27
GERÄUSCHE VON REGEN, Straßenverkehr und Donner.
Zu regelmäßigen Pieptönen schlage ich die Augen auf und stelle fest, dass ich schon wieder Drähte im Unterarm habe. Aber dies ist nicht der Keller. Ich bin mir sicher, das Fenster dort ist kein Hologramm.
Linden schaut mich an. Sein trüber Blick ist auf das Fernsehgerät gerichtet, das ganz hoch über dem Fußende meines Bettes an der Wand festgeschraubt ist. Sein weiches Kinn ist von Bartstoppeln gesprenkelt, seine Haut ist blass. Ich weiß nicht, wie lange ich schon in diesem Bett liege, aber ich glaube kaum, dass er in dieser Zeit geschlafen hat.
Ohne mich anzusehen sagt er: »Du weißt, wo du bist?«
»In einem der Krankenhäuser deines Vaters«, rate ich.
»Und der Monat?«, fragt er müde. »Weißt du, welcher Monat jetzt ist?«
»Nein.«
Er schaut mich an, und ich warte immerzu darauf, dass sein Gesicht sich albtraumhaft verzerrt, aber das tut es nicht. In seinen Augen ist nur dieser welke, schläfrige Ausdruck. Und Distanz.
»Sie haben dich für verrückt gehalten«, sagt er. »So wie du geschrien hast. Und wegen der Sachen, die du gesagt hast. Glaubst du immer noch, dass Leichen in der Deckenverkleidung sind?«
»Das habe ich gesagt?«
»Unter anderem.«
Ich sehe mir die Deckenverkleidung an. Ganz gewöhnlich und weiß. Ich warte auf das Geräusch, das Rose macht, wenn sie durch die Luftschächte kriecht, aber da ist nichts. »Nein«, sage ich.
»Und du hast noch etwas anderes gesagt«, erzählt Linden mir. »Du hast gesagt, du hättest was im Bein, das rausmüsste.«
»Ein Peilsender«, sage ich. Wenigstens das ist real, das weiß ich. Oder etwa nicht? Ich versuche immer noch, diese wiedergefundene Klarheit zu begreifen. Ich hatte mich so an eine Welt gewöhnt, in der alles zum Albtraum wurde. Noch immer erwarte ich, dass Linden das Fleisch vom Schädel tropft. Ich blinzele andauernd und er runzelt die Stirn darüber. »Dein Vater hat mir einen Peilsender ins Bein gesetzt, damit er mich wiederfindet, falls es mir gelingen sollte wegzulaufen.«
Linden nickt und schaut in seinen Schoß. »Das sagtest du bereits.« Ich weiß nicht, ob er wütend auf mich ist oder verletzt. Ich kann es nicht deuten. Aber aus seinem Gesicht ist die übliche Sanftheit verschwunden, und ich weiß, was immer er auch fühlen mag, er ist nicht zufrieden mit mir. Vorüber sind die Tage seiner blinden Zärtlichkeiten. Die habe ich ihm in der Nacht, in der ich weggelaufen bin, vor die Füße geworfen. Eigentlich weiß ich nicht einmal, warum er hier ist, aber ich habe Angst, etwas zu sagen, das ihm einen Anlass geben könnte zu gehen.
»Ich dachte, du hättest Halluzinationen, als du davon geredet hast«, sagt er. »Dein Fieber war … gefährlich hoch. Ich war überzeugt davon, dass du dir das alles eingebildet hättest …« Er beendet den Satz nicht.
»Keine Ahnung, wie viel davon echt war«, gebe ich zu. »Doch der Peilsender war es, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Sie haben ihn gefunden«, sagt er und schaut auf seine Finger, die Muster auf seinen Schenkel zeichnen. Er trägt einen Schlafanzug, und wenn ich mich daran zurückerinnere, wie er im Keller in der Tür stand, hat er den da auch getragen. Cecily war im Nachthemd. Mein blutiger Zusammenstoß mit dem zerbrochenen Wasserkrug muss alle aus dem Bett geholt haben. »Er war erbsengroß«, sagt er. »So was habe ich noch nie gesehen.«
»Damit hat mich dein Vater bis nach Manhattan verfolgen können«, sage ich.
Linden schaut zu mir auf. Seine Augen sind die strahlendere, freundlichere Version der Augen seines Vaters.
»Da bist du also hingegangen«, sagt er und schaut weg. Nach einer langen Pause fragt er: »Warum?«
»Da bin ich zu Hause«, sage ich. Oder: Da war ich zu Hause. In diesem verkohlten Haus habe ich jetzt nichts mehr verloren.
Linden steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus in den Sturzregen. Ich kann sein Spiegelbild so gerade eben in der Fensterscheibe erkennen und er beobachtet meines auch. Vielleicht, weil er es nicht aushält, mich direkt anzusehen. Das mache ich ihm nicht zum Vorwurf. Für meinen Verrat sollte er mich hassen, und ich sehe, dass er mit diesem Gefühl zu kämpfen hat, denn Hass war nie ein Teil seines Wesens. Damals, als wir frisch verheiratet waren, hatte ich ihn für den herzlosesten, hassenswertesten Mann gehalten, dem ich je begegnet war – doch er war ein Gefangener, genau wie ich.
Wo Vaughn mich in Mauern eingesperrt hat, hat er seinen Sohn in Unwissenheit gefangen gehalten.
»Linden …«
Er hebt den Kopf.
Ich will etwas sagen und mache den Mund auf, aber es kommt nichts. Und als ich mich mühsam aufsetze, beobachtet er mich, ohne zu helfen oder ermutigende Worte zu murmeln. Vorüber sind die Tage, in denen ich seiner Liebe sicher sein konnte. Wo einst diese Liebe war, ist nun Leere. Linden hatte mich nicht aufgegeben, das war ein Irrtum, er hätte mich seinem Vater nicht als Versuchskaninchen überlassen. Aber nicht weil er mich noch irgendwie lieben würde, sondern weil er gütig und mitfühlend ist.
»Du solltest dich weiter ausruhen«, sagt er. »Du bist noch nicht wieder völlig gesund.«
Ich schaffe es, mich an das Kopfende des Bettes zu lehnen, und plötzlich sehe ich doppelt. Wenn ich den Blick auf den Fernsehschirm richte, wird es besser. Der Ton ist leise gestellt, aber ich sehe, dass über die zunehmende Windstärke in den Küstenregionen berichtet wird. Vielleicht wird es noch einen Hurrikan geben.
»Ich kann nicht hierbleiben. Ich muss nach Hause.«
»Mein Vater wird dich nicht holen kommen«, sagt Linden mit einem Anflug von Ungeduld. »Das lasse ich nicht zu, okay? Du brauchst Ruhe.«
»Du verstehst das nicht. Da sind Leute, die mich vermissen werden. Sie werden mich für tot halten.«
»Oh, ja«, sagt Linden. »Dieser Diener.«
Und ganz plötzlich verkehrt sich seine vorsichtige Höflichkeit ins Hässliche. Linden hat das Recht, unglücklich zu sein, aber ich auch. Er hat Besseres verdient, als verlassen zu werden, aber ich habe nie darum gebeten, seine Braut zu werden.
»Oh, ja«, ich äffe seinen Ton nach, »dieser Diener. Unter anderen.«
»Was hast du vor?« Er lässt sich neben mir auf einen Stuhl fallen. »Willst du zu Fuß die Ostküste hochlaufen?«
»Nicht so überheblich, Linden«, sage ich. »Du hast ja keine Ahnung, was ich tun kann oder nicht.«
Er lacht trocken und mustert die Bodenfliesen. »Da hast du recht.« Er ist verletzt. Und er weiß nicht, was er mit sich anfangen soll. Ich beobachte, wie unruhig seine Hände im Schoß liegen. Wir schrecklich muss es für ihn sein, dieses neue Bild von seinem Vater zu erfassen. Und dieses neue Bild von mir.
»Weißt du überhaupt, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat?«, fragt er.
»Ich habe alle verloren, die ich geliebt habe«, sage ich. Ich warte, bis er mich anschaut, dann füge ich hinzu: »An dem Tag, an dem ich dir begegnet bin.«
Sobald ich diese Worte ausgesprochen habe, tut es mir leid. Linden rückt auf dem Stuhl herum, wendet den Blick ab und stellt keine weiteren Fragen.
Linden schläft auf dem Sessel neben meinem Bett, als ich das nächste Mal aufwache. Auf seinem Schoß liegt ein Notizbuch, und ich kann die Umrisse eines Gebäudes ausmachen, das er angefangen hat zu zeichnen. Noten einer Partitur strömen aus den Fenstern, Straßen, wie sie auf Landkarten gezeichnet werden, und Telefondrähte.
Ich frage mich, wie lange er schon hier ist. Ich frage mich, warum er bleibt.
Mein Kopf ist völlig ausgedörrt, und dieses Mal mache ich mir nicht die Mühe, mich aufzurichten. Stattdessen bleibe ich im Krankenhausbett liegen und starre auf das stumm geschaltete Fernsehgerät. Es läuft irgendeine Sendung über Kleinkinder, die Überschrift lautet: Arzt hat mutmaßlich Virussymptome dupliziert.
Das holt mich augenblicklich aus meinem umnebelten Zustand. In diesem Beitrag geht es um Vaughn. Die Nachrichtensprecherin mit ihrem fröhlichen jungen Gesicht und dem vom Wind zerzausten blonden Haar kann sich nicht vorstellen, zu welch furchtbaren Extremen dieser Arzt bereit war, diesen Holocaust von Bräuten, Bediensteten und Säuglingen. All diese Dinge waren in die hinterste Ecke meines Unterbewusstseins gerückt, als ich das erste Mal in diesem Krankenhaus aufgewacht war. Ich hatte nur den dumpfen Eindruck gehabt, dass irgendwas nicht stimmte. Aber ich war zu überwältigt von allem gewesen, zu beschäftigt damit, herauszufinden, was Wirklichkeit war, um mich eingehender damit zu befassen.
»Cecily«, platzt es aus mir heraus.
Lindens Augenbrauen ziehen sich zusammen, als er meine Stimme hört.
»Linden. Wach auf.«
Er atmet scharf ein und ist sofort hellwach. »Was? Was ist denn los?«
Ich setze mich mühsam auf und dieses Mal hilft er mir und steckt mir Kissen in den Rücken.
Ich lasse alles heraus, an das ich mich erinnern kann, dabei halte ich mich nicht damit auf, das, was ganz bestimmt wahr ist, von dem zu trennen, was eventuell Einbildung sein könnte. Deidre, gealtert und zerbrechlich, das Opfer von Vaughns Unternehmungen. Lydia tot. Rose, die durch die Luftschächte kriecht. Cecily, die in den Keller schleicht, um mich zu besuchen, und ihre albtraumhaften Schreie. Als ich dann alles erzählt habe, rast mein Puls, und Linden gibt mir die Anweisung, in tiefen Zügen zu atmen. Dann schaut er mich an, als hätte ich wieder den Verstand verloren.
»Cecily wird es dir erzählen«, sage ich. »Sie war dabei. Ich bin sicher, dass sie da war. Wahrscheinlich weiß sie viel mehr als ich.«
»Ja, und sie hätte es mir sagen sollen«, erwidert Linden. »Sie hat es erst getan, als es fast schon zu spät war. Und zur rechten Zeit werde ich mich um sie kümmern, aber du musst dich jetzt erst einmal beruhigen, sonst wirst du wieder krank.«
Ich schüttele den Kopf. »Das kann nicht warten.« Ich bettele. »Du musst Cecily aus diesem Haus rausholen. Sie darf nicht mit deinem Vater allein gelassen werden.«
Linden spricht langsam und ganz deutlich. Er versucht mich zu beruhigen. »Ich werde nicht rechtfertigen, was mein Vater getan hat. Er hätte dich beinahe umgebracht. Er hat mir nicht erzählt, dass du wieder da bist. Wahrscheinlich wusste er, dass ich ihm niemals gestattet hätte, ohne Einwilligung der Person Tests durchzuführen.« Da haben wir es. Cecily hat mich angelogen. Sie hatte Linden gar nicht gesagt, dass ich im Keller war. Von Vaughn hatte ich nichts anderes erwartet, aber vielleicht hatte ich meine Schwesterfrau falsch eingeschätzt. Es wäre nicht ihre erste Täuschung. Und es ist der Beweis dafür, dass Vaughn sie noch immer in den Klauen hat.
»Er ist zu weit gegangen«, fährt Linden fort. »Manchmal ist ihm nicht klar, wie gefährlich seine Behandlungsmethoden sein können. Wenn er mir davon erzählt hätte, ich hätte niemals eingewilligt …«
»Du weißt ja gar nicht, was dein Vater dir alles verschweigt, Linden.« Frustriert presse ich meine Hände zusammen. Linden macht den Mund auf, er will etwas sagen, aber er hält inne und schaut auf meinen Ehering. »In diesem Haus ist niemand sicher!«
»Du fantasierst noch immer«, sagt er.
»Dein Vater ist ein Ungeheuer«, zische ich – und Linden zuckt tatsächlich zusammen. Er steht auf und tritt einen Schritt zurück.
»Ich hole einen Arzt«, sagt er. »Du wirst hysterisch.« Er geht auf die Tür zu, sein ängstlicher Blick haftet an mir, als ob ich ihn gleich anfallen würde. Noch nie hat er meine Wut gesehen, noch nie so richtig. Ich habe sie immer für mich behalten, damit ich sein Vertrauen gewinnen konnte. Aber jetzt habe ich nichts mehr zu verlieren und all diese Monate des Schweigens brechen aus mir heraus.
»Er hat Jenna getötet«, schreie ich. »Fast hätte er mich getötet. Wie kannst du da glauben, dass Cecily in Sicherheit ist? Er hat Roses Leiche im Keller aufbewahrt. Ich hab es gesehen! Das mit der Asche war gelogen …«
»Das reicht!«, brüllt Linden – und weil es von ihm kommt, ist das so erschreckend, dass ich den Mund zumache. »Wag es ja nicht«, knurrt er. »Wag es ja nicht, Rose mit in diese Sache hineinzuziehen. Niemals. Du weißt gar nichts über sie. Oder meinen Vater. Welches Recht hast du, all diese Sachen zu mir zu sagen?«
Er zittert und ich zittere, Tränen steigen ihm in die Augen. Er schaut mich mit solcher Wut und solchem Schmerz an, dass ich mich selbst für das hasse, was ich nun sage: »Linden, er hat dein Kind getötet.«
Lindens Gesicht verändert sich sofort, er wird ganz weiß. Sein Gesichtsausdruck hat etwas Zurückhaltendes, Abweisendes, und seine Stimme bricht, als er sagt: »Unmöglich. Bowen geht es bestens.«
»Nicht Bowen«, sage ich. »Dein anderes Kind. Deine Tochter.«
Tut mir leid, Deidre, das war dein Geheimnis, und ich habe dir geschworen, es für mich zu behalten. Aber es zu erzählen könnte die einzige Rettung sein.
»Ich weiß, dass Rose ein Baby hatte.« Ich rede weiter, angetrieben von einer schrecklichen Dynamik. Auf Lindens Gesicht spiegeln sich Schmerz und alle Varianten von Erstaunen, das Bild verändert sich andauernd. »Das Baby ist gestorben. Dein Vater hat es mitgenommen und gesagt, es sei eine Totgeburt. Aber es hat geschrien. Es ist lebend geboren worden.«
»Hat Rose dir das erzählt?« Linden klingt atemlos. »Sie war nicht bei Sinnen vor Schmerz. Sie konnte nicht akzeptieren, was geschehen war.«
»Zu mir hat Rose nie ein Wort darüber gesagt. Das schwöre ich. Ich hab es erst erfahren, als sie schon von uns gegangen war.«
Linden geht im Raum auf und ab, er atmet hastig, ballt die Fäuste, löst sie wieder. So habe ich ihn noch nie gesehen.
»Bitte, Linden«, sage ich leise. »Ich weiß, du hast allen Grund, mir nicht zu trauen, aber das ist die Wahrheit. Dein Vater ist gefährlich.«
»Warum?«
»Er hat deine Tochter umgebracht, weil sie missgebildet war«, sage ich.
»Nein. Ich meine, warum sagst du so was? Ich …« Er schüttelt den Kopf, sichtlich angewidert von mir. »Warum bist du so …« Er knirscht mit den Zähnen und kann sich nicht dazu überwinden, mich anzusehen. Seine Stimme wird immer leiser, als er weiterspricht: »So schrecklich. Du bist schrecklich.«
Als er auf mein Bett zukommt, strecke ich den Arm aus und will ihn berühren, aber ich überlege es mir anders und lasse es sein.
»Jedes Wort, das aus deinem Mund gekommen ist«, keucht er, »war eine Lüge. So ist es doch, oder?«
»Nein«, sage ich leise. »Nicht alles.«
»Was ist mit deinem Namen?«, fragt er. »Heißt du überhaupt Rhine?«
Ich weiß, ich habe sein Misstrauen verdient, und ich kann sehen, wie er kämpft und sich gegen die Instinkte wehrt, die ihn ein Jahr lang dazu verleitet haben, mir zu glauben. »Ja«, sage ich.
»Wie kann ich dir glauben?«, fragt er. »Wie kannst du von mir erwarten, dass ich dir glaube? Bei dir kann ich doch nie wissen, ob irgendetwas stimmt.«
»Linden«, sage ich, »mein Name ist Rhine.« Mit Nachdruck füge ich noch hinzu: »Ellery. Ich bin gegen meinen Willen dazu gezwungen worden, dich zu heiraten. In unserer Ehe habe ich versucht, mich zu befreien, damit ich nach Hause gehen konnte. Jenna wollte mir helfen, und dein Vater wusste das, als er sie umgebracht hat. Er hat deine Tochter getötet und dir erzählt, es wäre eine Totgeburt gewesen. Cecily ist in Gefahr, wenn sie allein mit ihm ist. Ich sag dir die Wahrheit.«
Meine Stimme ist ruhig, vernünftig, und Linden hält beim Zuhören den Atem an. Dann starrt er mich an, sein Blick ist plötzlich getrübt, seine Augen farblos. Er ist blass, wirkt mitgenommen. Und sein Mund zuckt, so als wollte er schluchzen oder mir Fürchterliches an den Kopf werfen – und mein ganzer Körper schmerzt vor Sehnsucht. Das ist ein alter Impuls aus all den Nächten, die wir zusammen verbracht haben. In so vielen davon haben wir unsere jeweiligen Verluste betrauert. Ich will ihn in den Armen halten. Aber ich wage nicht, es zu versuchen.
Und nach ein paar Momenten des Haareraufens und schweren Atmens nimmt mein früherer Ehemann die Nachrichten auf, die ich ihm mitgeteilt habe, dreht sich um und geht.
»Ist Cecily dir denn gleichgültig?«, frage ich. »Wenn es um Rose ginge, würdest du zurückgehen, das weiß ich.«
Sobald ich es ausgesprochen habe, fürchte ich, ihn wütend gemacht zu haben. Aber sein Gesicht nimmt einen distanzierten Ausdruck an, sein Ton ist sachlich. »Ich liebe Cecily«, sagt Linden. »Ob du es glaubst oder nicht. Nicht so, wie ich Rose geliebt habe oder dich. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Ich habe alle meine Frauen auf andere Art geliebt.«
»Jenna nicht«, verbessere ich ihn.
»Glaub nicht, du wüsstest etwas über meine Beziehung zu Jenna«, sagt er. »Es gibt Dinge, die du nicht von ihr weißt. Oder von uns.«
Das ist wahr. Jenna hatte eine Menge Geheimnisse, sie konnte Fragen ausweichen, lächeln, wenn sie voller Hass war. Die ganze Wahrheit über sie habe ich nicht gekannt, aber ich war mir sicher, dass zwischen ihr und Linden nichts war. Sie hatte ihm nie ganz verziehen, dass sie dazu ausgewählt worden war, mit ihm zu leben, während ihre Schwestern getötet worden waren.
»Wir hatten eine Vereinbarung«, fährt Linden fort. Seine Stimme ist sanfter, vielleicht, weil er weiß, dass mein Schmerz über den Verlust meiner ältesten Schwesterfrau noch immer frisch ist.
Ich behalte meine Stimme unter Kontrolle und mache den Rücken gerade. »Was meinst du damit?«
»Ich habe Rose sterben sehen. Sie war so voller Leben, und dann, eines Morgens, war ihre Haut mit blauen Flecken übersät. Sie konnte kaum noch atmen und hat aufgeschrien, wenn ich sie berührt habe.«
»Was …« Meine Stimme versagt. »Was hat das mit Jenna zu tun?«
»Jenna wusste, dass sie sterben würde«, erklärt er. »Sie hat nicht geglaubt, dass sie je ein Gegenmittel zu sehen bekommen würde. Und im tiefsten Inneren habe ich das auch nicht geglaubt. Nicht nach dem, was ich gesehen hatte. Also haben wir eine Vereinbarung getroffen: Wenn wir zusammen waren, würden wir weder fühlen noch denken. Auf gewisse Weise hat uns das eine Zeit lang vor der Einsamkeit bewahrt.«
Das war es, was Jenna am besten konnte, oder nicht? Einem Mann das Gefühl der Einsamkeit so lange nehmen, wie er für ihre Gesellschaft bezahlen konnte. Es gibt Tausende solcher Mädchen, ich habe sie in Scharen aus Madames Zelten kommen sehen, die Gesichter angemalt wie Porzellanpuppen. Ich habe gehört, wie die Münzen ins Glas klimperten, wenn die Männer kamen und gingen. Aber es hat nur eine Jenna gegeben, wild und lieb, wunderschön und trügerisch. Das Mädchen, das Linden kannte, ist nicht das Mädchen, das ich gekannt habe. Ihre Abwesenheit spüre ich immer noch ebenso stark wie früher ihre Gegenwart. Ich sehe ihre Gestalt immer noch in den Wolken, wenn das Tageslicht hindurchbricht.
Ich räuspere mich und schaue in meinen Schoß. »Wenn du sie so gut kennst, dann weißt du, dass sie mir recht geben würde. Dein Vater sollte nicht mit den Bräuten allein gelassen werden, die du so sehr zu lieben behauptest.«
»Ja, nun«, sagt Linden auf dem Weg zur Tür, »zynisch war sie immer. Du brauchst deine Ruhe, ich schaue später nach dir.«
Er knallt die Tür nicht hinter sich zu, aber irgendwie fühlt es sich so an.
Ich sinke in die Kissen, mir ist ganz schlecht vor Schuldgefühlen. In den vielen Monaten unserer Ehe habe ich Linden davon abgehalten, mich kennenzulernen. Ich habe gelogen, ich habe manipuliert. Aber ich habe ihn sehr gut kennengelernt. Ein Jahr nach Roses Tod bringt er es immer noch kaum fertig, ihren Namen auszusprechen, und noch weniger will er hören, dass sein Vater nach wie vor mit ihrem Körper herumexperimentiert. Und ich hatte nie vorgehabt, ihm zu erzählen, dass Vaughn das einzige Kind ermordet hat, das Rose ihm geschenkt hat. Das Kind könnte immer noch hier sein, missgebildet, aber lebendig.
Es ist wahr, dass Linden keinen Grund hat, mir zu glauben. Aber ich habe den Glauben in seinen Augen gesehen. Jetzt kann er mich nicht mal anschauen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Deidre und wer weiß wie viele andere noch sterbend, vielleicht tot, in diesem Keller eingesperrt sind. Und Cecily, die sich so sehr bemüht, die Erwachsene zu spielen, hat keine Ahnung, in welcher Gefahr sie sich befindet. Von all dem ist Linden geschockt, und ganz ehrlich, warum sollte er das auch nicht sein? Ich denke an den Moment zurück, als ich von Roses Baby erfahren habe – wie benommen und angeekelt ich war. Ich hätte mir gewünscht, es Linden mitfühlender beibringen zu können, aber es ist etwas, mit dem man herausplatzen muss. Es gibt keine freundliche Art, so etwas mitzuteilen.
Die Drähte in meinem Arm fesseln mich ans Bett, ich kann nichts anderes tun als warten. Selbst wenn ich aufstehen und Linden finden könnte, wäre er nicht in der Verfassung, mir zuzuhören. Wenn er mich nicht dafür gehasst hat, weggelaufen zu sein, hasst er mich mit Sicherheit für das, was ich eben gesagt habe. Doch wenigstens bin ich mir sicher, dass kein noch so großer Hass ihn dazu bringen würde, seinen Vater in meine Nähe zu lassen. Er wird wiederkommen, oder er wird die Ärzte anweisen, mich zu entlassen.
Tonlos laufen Bilder über den Fernsehschirm. Triste Seitenstraßen, Kraterlandschaften mit Gebäuden, die vage Häusern ähneln. Nach einer Explosion, die gerade erst stattgefunden hat, ist die Luft aschgrau. Die fröhliche junge Nachrichtensprecherin geht rückwärts und plappert dabei in ein Mikrofon. Ich erkenne sie als die Korrespondentin für nationale Angelegenheiten wieder, dieser spezielle Beitrag wird in jedem Staat ausgestrahlt. Die Überschrift lautet: Naturalistische Rebellen bekämpfen Gegenmittelforschung.
Die Nachrichtensprecherin bückt sich. Sie ist zu sauber und ordentlich für so einen hässlichen Ort. Ihre Strümpfe haben eine Laufmasche und ihre roten Pumps sind mittlerweile mit Matsch bedeckt. Sie hält das Mikrofon einer Gruppe junger Männer und Frauen hin, die am Straßenrand sitzt. Die Leute sehen dreckig und erschöpft aus, aber sie brennen darauf, etwas zu sagen.
Einer von ihnen nimmt ihr das Mikrofon aus der Hand und spricht so wütend, dass sie zurückweicht. Die Kamera richtet sich auf ihn, das verfilzte Haar, die blutige Wange. Doch seine Augen leuchten und sind voller Eifer. Und wenn diese Augen nicht wären, hätte ich ihn überhaupt nicht wiedererkannt. Denn sie sind genau wie meine. Ich mache den Mund auf, will etwas sagen, und nur ein Schrei kommt heraus. Ich halte mir den Mund zu und warte, bis die Freude, die Angst und der Schock fassbar werden, dann versuche ich es noch einmal.
»Rowan.«