Diese Frau kratzt sich am ungewaschenen Hinterkopf, der eindeutig der Hinterkopf meiner Mutter sein muss, und fragt: Wer? Und ich wiederhole: Dein Sohn! Und sie wiederholt: Wer? Und ich frage: Hörst du schlecht? Und sie sagt: Sehr gut! Und ich fange von vorne an: Ich bin dein Sohn. Und sie sagt: Woher? Und ich sage: Das wollte ich dich fragen. Und sie sagt: Nicht heute. Und ich sage: Ich bin’s! Und sie sagt: Davon wüsst’ ich. Und ich sage: Kann ich reinkommen? Und sie sagt: Sorry.
Oder: Diese Frau erklärt, dass diese Frau, die meine Mutter sein soll, ihre Schwester war, und dass ihre Schwester nicht mehr ist.
Oder: Diese Frau packt ihre Schrotflinte, als ich mich vorstelle, und schießt mir in die Brust, und ich denke, was soll das denn, und da schießt sie mir in den Kopf.
Oder: Diese Frau schimpft, das sei nun aber allerhöchste Zeit, wo hast du dich denn all die Jahre rumgetrieben, schreit sie, komm schleunigst rein und wasch dir die Hände und dann ab auf dein Zimmer, ohne Essen, Hausarrest!
Oder: Diese Frau schlingt die Arme um mich und sagt, es tue ihr so leid, sie sagt, es sei alles ihre Schuld, aber sie war jung und jetzt ist sie älter, sie sagt, können wir nicht noch mal von vorne anfangen, und ich sage ihr, das tut mir jetzt leid, aber um von vorn anzufangen, bin ich schon zu alt.
Oder: Dieser Frau läuft Sabber aus dem Mund. Sie grinst und findet die Tatsache, dass sie mich gemacht hat, wahnsinnig ambrosisch.
Albert saß auf dem Beifahrersitz und las in seinem Schachnotizheft. Violet steuerte mit der linken Hand. Kurve um Kurve. Ihre Rechte ruhte auf Alberts Oberschenkel. Es störte ihn nicht. Sie waren kurz vor dem Ziel, und was auch immer er von diesem Ziel zu erwarten hatte, es zu erreichen, einen Schlussstrich zu ziehen, war doch grundsätzlich etwas Gutes. Sagte er sich. Dasselbe galt für die Hand von einer Frau wie Violet auf seinem Oberschenkel: grundsätzlich gut.
Ihre Finger bewegten sich fast unmerklich. »Schön, mit dir zu sein«, sagte sie.
Albert warf einen Blick nach hinten. Alfonsa hatte die Augen geschlossen; er glaubte aber nicht, dass sie schlief. Seitdem sie losgefahren waren, verhielt sie sich auffallend zurückhaltend.
Fred dagegen sah aus dem Fenster, seine Augen bewegten sich von links nach rechts, immer wieder von links nach rechts, als würde er in einem der Lexika lesen. Die Welt schieben, so nannte er das. Etwas – einen Straßenpfosten, einen Baum, ein Verkehrsschild – fixieren, es fest im Blick halten und mit den Augen zur Seite schieben. Vielleicht hat er recht, dachte Albert, vielleicht glauben wir alle nur, dass wir uns fortbewegen, und dabei kommen wir überhaupt nicht von der Stelle. Wir schieben bloß das Leben an uns vorbei.
»Danke«, sagte Violet.
»Wofür?«
»Du hast mich da rausgeholt. Das Praktikum bei K&P war die Hölle.« Sie erzählte ihm von ihren Tagen bei der Produktionsfirma und bestätigte damit, was er am Segelflugplatz in ihren Augen gelesen hatte. »Ich weiß noch nicht, was ich jetzt machen will, aber jedenfalls geh ich da nicht mehr hin.«
»Vor ein paar Tagen hast du noch ganz anders geklungen.«
»Was meinst du?«
Nun kniff sie ihm in den Oberschenkel. »Du weißt genau, was ich meine.«
In ihrem Grinsen steckte für Alberts Geschmack zu viel Erwartung. Andererseits war doch auch ein Grinsen grundsätzlich gut. Wieso Fragen stellen und riskieren, die Stimmung zu trüben?
Denselben Gedanken hatte er dreieinhalb Stunden später, auf der durchgelegenen Matratze einer Pension, über deren Vordereingang sich die schwarzen Lettern Gasthof von dem blauen Hintergrund abhoben, als Violet nackt auf ihm saß und ihre Hüften kreisen ließ. Aber eine Frage konnte er dann doch nicht unterdrücken: die nach der hoffentlich nicht vergessenen Pille. Violet lächelte und beugte sich über ihn und leckte seine Oberlippe. Was ihn kaum beruhigte. Vergessene Pillen waren ein nicht ganz unwesentlicher Teil ihrer gemeinsamen Vergangenheit; ebenso wie Kreuz-und-quer-Fahrten durchs bayerische Oberland mitten in der Nacht auf der Suche nach der nächsten Apotheke, die Spätdienst hatte, sowie herablassende Kommentare besserwisserischer Apotheker, denen in ihrem gesamten Leben offenbar noch nie ein Fehler unterlaufen war, und nicht zuletzt eine achtundvierzig Stunden lang unerträgliche, von Übelkeit und Unterbauchschmerzen geplagte, fluchende, schwitzende, seltsam nach Lauch riechende Violet.
Albert packte ihre Schultern. Sie hielt kurz inne und gluckste bloß ein Wort: »Grob!« Dann machte sie umso eifriger weiter. Dunkelblondes Haar kitzelte seine Brust. Ein grundsätzlich weniger gutes Gefühl beschlich ihn. Es war gar nicht so leicht, sich von Violet zu befreien, sie hielt seine Bemühungen für ein Spiel und klammerte sich fest, kicherte »die schönste Hauptsache der Welt« und drückte ihn gegen die Matratze, bis er sie endlich mit Schwung auf den Rücken werfen konnte und aus dem Bett sprang.
»Du hast sie nicht genommen, oder?«
Ihr Grinsen hielt stand. »Albert, beruhig dich.«
»Was?!«
»Hören wir auf mit den Spielchen.«
Albert schlüpfte in seine Boxershorts. »Keine Ahnung, wovon du redest.«
Violet verdrehte die Augen. »Komm einfach wieder ins Bett.« Ihre Stimme wechselte in eine anzügliche Paralleltonart. »Willst du meinen Hinterkopf lesen?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
»Na schön.« Sie streckte sich. Er wusste, dass sie wusste, dass ihm der Anblick gefiel. »Was schlägst du vor?«
»Hast du sie jetzt genommen oder nicht?«
»Wäre es so schlimm, wenn nicht?«
»Sag mal, spinnst du?!«
Nun zuckte ihr Grinsen zum ersten Mal. »Ach komm, langsam wird das lächerlich. Die Wahrheit ist doch, du hast Angst, mich zu verlieren, und ich habe Angst, dich zu verlieren. Wir können uns beide niemand anderen an unserer Seite vorstellen. Wir brauchen einander. Wir lieben uns.«
Und plötzlich, als sie das so deutlich sagte, war Albert klar: Er liebte sie nicht.
Violet interpretierte sein Schweigen als Zustimmung. Ihr Grinsen kehrte hell-weiß zurück. Sie sprang vom Bett und schlang ihre Arme um ihn. Fröhliches Atmen strich sein Ohr. »Natürlich hab ich sie genommen.« Ihr Herzklopfen war deutlich spürbar und ihre Haut viel zu warm. »Aber vielleicht sollte ich das in Zukunft nicht mehr tun?«
Er hätte ihr ehrlich antworten können. Er hätte ihr in diesem Moment gestehen können, dass der bloße Gedanke an eigene Kinder ihm absurd vorkam und er Nachwuchs, in diesem Leben, eindeutig ausschloss. Er hätte sie aufklären können, dass er anders empfand als sie, ja, dass er sich fragte, ob das, was er für sie empfand, nicht einfach das blinde Festklammern einer Zweidrittelwaise an einem Menschen war, dem sie etwas bedeutete. Er hätte darauf eingehen können, wie wenig für ihn nachvollziehbar war, dass sie ihn immer noch wollte. Er hätte diese mehr in Köpfen als in der Realität stattfindende Liebesgeschichte ein für alle Mal beenden können. Aber was tat er?
Albert erwiderte ihre Umarmung.
Das Problem, dachte Albert, wenn jemand einen liebt, wie Violet ihn liebte, ist, dass man immer wieder gedrängt wird zu überlegen, ob man sie nicht auch lieben kann. Und wenn man zu der Feststellung gelangt, sie nicht zu lieben, fragt man sich, ob man sie nicht lieben könnte. Ob nicht bloß ein wenig Einsatz vonnöten ist, ein paar entspannte, gemeinsam verbrachte Tage, offene Gespräche, herzlicher Umgang miteinander.
Sie waren bei Sonnenaufgang aufgebrochen. Violet hatte für beide Zimmer gezahlt, sie hatte ihnen aus einer Bäckerei belegte Mohnsemmeln zum Frühstück besorgt, den Wagen getankt und es nebenbei noch irgendwie hinbekommen, Albert einen Strauß Wiesenblumen zu pflücken, den er nun, festgeschnallt auf dem Beifahrersitz des Beetle, in seiner verschwitzten Hand hielt, erstaunt darüber, wie sicher man sein konnte, jemanden nicht zu lieben, während Fred auf der Rückbank in einer unmöglichen Pose schlief und Alfonsa mit ihrem Walkman Frank Sinatra hörte und Violet zwitscherte: »Die Straße ist ganz frei.«
Hundertvierzig Kilometer lang stellte sich Albert schlafend. Nur so konnte er sich Violets Zugriff ein wenig entziehen. Immer wieder sagte sie seinen Namen und fragte, ob er wach sei. In einem zärtlichen Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er ihre Erwartungen niemals würde erfüllen können. Oder sie streichelte ihm die Wange. Was ihm Gänsehaut bereitete. Er sagte sich, dass die Liebe einer Frau, die er nicht erwiderte, doch immer noch besser war als gar keine Liebe. Aber er konnte daran nichts Tröstliches finden. Nicht an diesem Tag.
Einmal erzählte Violet Fred, früher, bevor sie Albert im Bus begegnet war, habe sie nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, weil sie dachte, man könne doch niemanden lieben, den man nicht kennt. »Jetzt denke ich da anders«, sagte sie. »Vielleicht kann man nur Menschen richtig lieben, die man nicht kennt. Wenn man sie erst einmal kennt, wird alles kompliziert.« Für den Bruchteil einer Sekunde zitterte ihre Stimme. »Sie werden … anders.«
»Ich weiß«, sagte Fred sehr bestimmt; ein klares Zeichen dafür, dass er ihr nicht hatte folgen können.
Alberts Augenlider bewegten sich. Solche Gespräche waren ziemlich genau das Gegenteil von dem, was man hören wollte, wenn man kurz davor stand, nach neunzehn Jahren die eigene Mutter kennenzulernen. Seine Mutter. Was für ein Wort! Es sog alle anderen Gedanken aus seinem Kopf. Albert versuchte, sich zu beruhigen, indem er stumm den Hobbit rezitierte. Bis er zu der Stelle mit dem Drachen kam, der im Berg Erebor lebte. Wenn er wenigstens hätte schlafen können! Es war anstrengender, als er gedacht hatte, die Augen zwei Stunden lang geschlossen zu halten. Sein linkes Bein war eingeschlafen, aber er hielt es für geschickter, seine Position nicht zu verändern, damit seine Tarnung nicht aufflog. Deswegen griff er auch nicht nach dem Schminkklappspiegel. Die Wiesenblumen rochen nach zu viel Wiese. Der Gurt schnitt ihm in den Hals. Und Violet flötete: »Albert, Lieber, bist du wach?«
Mutter. Mutter. Mutter.
Knirschender Kies. Albert blinzelte: die Talstation der Bergbahn, endlich. Sie parkten nahe dem Haupteingang, vor dem sich so wenige Besucher tummelten wie Wolken am Himmel. Trotzdem war es herbstlich-schattig. Albert stieg aus und streckte seine Glieder; er zeigte Fred, wo es zu den Toiletten ging, und sah ihm dann nach, wie er davonstapfte, den zerknitterten Poncho über die Schulter geworfen, den Trachtenhut schief auf dem Kopf.
Alfonsa sagte: »Ich lass euch besser allein«, und verschwand mit einem bedeutsamen Nicken in der Talstation. Ihr schwarzer Schleier, ohne den er sie noch nie gesehen hatte, verhinderte wieder einmal, dass er ihren Hinterkopf lesen konnte.
Violet stellte Freds Rucksack und Alberts Tasche vor ihnen ab. Warf den Kofferraum zu. Sie zückte ihren Geldbeutel, hielt ihm einen Fünfzig-Euro-Schein hin. »Für die Bergbahn.«
»Kommst du nicht mit?«
»Machen wir’s uns nicht schwerer, als es ist.«
»Wovon redest du?«
»Kapierst du nicht sonst immer alles?«
Sie steckte das Geld in seine Hosentasche.
»Du …?«
»Genau.«
»Warum hast du uns dann hergebracht?«
»Hätte ich euch auf die Straße setzen sollen?«
»Du hast bloß so getan?«
»Haben wir das nicht beide?« Sie sah ihn an, traurig und konzentriert, und da wurde ihm bewusst, so sah man jemanden nur an, wenn man ihn zum letzten Mal ansah. »Ich habe es versucht, ich wollte uns nicht einfach aufgeben. Aber ich weiß jetzt, ich liebe dich nicht, ich liebe das, was wir mal hatten. Und ich glaube, so geht’s dir auch. Als du mich gestern Abend umarmt hast, hab ich gespürt, wie schwer das für dich war.«
Albert wollte etwas sagen, aber sie war noch nicht fertig.
»Ich dachte, das mit uns ist bloß eine Frage der Zeit, ich dachte, wenn ich dir Raum gebe und die Kamera weglasse, hätten wir eine Chance. Und für eine kurze Weile lief es doch auch ganz gut, oder? Nur«, sagte sie, »nur sind Menschen eben nicht dafür geschaffen, lange und glücklich zusammen zu sein. Entweder das eine oder das andere.« Violet lächelte müde. »Mach dir jedenfalls keine Sorgen. Wegen mir. Ich komme klar. Ist ja nicht das Ende der Dinge. Ist es nicht.«
Es war lächerlich, aber ein Teil von ihm wünschte sich, sie hätte das alles nicht gesagt. Er wollte sich nicht hier und nicht jetzt verabschieden, ihm ging das zu schnell, er suchte nach einem Einwand, einer Lösung, irgendetwas musste her, das ihm Zeit verschaffen konnte, und er verwarf ein Wort nach dem anderen. Angst. Mutter. Erwartung. Neugier. Gefahr. Fred. Belastung. Tod. Verwirrung. Alleinsein. Angst. Keins passte richtig, nicht einmal eine Kombination drückte aus, was er wollte: dass sie blieb, und dass sie ging, und dass er sie und sie ihn liebte, gleichermaßen, und dass sie sich auf etwas freuen konnten, und dass sie einander nie begegnet wären.
»Albert, eine Sache noch – und das hat nichts mit uns zu tun: Wenn ihr wollt, dann bringe ich euch zurück. Aber nur, wenn wir sofort losfahren.«
»Bevor« – seine Stimme war fast weg, er räusperte sich – »bevor ich mit ihr gesprochen habe?«
»Wenn du mich fragst, solltest du sie vergessen und Fred nehmen und abhauen und die Zeit genießen, die euch bleibt. Mir ist klar, wie utopisch das klingt, aber glaub mir, ich weiß, wie das ist, wenn man einer Sache nachjagt, die gar nicht mehr existiert. Darin bin ich sozusagen Expertin. Mach nicht den gleichen Fehler. Du bedeutest dieser Frau nichts. Sonst hättest du längst von ihr gehört. Sie ist nicht dein Problem. Vergiss sie und kümmer dich um dein Leben. Und um das von Fred. Ihr könnt noch ein paar gute Wochen zusammen haben. Dafür musst du jetzt nur die Beifahrertür öffnen und einsteigen.«