Die vier Männer, die ihn bewachen sollen, beachten ihn gar nicht. Sie trinken und rauchen und lachen und spielen Karten.
Tokala rührt sich nicht, er bewegt keinen Muskel, in seiner Miene können sie keine Gefühlsregung lesen. Mit starrem Gesicht sitzt er da, auch in Gefangenschaft die Würde bewahrend wie seine großen Vorbilder.
Nun haben sie ihn also doch gefasst. Er hat immer gerechnet damit, seit jenem Tag, an dem er den bösen Mann am Kleinen See getötet hat. Wie viele Jahre sind ins Land gegangen seither? Und sie haben ihn all die Zeit nicht geholt, sie haben nicht einmal nach ihm gesucht, sind seinen Wäldern ferngeblieben wie in den Jahren zuvor. Obwohl er gegen die Abmachung verstoßen und sich in ihre Welt eingemischt hat.
Er hat erwartet, dass die Männer aus dem Dorf und aus der Stadt ihn eines Tages holen würden, doch dann waren es diese Soldaten in den fremden Uniformen, die plötzlich überall in den Wäldern herumliefen, denen er in die Hände gefallen ist. Und sie behandeln ihn wie einen Mörder, obwohl sie nicht wissen können, dass er getötet hat.
All die Jahre hat Tokala sich gehasst dafür, dass er Niyaha Lutas Tod nicht verhindert hat. Das Platschen, das ihre zappelnden Beine und Arme im seichten Uferwasser hervorrufen, er kann es noch heute hören. Kann sehen, wie der böse Mann sie unter Wasser drückt, immer wieder, und auf ihr herumrutscht …
Nie hätte Tokala gedacht, ihn einmal wiederzusehen, aber dann stand der böse Mann eines Tages wieder am Kleinen See, viele Jahre nach jenem Sommertag, an dem er Niyaha Luta getötet hatte, und Tokala harrte in seinem Versteck aus, in demselben Busch, in dem er Jahre zuvor alles beobachtet hatte. Der böse Mann war dicker geworden, aber Tokala hatte ihn sofort erkannt und blieb in seinem Versteck. Beobachtete, wie der böse Mann am Ufer stand. Beobachtete alles.
Wie der andere aus dem Wald stürzte und dem bösen Mann etwas in den Hals rammte, kein Messer, einen gläsernen Pfeil. Wie der böse Mann zusammensackte, gleich darauf, in die Knie ging und von dem anderen ins Wasser gezogen wurde. Wie dann der Polizist auftauchte, der beinahe im Moor verreckt wäre.
Tokala hat nicht verstanden, warum die Männer sich gestritten haben, sich plötzlich am Boden wälzten. Hat nur beobachtet, wie der böse Mann auf einmal aufstand aus dem Wasser, den anderen niederschlug und den Polizisten mit einer Pistole bedrohte.
Und Tokala hat gespürt, wie das Gefühl der Ohnmacht sich wieder ausbreitete in ihm.
Das Böse wollte davonkommen. Schon wieder.
Doch diesmal wollte Tokala das nicht zulassen, und er hat in seinen Köcher gegriffen; er konnte nicht anders, obwohl er wusste, dass die Pfeile ihn verraten würden, obwohl er wusste, dass sie dann kommen und ihn holen würden, die Polizisten, die Leute aus der Stadt.
Aber es musste sein, und so hat er es getan.
Und hat nicht verstanden, was dann passierte. Dass der Polizist die Pfeile aus dem Toten gezogen und sie weit in den See hinausgeworfen hat, wo sie versanken. Dass er die Pistole genommen und zweimal geschossen hat, in die blutigen Höhlen, in denen kurz zuvor noch Tokalas Pfeile steckten. In den Hals und ins linke Auge.
Tokala hat nicht verstanden und schließlich hat er sich zurückgezogen in den Wald. Hat mit Odakota da gesessen und darauf gewartet, dass sie ihn holen kommen, aber sie sind nicht gekommen. Keine Polizei, kein Mensch hat nach ihm gesucht, und so hat er sich nach einer Weile wieder hervorgewagt.
In der Stadt hatten bald darauf Fahnen an den Häusern gehangen, rot und weiß mit schwarzen Hakenkreuzen, und Tokala sah Männer in Uniform, so viele Uniformen, mehr als jemals unter dem Kaiser. Die Zeiten hatten sich geändert, und alle sollten es sehen. Selbst ein Mann, der mitten im Moor hauste, konnte merken, dass sich etwas geändert hatte.
Winchinchala schrieb nicht mehr und legte keine Bücher mehr für ihn bereit, und Tokala suchte nach ihr und fand ihr Grab unten am See. Einmal noch kam er in die Stadt und brachte ihr Blumen aus dem Moor und ist seither nie wieder zu den Menschen gegangen, nicht einmal um Bücher zu holen.
Und dann, die Uniformen hatten nicht getrogen, war wieder ein Krieg übers Land gekommen. Tokala hatte geglaubt, der ginge ihn nichts an, genauso wie der erste Krieg, in dem er den Soldaten in seinen Wäldern ebenso aus dem Weg gegangen war wie allen übrigen Menschen. Sein Versteck haben sie nicht gefunden, niemand kannte den Weg mitten ins Moor, wo seine Hütte steht, niemand außer ihm und Odakota, seinem schwarzen Hundefreund.
Es musste ein zweiter Krieg kommen und neue Soldaten, um ihn doch zu erwischen. Er war zu unvorsichtig. Er hatte gedacht, der Krieg sei vorbei, weil das Schießen aufgehört hatte. Und vielleicht war er das auch. Aber die Soldaten waren noch da.
Und so haben sie ihn aufgegriffen.
Es müssen Russen sein, er kann sie leidlich verstehen. Sie wissen nicht, was sie mit ihm anfangen sollen, das hat er wohl gemerkt. Beinah hätten sie ihn erschossen, einfach so, im letzten Moment hat ein Offizier dem Mann mit dem wilden Gesicht und den Schlitzaugen, der ihn aufgestöbert hatte, den Lauf des Maschinengewehrs zur Seite gedrückt, sodass die Salve mit dumpfem Plätschern vom Moor verschluckt wurde.
Tokala hatte die Augen bereits geschlossen in Erwartung des Todes, doch sie haben ihn nicht erlöst, sie haben ihm das Schlimmste angetan, was man ihm antun kann. Sie haben ihn eingesperrt.
Es sind böse Männer, sie haben Odakota erschossen, vor seinen Augen, und er konnte sich nicht wehren, weil er an einen Stuhl gefesselt da saß und den Tod seines geliebten Tieres mit ansehen musste. Er hat an seinen Fesseln gezerrt, doch hat sein Aufbäumen nur dazu geführt, dass er mitsamt dem Stuhl umgekippt ist, zum grölenden Vergnügen der umstehenden Soldaten.
Sie haben ihn hungern und dursten lassen und haben ihn geschlagen, sie haben ihm den Schlaf geraubt und ihn stundenlang im kalten Wasser stehen lassen, weil sie etwas hören wollten, Antworten auf ihre Fragen, die er nicht verstand.
Ein Spion solle er sein, ein Einzelkämpfer, ein Werwolf, alles Mögliche haben sie ihm angeboten, zu dem er hätte Ja sagen können. Auf Russisch, Polnisch, Deutsch haben sie mit ihm gesprochen, und er hat in allen drei Sprachen geschwiegen. Er hat kein Wort gesprochen und alle Qualen stumm ertragen wie ein Mann. Kein Laut des Schmerzes, der über seine Lippen drang.
Und nun haben sie ihn in diese Blechkiste geschafft, die sich mit dröhnendem Lärm in die Lüfte erhoben hat, kaum hatten sie ihn auf diesen Sitz geworfen mit dem zerschlissenen Lederpolster. Zu Spezialisten wollen sie ihn bringen nach Moskau, so hat der Offizier es ihm erzählt, der auch Deutsch sprach, sehr gutes Deutsch, die würden schon aus ihm herausbringen, was er für einer wäre.
Was er für einer wäre.
So einen wie ihn scheinen sie noch nie gesehen zu haben.
Er sitzt am Fenster in der leicht wackelnden Maschine, lauscht dem gleichförmigen Summen und Dröhnen und schaut hinaus, sieht das Land unter sich, die Wälder und Seen, das Land seiner Vorfahren, und sieht, wie schön es ist. Und wird plötzlich erfasst von einer grenzenlosen Liebe zu seiner Heimat. Er hat das Land immer geliebt, aber nie hat er das so klar und deutlich gespürt wie jetzt.
Und er weiß plötzlich, was zu tun ist, weiß, wie er seine Freiheit zurückerlangen kann.
Er schaut sich um. Vier Soldaten sitzen mit ihm in der Kabine, sie rauchen und spielen Karten, sie achten nicht auf ihn, sie glauben ihn sicher, hier oben in der Luft.
Er ist immer noch gefesselt, aber nur an den Armen, die sie ihm vor der Brust gebunden haben, damit er sitzen kann.
Der Türriegel, er hat gesehen, wie er funktioniert, wie sie ihn geschlossen haben, vorhin. Er ist immer noch Tokala, der Fuchs. Er ist schlau. Er ist geschickt. Und er ist schnell.
Es sind nur zwei, drei Schritte, dann steht er an der Tür, zieht den Riegel mit beiden Händen zurück, die Tür fliegt beinah von alleine auf.
Mit einem Mal brüllt es laut in die Maschine, ein wilderer Lärm als das stumpfe Dröhnen, dem sie bislang ausgesetzt waren, der Wind greift in ihre Metallschale und zerrt an seinen Kleidern.
Waziyata.
Der Nordwind selbst will seinen Sohn zu sich hinausholen.
Tokala hört es hinter sich rufen und blickt sich um. Der Wind hat die Spielkarten vom Tisch gefegt und lässt sie durch die Kabine wirbeln, die Männer sind aufgesprungen. Tokala sieht die Angst in den Gesichtern der Soldaten. Vier Maschinengewehre auf ihn gerichtet. Vier Männer rufen. Er soll von der Tür zurücktreten, soll sich auf den Boden werfen, doch er gehorcht nicht. Einer legt an und wiederholt seine Drohung, er werde schießen. Panik spricht aus seiner Stimme.
Tokala weiß, dass der Mann nicht schießen wird, er weiß, dass sie ihn nicht an der Flucht hindern können. Er muss gar nichts tun, er lässt sich einfach nach vorne kippen. Und dann spürt er, wie Waziyata ihn packt und an seine Brust drückt.
Für einen Moment verschlägt es ihm den Atem, das Tosen und Brausen so laut in seinen Ohren, dass keine anderen Geräusche mehr zu ihm dringen, auch nicht das Dröhnen des Flugzeugs.
Er hatte die Augen geschlossen, als er sich dem Wind hingab, doch jetzt öffnet er sie und sieht die Seen und Wälder, die sein Leben waren, immer näher kommen.
Und dann weiß er, dass er zu den Auserwählten gehört, denen das Glück vergönnt ist, kurz vor ihrem Tod die Größe und Schönheit der Schöpfung zu sehen, sie nicht nur zu sehen, sie zu spüren am ganzen Leib und mit der ganzen Seele und sie zu erkennen, und in ihrer Schönheit und Größe die eigene Unwichtigkeit und Kleinheit. Und dieses Erkennen beruhigt ihn, wie ihn noch nie zuvor etwas beruhigt hat, nicht einmal der Atem seiner Mutter, als er noch ein Säugling war: das Erkennen, wie klitzeklein er doch ist und wie hässlich und dass das egal ist, weil er doch trotz allem ein Teil dieser allumfassenden Schönheit und Größe ist.
Das denkt und fühlt und weiß er, und mit einem Lächeln im Gesicht und dem Wind in seinem Haar schlägt er auf dem eisenharten Wasser eines einsamen Waldsees auf.
Und das ist der Moment, in dem er seinen neuen Namen erhält.
Mitakuye Oyasin.
Ich bin mit allem verwandt.