unten war es stockfinster. Ich sprach eine Lichtkugelformel. Sie hielt kaum eine Sekunde lang vor, was gerade eben reichte, um mir einen einzigen Blick auf Erdwände zu gestatten. Ich versuchte es wieder, und das Gleiche passierte. Im Leben hatte ich die Lichtkugel immer für Kinderkram gehalten. Seit ich in der nicht elektrisierten Geisterwelt eingetroffen war, hatte ich sie ständig verwendet; es musste also an den Bedingungen hier liegen, dass das Licht ausging. Ich versuchte es noch zwei weitere Male und gab dann auf.
Dachev hatte gesagt, das Buch würde auf einem Brett links unter der Luke liegen. Aber das Einzige, was ich dort ertastete, war ein Geflecht aus dünnen Wurzeln. Als ich mit den Fingern über sie strich, schlug oben die Haustür zu. Ich drehte mich um, so schnell ich konnte, und tastete die rechte Seite der Wand ab.
Meine Finger verfingen sich in Wurzeln, und Dreck sammelte sich unter meinen Nägeln, aber ich spürte nichts, das an ein Brett oder ein Buch erinnert hätte.
Ich sprach die Lichtformel noch einmal. Und noch einmal.
Und jedes Mal erhaschte ich einen sekundenlangen Blick auf Erde und Wurzeln.
Schritte durchquerten das Wohnzimmer. Ich kroch hastig ans andere Ende des Kellers und sah mich hektisch um. Der Geruch von feuchter Erde stieg mir in die Nase.
»Hast du das Buch?« Dachevs Stimme hallte durch den Raum über mir.
Ich ließ die Hände über die Decke des Kellers gleiten. Splitter gruben sich in meine Handflächen. Es war ein solider Bretterboden.
»Es gibt hier kein Buch«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Dachevs Lachen trieb zu mir herunter.
»Du hast gesagt «, begann ich.
Er streckte den Kopf durch die Luke, sah sich um und zog ihn wieder zurück. »Ich habe gesagt, ich würde dir das Geheimnis verraten, wenn du das Buch fändest . . . was ich auch getan hätte, wenn es ein Buch zu finden gäbe.«
Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich zur Ruhe. Als ich nicht antwortete, streckte er den Kopf wieder nach unten und versuchte vergeblich, mich zu sehen.
»Du kannst genauso gut da rauskommen«, sagte er. »Von dort geht es nicht weiter.«
Während er sprach, kroch ich vorwärts; als er aufhörte, hielt ich inne. Er seufzte.
»In diesem Loch zu hocken, steht dir nicht. Oder schmollst du jetzt?«
Dieses Mal schaffte ich es halb durch den Raum, während er redete. Als er eine Pause machte, brannte ich darauf, noch ein paar Schritte weiterzukriechen, aber ich wagte es nicht. Selbst das Rascheln meiner Kleidung bei meinen Bewegungen war zu laut. Aber sobald er weitersprach, setzte ich mich wieder in Bewegung.
»Ich zähle bis fünf, und dann komme ich runter und zerre dich an deinem hübschen langen Haar da raus.«
Ich wartete, keinen Fuß mehr von seinem Gesicht entfernt und so still, wie ich es nur fertigbrachte.
»Fünf . . . vier . . . «
Ich erwischte ihn um den Hals und zerrte. Er kam in das Loch heruntergestürzt, landete auf mir und versuchte meine Arme festzuhalten. Als er sie nicht erwischte, packte er mich am Haar.
Ich rammte ihm die Handfläche unters Kinn, und er grunzte und fiel nach hinten.
Ich rutschte unter ihm heraus und warf mich auf ihn, so dass er auf dem Bauch landete. Dann stemmte ich ihm, so gut es ging, ein Knie in den Rücken, packte seine Hände und hielt sie fest, während ich mit den Zähnen die Liane entrollte. Er zappelte und fluchte, aber nach ein paar Versuchen gelang es mir, ihm die Liane um die Handgelenke und die Knöchel zu knoten.
»Du hältst dich wohl für schlau?«, knurrte er. »Ein Ruf von mir, und jedes von diesen Tierchen da oben kommt angerannt «
»Oha, das hätte ich fast vergessen. Danke.«
Ich stopfte ihm die zweite Socke in den Mund. Dann erwies ich ihm die gleiche Ehre, die er mir angekündigt hatte ich packte ihn an den Haaren und zerrte ihn aus dem Kellerloch nach oben.
»So«, sagte ich, als ich ihn auf den Schlafzimmerfußboden plumpsen ließ. »Und erzählst du mir jetzt, wie man diese Nixe fängt?«
Er machte lediglich die Augen schmal das Äquivalent von
»Fick dich ins Knie« in allen Sprachen der Welt.
»Schön«, sagte ich. »Ich komme in ein paar Tagen zurück, mal sehen, ob du es dir dann anders überlegt hast.«
Als ich zur Wohnzimmertür hinüberging, machte Dachev hinter seinem Knebel ein Knurrgeräusch.
»Oh nein, mach dir da keine Sorgen«, sagte ich. »Ich lasse dich hier nicht allein. Du wirst jede Menge Gesellschaft haben
ich muss deinen Freunden nur noch sagen, wo du bist.«
Er ließ mich bis zur Haustür kommen und rammte dann die Schulter gegen den Fußboden, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich streckte den Kopf zurück ins Schlafzimmer. »Ja?«
Er grunzte und kaute an dem Knebel. Ich riss ihm den Strumpf aus dem Mund.
»Bereit zu reden?«
»Erst bindest du mich los.«
Ich lachte.
»Dann haben wir keine Abmachung. Du nimmst dir, was du brauchst, und lässt mich so hier liegen.«
»Nein, mache ich nicht, aber du kennst mich nicht gut genug, um dich auf mein Wort zu verlassen, also komme ich dir ein Stück weit entgegen. Ich werde dir die Füße losbinden. Wenn ich dich dann hintergehe, kannst du immerhin wegrennen.«
Er antwortete mit einem Strom von Obszönitäten.
»Mach weiter, und ich schiebe dir die Socke wieder rein.« Ich sprach die LügendetektorFormel. »Jetzt fang an, sonst gehe ich wirklich.«
Er fauchte, aber dann spuckte er mir seinen Teil der Beschwörung entgegen.
»Wie kann man die Nixe fangen?«, fragte ich.
Wieder ein Zögern, dann: »Indem man den Wirtskörper umbringt.«
»Das weiß ich auch, aber du hast es ohne das Schwert geschafft. Wie?«
Mindestens eine Minute lang hörte ich nichts als das Knirschen seiner Zähne, als er versuchte, sich einen Ausweg aus der Situation zu überlegen. Schließlich sagte er: »Indem man ihn umbringt . . . ohne ihn umzubringen.«
»Vom Rätselraten war nicht die Rede.«
Er sah zu mir hinauf. »Nein? Warum? Weil so viel in deinem hübschen Kopf nicht los ist, was? Sie muss getötet werden, aber man darf sie nicht sterben lassen.«
»Man muss einen tödlichen Schlag anbringen, meinst du.«
Ich überlegte. »Wenn der Wirt noch am Leben ist, kann sie sich befreien. Wenn der Wirt tot ist, kann sie sich befreien . . . außer sie landet vorher auf dem Schwert eines Engels. Aber in dem Moment zwischen Leben und Tod steckt sie fest, stimmt’s?«
Dachev stierte mich wütend an.
»Ja oder nein«, sagte ich. »Ist sie in ihrem Wirtskörper gefangen, wenn der zwischen Leben und Tod schwebt?«
»Ja.«
»Aber wie kriegt man sie da raus? Mit einer Formel?«
»Nein.« Er zögerte, aber ich merkte ihm an, dass er die Sache hinter sich bringen wollte, und so fuhr er nach einem Moment fort: »Ihr Geist fängt an, sich zu lösen, wenn der Wirt stirbt.
Du kannst es sehen. In diesem Moment ist sie machtlos sie kann nicht fort, und sie hat auch keine Dämonenkräfte.«
Ich erinnerte mich an das Bürgerzentrum und daran, wie die Nixe aus dem Körper ihrer Partnerin entkommen war, bevor Trsiel den Schlag führen konnte, der ihrem Leben ein Ende gesetzt hätte. Ich hatte gesehen, wie ihr Geist aus Lily hervorgequollen war. Es gab bei diesem Szenario nur ein Problem den Aspekt des lebensbeendenden Hiebs. Einen Sekundenbruchteil lang war ich der Panik nahe und überzeugt, wieder ganz am Anfang angekommen zu sein, überzeugt, dass es keine Methode gab, die Nixe zu fangen, außer der, Jaime umzubringen
und wenn die Parzen mir das nicht erlauben wollten, wie zum Teufel sollte ich dann
»Aber der Wirtskörper ist nicht gestorben«, sagte ich. »Er wurde wiederbelebt, stimmt’s?«
Dachevs Kiefer straffte sich. Aber einen Augenblick später nickte er.
»Laut«, sagte ich.
»Ja«, sagte er durch die Zähne. »Sie wurde ins Leben zurückgeholt. Es waren Leute in der Nähe. Jemand hat sie gefunden «
»Und wiederbelebt.« Ich trat neben ihn. »Wie hast du herausgefunden, wie das geht? Steht das in einem Buch?«
Ein kurzes Lachen. »Buch? Bücher sind etwas für Leute, denen die Fähigkeit fehlt, selbst zu denken. Ich bin selbst dahintergekommen.«
Seine Augen wurden dunkel.
»Hm willst du das noch mal versuchen?«, fragte ich.
Er antwortete mit einem weiteren Schwall von Flüchen. Ich überlegte einen Moment und lachte dann auf, unvermittelt genug, dass er zusammenfuhr.
»Es war Zufall, stimmt’s?«, fragte ich. »Du hast die Nixe gefunden, und während du noch überlegt hast, was du tun sollst, ist ihre Partnerin fast gestorben. Du hast den Geist der Nixe gesehen und einen Handel abgeschlossen. Du hast sie gezwungen, dir zu helfen, den Parzen zu entkommen, weil du sonst einen Engel auf sie gehetzt hättest. Es war nicht geplant, es war reines Glück.«
Dachev fauchte und spuckte dann auf den Boden.
»Da ist keine Antwort mehr nötig«, sagte ich.
Ich öffnete seine Fesseln.
»Bitte sehr, wie versprochen «
Er kam auf die Beine und schlug nach mir, so dass ich nach hinten fiel. Ich fing mich wieder, aber bevor ich reagieren konnte, war er am anderen Ende des Raums.
»Du hast das, was du wolltest«, sagte er. »Jetzt trink deinen Höllenbann und verschwinde.«
»Oh, keine Sorge, das mache ich auch.«
Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen. »Nein, meine Hübsche, ich glaube eher nicht.«
Er hob die geschlossene Hand und drehte die Handfläche nach oben wie ein Zauberkünstler, der die verborgene Münze zum Vorschein bringt. Als er die Finger öffnete, wusste ich, was ich sehen würde. Ich setzte mich in Bewegung, bevor ich das Glasfläschchen mit dem Höllenbann auch nur sah, und hatte ihn fast erreicht, als er die geöffnete Ampulle umdrehte. Der Inhalt floss auf die Bodenbretter.
Mein Körper rammte seinen und schleuderte ihn gegen die Wand. Ich schnappte die Ampulle, aber sie war leer.
Dachev packte mich am Arm und riss mich mit sich zu Boden. Ich landete hart und versuchte, mich unter ihm herauszuwinden, aber er lag mit seinem ganzen Gewicht auf mir.
»Vom Kämpfen wird es nur schmerzhafter«, murmelte er. »Es tut mir so leid um deinen Trank. Aber ich habe ein Geschenk für dich. Etwas, womit man ihn ersetzen kann.«
Ohne mich loszulassen, griff er in die Tasche, holte etwas heraus und zeigte es mir. Es war eins der Steinmesser des anderen Mannes.
»Ich glaube, wir werden unseren Spaß mit dem hier haben«, sagte er. »Viel mehr, als wir mit deinem Trank gehabt hätten.«
Ich begann einen Bindezauber zu sprechen. Als die ersten Worte fielen, wurden seine Augen weit vor Überraschung und dann Wut. Ich erkannte meinen Fehler und versuchte den Rest der Formel herunterzuhaspeln. Er rammte mir die Faust gegen die Wange. Knochen knackten, und ein Zahn sprang mir in die Kehle. Ich keuchte, hustete, und der Zahn flog mit einem Speichelfaden aus meinem Mund. Ich begann wieder mit der Formel, und Dachev packte mich an der Kehle.
»Eine Hexe?«, fauchte er. »Das war es also, was ich an dir erkannt habe. Du hast nicht gewagt, mich aufzuklären, nicht wahr?«
Ich versuchte ihn abzuschütteln, aber er hatte mich so gründlich am Boden festgenagelt, dass ich nur ungeschickt auf seinen Rücken einschlagen konnte.
»Glaubst du, ich weiß nicht, wie man jemanden festhält?«, sagte er. »Bei meinem Prozess haben die Leute geglaubt, ich hätte bei meinen Opfern Betäubungsmittel verwendet oder sie bewusstlos geschlagen. Weder das eine noch das andere. Was soll amüsant daran sein, einen Körper zu bearbeiten, der nichts spürt?«
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte einen Teil meiner AspicioKräfte zu beschwören, um ihn zu blenden.
»Sieh mich nicht so an, Hexe«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Ich hab dich nicht schockiert, das weiß ich. Du erinnerst mich an sie, weißt du. Meine Nixe.«
Er hob das Messer. »Womit ich nicht sagen will, dass ich dich verschonen werde. Schließlich hat sie mich verraten. Ich verzeihe ihr. Aber ich stelle mir gern vor, wie ich sie verraten würde. Liebe und Hass das gleiche Bedürfnis, die gleiche Leidenschaft.«
Ich schnippte mit den Fingern, um den Rückstoßzauber zu versuchen, und brachte das eine Wort heraus, das für die Magierformel vonnöten war. Es geschah nichts.
»Ziemlich nutzlos ohne deine Formeln, was?« Er lächelte.
»Na ja, ohne deine Formeln und deine Tritte und Schläge. Du weißt, wie man kämpft. Keins meiner anderen Opfer wusste das. Einigermaßen enttäuschend.«
Ich brauchte eine Formel. Nichts zu Aufwendiges, das mich auslaugen würde. Ich versuchte die Gedanken freizubekommen und begann einen hochrangigen Hexenzauber vorzubereiten.
Dachev fuhr fort: »Ich glaube, ich lasse dich kämpfen.
Aber zuerst lasse ich dich wissen, gegen welches Schicksal du kämpfst. Wir fangen mit einer Kostprobe an. Nichts, das dich ernstlich beeinträchtigt, nicht gleich ein Arm oder Bein. Ein, zwei Finger vielleicht? Nein. Das würde dich immer noch beeinträchtigen und mir einen unfairen Vorteil verschaffen. Sagen wir ein Ohr. Oder vielleicht die Nase. Ja, das ist es. Ich schneide dir ein Ohr ab oder schlitze dir die Nase auf.« Er beugte sich zu mir herunter; seine Zähne blitzten auf, als er lächelte. »Such dir eins aus.«
Ich gab vor, mich zu wehren, um mir mehr Zeit für die Formel zu verschaffen. Er hielt mich mühelos fest.
»Es reicht jetzt«, sagte er. »Wenn du dich nicht schnell entscheidest, mache ich beides.«
Ich murmelte etwas.
Er runzelte die Stirn. »Wie war das?«
Wieder öffnete ich den Mund, aber es kam nur ein Keuchen heraus.
Er lockerte den Griff um meine Kehle. Ich flüsterte ein paar Worte der Beschwörung, aber ich wusste, dass ich nicht genug Zeit hatte, um sie zu Ende zu bringen.
»Ohr«, sagte ich. »Nimm das Ohr.«
Ich brachte eine weitere Zeile heraus, bevor sein Arm mir wieder die Kehle zudrückte. Ich schloss die Augen, als das Messer an meinem Ohr ansetzte. Die Klinge schnitt in die weiche Haut zwischen dem Ohrläppchen und dem Gesicht und begann sich nach oben zu schieben. Als sie den Knorpel erreichte, beugte er sich vor, um einen besseren Ansatzwinkel zu bekommen, und ich konnte die letzte Zeile der Beschwörung flüstern.
Dachev brüllte, ein ohrenbetäubendes Aufheulen. Ich schoss unter ihm heraus und sprang auf. Er blieb zusammengekrümmt auf dem Boden liegen und schrie, als stünden seine Eingeweide in Flammen. Was auch der Fall war. Ich hatte eine Feuerkugel beschworen, die einfache, ziemlich nutzlose Feuerkugel, die auch Paige verwendete nur, dass ich sie in der Magengrube des Opfers beschworen hatte. Ein paar Sekunden lodernder Schmerz und dann ein schneller Tod, es sei denn, man war schon tot.
Ich ging zu Dachev, beugte mich über ihn und nahm ihm das Messer aus der Hand.
»Wenn du mich hören kannst in einer Minute ist es vorbei«, sagte ich. »Das Feuer, meine ich. Das brennende Gefühl, das wird noch eine ganze Weile anhalten. Da wirst du etwas Bettruhe brauchen, und zu der kann ich dir verhelfen.«
Ich ging hinter ihm in die Knie, packte mit einer Hand sein Bein und machte mich daran, ihm die Kniesehne durchzuschneiden. Wenn ich hier gestrandet war, bis jemand mich rettete, dann durfte ich Dachev keine Gelegenheit zur Vergeltung geben. Während er brüllte und sich wand, schnitt ich ihm das Hosenbein auf.
»Was hat es mit ihm gemacht?«, fragte eine Stimme hinter mir.
Der Knüppelmann stand in der Tür, seine Keule in der Hand.
Er starrte Dachev mit einem Stirnrunzeln auf seinem babyglatten Gesicht an. Dann sah er mich an und begann zu lächeln, wobei er einen kieferorthopädischen Traum an schiefen Zähnen sehen ließ.
»Ich hab gedacht, es ist weg«, sagte er, während er ins Zimmer kam.
»Vielleicht ist es zum Spielen geblieben.« Der Messermann kam herein, eine selbstgemachte Klinge in jeder Hand.
Ich sprang auf die Füße, ohne das Messer loszulassen.
»Habt ihr gesehen, wie ich spiele?«, fragte ich mit einer Handbewegung zu Dachev hin, der immer noch stöhnte und sich krümmte. »Wenn ihr beide jetzt geht, vergesse ich vielleicht, dass ich euch gesehen habe, und «
Der Knüppelmann stürzte sich auf mich. Ich sprach einen Bindezauber, aber meine Kräfte waren zu erschöpft, und er erstarrte nur eine Sekunde lang, bevor er sich losmachen konnte.
Unmittelbar hinter ihm waren der Messermann, der Werwolf und ein rothaariger Mann, den ich noch nie gesehen hatte.
Ich fuhr herum, setzte mich in Bewegung und sprang geradewegs durch die Fensterscheibe. Ein durchaus dramatischer Abgang, wobei ich lieber gar nicht gegangen wäre. Aber ich hatte inzwischen genug Erfahrungen mit den Typen, um zu wissen, dass ich mich in den Wald verziehen und mir eine Möglichkeit überlegen sollte, wie ich es zurück in meine eigene Dimension schaffen konnte.
Als ich um die Hausecke rannte, hörte ich Schritte hinter mir. Der Messermann hatte es bereits ins Freie geschafft . . .
und als ich ihn den Arm mit dem Messer heben sah, rannte ich geradewegs in einen riesigen Sandsack.
Ich stolperte nach hinten und erkannte, was der Sandsack in Wahrheit war ein Mann mit einem Dreifachkinn und einem Bauch wie von einer überfälligen Schwangerschaft.
»Willst du irgendwo hin?«, knurrte er.
Ich sprang aus seiner Reichweite . . . und stellte fest, dass ich umzingelt war. Sogar der Vogelmann hatte sich inzwischen eingefunden, die zerrissenen Lianen baumelten ihm noch von den Handgelenken. Ich sah mich um, fand die Stelle, an der sie am wenigsten dicht beieinanderstanden, und machte einen Satz in diese Richtung, während ich zugleich einen Tarnzauber sprach.
Als ich auf dem Boden aufkam, verschwand ich. Auch diesmal erstarrten alle in einem Augenblick der Verwirrung. Bevor sie sich gefangen hatten, sprang ich auf und rannte in Richtung Wald.
44
A ls ich los rannte, waren die Schritte der Verfolger unmittelbar hinter mir, aber bald fielen sie zurück. Ich hoffte, sie würden ganz verklingen, aber ich hätte es besser wissen sollen.
Diese Typen hatten seit Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten kein Opfer mehr gesehen; sie würden bestimmt nicht aufgeben, sobald die erste Kandidatin davonrannte.
Ich konnte es nicht mit allen aufnehmen. Trsiel hatte gesagt, die Parzen würden jemanden schicken, wenn ich nicht zurückkam. Das Einzige, was ich noch mehr hasste als das Wegrennen, war, herumzuhängen und auf Rettung zu warten, aber dies war nicht der beste Zeitpunkt für eine Demonstration meiner Eigenständigkeit. Ich musste ein Versteck suchen und warten. Das schmerzte mich in meinem Stolz
aber die Alternative würde noch mehr weh tun. Außerdem war es meine eigene Schuld, dass ich überhaupt gerettet werden musste. Ich war dem Taschenspielertrick eines Zauberers aufgesessen ich könnte jetzt sagen, das sei der Tiefpunkt meiner bisherigen Karriere gewesen, aber dann würde ich lügen.
Als ich tiefer in den Wald lief, wurde es wirklich Nacht. Ich versuchte den Lichtkugelzauber. Er funktionierte matt, aber stetig. Die Mattigkeit hatte ihr Gutes, denn in voller Stärke hätte die Lichtkugel nur meinen Verfolgern den Weg gewiesen.
Noch besser wäre meine Nachtsichtfähigkeit gewesen, aber ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass die sich noch melden würde.
Als ich die Weggabelung erreichte, nahm ich die rechte Abzweigung, die tiefer in den Wald führte. Nach ein paar Minuten erkannte ich weiter rechts eine Lichtung. Ohne langsamer zu werden, lenkte ich die Lichtkugel in diese Richtung und konnte durch die Bäume die verschwommenen Umrisse von Häusern erkennen. Mist! Noch ein Dorf? Aber warum eigentlich nicht?
Vielleicht war das die Art, wie diese Dimension beschaffen war eine ganze Welt aus Dörfern, jedes mit seiner Bande von Killern.
Ich stieß auf eine Stelle, an der jemand mehrere Bäume gefällt hatte und ich einen freien Blick auf das Dorf hatte. Ich hatte diese Anordnung von Baumstümpfen schon einmal gesehen.
Als ich an der Lichtung vorbeirannte und dabei zu dem Dorf hinübersah, wusste ich, was ich gleich entdecken würde. Die Steinhäuser, die ich gerade verlassen hatte.
Es war dasselbe Dorf. Der scheinbar endlose Wald war eine Illusion. Wenn man das Dorf in nördlicher Richtung verließ, fand man sich an seinem südlichen Ende wieder. Deshalb war Dachev vorhin auch in die Richtung zurückgegangen, aus der er gekommen war weil er geglaubt hatte, dass ich geradeaus weitergerannt war, und er mir auf diese Art einfach entgegengegangen wäre. Und in dem Augenblick, in dem ich das dachte, erkannte ich eine Gestalt vor mir zwischen den Bäumen. Ich sah über die Schulter zurück. Weitere Gestalten kamen hinter mir her.
Ich stürzte mich nach links in den Wald. Als ich durchs Gestrüpp brach, hörte ich nichts hinter mir, aber ich wusste bereits, dass ich nicht weit kommen würde. Ich löschte das Licht, blieb stehen, schlich mich ein Stück weit nach links und sprach einen Tarnzauber. Sekunden später war die Luft erfüllt von Schritten und Flüchen, als sie angestolpert kamen und im Dunkeln nach mir suchten.
Rechts von mir flackerte ein Licht auf. Als ich in diese Richtung spähte, sah ich eine orangefarbene Flamme auf mich zutanzen. Jemand war ins Dorf zurückgekehrt und hatte eine Fackel geholt. Sekunden später hatte jeder von ihnen einen brennenden Ast in der Hand, mit dessen Hilfe er in die Dunkelheit spähte.
»Sie verwendet Magie«, rief Dachev. »Sie kann sich unsichtbar machen, aber dann kann sie sich nicht bewegen. Wenn ihr sie anrempelt, wird sie wieder sichtbar.«
Ein paar zufriedene Grunzer.
»Wir können dies auf zwei verschiedene Arten machen«, fuhr Dachev fort. »Konkurrenz oder Kooperation.«
»Ich helfe keinem«, knurrte die Stimme des Knüppelmannes.
»Wenn ich es finde, gehört es mir.«
»In Ordnung. Diejenigen, die mir helfen wollen kommt her, und wir trennen uns und suchen systematisch.«
»Und dann nimmst du es«, sagte jemand.
Mehrere Stimmen äußerten Zustimmung.
»Nein, dann lasse ich sie euch. Jeder, der mir hilft, kommt dran. Erst wenn ihr fertig seid, gehört sie mir. Wenn ihr das fair findet, kommt her. Alle anderen können ja allein suchen.«
Mehrere Gestalten gingen zu Dachev hinüber, andere entfernten sich.
Ich wartete, bis das Fackellicht schwächer wurde und schlich mich davon. Dachev war mit seiner Fackel von Westen gekommen, somit lag dort das Dorf. Diese Welt war kugelförmig.
Ging man zu lang in eine Richtung, landete man dort, wo man losgegangen war. Der tiefste Teil des Waldes musste der Streifen nördlich und südlich des Dorfes sein, dorthin wollte ich.
Ich bewegte mich so schnell, wie ich es wagte. Wenn ich weit genug gekommen war, würde ich mir einen Baum suchen und den Trick von vorhin wieder versuchen. Damit würde es meinen Verfolgern wenigstens unmöglich sein, mich im Dunkeln anzurempeln und meinen Tarnzauber zu brechen.
Aber was, wenn der Vogelmann gesehen hatte, wie ich von dem Baum gesprungen war, und es Dachev erzählte?
Mitten in meinen Überlegungen erschien eine Erhebung vor mir, und ein paar Schritte rechts von mir lag ein Block vor einem Fleck Dunkelheit, der noch tiefer war als die des Hangs.
Irgendeine Öffnung. Ich ging näher ran und spähte in den schmalen Spalt über dem Steinblock. Dahinter erstreckte sich eine Dunkelheit, die meine Lichtkugel nicht erhellen konnte.
Nicht einfach eine Öffnung also, sondern eine Höhle. Sieh an.
Genau das, was ich brauchte.
Ich trat neben den Block und schob. Schmerz schoss durch meine durchstochene Hand. Ich riss ein paar Blätter vom nächsten Baum, um sie als Polster zu verwenden, stemmte die Beine in den Boden und wuchtete. Der Block rührte sich nicht. Was so schlecht nicht sein musste. Wenn ich das Ding nicht bewegen konnte, würden sie nicht auf den Gedanken kommen, mich dahinter zu suchen. Mit etwas Hebelkraft und einer Telekineseformel müsste ich in der Lage sein, den Stein weit genug zu verschieben, um mich durchquetschen zu können.
Ich fand einen dicken Ast und verwendete ihn als Hebel, während ich schob und zugleich eine Telekineseformel sprach.
Eigentlich ist die Formel dazu bestimmt, kleine Gegenstände zu bewegen, aber viele Hexen nutzen sie als zusätzliches Hilfsmittel, wenn sie schwerere Dinge verschieben wollen, zum Beispiel den Kühlschrank von der Wand abrücken. Praktische Magie eben.
Mit der Formel, dem Ast und Muskelkraft konnte ich den Block ein Stück anheben, weit genug, um mich an ihm vorbeizuquetschen. Weil er etwas in den Boden eingesunken war, rollte er in seine Mulde zurück, sobald ich an ihm vorbei war.
Ich zerrte den Ast mit ins Innere der Höhle, sprach die Lichtkugelformel und sah mich um.
Der Tunnel erstreckte sich so weit, wie ich sehen konnte, und führte leicht abwärts wie der Eingang zu einem unterirdischen Gang wie der Tunnel, der die beiden Schlösser miteinander verbunden hatte. War auch dieser Gang von jemandem angelegt worden? Vielleicht war das die Erklärung für den Steinblock
hatte man ihn dort hingelegt, um die Bewohner dieser Welt in dem Dorf festzuhalten, in das sie gehörten?
Vom Eingang aus sah ich den Gang entlang. Ich konnte wenigstens ein Stück weit gehen, bis die Lichtkugel von draußen nicht mehr zu sehen war, und meine Verletzungen untersuchen.
Die Anstrengung, den Stein zu bewegen, hatte den Schmerz in meiner Hand und Schulter wieder aufflammen lassen. Dann war da noch das verletzte Ohr ich konnte spüren, wie das halb abgetrennte Ohrläppchen mich am Hals kitzelte, aber ich hatte noch nicht herauszufinden versucht, wie viel Schaden Dachev angerichtet hatte; ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen wollte.
Sobald ich etwas Ruhe hatte, konnte ich mir ein paar Streifen von der Bluse reißen und das Ohr und die Hand verbinden. Sie bluteten nicht es hat seine Vorteile, ein Geist zu sein , aber ich würde die Hand besser einsetzen können, wenn die Wunde abgedeckt war. Und was das Ohr anging ein Ohrläppchen weniger zu haben würde zwar das Problem einzelner verlegter Ohrringe lösen, aber ich hoffte trotzdem, die Parzen würden es wieder in Ordnung bringen können.
Als ich ein paar Meter in den Tunnel hineingegangen war, erkannte ich auf der rechten Seite eine Art Raum. Ich schlüpfte hinein und spürte, dass der Boden abfiel. Zugleich wurde die Lichtkugel schwächer. Fabelhaft. Ich konnte nur hoffen, dass ich das Licht nicht ganz verlieren würde wie in Dachevs Kellergeschoss; ich hatte wirklich nicht die geringste Lust, stundenlang im Dunkeln zu sitzen.
Ich machte einen weiteren Schritt und stieß mir den Fuß an etwas an weicher als Stein, aber fest genug, um mich fast zu Fall zu bringen. Ich sah nach unten und entdeckte einen langen, hellen Zylinder. Ein Ast. Ich wollte schon darüber hinwegsteigen, hielt aber inne. Der Ast war mit etwas bedeckt, das nicht nach Rinde aussah.
Ich winkte die Kugel näher und sah einen Arm vor mir auf dem Fußboden liegen. Einen menschlichen Arm, der noch in einem Ärmel steckte. Ich ging in die Hocke. Der Arm war aus dem Gelenk gerissen worden. Nicht, dass ich in dieser Frage eine Expertin gewesen wäre, aber das zerfetzte Fleisch rings um den Knochen sah eher zerrissen als zersägt aus.
Ich hatte nicht bemerkt, dass einem der Männer im Dorf ein Arm gefehlt hätte, aber ein paar davon hatte ich nicht aus der Nähe gesehen. Wenn man eine Gruppe von Killern zusammen einsperrt, wird irgendwann jemand Körperteile verlieren. In gewisser Weise wunderte es mich, dass es nicht schlimmer war.
Ich wollte mich schon aufrichten und hielt dann erneut inne.
Ein paar Schritte weiter lag ein jeansbekleidetes Bein. Okay, das wäre mir aufgefallen. Aber vielleicht waren die Gliedmaßen ja nicht echt. Sie sahen nicht echt aus. Das Fleisch war sauber und unblutig, wie bei Filmrequisiten, bevor jemand das Kunstblut drüberklatscht. Ich beugte mich vor, um die Hand zu berühren.
Kalt, aber ganz entschieden Fleisch.
Als ich einen Schritt auf das Bein zu machte, entfuhr mir ein Fluch. Hinter dem ersten Bein lag ein zweites und kurz dahinter der zweite Arm. Gut, jetzt schüttelte es mich wirklich.
Was zum Teufel war hier drin los gewesen?
Als ich mich umdrehte, um den Raum schleunigst wieder zu verlassen, fiel mein Blick auf die Wand links von mir. Ein Stein von der Größe einer Bowlingkugel lag dort auf dem Boden.
Ja sicher, ein Stein. Blödsinn. Ich wusste genau, was es war.
Und ich wusste auch, was hier passiert war. Die Dorfbewohner hatten es getan waren auf einen der Ihren losgegangen und hatten ihn in Stücke gerissen. Dann hatten sie die Teile hier versteckt und die Höhle versperrt in der Hoffnung, die Parzen würden es nicht merken.
Ich wandte mich schaudernd ab. Plötzlich hörte ich ein schwaches Klicken. Ich drehte mich um, eine eher instinktive als absichtliche Reaktion, und lenkte die Lichtkugel in die Richtung des Geräuschs. Der Kopf eines dunkelhaarigen Mannes lag dort; blaue Augen starrten zu mir herüber, leer und blicklos.
Dann zwinkerte er.
»Himmelherrg. . . !«, quiekte ich, während ich einen Satz rückwärts machte.
Der Blick des Mannes richtete sich auf mich, und sein Mund öffnete sich, als wollte er schreien, und gab den blutlosen Stumpf einer Zunge frei. Seine Zähne klickten gegeneinander. Unterhalb des Halses zuckte etwas Langes und Weißes im Dreck seine Wirbelsäule, das Einzige, das noch mit dem Kopf verbunden war.
Ich rannte aus dem Raum, schneller, als ich im ganzen Leben vor etwas weggerannt war. Draußen im Tunnel lehnte ich mich an die Wand, rieb mir übers Gesicht und versuchte das Bild aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Natürlich gelang es mir nicht ebenso wenig, wie ich mein Hirn davon abhalten konnte, der Bedeutung des Bildes nachzugehen. Ich hätte wissen müssen, dass er noch am Leben war. Er war ein Geist. Geister können nicht sterben. Erst jetzt wurde mir das Entsetzliche dieser Tatsache klar. Wenn man nicht sterben konnte, aber nach wie vor Schmerz empfand, dann konnte man in Stücke gerissen werden und trotzdem noch leben.
Mit einem Knurren zwang ich das Bild aus meinen Gedanken. Ich musste mich darauf konzentrieren, versteckt und in Sicherheit zu bleiben, nicht darauf, was sie mir antun konnten, wenn es mir nicht gelang.
Ein Geräusch unterbrach meine Überlegungen. Noch während ich zu der Türöffnung zurücksah, wusste ich, dass es nicht von dort gekommen war. Das Geräusch wiederholte sich, ein dumpfer Aufschlag. Dann eine Art scharfes Flüstern, als würde etwas durch den Dreck gezerrt. Noch ein Aufschlag und noch ein Zerrgeräusch.
Ohne nachzudenken, schoss ich um die Ecke und zurück in den Raum. Das Geräusch draußen kam näher. Zeit für einen Tarn. . . Scheiße! Die Lichtkugel. Ich löschte sie und sprach meine Tarnformel.
Während ich die Beschwörung murmelte, spürte ich, wie das Ding mich beobachtete. Beobachtete es mich? Konnte es noch denken, empfinden, war es ein vollständiges Bewusstsein, gefangen in
Himmeldonnerwetter! Der zerteilte Typ war ein gottverdammter Psychopath, sonst wäre er nicht hier unten. Aber es war gar nicht er, um den ich mir Gedanken machte, es war das, was er für mich bedeuten konnte. Als die Parzen gesagt hatten, ich würde mich in Gefahr begeben, wäre ich nicht im Leben auf den Gedanken gekommen
Denk nicht dran. Schalt das ab und konzentrier dich.
Das Geräusch war jetzt nah genug, dass ich noch etwas anderes hören konnte ein leises, wortloses Gemurmel. Eine Gestalt ging draußen vorbei. Es war so finster, dass ich kaum etwas erkannte, aber es war eine menschliche Gestalt, ein wuchtiger Klotz von einem Mann, der ein Bein nachzog.
Er war fast an der Öffnung vorbei, als er innehielt; sein Kopf fuhr so schnell herum, dass ich fast zurückgefahren wäre und meinen Tarnzauber ruiniert hätte. Sein Gesicht hing dort wie ein dünner, heller Fleck in der Dunkelheit. Er schnüffelte, als versuchte er etwas zu wittern. Ein leises Brabbeln, irgendein unverständliches Kauderwelsch, dann ging er in die Hocke und schien den Boden zu mustern. Er strich mit den Fingern durch den Dreck, kicherte und schob sich in der Hocke vorwärts
meinen Fußspuren nach.
Ich bewegte mich nicht, aber meine Gedanken jagten. Würde mein Bindezauber funktionieren? War ich schneller als er?
Und wohin sollte ich rennen? Ich hatte mich selbst eingesperrt.
Aber es musste ja noch einen anderen Eingang geben den, durch den er hereingekommen war. Aber sobald ich das dachte, wusste ich, dass er nirgendwo hereingekommen war. Wenn er in dieser Dunkelheit meine Fußabdrücke sah, dann bedeutete das, dass seine Augen sich an die fast vollständige Schwärze angepasst haben mussten. Und das wiederum bedeutete, dass er nicht erst seit ein paar Minuten hier drin war.
Es waren nicht die Männer im Dorf gewesen, die ihren Mitgefangenen in Stücke gerissen hatten. Er war es gewesen der Mann hier, dieses Wesen, das sich gerade auf mich zuwuchtete und dabei in einer Sprache vor sich hin murmelte, die seit langem unter das Niveau jeder menschlichen Kommunikation gefallen war. Er hatte sein Opfer auseinandergerissen, und sie hatten beide hier eingesperrt. Und jetzt hatte ich mich dazugesperrt.
Verflucht noch mal, steh nicht einfach hier rum und warte drauf, dass er in dich reinrennt! Wirk irgendwas. Die verdammte Feuerkugelformel. Nein, viel besser, die Ausstechformel. Lass ihm die Augen aus den Höhlen springen, mal sehen, ob er dich dann noch findet. Blende ihn, hol deinen Ast und drisch ihm den
Aufhören! Denk nach. Ich hatte mich noch nicht weit genug erholt, um einen wirklich sicheren Bindezauber zustande zu bringen. Wenn ich etwas Stärkeres versuchte, würde ich mich verausgaben, und dann würde auch ich in Teilen auf dem Boden
Aufhören!
Ich konnte ihn jetzt riechen, einen süßlichen, widerlichen Geruch wie von faulendem Fleisch. War das sein Atem? Fraß er ?
Ich biss die Zähne zusammen. Er schob sich immer noch vorwärts. Ich würde einen Bindezauber riskieren müssen. Ein paar Sekunden würde er halten, lang genug, dass ich an ihm vorbeikam, und dann würde ich rennen tiefer in die Höhle hinein. Mit dem schleifenden Bein würde er mich nicht einholen können.
Er zögerte jetzt, den Kopf gesenkt; dann sprang er plötzlich auf. Ein Geräusch vom anderen Ende des Raums das Klicken von Zähnen. Mit einem Aufbrüllen stürzte er vorwärts und trat den Kopf gegen die Wand, als sei er frustriert von seiner Unfähigkeit, dieses Leben zu beenden. Dann sah er sich um und verschwand. Er hatte mich vergessen. Gott sei Ein Grunzen trieb aus dem Gang herein. Es kam vom vorderen Ende. Er versuchte den Block fortzuschieben. Er hatte mich nicht vergessen, er wollte lediglich herausfinden, wie ich hereingekommen war . . . und ob er vielleicht auf dem gleichen Weg entkommen konnte.
Wie lang war er schon in dieser Höhle? Wie lang war dieses andere Ding dieser Kopf . . . ich konnte ihn nicht als einen Mann sehen, ich bekam Zustände davon , wie lang war es schon hier? So?
Dies war die Hölle dieser Dimension. Nicht das Ding auf dem Boden, sondern die immerwährende Möglichkeit, die es darstellte.
Für alle Ewigkeit mit anderen Killern zusammengesperrt zu sein, von denen jeder Einzelne in jedem einzelnen Moment dies tun konnte.
Und man musste darauf vertrauen, dass sie es nicht tun würden, dass sie einen nicht anrührten, wenn man sie nicht anrührte, sich auf den Anstand und das Ehrgefühl von Männern verlassen, die nichts dergleichen hatten. Und wenn einer davon dann genau das tat, was man befürchtet hatte, dann schlossen die anderen sich zusammen und sperrten ihn mit seinem Opfer ein, verrammelten den Eingang und ließen die beiden da drin . . . bis irgendein verdammter Idiot ankam, fragte: »Was macht der Felsblock da?«, ihn wegschob und sich selbst mit ihnen zusammen einschloss.
Ich kniff die Augen fest zusammen und versuchte den Gedanken zu verscheuchen.
Panik. So fühlte sich das also an.
Nach ein paar weiteren Versuchen mit dem Block stieß der Mann ein Fauchen aus, das bis zu mir drang. Dann wieder die schleifenden Schritte, und Sekunden später erschien er in der Türöffnung.
Er sah sich um, schnüffelte und murmelte; dann drehte er sich um und verschwand in die Tiefen des Tunnels. Gott sei Dank.
Jetzt konnte ich Moment. Scheiße!
Er hatte etwas in der Hand gehalten. Es war so dunkel, dass ich nach wie vor nur Umrisse erkannte, aber ich wusste, dass er zuvor nichts dabeigehabt hatte, und der einzige lange schmale Gegenstand, den er auf dem Weg zur Tunnelmündung gefunden haben konnte, war der dicke Ast, den ich dort liegen gelassen hatte. Der Ast, den ich brauchte, wenn ich hier rauskommen wollte.
Langsam. Denk nach. Es muss hier noch etwas anderes geben, das du nehmen kannst.
Mein Blick glitt über die vier Gliedmaßen. Armknochen waren zu kurz. Ein Oberschenkelknochen könnte es tun, aber ich würde zuerst das Fleisch herunterbekommen müssen. Wenn ich nur Dachevs Messer noch gehabt hätte. Ich hätte es mitnehmen sollen. Gedankenlosigkeit. Pure Gedankenlosigkeit; ich war einfach zu sehr daran gewöhnt, mich auf Formeln zu verlassen.
Nach einem Moment des Überlegens schüttelte ich den Kopf.
Ich hatte keine brauchbare Methode, den Knochen freizubekommen.
Entweder, ich versuchte den Block ohne Hebel zu bewegen, oder ich ging tiefer in die Höhle hinein und suchte nach einem geeigneten Werkzeug. Hinter mir hörte ich ein schnatterndes Geräusch von dem Ding auf dem Fußboden, und ich verwarf die zweite Option. Ich würde nichts tun, das mich in näheren Kontakt mit dem Wesen bringen würde, das dies verbrochen hatte. Dafür war ich nicht tapfer genug . . . oder nicht dumm genug.
45
An derTür horchte ich angestrengt auf die schleifenden Schritte, hörte aber nur ihr fernes Echo. Gut. Immerhin wusste ich jetzt, dass er nicht in der Nähe war.
Ich rannte zum Eingang und sprach die Telekineseformel, dann lehnte ich mich gegen den Steinblock und schob. Er rührte sich nicht. Mir wurde klar, dass ich meine Zeit nicht mehr mit niederrangiger Magie verschwenden konnte. Dies würde die stärkste Formel erfordern, die ich kannte, und sie würde meine Kräfte vollkommen erschöpfen. Das bedeutete, wenn sie nicht ausreichte, um diesen Steinblock zu bewegen, dann war ich aufgeschmissen. Ich könnte dem Wesen genauso gut gleich einen Arm hinstrecken, damit er mit dem Rausreißen anfangen konnte.
Oh, jetzt hör schon auf. Dass du keine Formeln mehr zustande bringen wirst, bedeutet ja nicht, dass du wehrlos bist. Wenn er wiederkommt, wirst du das tun, was du in jeder solchen Situation tun würdest. Kämpfen und fliehen, fliehen und kämpfen. Das ist ein Mann. Sonst nichts. Du wirst kämpfen und fliehen und darum beten, dass irgendwer dich aus dieser Hölle rausholt, bevor es zu spät ist.
Nach erfolgter Selbstaufmunterung rieb ich mir mit den Händen übers Gesicht und schüttelte die letzten Reste von Panik ab. Dann legte ich die Hände gegen den Block, stemmte die Füße in den Boden, sprach die Telekineseformel und wuchtete.
Der Block zitterte. Ich schob weiter. Wieder ein Zittern, und dann begann er sich zu bewegen, schob sich langsam aus seiner Mulde nach oben.
Ein Geräusch hinter mir. Ein Aufprall, ein Schleifen.
Eine Tarnformel lag mir auf den Lippen, aber ich schluckte sie hinunter. Wenn ich das Wirken der Telekineseformel unterbrach, würde es mindestens eine Stunde dauern, bis ich es wieder versuchen konnte, und selbst etwas, das so wenig Energie erforderte wie ein Tarnzauber, würde bei meinen erschöpften Kräften jetzt möglicherweise versagen.
Schieb weiter.
Ein Grunzen hallte den Gang hinter mir entlang. Ein anderes Grunzen als das von vorhin. Ein überraschtes Grunzen. Dann wurden die Schritte schneller. Ein begeistertes Aufbrüllen. Er konnte mich sehen. Scheiße! Dreh dich um und renn. Es ist deine einzige Chance.
Nein! Weiterschieben. Stärker. Sprich die Formel noch mal und schieb, als hinge dein Leben davon ab.
Ich schloss die Augen, sprach die Telekineseformel und legte alle verbleibenden Kräfte in einen letzten Stoß. Der Fels zitterte und rollte aus der Mulde. Finger packten mich an der Schulter. Ich fuhr herum und trat blind zu. Ein kurzes Grunzen, als mein Fuß auftraf. Ich warf mich herum in die schmale Öffnung und schob Arme und Oberkörper hindurch. Mit einem Bein schaffte ich es ins Freie, doch dann gruben sich Finger in den anderen Knöchel. Ein fürchterlicher Ruck. Ich flog gegen die Erdwand; jetzt war ich eingeklemmt, mit einem Bein drin und einem draußen. Schmerz jagte durch mich hindurch, als mein Angreifer zerrte und mir fast die Hüfte ausrenkte.
In diesem Augenblick kam mir ungebeten die Möglichkeit in den Sinn, gegen die ich so hart angekämpft hatte. Ich hörte Kristofs Stimme.
Wenn du da drin feststeckst, wirklich feststeckst, dann lässt du mich auch nicht im Stich. Du kämpfst, selbst wenn du dieses verdammte Schwert annehmen musst, um es zu tun.
Ich hatte ihm versprochen, dass ich es tun würde, und ich würde es tun, wenn ich diesen Punkt erreichte. Aber ich hatte ihn noch nicht erreicht. Noch nicht ganz.
Ich hielt mich so still, wie ich konnte, kämpfte den Drang nieder, mich ins Freie zerren zu wollen. Sobald sein Griff sich lockerte, weil er den nächsten Ruck vorbereitete, trat ich zu
kein Versuch, mich loszureißen, sondern ein gezielter Tritt nach ihm. Wieder ein überraschtes Grunzen, und sein Griff wurde noch lockerer. Ich zog das Bein mit einem Ruck zu mir hin, seine Finger rutschten an meinem Knöchel entlang und schlossen sich wieder, als sie meinen Laufschuh fanden.
Noch ein letzter Ruck, und ich hatte den Fuß aus dem Schuh gerissen und segelte mit dem Gesicht voran auf den Waldboden.
Ein Brüllen aus der Höhle. Als ich mich aufrappelte, sah ich seine Arme aus der Öffnung in die Luft greifen, während er versuchte, sich durch die schmale Lücke zu schieben. Ich wartete nicht ab, um zu sehen, ob es ihm gelang. Sobald ich wieder auf den Beinen war, rannte ich los.
Ein paar Minuten lang stürmte ich blind vorwärts; Zweige peitschten mir ins Gesicht, Gestrüpp brachte mich zum Straucheln, während ich mit nur noch einem Schuh voranstolperte und in der Pechschwärze den Weg zu finden versuchte. Als die Höhle allmählich hinter mir zurückblieb, wurde ich etwas langsamer und horchte auf Geräusche von einem Verfolger. Nichts. Auf die Erleichterung folgte augenblicklich ein wortloser Fluch. Was zum Teufel dachte ich mir eigentlich dabei, wie ein panisches Stück Wild durch den Wald zu preschen, hatte ich die anderen denn vollkommen vergessen?
Die sechs oder sieben Killer, die gerade den Wald nach mir absuchten?
Ich blieb stehen, um mich zu orientieren. Ringsum war es still. Einen Moment später schüttelte ich mich, bückte mich und zog den zweiten Schuh aus. Es war einfacher, ohne Schuhe zu rennen als mit nur einem. Ich schob den Schuh unter einen Strauch ich brauchte den Verfolgern ja nicht auch noch Hinweise zu geben. Dann richtete ich mich auf und beschwor eine Lichtkugel. Es geschah gar nichts. War ich so ausgebrannt? Dumme Frage natürlich. Ich wusste, dass meine Kraft zum Formelwirken gründlich erschöpft war. Ich konnte es spüren, wie einen kaum merklichen Puls in meinem Kopf, dort, wo ich normalerweise einen stetigen Strom der Energie fühlte.
Ich schloss die Augen, lehnte mich an einen Baum und wartete. Nach ein paar Minuten versuchte ich es noch einmal. Die Lichtkugel erschien, hielt ein paar Sekunden lang und ging mit einem schwachen Knackgeräusch wieder aus. Ich schluckte ein frustriertes Knurren hinunter und ließ die Schultern kreisen, um mich etwas zu entspannen. Es hatte keinen Zweck, in vollständiger Dunkelheit herumzurennen. Besser war es, auf die Formel zu warten.
Ein Zweig knackte hinter mir. Als ich mich von dem Baum abstieß, grub sich eine scharfe Spitze in meine Schulter, und ich verbiss mir ein Quieken.
»Vielen herzlichen Dank für den Lichtblitz«, flüsterte mir Dachev in das zerrissene Ohr. »Es war wirklich nett von dir, mich wissen zu lassen, wo du steckst.«
Ich trat nach hinten und erwischte ihn am Schienbein. Als er fiel, holte er mit dem Messer aus. Die Steinklinge jagte mir durch den Oberschenkel, und ich stolperte. Er stürzte sich auf mich. Ich drehte mich aus seiner Reichweite, aber er stach wieder zu, und dieses Mal schnitt er mich in die Wade des anderen Beins. Ich versetzte ihm einen Tritt; der Schmerz schoss durch den verletzten Oberschenkelmuskel, aber ich trat mit aller Kraft zu und traf ihn in den Unterleib. Er wurde rückwärts gegen den Baum geschleudert, und das Messer flog ihm aus der Hand.
Ich wollte dieses Messer. Oh Gott, wie sehr ich dieses Messer wollte aber ich wusste, wenn ich es aufzuheben versuchte, würde er sich wieder auf mich stürzen. Also tat ich das Zweitbeste und trat es noch im Fallen aus dem Weg; es segelte in die Dunkelheit.
Als Dachev sich wieder auf mich stürzte, ließ ein Geräusch aus dem Wald mich erstarren. Rennende Schritte. Rennende Schritte mehrerer Leute. Die anderen hatten uns gehört.
In einem Kampf ohne Formeln wäre ich Dachev wahrscheinlich überlegen gewesen. Aber ich war verletzt, und meine Aussichten darauf, es in dieser Verfassung mit Dachev und allen anderen aufnehmen zu können, waren gleich null. Exakt gleich null, und ich war nicht dumm genug, mir etwas anderes einreden zu wollen.
Also rannte ich.
Ich wirkte meine Lichtkugel. Dieses Mal hielt sie so schwach wie eine fast erledigte Taschenlampenbatterie, aber stetig genug, dass ich in dem Licht sehen konnte. Und ja, ich wusste, dass ich Dachev gleichzeitig die Richtung angab, aber darum konnte ich mir jetzt keine Gedanken mehr machen. Wenn ich im dunklen Wald herumgestolpert wäre, wäre ich tot gewesen, sobald die anderen mit ihren Fackeln eintrafen.
Ich brachte es fertig, den Abstand zu halten, aber es war nicht einfach, und ich konnte ihn nicht vergrößern. Ich war barfuß, ich hatte Verletzungen an beiden Beinen, und nur blanke Entschlossenheit machte es mir möglich, überhaupt weiterzurennen. Entschlossenheit und das Wissen darum, was mich erwartete, wenn ich stehen blieb.
Vor mir hörte ich ein Geräusch. Mist! Hatte jemand mir den Weg abgeschnitten? Das Geräusch trieb durch die Nacht zu mir herüber ein leises Gebrabbel. Oh, verdammt noch mal! Der Höhlenmann. Er hatte es also wirklich an dem Block vorbei geschafft. Ich hatte in der Eile den deutlichsten Pfad genommen, den ich fand und der war deshalb so deutlich gewesen, weil ich selbst ihn vorhin gebahnt hatte. Ich war genau zu der verdammten Höhle zurückgerannt. Von allen idiotischen Dingen, die ich heute Abend schon getan hatte, war dies hier wirklich die Krönung.
Halt Moment. Vielleicht war das gar nicht so dumm. Vielleicht war es sogar verdammt klug . . . vollkommen unfreiwillig.
Es war ein Risiko. Ein großes Risiko. Und wenn es danebenging Denk nicht drüber nach. Konzentrier dich auf den Moment.
Ich ermittelte die Richtung, in der das Höhlenmonster sich befand. Irgendwo zu meiner Linken. Dann bog ich in diese Richtung ab.
Ein paar Sekunden später konnte ich die schlurfende Gestalt vor den Bäumen erkennen. Sein Gesicht bildete einen bleichen Fleck in der Dunkelheit, als er mein Licht bemerkte und aufblickte. Dann entdeckte er mich. Seine Augen leuchteten auf, und er trampelte auf mich zu.
Ich sprach den Bindezauber. Er lief weiter. Ich wollte schon ausweichen, als er plötzlich wie festgefroren stehen blieb. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rannte unmittelbar an ihm vorbei, so dicht, dass der Geruch nach faulendem Fleisch mir in die Nase stieg.
Ich stürzte vorbei und lauschte. Hinter mir hörte ich ein Keuchen. Dann einen Fluch und das Geräusch auf dem Waldboden rutschender Füße, die anzuhalten versuchten.
Ich brach den Bindezauber. Der Höhlenmann brüllte. Dachev schrie auf. Und ich rannte weiter. Was in meinem Rücken als Nächstes passierte ich wusste es nicht, und es kümmerte mich auch nicht. Wenn Dachev jetzt das gleiche Schicksal ereilte wie das Ding dort in der Höhle . . . na ja, ich war mir ziemlich sicher, keins seiner Opfer würde die Strafe als unangemessen hart empfinden.
Ich rannte weiter, bis ich mich in dem Dorf wiederfand. Es schien mir der sicherste Ort für mich zu sein, wenn alle Welt draußen im Wald war und nach mir suchte. Ich würde mich einfach hier verstecken und
Ein Messer kam aus der Dunkelheit geflogen und grub sich zwischen meine Rippen. Als ich mich krümmte, sah ich den Messermann aus den Schatten treten. Er lächelte und hob eine weitere Klinge. Ich riss die Erste heraus und wirbelte aus der Wurflinie. Oder zumindest versuchte ich zu wirbeln, aber es endete eher damit, dass ich in einem Halbkreis herumstolperte, auf Beinen, die drauf und dran waren, unter mir nachzugeben, während der neue Schmerz durch mich hindurchjagte. Aber immerhin gelang es mir, dem geworfenen Messer aus dem Weg zu gehen, und nur darauf kam es an.
Der Messermann rannte auf mich zu. Während ich noch versuchte, mein Gleichgewicht zurückzugewinnen, sah ich einen weiteren Mann auf die Straße zurennen Asiate, etwa in meinem Alter, klein und muskulös, moderne Kleidung.
Scheiße, wie viele von denen gab es hier eigentlich?
Der Messermann rammte mir eine Faust seitlich in den Brustkorb. Ich stolperte, fing mich wieder und fuhr herum, das Messer in der Hand. Die Klinge erwischte ihn an der Schulter. Seine Augen wurden weit. Als er nach hinten fiel, war mein erster Gedanke: »Oha, hätte gar nicht gedacht, dass ich ihn so gut getroffen habe.« Dann sah ich eine weitere Klinge im Mondlicht blitzen. Ein Schwert, von unten nach oben geführt, und der Messermann torkelte schreiend zurück.
Mein Blick folgte dem Schwert bis zur Hand des Neuankömmlings.
Er erwiderte meinen Blick und schenkte mir ein breites Lächeln. »Katsuo.«
»Oh, Gott sei Dank«, murmelte ich. »Bitte sag mir, dass du Höllenbann mitgebracht hast.«
Er lachte. »Für zwei.«
Bei dem Geräusch, das vom Ende des Dorfes kam, drehten wir uns um und sahen vier Gestalten auf uns zurennen.
»Und offenbar nicht einen Moment zu früh«, sagte Katsuo.
»Fang.«
Er warf mir die Ampulle zu. Ich fing sie, gerade als der Messermann sich auf die Beine kämpfte. Ich trat ihn wieder nach unten und entkorkte meine Ampulle. Der Vogelmann und der Werwolf stürzten sich von zwei Seiten auf mich.
»Tut mir leid, Jungs«, sagte ich, »aber ich muss jetzt wirklich los.«
Ich schüttete mir den Trank in den Mund.
46
I ch landete wieder in dem kleinen Raum,von dem aus die Tür in die Serienkillerhölle führte. Trsiel wartete dort auf mich. Ich wusste, dass er sich Sorgen gemacht hatte und dass er wissen wollte, was passiert war, aber ich war noch nicht so weit, es ihm zu erzählen. Ich schob mich mit einem gemurmelten
»Hab’s« an ihm vorbei in den nächsten Raum, zu Kristof.
Einen Moment lang stand ich einfach nur in der Tür, und die Beine drohten unter mir nachzugeben. Kristof durchquerte den Raum mit zwei langen Schritten, schloss mich in die Arme und drückte mich an sich. Dann trug er mich ans andere Ende des Zimmers und setzte mich dort auf den Boden.
Ich saß an ihn gedrängt da und schauderte, ohne sprechen zu können. Ich wünschte mir, ich hätte mit einem triumphierenden »Geschafft!« durch die Tür hereinfegen und alles, was passiert war, vergessen können. Aber ich konnte es nicht. Und dies war der eine Ort, von dem ich wusste, dass ich es auch nicht musste, und Kristof der eine Mensch, der mich nicht weniger hoch schätzen würde dafür, dass ich hier saß und zitterte, noch einen Herzschlag davon entfernt, vollkommen zusammenzubrechen und zu heulen wie ein Baby.
Kristof griff nach meiner linken Hand und fuhr mit dem Finger die Messerwunde in der Handfläche nach. Seine Lippen bewegten sich. Ich versuchte zu hören, was er sagte, fing ein paar Worte Griechisch auf und erkannte eine niederrangige Heilformel. Eine Hexenformel, eine der wenigen, die er beherrschte. Ich hatte sie ihm beigebracht, als wir noch zusammen gewesen waren ein Geschenk an seine Söhne, mit dem er ihnen die Schrammen und blauen Flecken der Kindheit leichter machen konnte. Er hatte Schwierigkeiten mit der Formel gehabt, aber nicht lockergelassen, bis er sie vollkommen gemeistert hatte; er hatte härter gearbeitet, als er es jemals für eine Formel getan hätte, die ihm wirklich Macht verlieh.
Als er fertig war, sah er etwas verlegen auf. »Ich nehme an, du bräuchtest etwas Stärkeres.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Nein, das war genau richtig. Danke.«
Ich beugte mich vor und drückte die Lippen auf seine. Ich schloss die Augen, als die Wärme seiner Haut die letzten Spuren der Kälte in mir vertrieb. Ich legte die Hände um sein Gesicht, während ich ihn küsste, und seine Wärme drang durch sie hindurch, beruhigend wie Trsiels heilende Berührung, vielleicht sogar noch mehr.
Er drehte die Hände in mein Haar und erwiderte den Kuss, und ich schmeckte meine eigene Furcht und seine und wusste, wie viel Angst er um mich gehabt hatte. Wie viele Male in meinem Leben hätte ich alles für dies gegeben nach irgendetwas Fürchterlichem nach Hause zu kommen und zu wissen, dass jemand dort wartete. Dass Kris dort wartete.
»Ich muss dies zu Ende bringen«, sagte ich und machte mich weit genug los, um ihn ansehen zu können. »Ich habe Savannah in Gefahr gebracht und muss sie da wieder rausholen. Aber danach muss Schluss sein. Nur diese eine Sache noch, dann ist es vorbei. Ich lasse sie gehen.«
Seine Arme legten sich fester um mich. »Du brauchst sie nicht gehen zu lassen, Eve. Du musst nur etwas Abstand gewinnen, darauf vertrauen, dass sie zurechtkommt, und dich um dich selbst kümmern.«
»Ich weiß.«
Wir blieben noch ein paar Minuten lang sitzen. Dann wurde es Zeit, ihm zu erzählen, was ich herausgefunden hatte, und zu überlegen, was ich als Nächstes tun würde.
Zu diesem Zweck holten wir Trsiel dazu, und Trsiel bestand darauf, mich zu heilen, bevor wir an die Arbeit gingen. Die Schmerzen verschwanden. Das Haar würde nachwachsen. Der ausgeschlagene Zahn nicht. Den Schnitt im Ohr und die anderen offenen Wunden konnte er schließen, aber er warnte mich, dass wahrscheinlich Narben zurückbleiben würden eine Erinnerung an den Preis, den ich beinahe bezahlt hätte.
Während ich ihnen berichtete, wie Dachev die Nixe gefangen hatte, begann Kristof in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen.
»Ich hatte gehofft, dieser Dachev hätte sie sowohl gefunden als auch dingfest gemacht, aber er hat offenbar nur die Umstände genutzt.«
»Und die dürften sehr schwer zu rekonstruieren sein«, sagte ich. »Wir sind in einer ganz ähnlichen Lage wie Dachev. Weitestgehend unfähig, jemanden in der Welt der Lebenden zu töten. Aber genau das müssen wir tun.« Ich warf einen Blick zu Trsiel hinüber. »Nicht Jaime töten aber einen lebensbeendenden Hieb anbringen und sie dann wiederbeleben. Die Frage ist nur wie?«
Trsiel schüttelte langsam den Kopf. »Damit ist das ursprüngliche Problem nicht gelöst. Einen tödlichen Schlag anbringen «
»Und sie wiederbeleben. Wir müssen eine Situation finden, in der sie eine gute Chance hat.«
»Eine gute Chance ist nicht gut genug, Eve. Ganz gleich wie sorgfältig wir dies planen, wir können nicht garantieren, dass sie es überlebt.«
Kristof fuhr zu ihm herum. »Was zum Teufel willst du eigentlich von uns?«
Trsiel trat verwirrt einen Schritt zurück. »Ich habe nicht «
»Du hast absolut nichts getan, Trsiel. Das ist das Problem.
Eve ist gerade in die Hölle und zurück gegangen, um dir diese Information zu bringen. Und jetzt erzählst du ihr, es war alles umsonst?«
»Nein, das sage ich nicht. Ich sage, wenn es eine andere Möglichkeit gibt «
»Es gibt andere Möglichkeiten«, sagte ich. »Natürlich gibt es die. Aber keine davon gibt uns eine bessere Chance, diese Nixe zu erwischen, ohne Jaime umzubringen.«
»Mich brauchst du nicht zu überzeugen, Eve«, sagte Trsiel.
»Ich verstehe. Wirklich. Ich sage nicht, dass ich anderer Ansicht bin. Aber es ist eine Tatsache, dass Jaime unschuldig ist, und deshalb kann ein Engelschwert diesen tödlichen Hieb nicht führen.«
»Aber Eve ist kein Engel«, sagte Kristof.
Trsiel warf die Hände hoch. »Weshalb sie das Schwert nicht mal einsetzen kann!«
»Hast du Dantalians Amulett noch?«, fragte Kristof.
»Das Ding, das eine Seelenübertragung ermöglicht? Ja, aber es funktioniert nur bei « Trsiel unterbrach sich und sah mich an. » jemandem mit Dämonenblut.«
Vor zwei Tagen hätte ich mich noch auf die Gelegenheit gestürzt. Sie war alles, was ich mir gewünscht hatte, alles, von dem ich geträumt hatte. Aber jetzt, nachdem ich meine Entscheidung über mein Leben getroffen hatte, darüber, mich von Savannah zu lösen . . .
Ich sah Kris an, und ich wusste, es ging hier nicht um die Frage, ob ich es riskieren sollte.
Man überprüft seine Schwimmkünste nicht, indem man am flachen Ende bleibt. Kristof musterte mich eine sehr lange Minute lang; dann holte er mich aus dem tiefen Ende des Beckens heraus . . . und ließ mich stattdessen in einen von Haien bevölkerten Ozean fallen.
»Sie sollte in Paiges Körper fahren«, sagte er.
»Moment mal«, sagte Trsiel. »Das ist «
»Es muss Paige sein«, fuhr Kristof fort. »Sie ist an Ort und Stelle. Sie kommt mühelos in die Nähe der Nixe, ohne Verdacht zu erregen. Sie ist eine Hexe, was bedeutet, dass Eve in der Lage sein sollte, ihre eigenen Formelwirkerfähigkeiten durch sie einzusetzen. Und Eve kennt Paige. Gut genug, um Lucas und Savannah eine Weile lang täuschen zu können.« Kris’ Blick hielt meinen fest. »Das wird sie nämlich tun müssen. Sie kann ihnen nicht erzählen, was da los ist.« Ich schluckte.
Dann nickte ich. »Sonst verdreifachen wir die Aussichten darauf, dass einer von uns Mist baut und die Nixe merkt, dass irgendwas nicht stimmt. Ich kann . . . ich kann mich Savannah also nicht zu erkennen geben.«
»Bist du in der Lage, das zu tun, Eve?«, fragte Trsiel leise.
Ich hob das Kinn. »Wenn es bedeutet, sie davor zu bewahren, dass sie ein Leben lang glaubt, Paige und Lucas umgebracht zu haben? Unbedingt.«
∗ ∗ ∗
»Es könnte funktionieren«, sagte die mittlere Parze nachdenklich.
»Könnte?«
»Es gibt viele Variablen zu bedenken, Eve, nicht zuletzt die Gefahr für Jaimes Leben.«
»Wir «
»Ihr werdet alles tun, um sie nicht in Gefahr zu bringen.
Ja, das weiß ich, und ich glaube, dass du dich daran halten wirst. Angesichts der Gefahr, die diese Nixe für die Welt der Lebenden darstellt, haben wir uns darauf geeinigt, dass ein gewisses Risiko für Jaime nicht zu vermeiden ist, sosehr es uns auch zuwider ist. Selbst wenn du nichts tust und die Nixe Lucas und Paige angreift, ist Jaimes Leben in Gefahr, denn wir können davon ausgehen, dass sie sich wehren werden.«
»Gut, dann kann ich also «
»Ein weiteres Problem ist, dass Trsiel möglicherweise nicht in der Lage sein wird, sie einzufangen. Nein, ich bezweifle deine Kompetenz nicht, Trsiel. Aber dies ist kein Fall von dämonischer Besessenheit. Die Nixe hat Jaimes Körper nicht als ein Dämon, sondern als ein Geist in Besitz genommen. Wenn dieser Körper gestorben ist, müsste das Schwert seinen Dienst tun können, aber solange die Nixe zwischen zwei Welten gefangen ist . . . kann es das vielleicht nicht. Kein Engel wurde jemals losgeschickt, um unter solchen Umständen eine Seele zurückzubringen.«
»Dann wissen wir also nicht mit Sicherheit, ob Trsiel die Nixe erwischen wird«, sagte ich. »Aber versuchen können wir es ja trotzdem, oder nicht? Im schlimmsten Fall jagen wir ihr genug Angst ein, dass sie Jaime verlässt. Dann wären Paige, Lucas und Savannah in Sicherheit, und ich mache mich einfach wieder auf die Suche. Wir wären zumindest nicht schlechter dran, als wir waren, bevor sie in Jaime gekrochen ist.«
Die Parze zögerte und antwortete dann mit einem langsamen Nicken.
Als Nächstes beförderten sie Trsiel, Kristof und mich in Paiges Büro, wo Paige gerade dabei war, ihre EMails zu beantworten. Es sah ganz so aus, als würde sie damit noch eine Weile beschäftigt sein.
Wir verabschiedeten uns voneinander. Trsiel versprach, an meiner Seite zu bleiben, wenn ich übergetreten war sich in der Nähe zu halten, jederzeit bereit, dies zu Ende zu bringen.
Dann gab er mir das Amulett und ließ Kristof und mich allein.
Als er fort war, nahm Kristof mir das Amulett aus der Hand und legte mir die Kette um den Hals.
»Steht dir«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Gewöhn dich nur nicht zu sehr dran.«
Ich antwortete mit einem Kuss; meine Hände glitten in sein Haar, und ich ließ die feinen seidigen Strähnen durch die Finger gleiten. Er legte die Arme um mich, so fest, dass ich glaubte, meine Rippen knacken zu hören, und ich drängte mich an ihn, so dicht ich konnte. Nach einer Minute hob er den Kopf.
»Ich gehe davon aus, dass das kein Abschiedskuss ist«, sagte er.
»Du weißt, dass es keiner ist. Ich komme zurück, und wenn ich zurückkomme, dann auf Dauer. Mit beiden Füßen auf dieser Seite.«
Wir küssten uns wieder. »Trsiel wird nicht der Einzige sein, der an deiner Seite ist«, sagte er. »Ich werde nichts tun können, um dir zu helfen. Aber ich werde da sein. Ich werde immer da sein.«
»Ich weiß.« Ich drückte ihm die Hand und berührte dann das Amulett. »Bringen wir’s hinter uns.«
Es gibt viele Methoden, ein Amulett zu aktivieren. Meist ist eine Beschwörung erforderlich, oft eine, die praktischerweise bereits auf dem Amulett steht, so wie es hier der Fall war. Ich spreche Hebräisch einigermaßen fließend, aber beim ersten Mal wusste ich, dass die Formel nicht wirkte. Ich hatte nichts anderes erwartet. Bei einer neuen Formel braucht man mindestens ein paar Übungsdurchgänge, um Rhythmus und Intonation richtig hinzubekommen. Beim vierten Versuch wusste ich, dass beides stimmte. Aber Paige saß immer noch da und tippte.
»Vielleicht muss ich näher ran«, sagte ich, während ich hinter sie trat.
»Es war erst der vierte Versuch. Wenn ich es versuchen würde, wären wir noch den ganzen Tag hier, aber selbst du dürftest noch ein paar «
Kristof verstummte.
»Noch ein paar was?«, fragte ich.
Meine Stimme war in eine dunkle Altlage gerutscht und hatte einen Akzent angenommen, den ich selbst vor mindestens einem Jahrzehnt verloren hatte. Vor mir sah ich eine halbfertige EMailNachricht.
»Heiliger Bimbam«, murmelte ich.
Als ich sprach, spürte ich etwas seltsam Belegtes in meiner Stimme, ein ungewohntes Vibrieren in der Brust. Ich brauchte eine Sekunde, um herauszufinden, was es war, und dann konnte ich mir ein Auflachen nicht verbeißen. Ich atmete. Ich sah auf meine Hände hinunter, die noch auf der Tastatur lagen und auf Anweisungen warteten. Ich sah Finger, die mit Silberringen und einem Trauring aus Weißgold geschmückt waren. Die Nägel waren schmale Viertelmonde praktisch, kurz und unlackiert.
Unten in der Einfahrt sprang ein Motor an. Ich stand auf und wäre fast gefallen, als meine Knie sich im Rocksaum verfingen. Ein Kleid in ALinie aus weichem Baumwollstoff, wunderbar geschnitten und unendlich feminin. Ich lachte wieder.
An Paiges drittem Geburtstag hatte ich ihr einen wirklich entzückenden Jeansoverall geschenkt . . . und ihr entsetzter Gesichtsausdruck war einfach unbezahlbar gewesen. Nach der Party hatte ich den Overall von dem Tisch mit Geschenken genommen und in den Laden zurückgebracht, wo ich ihn gegen einen roten Wollmantel mit einem Webpelzkragen und einem passenden Muff eintauschte, und das hatte mir eine ungestüme Umarmung und ein Grinsen eingebracht, das ich nie vergessen würde.
Ich rannte zum Fenster, eben noch rechtzeitig, um Paiges Auto aus der Einfahrt fahren zu sehen. Den Fahrer konnte ich nicht sehen wahrscheinlich Lucas , aber als die Beifahrerin einen Blick zum Haus zurückwarf, setzte mein Herz einen Schlag aus, und dieses Mal spürte ich es zum ersten Mal in drei Jahren.
»Hi, Baby«, flüsterte ich.
Ich drückte die Fingerspitzen gegen die kühle Scheibe.
Savannah sah auf, als sie die Bewegung bemerkte, spähte durchs Autofenster nach oben, und dann lächelte sie und winkte.
»Endlich allein«, sagte eine Stimme hinter mir.
Zwei Arme legten sich mir um die Taille und schwangen mich hoch.
Ich drehte mich und hatte den rechten Haken schon vorbereitet, als ich den Angreifer sah.
»Lucas«, sagte ich. »Was . . . äh . . . « Ich wand mich aus seinem Griff und trat zurück. »Ich habe gedacht, du bist Schön, dich zu sehen.«
Eine seiner Brauen wölbte sich nach oben. »Es ist auch schön, dich zu sehen.«
»Sorry«, sagte ich mit einem kleinen Lachen. »Du hast mich einfach überrascht. Ich habe nachgedacht.«
Er lehnte sich rückwärts an den Aktenschrank. »Worüber?«
»Äh, alles Mögliche. Arbeit. Langweiliges Zeug.«
Herrgott, war ich klein. Von allen Dingen, die ich mir in diesem Moment hätte überlegen sollen, stand dies wahrscheinlich ganz unten auf der Liste, aber ich konnte nicht anders.
Lucas war nicht größer als ich das wirkliche Ich , aber er war merklich größer als Paige, die es kaum auf eins zweiundsechzig brachte. Die Erfahrung, zu jemandem aufsehen zu müssen, war so verstörend, dass mein Hirn sich an ihr festbiss und nicht loslassen wollte. Und während ich all das dachte, musterte Lucas mich mit einem Blick, der mir mitteilte, dass ich schleunigst etwas tun musste und zwar etwas Paigetypisches.
Ich glitt nach vorn, lächelte und griff nach seiner Hand; dann lehnte ich mich neben ihn an den Aktenschrank, so dass unsere Seiten sich berührten.
»Also «, sagte ich, und dann fiel mir nichts ein, das darauf hätte folgen können.
»Was dieses Geschenk betrifft.«
»Geschenk?«
Er lächelte zu mir herunter. »Das Geschenk, das vergessen zu haben du so entschlossen vorzugeben versuchst.«
»Ah . . . das Geschenk. Das . . . von deiner Reise.«
Er nickte, und ich klopfte mir in Gedanken auf die Schulter.
Lucas brachte Paige immer etwas mit.
»Was ist es also?«, fragte ich.
Er zog wieder eine Braue hoch, ein unmissverständliches
»Und das fragst du noch?«, und ich wusste, dass ich hier sehr schnell an Boden verlor.
»Na ja, lass mich raten.« Ich grinste und trat zurück, wobei ich seine Hand losließ. »Was könnte es sein? Ein Pelzmantel?
Nein. Ein Lamborghini? Nein.«
Er schüttelte den Kopf, ohne zu lächeln. Okay, Scherze würden mich hier nicht retten.
Denk nach was würde Lucas Paige als Geschenk mitbringen ?
»Magie«, sagte ich. »Du hast mir eine, äh, eine Formel oder ein Formelbuch mitgebracht. Stimmt’s?«
Seine Stirn legte sich in Falten.
Ich wusste, dass ich die richtige Antwort gefunden hatte, aber etwas an der Art, wie ich sie angebracht hatte, hatte offenbar nichtgestimmt. Ich griff wieder nach seiner Hand und grinste ihn an.
»Okay, Cortez«, sagte ich. »Schluss mit dem Quatsch, sag mir, was du mir mitgebracht hast. Ist es eine Formel? Eine neue Formel? Was bewirkt sie?«
Er lachte, und ich stieß in Gedanken einen Seufzer der Erleichterung aus.
Nur Paige redete Lucas mit seinem Familiennamen an, und ihre Begeisterung für neue Formeln entsprach meiner eigenen.
»Ich habe dir gestern mitgeteilt, dass ich Option zwölf wähle«, sagte er. »Aber ich habe gelogen.«
»Du . . . wirklich?« Option zwölf? Was zum Teufel war Option zwölf, und was hatte sie mit einer neuen Formel zu tun?
Seine Lippen zuckten und verzogen sich zu einem Grinsen, das seine Augen aufleuchten ließ und ihn beinahe attraktiv machte.
»Ja, ich entschuldige mich für das Manöver, aber der ihm zugrunde liegende Zweck war es, meine wahren Absichten bis zu einem Zeitpunkt geheim zu halten, zu dem wir sie in die Praxis umsetzen können, ohne Unterbrechungen befürchten zu müssen.«
»Und auf Englisch, Cortez?«
Das Grinsen wurde breiter. »Ich wollte abwarten, bis wir allein sind. Die Wahrheit ist nämlich, dass ich mir selbst eine Option habe einfallen lassen.«
Er bemerkte meinen verwirrten Blick und lachte. »Ich weiß, meine bisherigen Bemühungen in dieser Hinsicht waren wenig eindrucksvoll, und ich gestehe, dass mir deine Kreativität in derlei Dingen nach wie vor fehlt. Aber ich glaube, in diesem Fall kann ich Boden gutmachen.« Seine Augen funkelten; das Grinsen wurde geradezu tückisch. »Dieses Mal hatte ich Unterstützung. Präziser gesagt, ich hatte Cinsel Büyücülük.«
»Cinsel Büyücülük? Ist das nicht dieses Sex. . . « Ich ließ seine Hand los und ging auf Abstand. »Verdammt, Lucas, es tut mir so leid. Ich würde wirklich gern, aber . . . « Ich winkte zum Computer hinüber. »Mein EMailOrdner platzt aus allen Nähten. Können wir’s aufschieben?«
Er nickte langsam. »Ich verstehe schon.«
Ich lächelte. »Danke. Das ist wirklich lieb.« Ich drehte mich zum Computer um. »Was meinst du ich erledige noch ein paar von denen, dann mache ich uns Tee, und «
Eine Hand schloss sich um meine Kehle; die Finger gruben sich so hart in die Haut, dass ich keuchte.
»Mach eine Bewegung, und ich zerquetsche dir die Luftröhre«, murmelte Lucas hinter mir, seine Stimme war leise, der Ton vollkommen entspannt. »Du hast zwei Minuten, um mir zu erzählen, was ich wissen will. Fangen wir an mit: Wo ist meine Frau?«
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I ch griff nach Lucas’Hand und versuchte sie fortzuzerren, aber sie rührte sich nicht.
»Was ist heute los mit dir, Cortez?«, keuchte ich.
Sein Tonfall wurde schärfer. »Nenn mich nicht so.«
»Nenn dich ? Lucas. Ich bin’s.«
Der Griff wurde fester.
»Lucas?« Ich versuchte mich zu ihm umzudrehen und sorgte dafür, dass Furcht in meiner Stimme mitklang. »Lucas, bitte.
Du machst mir Angst.«
»Nicht.«
»Lucas? Ich bin’s «
»Nicht!« Er beugte sich über meine Schulter. »Du bist nicht Paige, und je mehr du es zu bestreiten versuchst, desto ärgerlicher werde ich. Also, wer bist du?«
Verdammt noch mal! Ich war noch keine zehn Minuten hier und hatte es schon vermasselt. Ich dachte an Jaimes Hotelzimmer, wo Kristof den Blendwerkzauber der Nixe durchschaut hatte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Er hatte gewusst, dass sie nicht ich war. Wie zum Teufel hatte ich mir also einbilden können, dass ich Lucas in Paiges Körper täuschen könnte?
Ich hatte zwei Möglichkeiten hartnäckig zu bleiben in der Hoffnung, dass er sich irgendwann damit zufriedengeben würde, oder zu gestehen. Der Erfolg der ersten Möglichkeit hing davon ab, wie leichtgläubig Lucas war . . . womit die Entscheidung mir nicht mehr allzu schwerfiel.
»Eve. Eve Levine. Savannahs «
»Ich weiß, wer Eve Levine ist.«
»Stimmt ja, wir sind uns begegnet. Achtundneunzig, neunundneunzig vielleicht. Herrgott, du warst ja praktisch noch ein Junge. Aber Courage hast du gehabt zu mir zu kommen und mir diese Grimorien abnehmen zu wollen. Ich hab das wirklich bewundert. Es hat mich nicht davon abgehalten, dich gründlich in den Arsch zu treten, aber ich hab’s bewundert.«
Seine Hand blieb um meine Kehle geschlossen.
»Hm, also, du erinnerst dich doch da dran, oder?«, fragte ich.
»Ja.«
»Aber du glaubst nicht, dass ich wirklich Eve «
»Nein, das habe ich nie bezweifelt. Und wo ist also Paige?«
Sein Ton war schneidend, so kalt und emotionslos wie am Anfang. Nicht, dass ich erwartet hätte, man würde mir zur Begrüßung um den Hals fallen, aber na ja, ich nehme an, ich hatte irgendwas erwartet. Ich dachte an all die Stunden, die ich in seiner Gegenwart verbracht hatte, all die Gelegenheiten, bei denen ich seine Arbeit verfolgt und ihn in Gedanken sogar angefeuert hatte. Und als wir jetzt da standen mit seiner Hand an meiner Kehle, wurde mir bewusst, wie einseitig diese Beziehung war.
Sein Griff wurde noch fester. »Wo ist Paige? Du magst ja Savannahs Mutter sein, Eve, aber bilde dir nicht ein, dass ich «
»Nicht! Dies ist Paiges Körper. Wenn du mir weh tust, tust du ihr weh. Sie spürt es nicht, aber wenn sie zurückkommt . . .
und sie kommt zurück. Ich verspreche es dir, Lucas. Dies ist nur vorübergehend.«