Und hier stand der Name – der Name, der auf dem Stammbaum in Wates Landing fehlte: Ethan Carter Wate. Warum hatten die Schwestern einen anderen Familienstammbaum als wir? Und es gab keinen Zweifel, welcher Stammbaum der richtige war. Ich hielt den Beweis in Händen, eingewickelt in das Taschentuch einer Wahrsagerin, die vor hundertundfünfzig Jahren gelebt hatte.

»Warum steht der Name nicht in unserem Stammbaum zu Hause?«

»Die meisten Stammbäume hier im Süden lügen, ich bin eher überrascht, dass er es überhaupt in einen Stammbaum der Wates geschafft hat«, sagte Tante Grace und klappte das Album so energisch zu, dass eine Staubwolke in die Luft stob.

»Nur meinen hervorragenden Aufzeichnungen ist es zu verdanken, dass er wenigstens in diesem Stammbaum auftaucht.« Tante Prue lächelte stolz, dass man beide Reihen ihrer künstlichen Zähne sehen konnte.

Ich musste das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema lenken. »Warum taucht er in keinem Familienstammbaum auf, Tante Prue?«

»Weil er ein Deserteur war.«

Ich verstand nicht. »Was meinst du mit Deserteur?«

»Grundgütiger, was bringt man euch jungen Leuten heutzutage in diesen seltsamen Highschools eigentlich bei?« Tante Grace war damit beschäftigt, alle Salzbrezeln aus der Snacktüte zu klauben.

»Deserteure. Soldaten der Konföderierten, die General Lee während des Kriegs davongelaufen sind.« Ich musste verständnislos geschaut haben, denn Tante Prue fühlte sich bemüßigt, noch weiter auszuholen. »Im Krieg gab es zwei Arten von Soldaten bei den Konföderierten. Diejenigen, die die Sache der Konföderation unterstützten, und diejenigen, die sich nur zum Kriegsdienst meldeten, weil ihre Familie es von ihnen erwartete.« Tante Prue stand auf und ging zur Anrichte, lief dort auf und ab wie ein Geschichtslehrer während des Unterrichts.

»Im Jahre 1865 war Lees Armee geschlagen, sie hungerte und war hoffnungslos unterlegen. Manche sagen, die Aufständischen glaubten nicht mehr an ihre Sache, also machten sie sich auf und davon und verließen ihre Regimenter. Ethan Carter Wate war einer von ihnen. Er war ein Deserteur.« Alle drei senkten den Kopf, als wäre die Schande immer noch zu groß für sie.

»Heißt das, man hat ihn aus dem Stammbaum unserer Familie getilgt, weil er nicht verhungern und einen aussichtslosen Krieg für die falsche Sache kämpfen wollte?«

»Wenn du es so ausdrücken willst.«

»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.«

Tante Grace sprang von ihrem Stuhl hoch, wie nur eine über neunzigjährige Frau von ihrem Stuhl hochspringen kann. »Werde nicht frech, Ethan. Er wurde aus dem Stammbaum gestrichen, da waren wir noch gar nicht auf der Welt.«

»Es tut mir leid, Ma’am.« Sie strich ihr Kleid glatt und setzte sich wieder hin. »Aber warum haben meine Eltern mich nach einem Ururururgroßonkel genannt, der Schande über die Familie gebracht hat?«

»Nun ja, deine Mutter und dein Vater hatten so ihre eigenen Ansichten über das Ganze, wegen der vielen Bücher, die sie über den Krieg gelesen haben. Sie waren ja schon immer sehr liberal. Wer weiß, was sie sich dabei gedacht haben. Da musst du schon deinen Vater fragen.«

Als ob der es mir erzählen würde. Aber nach allem, was ich über die Einstellung meiner Eltern wusste, war meine Mutter wahrscheinlich ziemlich stolz gewesen auf Ethan Carter Wate. Und das Gleiche galt für mich. Ich strich mit der Hand über die verblasste braune Seite in Tante Prues Album.

»Und was ist mit den Initialen GKD? Ich glaube, das G steht für Genevieve«, sagte ich, obwohl ich es ja schon wusste.

»GKD. Hast du dich nicht einmal mit einem Jungen getroffen, dessen Initialen GD waren, Mercy?«

»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Kannst du dich an einen GD erinnern, Grace?«

»GDGD? Nein, nicht dass ich wüsste …« Jetzt war es vorbei mit ihrer Aufmerksamkeit.

»Du liebe Güte. Schaut mal auf die Uhr, ihr Lieben. Es ist Zeit, in die Kirche zu gehen«, sagte Tante Mercy.

Tante Grace wedelte mit der Hand Richtung Garagentor. »Ethan, sei ein guter Junge und hol schon mal den Cadillac, hörst du? Wir müssen uns noch zurechtmachen.«

Ich fuhr sie vier Straßen weiter zur Nachmittagsandacht in die Evangelical Missionary Baptist Church und schob Tante Mercy in ihrem Rollstuhl den geschotterten Weg bis zur Kirche hoch. Dafür brauchte ich länger als für die gesamte Fahrt, denn alle paar Schritte sank der Rollstuhl in den Schotter ein, und ich musste ihn von einer Seite auf die andere Seite schaukeln, um die Räder wieder freizubekommen. Beinahe hätte ich ihn dabei umgekippt und meine Großtante in den Dreck katapultiert. Als der Prediger die dritte Dame Zeugnis ablegen ließ, die schwor, dass Jesus ihre Rosensträucher vom Japankäfer und ihre gut gepolsterten Hände vor der Arthritis errettet habe, schaltete ich geistig ab. Ich spielte mit dem Medaillon in meiner Hosentasche. Warum hatte es uns diese Vision gezeigt? Und warum hatte es beim zweiten Mal nicht mehr funktioniert?

Ethan, hör auf damit. Du weißt nicht, was du tust.

Lena war wieder in meinem Kopf.

Leg es weg!

Der Raum um mich löste sich auf, und ich spürte, wie Lenas Finger die meinen berührten, als stünde sie direkt neben mir …

Der Anblick des brennenden Greenbrier traf Genevieve völlig unvorbereitet. Die Flammen fraßen sich an den Seitenmauern hoch, fraßen die hölzerne Brüstung und verschlangen die Veranda. Soldaten schleppten alte Möbel und Gemälde aus dem Haus, sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Diebe. Wo waren nur die anderen? Hatten sie sich wie sie in den Wäldern versteckt? Blätter raschelten. Sie spürte, dass jemand hinter ihr war, aber ehe sie sich umdrehen konnte, hielt ihr eine schmutzige Hand schon den Mund zu. Mit beiden Händen packte sie die Handgelenke dieses Menschen und wollte sich dem Griff entziehen.

»Genevieve, ich bin es.« Er lockerte seinen Griff.

»Was machst du hier? Ist alles in Ordnung mit dir?« Genevieve umarmte stürmisch den Soldaten, von dessen einstmals stolzer grauer Uniform nur noch Fetzen übrig waren.

»Mit mir ist alles in Ordnung, Liebste«, erwiderte Ethan, aber sie wusste, dass er log.

»Ich dachte, du bist vielleicht …«

Ethan hatte sich freiwillig gemeldet und Genevieve während der letzten zwei Jahre, als die Sache noch gut stand, regelmäßig geschrieben, aber seit der Schlacht von Wilderness hatte sie keinen Brief mehr von ihm erhalten. Genevieve wusste, dass viele Männer, die mit General Lee in die Schlacht gezogen waren, nie aus Virginia zurückgekommen waren. Sie hatte sich damit abgefunden, als alte Jungfer zu sterben. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie Ethan verloren hatte. Dass er noch am Leben war, hier vor ihr stand in dieser Nacht, das überstieg fast ihre Vorstellungskraft.

»Wo sind die anderen aus deinem Regiment?«

»Als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, standen sie vor den Toren von Summit.«

»Was meinst du mit zum letzten Mal? Sind sie etwa alle tot?«

»Ich weiß es nicht. Als ich ging, waren sie noch am Leben.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich bin desertiert, Genevieve. Ich konnte keinen Tag länger für eine Sache kämpfen, an die ich nicht glaube. Nicht nach all dem, was ich gesehen habe. Die meisten der Burschen, mit denen ich zusammen gekämpft habe, wussten nicht einmal, worum es in diesem Krieg geht. Sie vergießen ihr Blut für Baumwolle und sonst gar nichts.«

Ethan nahm ihre kalten Hände in die seinen, die von Wunden übersät waren. »Ich verstehe es, wenn du mich jetzt nicht mehr heiraten willst. Ich habe kein Geld und jetzt habe ich auch keine Ehre mehr.«

»Mir ist es gleich, ob du Geld hast, Ethan Carter Wate. Du bist der ehrenhafteste Mann, den ich jemals kennengelernt habe. Und es ist mir ganz egal, wenn mein Vater glaubt, dass die Unterschiede zwischen uns beiden unüberbrückbar sind. Er irrt. Du bist jetzt wieder zu Hause und wir beide werden heiraten.«

Genevieve klammerte sich an ihn, als fürchtete sie, er könne sich in Luft auflösen, wenn sie ihn losließ. Aber der Gestank holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Der widerliche Gestank nach verbrannten Zitronen, der Gestank nach ihrem Leben, das soeben verbrannte. »Wir müssen zum Fluss hinunter. Dorthin würde Mama gehen. Nach Süden, wo Tante Marguerite wohnt.« Aber Ethan hatte keine Zeit mehr zu antworten. Jemand kam. Äste knackten, als bahne sich jemand seinen Weg durchs Gebüsch.

»Stell dich hinter mich«, befahl Ethan und stieß mit einem Arm Genevieve hinter sich, mit dem anderen griff er nach seinem Gewehr. Das Gebüsch teilte sich, und Ivy, die Köchin von Greenbrier, kam zum Vorschein. Sie trug nur ein Nachthemd, das rauchgeschwärzt war. Als sie die Uniform erblickte, schrie sie auf; sie war so ängstlich, dass sie gar nicht bemerkte, welche Farbe die Uniform hatte: Sie war grau, nicht blau.

»Ivy, ist alles in Ordnung mit dir?« Genevieve lief auf die alte Frau zu, die schon am Hinfallen war, und stützte sie.

»Miss Genevieve, was in aller Welt treibt Ihr hier draußen?«

»Ich wollte nach Greenbrier. Ich wollte euch alle warnen.«

»Dafür ist es schon zu spät, mein Kind, Ihr hättet ohnehin nichts mehr ausgerichtet. Die Blauen haben die Tür aufgebrochen und sind ins Haus eingedrungen, als wäre es ihr eigenes. Sie haben sich kurz umgesehen, was sie alles mitnehmen könnten, und dann haben sie Feuer gelegt.« Man konnte ihre Worte kaum verstehen. Sie war völlig außer sich, und immer wieder schüttelte sie ein Hustenanfall, Rauch und Tränen erstickten die alte Frau beinahe.

»In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Teufel wie diese gesehen. Ein Haus niederzubrennen, in dem Frauen sind. Sie alle werden dereinst Gott dem Allmächtigen im Jenseits Rede und Antwort stehen müssen.« Ivy versagte die Stimme.

»Was willst du damit sagen? Sie haben ein Haus niedergebrannt, in dem noch Frauen waren?«

»Es tut mir so leid, Kind.«

Genevieve spürte, wie ihre Beine nachgaben. Sie sank in den Schlamm, der Regen rann über ihr Gesicht und mischte sich mit ihren Tränen. Ihre Mutter, ihre Schwester, Greenbrier – alles war nicht mehr.

Genevieve blickte zum Himmel empor.

»Gott ist derjenige, der mir eine Antwort schuldet.«

Die Vision spuckte uns so schnell aus, wie sie uns verschlungen hatte. Ich sah vor mir den Prediger und Lena war nicht mehr da. Ich spürte, wie sie mir entglitt.

Lena?

Sie gab keine Antwort. Ich saß in der Kirche, mit kaltem Schweiß bedeckt, eingeklemmt zwischen Tante Mercy und Tante Grace, die gerade in ihren Portemonnaies nach Kleingeld für den Klingelbeutel suchten.

Ein Haus niederzubrennen, in dem Frauen waren, ein Haus, das von Zitronenbäumen gesäumt war. Ein Haus, in dem – jede Wette – Genevieve ihr Medaillon verloren hatte. Ein Medaillon, in dem Lenas Geburtstag eingraviert worden war, allerdings schon vor über hundert Jahren. Kein Wunder, dass Lena diese Visionen nicht sehen wollte. Allmählich war ich der gleichen Meinung wie sie.

Es gab keine Zufälle.