Vierundzwanzigstes Kapitel Herr Knorr hat Hühneraugen – Die Tagespost sucht tüchtige Leute – Lernt schwimmen!

Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro von Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht. Fabian fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten zu vergeben hätte.

»Geh doch mal zu Holzapfel«, meinte Wenzkat. »Der ist in der Tagespost.«

»Was treibt er denn dort?«

»Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Musikkritiken. Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag abend. Auf Wiedersehen.«

Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die Altstadt zu Holzapfel, der sei bei der Tagespost Redakteur. Vielleicht könne ihm der behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. »Das wäre sehr schön, mein Junge«, sagte sie. »Geh mit Gott!«

Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve, mit einem baumlangen Herrn. Sie sahen einander mißgelaunt an. »Wir kennen uns doch«, meinte der Herr und streckte die Hand hin. Es war ein gewisser Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener Einjährigen-Kompagnie oblegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge er von Tod und Teufel Tantieme.

»Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg«, sagte Fabian, »oder ich spuck Ihnen drauf.«

Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstgemeinten Rat und lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. »Was hab ich Ihnen denn getan?« fragte er, obwohl er das wußte.

»Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt Eine herunterhauen«, sagte Fabian. »Da ich aber nicht bis zu Ihrer geschätzten Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behelfen.« Und damit trat er Herrn Knorr derartig auf die Hühneraugen, daß der die Lippen zusammenpreßte und ganz blaß wurde. Die Umstehenden lachten, Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs.

 

Holzapfel, der Klassenkamerad von einst, wirkte außerordentlich erwachsen, trank Flaschenbier und versah ein paar Bürstenabzüge mit Hieroglyphen. »Setz dich, Jakob«, sagte er. »Ich muß die Vorschau fürs Rennen korrigieren, und einen Sammelbericht über Klavierkonzerte. Lange nicht gesehen. Wo hast du gesteckt? Berlin, wie? Ich führe gern mal wieder hinüber. Man kommt nicht dazu. Dauernd viel zu tun und dauernd Bier. Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß, die Kinder werden immer älter, die Freundinnen werden immer jünger, wenn das mal keine Lungenentzündung gibt.« Während er so vor sich hinfaselte, korrigierte und trank er ruhig weiter. »Koppel hat sich scheiden lassen, er kam dahinter, daß ihn seine Frau mit zwei Anderen betrog. Er war ja immer schon ein guter Mathematiker. Bretschneider hat die Apotheke verkauft und sich eine Klitsche angeschafft. Er züchtet rote Grütze und Salzkartoffeln, jedem für sein Geld, was ihm schmeckt. So, die Klavierkonzerte können warten.« Er klingelte nach dem Boten und schickte die Fahne mit der Rennvorschau in die Setzerei. Dann erzählte Fabian, daß er eine Stellung suche, zuletzt habe er Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon Alles gleich. Hauptsache, er finde hier in der Stadt ein Unterkommen.

»Von Musik verstehst du nichts. Vom Boxen auch nicht«, stellte Holzapfel fest, »vielleicht kann man dich im Feuilleton brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches.« Er hängte sich ans Telefon und sprach mit dem Direktor. »Geh mal hin zu dem Kerl«, schlug er vor. »Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig.«

Fabian bedankte sich, erinnerte den Andern an die Klassenzusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. »Doktor Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?« fragte der Direktor. »Sie haben Literaturgeschichte studiert? Augenblicklich ist keine Stellung frei. Doch das besagt nichts. Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer brauchen. Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache Sie mit dem Feuilletonchef bekannt. Wenn der Ihre Beiträge ablehnt, haben Sie Pech gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter willkommen.« Er wollte auf die Klingel drücken.

»Einen Moment, Herr Direktor«, sagte Fabian. »Ich danke Ihnen für die Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist arbeiten. Man könnte beispielsweise eine Beratungsstelle für Inserenten einrichten, der Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen und eventuell ganze Werbefeldzüge organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und systematische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompagnie mit Großinserenten, lohnende Preisausschreiben durchführen. Man könnte für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten.«

Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Unsere Großaktionäre sind nicht für Berliner Methoden.«

»Aber die Herren sind dafür, daß die Auflagenhöhe des Blattes wächst!«

»Nicht mit Hilfe von Fisematenten«, erklärte der Direktor. »Immerhin, ich werde mit unserem Insertionschef sprechen. In bescheidener Dosierung sollte man vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die Dauer nicht völlig werden entziehen können. Kommen Sie morgen um Elf wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten mit. Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager haben.«

Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse.

»Wenn wir Sie engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld.«

»Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig.

»Nein«, sagte der Direktor, »für die Aktionäre.«

 

Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so sehr betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zwei Hundertmarkscheinen im Monat, Tag für Tag chloroformieren?

Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches Glied der Gesellschaft wurde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer nicht die Hauptsache.

Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der »Tagespost« unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterkriechen. Zum Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzgebirge hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und die armen geduckten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen.

Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangekommen, oder zwei Schritte zurück. Wohin sie sich auch drehte, jede andere Lage war richtiger als die gegenwärtige. Jede andere Situation war für ihn aussichtsreicher, ob es Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr daneben stehen wie das Kind beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er zupacken und mit wem sollte er sich verbinden? Er wollte die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen.

Er trat aus dem Café. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im Welttheater?

 

Er blieb an Geschäften stehen, er sah Kleider, Hüte und Ringe, und er sah doch nichts. An einem Korsettgeschäft kam er wieder zu sich. Das Leben war eine der interessantesten Beschäftigungen, trotz alledem. Die Barockgebäude der Schloßstraße standen noch immer. Die Erbauer und die ersten Mieter waren lange tot. Ein Glück, daß es nicht umgekehrt war.

Fabian ging über die Brücke.

Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen Brückengeländer balancierte.

Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte.

Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus, sank in die Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer hinunter in den Fluß.

Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten sich um. Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hinterher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die Fahrgäste sprangen vom Wagen und beobachteten, was geschah. Am Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wider.

Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.

Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.