XIX
Die monströse Stadt
Béziers und Carcassonne, August-September 1844
Bisweilen verglich Flora ihre Reise durch den Südosten Frankreichs mit der Reise von Vergil und Dante durch die Hölle, denn es gab auf ihrer Route immer eine Stadt, die noch schmutziger, häßlicher und niederträchtiger war als die anderen zuvor. Im abscheulichen Béziers zum Beispiel, wo sie im unerträglichen Hôtel des Postes übernachtete, in dem nicht einer der Kellner, nicht einmal der maître, Französisch sprach, nur Okzitanisch, erhielt sie keine Erlaubnis, in irgendeiner Fabrik oder Werkstatt eine Versammlung abzuhalten. Unternehmer und Arbeiter versperrten ihr sämtliche Türen aus Angst vor der Obrigkeit. Und die einzigen acht Arbeiter, die bereit waren, mit ihr zu sprechen, taten es unter so vielen Vorsichtsmaßnahmen – sie kamen nachts ins Hotel, durch die Hintertür – und hatten so große Angst, ihre Arbeit zu verlieren, daß Flora nicht einmal versuchte, ihnen den Vorschlag zu machen, sie sollten ein Komitee der Arbeiterunion gründen.
Sie hielt sich nur zwei Tage in Béziers auf, die letzten Augusttage 1844. Als sie das Postschiff nach Carcassonne bestieg, hatte sie das Gefühl, einem Gefängnis entronnen zu sein. Um nicht seekrank zu werden, blieb sie an Deck, unter den Passagieren, die keine Kabine hatten. Dort provozierte sie einen fast mit Prügeln endenden Streit zwischen einem spahi, einem gerade aus Algerien heimgekehrten Kolonialsoldaten, und einem jungen Mann der Handelsmarine, die auf ihre Aufforderung hin die Frage erörtert hatten, welches der beiden Gewerbe nützlicher sei für die Gesellschaft. Der Seemann erklärte, Schiffe würden Passagiere und Waren transportieren und damit den Handel fördern; wozu aber dienten die Soldaten, außer zum Töten? Der spahi zeigte empört seine Narben und erwiderte, die Armee habe gerade für Frankreich in Nordafrika eine Kolonie gewonnen, die dreimal so groß sei wie das Mutterland. Als er in seiner Erregung grob zu werden begann, brachte Flora ihn zum Schweigen:
»Sie sind der lebende Beweis dafür, daß Frankreichs Armee die Rekruten noch immer wie zu Zeiten Napoleons verroht.«
Es fehlten sechs Stunden bis Carcassonne. Sie setzte sich auf eine Bank am Heck, lehnte sich an ein paar zusammengerollte Seile und schlief sofort ein. Sie träumte von Olympe. Das erste Mal, daß du von ihr träumtest, Florita, seitdem du Paris vor sieben Monaten verlassen hattest.
Es war ein angenehmer, zärtlicher, leicht erregender, wehmütiger Traum. Du hattest nur gute Erinnerungen an diese Freundin, der du so viel verdanktest. Aber du bedauertest nicht, daß du mit Olympe bei deiner Rückkehr aus England, im Herbst 1839, so jäh gebrochen hattest, denn das hätte bedeutet, den Kreuzzug zu bereuen, den du führtest, um die Welt mit Verstand und Liebe zu verändern. Du hattest sie bei jenem Opernball kennengelernt, bei dem du als Zigeunerin verkleidet warst und diese schlanke Frau mit dem bohrenden Blick dir die Hand geküßt hatte, aber deine Freundschaft mit Olympe Maleszewska begann erst Monate später. Sie war Enkelin eines berühmten Orientalisten und Professors an der Sorbonne und arbeitete für die Befreiung Polens vom Joch des russischen Imperiums. Sie gehörte dem Polnischen Nationalkomitee an, der Organisation der Exilanten in Frankreich, und war mit Leonhard Chodzko verheiratet, einem Beamten der Bibliothek von Sainte-Geneviève, Historiker und Patrioten, der zu ihren führenden Vertretern gehörte. Doch Olympe war vor allem eine Dame der großen Gesellschaft. Sie führte einen sehr bekannten Salon, der von Literaten, Künstlern und Politikern besucht wurde, und als Flora eine Einladung für die Abendgesellschaften am Donnerstag erhielt, fand sie sich ein. Das Haus war elegant, die Bewirtung exquisit, und es wimmelte nur so von berühmten Persönlichkeiten. Dort traf die Modeschauspielerin Marie Dorval mit der Romanschriftstellerin George Sand zusammen und Eugène Sue mit dem Vater der Saintsimonisten, Prosper Enfantin. Olympe kümmerte sich äußerst taktvoll und freundlich um die Gäste. Sie behandelte dich sehr herzlich und stellte dich mit lobenden Worten ihren Freunden vor. Sie hatte Fahrten einer Paria gelesen, und ihre Bewunderung für dein Buch schien ehrlich zu sein.
Da Olympe dich so inständig bat wiederzukommen, gingst du noch mehrere Male zu ihr, und immer verbrachtest du dort angenehme Augenblicke. Beim dritten oder vierten Mal, als Olympe dir im Ankleidezimmer aus dem Mantel half und dir das Haar glättete – »Nie habe ich Sie so strahlend gesehen wie heute, Flora« –, faßte sie dich plötzlich um die Taille, zog dich an sich und küßte dich auf die Lippen. Es geschah so unerwartet, daß du, glühend von Kopf bis Fuß, nicht wußtest, was du tun solltest. (Es war das erste Mal in deinem Leben, daß dir das passierte, Florita.) Schamrot, verwirrt, erstarrtest du förmlich und schautest Olympe an, ohne etwas zu sagen. »Wenn Sie es noch nicht gemerkt haben, dann wissen Sie jetzt, daß ich Sie liebe«, sagte Olympe lachend. Dann faßte sie dich bei der Hand und zog dich fort zur Begegnung mit den anderen Gästen.
Später hattest du dich oft gefragt, warum du an jenem Abend, statt zu reagieren, wie du es getan hättest, wenn anstelle von Olympe dich plötzlich ein Mann geküßt hätte – du hättest ihn geohrfeigt, hättest sofort das Haus verlassen –, in der Gesellschaft geblieben warst, verstört und verlegen, doch nicht verärgert und ohne den Wunsch zu gehen. Einfache Neugier oder etwas mehr? Was hatte das zu bedeuten, Andalusierin? Was würde jetzt geschehen? Als du dich zwei Stunden später verabschieden wolltest, nahm die Hausherrin dich am Arm und führte dich zum Ankleidezimmer. Sie half dir, den Mantel anzuziehen und den kleinen Hut mit Schleier aufzusetzen. »Sie sind mir doch nicht böse, nicht wahr, Flora?« flüsterte sie dir mit warmer Stimme ins Ohr. »Ich weiß nicht, ob ich böse bin oder nicht. Ich bin verwirrt. Es ist das erste Mal, daß eine Frau mich auf den Mund küßt.« »Ich liebe Sie, seitdem ich Sie damals in der Oper gesehen habe«, sagte Olympe und schaute dir in die Augen. »Können wir uns allein sehen, um uns besser kennenzulernen? Ich bitte Sie darum, Flora.«
Sie hatten sich gesehen, zusammen Tee getrunken, waren im Fiaker durch Neuilly gefahren, und als Flora ihr von ihren ehelichen Erfahrungen mit André Chazal erzählte, füllten sich die glühenden Augen ihrer Freundin mit Tränen. Du gestandest ihr, daß du seit deiner Ehe eine instinktive Abscheu vor dem Liebesakt empfunden und deshalb niemals einen Geliebten gehabt hattest. Mit unendlicher Zartheit und Sanftheit bat Olympe dich, während sie deine Hände küßte, du mögest ihr erlauben, dir zu zeigen, wie süß und angenehm die Lust zwischen zwei sich liebenden Freundinnen sein könne. Seitdem suchte sie bei jeder Begrüßung und jedem Abschied ihre Lippen.
Bald darauf liebten sie sich zum ersten Mal, in einem kleinen Landhaus in der Nähe von Pontoise, wo das Ehepaar Chodzko den Sommer und manche Wochenenden verbrachte. Die nahen Pappeln bogen sich im Wind und rauschten komplizenhaft; Vogelgezwitscher war zu hören, und die erregende, leicht berauschende Atmosphäre des vom knisternden Kaminfeuer erwärmten Zimmers ließ langsam Floras Befangenheit schwinden. Ihre Freundin gab ihr aus ihrem Mund Schlucke Champagner zu trinken und half ihr beim Auskleiden. Dann entkleidete Olympe sich ihrerseits mit der größten Natürlichkeit, nahm Flora in die Arme und legte sie auf das Bett, während sie ihr zärtliche Worte zuraunte. Sie betrachtete sie lange hingebungsvoll und begann dann, sie zu liebkosen. Sie hatte dir Lust verschafft, Florita, ja, große Lust, als die ersten Augenblicke der Verwirrung und des Argwohns vorbei waren. Sie hatte dir das Gefühl gegeben, daß du schön warst, begehrenswert, jung, eine Frau. Olympe lehrte dich, daß man weder Angst noch Abscheu vor dem Liebesakt zu haben braucht, daß die Hingabe an das Begehren, das Eintauchen in die Sinnenfreude der Liebkosungen, in die Wonne des körperlichen Genusses, eine intensive, gesteigerte Form des Lebens ist, wenn sie auch nur einige Stunden, einige Minuten währte. Was für ein köstlicher Egoismus, Florita. Die Entdeckung der körperlichen Lust, eines Genusses ohne Gewalt, zwischen Gleichen, gab dir das Gefühl, eine vollständigere, freiere Frau zu sein. Obwohl du nie, nicht einmal in den Tagen, an denen du mit Olympe am glücklichsten warst und dich dem reinen körperlichen Vergnügen hingabst, ein Gefühl von Schuld und das Empfinden vermeiden konntest, Energien, sittliche Kräfte zu vergeuden.
Diese Beziehung dauerte nicht ganz zwei Jahre. Flora konnte sich an keinen einzigen Streit, an keine Entfremdung, an keinen Mißton erinnern, die sie getrübt hätten. Zwar sahen sie sich nicht oft, weil beide zahlreiche Beschäftigungen hatten und Olympe außerdem einen Ehemann und ein Heim, um die sie sich kümmern mußte, aber wenn sie zusammentrafen, dann war es immer der Himmel auf Erden. Sie amüsierten und genossen sich wie zwei kleine verliebte Mädchen. Olympe war frivoler und mondäner als Flora und interessierte sich, abgesehen von der Tragödie des unterjochten Polen, nicht für soziale Fragen, weder für das Los der Frauen noch für das der Arbeiter. Und Polen interessierte sie ihres Mannes wegen, den sie in ihrer freien Art sehr liebte. Doch sie war vital, unermüdlich und, was dich betraf, von unendlicher Zärtlichkeit. Flora hörte ihr amüsiert zu, wenn sie ihr von den Intrigen und Klatschgeschichten der großen Welt erzählte, denn sie tat es mit Witz und Ironie. Außerdem war Olympe eine gebildete Frau, die viel gelesen hatte und Kenntnisse in Geschichte, Kunst und Politik besaß, denen ihre Leidenschaft galt, so daß Flora auch auf geistigem Gebiet viel durch ihre Freundschaft gewann. Sie liebten sich mehrmals in dem kleinen Haus bei Pontoise, aber auch in der Pariser Wohnung Olympes, in der Floras in der Rue du Bac und einmal, du als Nymphe und sie als Silen verkleidet, in einer Herberge am Waldrand in Marly, wo die Eichhörnchen ans Fenster kamen und ihnen Erdnüsse aus den Händen fraßen. Als Flora 1839 für vier Monate nach London ging, um ein Buch über die Lage der Armen in dieser Bastion des Kapitalismus zu schreiben, wechselten sie zwei- oder dreimal pro Woche Briefe, leidenschaftliche Botschaften, in denen sie sich sagten, daß sie sich vermißten, aneinander dachten, einander begehrten und daß beide die Tage, die Stunden, die Minuten zählten, bis sie sich wiedersehen würden. »Ich küsse und liebkose dich in all meinen Träumen, Olympe. Ich liebe das Dunkel deines Haars, deiner Scham. Seit ich dich kenne, verabscheue ich blonde Frauen.« Gingen dir diese flammenden Sätze, die du Olympe aus London schriebst, im Kopf herum, während du, als Mann verkleidet, Fabriken, Wirtshäuser, arme Vorstädte und Bordelle besuchtest, um deinen Haß auf dieses Paradies der Reichen und diese Hölle der Armen zu untermauern? Ja, wortwörtlich. Aber warum, Andalusierin, warum erklärtest du dann Olympe gleich nach deiner Rückkehr, noch am Nachmittag deiner Ankunft in Paris, daß die Beziehung zu Ende sei, daß sie sich nie mehr sehen dürften? Olympe, immer so selbstsicher, so Dame von Welt, riß Mund und Augen auf und wurde blaß. Aber sie sagte nichts. Sie kannte dich und wußte, daß deine Entscheidung unwiderruflich war. Sie schaute dich an, während sie sich auf die Lippen biß, am Boden zerstört.
»Nicht, weil ich dich nicht liebe, Olympe. Ich liebe dich, du bist der einzige Mensch auf dieser Welt, den ich geliebt habe. Ich werde dir immer dankbar sein für diese beiden Jahre voll Glück. Aber ich habe eine Mission. Ich könnte sie nicht erfüllen, wenn ich meine Gefühle und meinen Geist zwischen meinen Pflichten und dir aufteilen müßte. Nichts und niemand darf mich von meinem Vorhaben ablenken. Nicht einmal du. Ich muß mich dieser Aufgabe mit Leib und Seele widmen. Ich habe nicht viel Zeit, mein Liebling. Ich kenne niemanden in Frankreich, der an meine Stelle treten könnte. Diese Kugel hier kann meinem Leben jeden Augenblick ein Ende machen. Zumindest muß ich die Dinge auf den rechten Weg bringen. Bitte grolle mir nicht, verzeih mir.«
Sie hatten sich nicht wiedergesehen. In der Zwischenzeit hattest du deine unerbittliche Streitschrift gegen England geschrieben – Spaziergänge durch London – und dein Büchlein über die Arbeiterunion, und jetzt warst du hier, in den Pyrenäen, an Frankreichs Grenze, in Carcassonne, und versuchtest, die universale Revolution in Gang zu bringen. Bereutest du nicht, daß du die zärtliche Olympe auf diese Weise verlassen hattest, Florita? Nein. Es war deine Pflicht, so zu handeln, wie du es getan hattest. Die Ausgebeuteten zu erlösen, die Arbeiter zu vereinen, Gleichheit für die Frauen zu erlangen, den Opfern dieser so schlecht eingerichteten Welt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – das alles war wichtiger als der wunderbare Egoismus der Liebe, als die erhabene Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, in die man durch die Lust verfiel. Das einzige Gefühl, das dein Leben jetzt zuließ, war die Liebe zur Menschheit. Nicht einmal für deine Tochter Aline war noch Platz in deinem besetzten Herzen, Florita. Aline war in Amsterdam, wo sie als Lehrling bei einer Modistin arbeitete, und manchmal vergingen Wochen, ohne daß du daran dachtest, ihr zu schreiben.
Am gleichen Abend, an dem Flora in Carcassonne eintraf, hatte sie eine unangenehme Begegnung mit den örtlichen Fourieristen, die unter der Ägide von Monsieur Escudié ihren Besuch organisiert hatten. Sie hatten ihr ein Zimmer im Hôtel Bonnet reserviert, am Fuß der Stadtmauer. Sie lag schon im Bett, als ein Klopfen an ihrer Zimmertür sie weckte. Der Hotelier erging sich in Entschuldigungen: Einige Herren bestünden darauf, sie zu sehen. Es sei sehr spät, sie sollten morgen wiederkommen. Da sie jedoch so sehr darauf beharrten, warf sie sich einen Morgenmantel über und ging zu ihnen. Die etwa zwölf örtlichen Fourieristen, die sie willkommen heißen wollten, waren betrunken. Ihr wurde übel vor Ärger. Wollten diese Bohemiens die Revolution mit Champagner und Bier machen? Einem von ihnen, der mit schwerer Zunge und glasigen Augen darauf bestand, sie solle sich ankleiden, er wolle ihr die Kirchen und mittelalterlichen Mauern im Mondschein zeigen, antwortete sie:
»Was bedeuten mir die alten Steine, wenn es so viele Menschen mit ungelösten Problemen gibt! Lassen Sie sich gesagt sein, daß ich ohne zu zögern die schönste Kirche der Christenheit für einen einzigen intelligenten Arbeiter eintauschen würde.«
Als sie sahen, wie zornig sie war, entfernten sie sich schließlich.
In der Woche, die sie in der Stadt verbrachte, waren die örtlichen Phalanstère-Anhänger – Anwälte, Agrarexperten, Ärzte, Journalisten, Apotheker, Beamte, die sich selbst chevaliers nannten – eine ständige Quelle von Problemen. Ihr Machthunger verführte sie dazu, eine bewaffnete Aktion im ganzen französischen Süden zu planen. Sie behaupteten, viele Militärs und ganze Garnisonen stünden auf ihrer Seite. Gleich auf der ersten Versammlung übte Flora heftige Kritik an ihnen. Ihr Radikalismus, sagte sie, könne bestenfalls dazu dienen, einige Bürger in der Regierung durch andere zu ersetzen, ohne eine Änderung des sozialen Systems herbeizuführen, und schlimmstenfalls dazu, blutige Repressalien auszulösen, die das Ende der entstehenden Arbeiterbewegung wären. Entscheidend sei die soziale Revolution, nicht die politische Macht. Ihre Verschwörungspläne, ihre Gewaltphantasien verwirrten die Arbeiter, entfernten sie von den Zielen, verbrauchten sie in einer subversiven, rein politischen Aktion, bei der sie Gefahr liefen, von der Armee in einem für die Sache sinnlosen Akt geopfert zu werden. Die chevaliers besaßen Einfluß im Arbeitermilieu und nahmen an den Versammlungen Floras mit den Arbeitern der Webereien und Tuchfabriken teil. Ihre Anwesenheit schüchterte die Armen ein, die kaum wagten, vor diesen Bürgern ihre Meinung zu äußern. Statt die Erfolge der Arbeiterunion zu erklären, mußtest du stundenlang bis zur Erschöpfung diese Politikaster widerlegen, die den Arbeitern mit ihren Plänen einer bewaffneten Erhebung, für die sie, wie sie behaupteten, an strategischen Orten Gewehre und Pulverfässer versteckt hatten, den Verstand vernebelten.
»Was für einen Unterschied gäbe es zwischen einer Regierung von Fourieristen und der jetzigen?« rief Madamela-Colère empört aus. »Was für eine Verbesserung kann es für die Arbeiter bedeuten, wenn sie von Ihnen statt von den anderen ausgebeutet werden? Es geht nicht darum, irgendwie an die Macht zu gelangen, sondern ein für allemal der Ausbeutung und der Ungleichheit ein Ende zu machen.«
Abends kehrte sie so erschöpft ins Hôtel Bonnet zurück wie einst in London, in jenen hektischen Sommertagen 1839, in denen Flora vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung in stolzer Verachtung der ärztlichen Ratschläge diese monströse Stadt mit ihren zwei Millionen Einwohnern erkundete, Hauptstadt des größten Imperiums des Planeten, Sitz der dynamischsten Fabriken und der gewaltigsten Vermögen, um der Welt zu zeigen, daß sich hinter der Fassade von Wohlstand, Luxus und Macht die abscheulichste Ausbeutung, die schlimmsten Ungerechtigkeiten verbargen, daß die leidende Menschheit Niederträchtigkeiten und Schikanen ertragen mußte, damit eine Handvoll Aristokraten und Besitzende kaum vorstellbaren Reichtum anhäufen konnte.
Doch im Unterschied zu heute, Florita, warst du 1839, obwohl du schon damals diese Kugel in der Brust trugst, nach ein paar Stunden Schlaf erholt und gerüstet für einen neuen, erfahrungsreichen Londoner Tag, bereit, dich in Lasterhöhlen zu wagen, in die kein Tourist seinen Fuß setzte und von denen nichts in den Chroniken der Reisenden stand, die begeistert die Schönheiten der Salons und Clubs, die Sauberkeit der Parks, die öffentliche Gasbeleuchtung im West End und den Zauber der Bälle, Bankette, Abendgesellschaften beschrieben, mit denen die adligen Parasiten ihre Muße verbrachten. Jetzt standest du so müde auf, wie du dich hingelegt hattest, und mußtest tagsüber deine zum Glück unversehrt gebliebene eiserne Hartnäckigkeit mobilisieren, um das Programm bewältigen zu können, das du dir auferlegt hattest. Am quälendsten war nicht die Kugel; es waren die Koliken und der Schmerz in der Gebärmutter, gegen die kein Beruhigungsmittel mehr half.
Bei allem Haß, den du für London und England fühltest, seitdem du in deinen jungen Jahren dort gelebt und für die Familie Spence gearbeitet hattest, mußtest du zugeben, daß du ohne dieses Land, ohne die englischen, schottischen und irischen Arbeiter wahrscheinlich niemals begriffen hättest, daß die Befreiung der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann nur möglich war, wenn man ihren Kampf mit dem der Arbeiter, der anderen Opfer und Ausgebeuteten, der gewaltigen Mehrheit der Menschheit, verband. Die Idee kam ihr in London dank der Chartistenbewegung. Diese forderte die gesetzliche Verabschiedung einer Volkscharta, durch die das allgemeine, geheime Wahlrecht, die jährliche Erneuerung des Parlaments und ein Salär für die Parlamentsmitglieder eingeführt werden sollten, was den Arbeitern erlauben würde, sich für einen Sitz zu bewerben. Die Chartistenbewegung existierte schon seit 1836, aber als Flora im Juni 1839 nach London kam, hatte sie einen Höhepunkt erreicht. Sie verfolgte ihre Demonstrationen, Veranstaltungen und Unterschriftensammlungen und informierte sich über ihre ausgezeichnete Organisation mit Komitees in Dörfern, Städten und Fabriken. Du warst beeindruckt. Die Aufregung hielt dich ganze Nächte wach, ständig die Märsche Tausender und Abertausender Arbeiter durch die Straßen Londons vor Augen. Eine wahre zivile Armee. Wer könnte sich ihnen entgegenstellen, wenn alle Ausgebeuteten und Armen der Welt sich wie die Chartisten organisierten? Frauen und Arbeiter vereint wären unbesiegbar. Eine Kraft, imstande, die Menschheit zu revolutionieren, ohne einen einzigen Schuß abzufeuern.
Als sie erfuhr, daß der Nationalkonvent der Chartistenbewegung in diesen Tagen in London stattfand, erkundigte sie sich nach dem Versammlungsort und erschien in einem kühnen Akt in der Doctor Johnson’s Tavern, einem schäbig aussehenden Lokal in einer Seitengasse der Fleet Street. In einem großen, verrauchten und feuchten, schlecht beleuchteten Raum, der nach billigem Bier und gekochtem Kohl roch, drängten sich etwa hundert führende Chartisten, darunter die Vorsitzenden O’Brien und O’Connor. Sie debattierten darüber, ob es angebracht sei, zur Unterstützung der Volkscharta einen Generalstreik auszurufen. Als man dich fragte, wer du seist und was dich hergeführt habe, erklärtest du, ohne daß dir die Stimme zitterte, du seist gekommen, um Grüße von den Arbeitern und Frauen Frankreichs an ihre britischen Brüder und Schwestern zu überbringen. Sie schauten dich verwundert an, aber sie warfen dich nicht hinaus. Es gab auch eine Handvoll Arbeiterinnen, die mißtrauisch deine bürgerliche Kleidung musterten. Mehrere Stunden lang hörtest du zu, wie sie debattierten, Vorschläge austauschten, über Anträge abstimmten. Du fühltest dich wie in Trance. Ja, diese Kraft, mit allen Ländern Europas multipliziert, könnte die Welt verändern, könnte den Enterbten das Glück bringen. Als O’Brien und O’Connor im Verlauf der Sitzung fragten, ob die französische Delegierte den Wunsch habe, zur Versammlung zu sprechen, zögertest du nicht eine Sekunde. Du stiegst auf das Rednerpodium, gratuliertest ihnen und ermuntertest sie in deinem unsicheren Englisch, weiterhin allen Armen der Welt ein Vorbild an Organisation und Kampf zu sein. Und beendetest deine kurze Ansprache mit einem Appell, der deine friedliebenden Zuhörer in leichte Verwirrung stürzte: »Zünden wir die Schlösser an, brothers!«
Jetzt mußtest du lachen, wenn du an diesen aufrührerischen Appell dachtest, Florita. Denn du glaubtest nicht an die Gewalt. Du hattest nur durch ein dramatisches Bild ausdrücken wollen, wie bewegt du warst. Was für ein Privileg, dort zu sein, unter diesen ausgebeuteten Brüdern, die aufzubegehren begannen. Du warst für die Liebe, die Ideen, die Überzeugungsarbeit, gegen die Kugeln und das Schafott. Deshalb erzürnten dich diese grimmigen Bürger von Carcassonne, die glaubten, die Lösung bestehe darin, Regimenter zu mobilisieren und auf den öffentlichen Plätzen Guillotinen zu errichten. Was konnte man von derart dummen Leuten erwarten? Der Bourgeoisie war nicht zu helfen, ihr Egoismus würde sie immer daran hindern, das große Ganze zu erkennen. Du dagegen hattest mehr denn je die Gewißheit, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Und dieser bestand darin, Frauen und Arbeiter zusammenzubringen, die einen und die anderen in einem grenzüberschreitenden Bündnis zu organisieren, das keine Polizei, keine Armee, keine Regierung vernichten könnte. Dann würde der Himmel keine Abstraktion mehr sein, er würde seinen Platz in den Predigten der Geistlichen und den leichtgläubigen Köpfen der Gläubigen verlassen und Geschichte werden, alltägliche Wirklichkeit für alle Sterblichen. »Ich bewundere dich, Florita«, rief sie begeistert aus. »Lieber Gott, es würde genügen, wenn du zehn Frauen wie mich auf diese Welt schicktest, um Gerechtigkeit auf Erden herrschen zu lassen.«
Unter den Fourieristen von Carcassonne war Hugues Bernard die auffälligste Gestalt. Mitglied in Geheimgesellschaften Frankreichs und der Karbonari in Italien, wollte er um jeden Preis den Bürgerkrieg. Er war eloquent und mitreißend, und die Arbeiter lauschten ihm verzückt. Doch Flora trat ihm entgegen, nannte ihn einen »Schlangenbeschwörer«, einen »Zauberkünstler«, warf ihm vor, »die Arbeiter mit seinem demagogischen Speichel zu verderben«. Statt beleidigt zu sein, folgte Hugues Bernard ihr bis zum Hotel und ermüdete sie mit Schmeicheleien: Sie sei die intelligenteste Frau, die ihm je begegnet sei, die einzige, die er hätte heiraten können. Wenn er nicht sicher wäre, abgewiesen zu werden, würde er versuchen, sie zu erobern. Flora mußte schließlich lachen. Doch angesichts seiner Avancen entschied sie sich dafür, ihn auf Distanz zu halten. Auch Escudié, der Anführer der chevaliers, versuchte hartnäckig, ihre Freundschaft zu gewinnen. Er war ein geheimnisvoller, düsterer Mann in Trauerkleidung, mit Funken von Genialität.
»Sie wären ein guter Revolutionär, Escudié, wenn Sie mehr Liebe und weniger Gelüste hätten.«
»Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Flora«, nickte der schlanke, mephistophelisch blasse Fourierist mit ernster Miene. »Das ist das große Problem meines Lebens: die Gelüste. Das Fleisch.«
»Vergessen Sie das Fleisch, Escudié. Für die Revolution braucht man nur den Geist, die Idee. Das Fleisch ist ein Hemmnis.«
»Das ist leichter gesagt als getan, Flora«, erklärte er in elegischem Ton und mit einem Blick, der sie beunruhigte. »Mein Fleisch setzt sich aus allen Legionen der Hölle zusammen. Wenn Sie einen Blick in die Welt meiner Verlangen werfen könnten, würden Sie, die Sie so rein zu sein scheinen, vor Schreck tot umfallen. Haben Sie zufällig den Marquis de Sade gelesen?«
Flora fühlte, wie ihre Beine zitterten. Sie versuchte, der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, denn sie fürchtete, Escudié könnte ihr, da er schon einmal dabei war, seine geheime Hölle offenbaren, die unzüchtigen Abgründe seiner Seele, in denen, nach seinen lüsternen Pupillen zu urteilen, viele Dämone hausen mußten. Doch plötzlich, in einer Regung, die selten bei ihr war, sah sie sich selbst dem makabren Fourieristen vertrauliche Geständnisse machen. Sie sei eine freie Frau und habe in ihrem einundvierzigjährigen Leben zur Genüge bewiesen, daß sie nichts und niemanden fürchte. Doch trotz ihres kurzlebigen Abenteuers mit Olympe flöße ihr die Sexualität nach wie vor ein diffuses Unbehagen ein, denn das Leben habe ihr immer wieder gezeigt, daß das fleischliche Begehren Erregung und Genuß sei, aber auch ein abschüssiger Weg, auf dem der Mann rasch zum Tier werde und sich in der grausamsten und ungerechtesten Weise gegen die Frau verhalte. Sie habe das schon in jungen Jahren erfahren müssen, durch André Chazal, Schänder seiner Frau und später seiner eigenen Tochter, es jedoch vor allem mit einem Entsetzen, das nie aus ihrem Gedächtnis schwinden würde, auf ihrer Reise nach London 1839 sehen und mit den Händen greifen können. Szenen, die so beschämend waren, daß die Herausgeber ihrer Spaziergänge durch London sie zwangen, sie abzumildern, und die nach der Veröffentlichung des Buches nicht ein einziger Kritiker zu kommentieren wagte. Im Unterschied zu den allseits gelobten Fahrten einer Paria waren ihre Anklagen gegen die Gebrechen der Metropole London von den Pariser Intellektuellen feige übergangen worden. Doch was bedeutete dir das schon, Florita. War es nicht ein Zeichen dafür, daß du auf dem rechten Weg warst? »Ja, zweifellos«, ermunterte sie Escudié.
Auf die Idee, sich als Mann zu verkleiden, hatte sie kurz nach ihrer Ankunft in London ein Freund und Owen-Anhänger gebracht, der sah, wie betrübt sie war, als sie erfuhr, daß der Zutritt zum britischen Parlament Frauen nicht gestattet war. Dabei half ihr ein türkischer Diplomat, der ihr die Verkleidung lieferte. Sie mußte einige Änderungen an den Pluderhosen und am Turban vornehmen und die Pantoffeln mit Papier ausstopfen. Obwohl sie nervös war, als sie das Portal des imponierenden Gebäudes an der Themse durchschritt, in dem das Herz des britischen Imperiums schlug, vergaß sie später, als sie den Reden der Abgeordneten zuhörte, ihre falsche Identität. Die meisten Parlamentarier berührten sie peinlich durch ihre Vulgarität und ihre ungehobelte Art, sich mit dem Hut auf dem Kopf in den Sitzen zu fläzen. Als sie jedoch Daniel O’Connell hörte, den Führer der irischen Unabhängigkeitsbewegung, der als erster katholischer Ire einen Sitz im Unterhaus errungen hatte und einen gewaltlosen Kampf gegen den englischen Kolonialismus predigte, war sie bewegt. Kaum ergriff dieser häßliche Mann mit dem Aussehen eines sonntäglich gekleideten Kutschers das Wort und forderte die Abschaffung der Sklaverei und das allgemeine Wahlrecht, wurde er schön, strahlte Würde und Idealismus aus. Er war ein so glänzender Redner, daß alle ihm mit großer Aufmerksamkeit zuhörten. Bei O’Connells Worten kam Flora die Idee des Volksanwaltes, die sie in ihren Plan der Arbeiterunion aufnahm: Die Bewegung der Frauen und Arbeiter würde einen Sprecher ins Parlament bringen und ihm einen Lohn zahlen, damit er dort die Interessen der Armen vertreten konnte.
In diesen vier Monaten verkleidete sie sich oft als Mann. Sie hatte sich vorgenommen, das Leben zu erkunden, das die hunderttausend Prostituierten führten, die sich angeblich auf Londons Straßen herumtrieben, und was in den Bordellen der Stadt geschah, und sie hätte diese Lasterhöhlen nicht erforschen können, ohne ihr Geschlecht hinter den Hosen und dem Gehrock eines Mannes zu verbergen. Dennoch war es gefährlich, sich in gewisse Viertel zu begeben. In der Nacht, in der sie die Waterloo Road ablief, von ihrem Anfang in der Vorstadt bis zur Waterloo Bridge, waren die beiden Freunde der Chartistenbewegung, die sie begleiteten, mit Stöcken bewaffnet, um die Scharen kleiner Diebe und Händelsucher zu entmutigen, von denen es nur so wimmelte zwischen den Kupplerinnen, Zuhältern und Huren. Sie drängten sich auf den Bürgersteigen, Straßenzug um Straßenzug, nutzten die Abwesenheit der Polizei und raubten vor aller Augen die einsamen Kunden aus. Die Ware bot sich schamlos den Passanten an, die zu Fuß, zu Pferde oder in der Kutsche auf der Fahrbahn vorbeizogen und das verfügbare Material prüften. Theoretisch lag das Mindestalter für den Menschenhandel bei zwölf Jahren. Doch Flora hätte geschworen, daß es unter den schmutzigen, geschminkten und halbnackten kleinen Skeletten, die von den Kupplerinnen und Zuhältern offeriert wurden, Mädchen und Jungen von zehn oder sogar acht Jahren gab, kleine Kinder mit abwesendem oder betäubtem Blick, die nicht zu begreifen schienen, was ihnen geschah. Die Ungeniertheit und Obszönität, mit denen die Dienstleistungen angepriesen wurden (»dieses Püppchen können Sie sich von hinten vornehmen, Sir«, »meine Stolze läßt sich den Hintern peitschen und ist eine wahre Künstlerin im Schwanzlecken, Chef«), ließen Wellen von Haß in ihr aufsteigen. Es fehlte nicht viel, und sie wäre in Ohnmacht gefallen. Während du im Schutz der Dunkelheit, die ab und zu von den rötlich flackernden Lampen der Freudenhäuser erhellt wurde, die endlose Allee hinuntergingst, während du die widerwärtigen Dialoge und die unangenehmen Stimmen der Betrunkenen hörtest, hattest du den Eindruck einer makabren Phantasmagorie, eines mittelalterlichen Hexensabbats. War dies nicht so etwas wie die Hölle auf Erden? Gab es etwas Teuflischeres als das Los dieser Mädchen und Jungen, die für ein paar Pennies der Wollust dieser Widerlinge angeboten wurden?
Ja, das gab es, Florita. Schlimmer als die Prostitution im East End mit ihren Mädchen und Jungen, die oft von spezialisierten Banden auf dem Land oder in den Dörfern entführt und an die Londoner Bordelle und Freudenhäuser verkauft wurden, waren die finishes im West End, in der Londoner Innenstadt, dem Viertel der eleganten Vergnügungen. Dort erlebtest du den Gipfel der Schlechtigkeit. Die finishes waren die Bordell-Tavernen, die Dirnen-Lokale, in denen die Reichen, Adligen, Privilegierten dieser Gesellschaft von Herren und vermeintlich freien Sklaven ihre nächtlichen Orgien beendeten. Du besuchtest sie als Geck verkleidet, gemeinsam mit einem jungen Mann der französischen Gesandtschaft, der deine Bücher gelesen hatte und dir die männliche Kleidung lieh, nicht ohne vorher zu versuchen, dich davon abzubringen, denn, so versicherte er dir, die Erfahrung werde dich mit Entsetzen erfüllen. Er hatte völlig recht. Du, die glaubte, alles über das menschliche Tier zu wissen, hattest noch nicht gesehen, welche Extreme die Erniedrigung der Frau erreichen konnte.
Die Dirnen der finishes waren nicht die ausgemergelten, oft tuberkulosekranken Prostituierten der Waterloo Road. Es waren teuer und in auffälligen Farben gekleidete, mit Schmuck behängte, grell geschminkte Kurtisanen, die ab Mitternacht, aufgereiht wie die Tänzerinnen einer Music-Hall, die reichen Protze empfingen, die zu Abend gegessen oder Theater oder Konzerte besucht hatten und nun kamen, um das Fest in diesen luxuriösen Klubs zu beenden, um zu trinken und zu tanzen und ab und zu mit einem oder zwei Mädchen in die Séparées im Oberstock hinaufzugehen, um sie zu beschlafen, um sie auszupeitschen oder sich von ihnen auspeitschen zu lassen, was man in Frankreich le vice anglais nannte. Doch nicht das Bett oder die Peitsche waren das wahre Vergnügen in den finishes, sondern der Exhibitionismus und die Grausamkeit. Es begann um zwei oder um drei Uhr in der Frühe, wenn Lords und Rentiers sich Jacken, Krawatten, Westen und Hosenträger ausgezogen hatten und ihre Angebote machten. Sie boten den Frauen und Mädchen jeden Alters glänzende, klingende Guineen, damit sie die von ihnen gemixten Getränke zu sich nahmen, die sie ihnen fröhlich einflößten, wobei sie sich unter lautem Gejohle gegenseitig mit Sprechchören anfeuerten. Am Anfang gaben sie ihnen Gin, Apfelwein, Bier, Whisky, Cognac, Champagner zu trinken, doch dann vermischten sie den Alkohol mit Essig, Senf, Pfeffer und Schlimmerem, um zuzusehen, wie die Frauen, nur, um sich diese Guineen zu verdienen, die Gläser in einem Zug leerten, mit angewidert verzerrtem Gesicht zu Boden stürzten, sich wanden und erbrachen. Dann knöpften sich die Betrunkensten oder die Perversesten unter Applaus und angespornt von Sprechchören den Hosenschlitz auf und bepinkelten sie, und besonders Verwegene masturbierten auf sie und verschmierten sie mit ihrem Sperma. Wenn die Nachtschwärmer dann um sechs oder sieben Uhr morgens des Vergnügens überdrüssig waren und satt von Alkohol und Perversionen in die tumbe Benommenheit der Betrunkenen versanken, betraten die Lakaien das Lokal und schleppten sie zu ihren Fiakern und Berlinen, um sie zu ihren Herrensitzen zu bringen, wo sie ihren Rausch ausschlafen konnten.
Nie zuvor hattest du so geweint, Flora Tristan. Nicht einmal, als du von Alines Mißbrauch durch André Chazal erfahren hattest, waren deine Tränen so geflossen wie nach diesen Morgenstunden in den finishes von London. Damals faßtest du den Entschluß, mit Olympe zu brechen, um deine ganze Zeit der Revolution zu widmen. Nie zuvor hattest du ein solches Mitleid, eine solche Bitternis, eine solche Wut empfunden. Jetzt durchlebtest du diese Gefühle noch einmal in dieser schlaflosen Nacht in Carcassonne, während du an die dreizehn-, vierzehn- oder fünfzehnjährigen Kurtisanen dachtest – eine von ihnen hättest du sein können, wenn man dich während deiner Anstellung bei der Familie Spence entführt hätte –, die für eine Guinee diese Mixturen tranken, für eine Guinee zuließen, daß das flüssige Gift ihnen die Eingeweide verbrannte, für eine Guinee erlaubten, daß man sie bespuckte, bepinkelte und mit Samen bespritzte, damit die Reichen Englands in ihrem leeren, stumpfsinnigen Leben einen Augenblick Spaß hatten. Für eine Guinee! Mein Gott, mein Gott, wenn es dich gibt, dann kannst du nicht so ungerecht sein und Flora Tristan das Leben nehmen, bevor sie die universelle Arbeiterunion auf den Weg gebracht hat, die den Übeln dieses Tränentals ein Ende machen wird. »Gib mir noch fünf, noch acht Jahre. Das wird mir genügen, lieber Gott.«
Carcassonne war natürlich keine Ausnahme von der Regel. In den Tuchfabriken, wo man ihr den Zutritt verwehrte, verdienten die Männer eineinhalb bis zwei Francs täglich und die Frauen, für die gleiche Arbeit, die Hälfte. Die Arbeitszeit betrug zwischen vierzehn und achtzehn Stunden am Tag. In den Seiden- und Wollspinnereien arbeiteten siebenjährige Kinder für acht Centimes täglich, obwohl dies gesetzlich verboten war. Sie begegnete einem außerordentlich feindseligen Klima. Ihre Reise hatte sich in der Gegend herumgesprochen, und in der letzten Zeit wetzten die Feinde in den Städten die Messer für ihren Empfang. Flora entdeckte, daß die Fabrikanten in Carcassonne Flugblätter in Umlauf gebracht hatten, auf denen stand, sie sei eine »Bastardin, Aufwieglerin und Sittenverderberin, die ihren Mann und ihre Kinder verlassen und sich Liebhaber gehalten hat und jetzt als Saintsimonistin und ikarische Kommunistin auftritt«. Über letzteres mußte sie lachen. Wie konnte man gleichzeitig Saintsimonistin und ikarische Kommunistin sein? Die beiden Gruppen verabscheuten einander. Gewiß, du warst vor einigen Jahren Sympathisantin Saint-Simons gewesen, aber das war deine Vorgeschichte. Und Etienne Cabets Roman Reise nach Ikarien, der ihm so viele Anhänger in Frankreich zugeführt hatte, hattest du zwar gelesen (in deinem Besitz befand sich die von ihm gewidmete Erstausgabe von 1840), aber du hattest nie die geringste Sympathie für Cabet oder seine Schüler empfunden, diese Überläufer der Gesellschaft, die sich »Kommunisten« nannten. Im Gegenteil, stets hattest du sie in Wort und Schrift kritisiert, weil sie sich unter dem Taktstock ihres Dirigenten, dieses Abenteurers, der vor seiner Wandlung zum Propheten Mitglied des Karbonaribundes und Generalprokurator in Korsika gewesen war, darauf vorbereiteten, in irgendein fernes Land zu reisen – nach Amerika, China, in den afrikanischen Urwald –, um an einem weltabgeschiedenen Ort die vollkommene Republik zu gründen, die in Reise nach Ikarien beschrieben wurde, eine Gesellschaft ohne Geld, ohne Hierarchien, ohne Steuern, ohne Obrigkeit. Gab es etwas Egoistischeres und Feigeres als diesen eskapistischen Traum? Nein, es ging nicht darum, aus dieser unvollkommenen Welt zu fliehen und ein himmlisches Refugium für eine kleine Gruppe Auserwählter zu gründen, das allen anderen verschlossen wäre. Es ging darum, gegen die Unvollkommenheiten dieser Welt in ebendieser Welt zu kämpfen, sie zu verbessern, sie zu verändern, bis aus ihr eine glückliche Heimat für alle Sterblichen würde.
Am dritten Tag in Carcassonne erschien im Hôtel Bonnet ein Mann in vorgerücktem Alter, der seinen Namen nicht nennen wollte. Er gestand ihr, er sei Polizist und von seinen Vorgesetzten beauftragt, ihren Schritten zu folgen. Er war freundlich und leicht schüchtern, sprach ein mangelhaftes Französisch, kannte zu ihrer Überraschung die Fahrten einer Paria und erklärte sich zu ihrem Bewunderer. Er informierte sie, daß die Behörden der ganzen Region Anweisungen erhalten hatten, ihr das Leben schwerzumachen und sie mit allen Leuten zu entzweien, denn sie sahen in ihr eine Aufwieglerin, die unter den Arbeitern den Umsturz gegen die Monarchie predige. Von ihm habe Flora jedoch nichts zu befürchten: Er werde nichts tun, was ihr schaden könne. Er war so bewegt, als er ihr diese Dinge sagte, daß Flora ihn in einer plötzlichen Anwandlung auf die Stirn küßte: »Sie wissen nicht, wie gut mir Ihre Worte tun, mein Freund.«
Er machte ihr Mut, zumindest ein paar Stunden lang. Doch die Realität meldete sich zurück, als ein einflußreicher Anwalt plötzlich eine Verabredung mit ihr absagte. Maître Trinchant sandte ihr ein harsches Schreiben: »Aufgrund Ihrer ikarisch-kommunistischen Gesinnung, von der ich erfahren habe, ist es mir unmöglich, Sie zu empfangen. Wir würden einen Taubstummendialog führen.« »Meine Aufgabe besteht ja gerade darin, den Tauben die Ohren und den Blinden die Augen zu öffnen«, antwortete ihm Madame-la-Colère.
Sie war nicht niedergeschlagen, aber es tat ihr nicht gut, sich an ihre Besuche in den Bordellen und finishes in London zu erinnern. Doch sie gingen ihr nicht aus dem Kopf. Trotz der vielen traurigen Dinge, die sie bei ihren Gängen durch die Unterwelt des Kapitalismus gesehen hatte, war ihr nichts empörender erschienen als der Handel mit diesen unglücklichen Geschöpfen. Doch darüber vergaß sie nicht die Besuche, die sie in Begleitung eines Vertreters der anglikanischen Kirche den Arbeitervierteln der Londoner Peripherie abgestattet hatte, die sich aneinanderreihenden engen, schmutzigen Räume mit ständig ratternden, von Pedalen angetriebenen Webstühlen, vollgestopft mit nackten Kindern, die im Dreck herumkrochen, und die Klagen, die wie eine Litanei aus allen Mündern kamen: »Mit achtunddreißg, vierzig Jahren betrachtet man uns als unnütz und entläßt uns aus den Fabriken. Wovon sollen wir leben, milady? Die Lebensmittel und die gebrauchte Kleidung, die uns die Pfarrgemeinden geben, reichen nicht einmal für die Kinder.« In der großen Gasfabrik in der Horsferry Road Westminster wärst du fast erstickt, weil du unbedingt aus der Nähe sehen wolltest, wie die mit einem simplen Lendenschurz bedeckten Arbeiter die Koksasche aus Öfen kratzten, die dich an die Schmiede des Vulcanus denken ließen. Du brauchtest nur fünf Minuten da zu sein, um in Schweiß auszubrechen und zu fühlen, wie die Hitze dir den Atem nahm. Sie aber blieben Stunden dort, brieten bei lebendigem Leibe, und wenn sie das Wasser in die grob gesäuberten Kessel schütteten, schluckten sie einen dichten Dampf, der ihnen die Eingeweide ebenso schwärzen mußte wie die Haut. Nach dieser Tortur konnten sie sich jeweils zu zweit zwei Stunden lang auf Matratzen ausruhen. Der Leiter der Fabrik sagte dir, niemand ertrage diese Arbeit länger als sieben Jahre, bevor er an Tuberkulose erkranke. Das war der Preis für die mit Gaslampen erleuchteten Bürgersteige der Oxford Street, im Herzen des West End, der elegantesten Straße der Welt!
Die drei Gefängnisse, die du besuchtest, Newgate, Coldbath Fields und Penitenciary, waren weniger unmenschlich als die Höhlen der Arbeiter. Beim Anblick der mittelalterlichen Folterinstrumente, die im Eingangsbereich von Newgate die Häftlinge empfingen, lief dir ein Schauer über den Rücken. Doch die Einzel- und Sammelzellen waren sauber, und die eingesperrten Männer und Frauen – zumeist Diebe und Diebinnen – aßen besser als die Fabrikarbeiter. In Newgate erlaubte dir der Direktor, mit zwei Mördern zu sprechen, die zum Tod am Galgen verurteilt waren. Der erste, menschenscheu, war verschlossen und stumm, und du konntest kein Wort aus ihm herausbringen. Aber der zweite, lächelnd, freundlich und froh, für ein paar Minuten das Sprechverbot zu durchbrechen, schien unfähig, einer Fliege etwas zuleide zu tun. Und doch hatte er einen Offizier der Armee auf grausame Weise umgebracht. Wie hatte er das tun können, höflich und sympathisch, wie er war? Das erklärte dir Doktor John Elliston, Professor der Medizin und fanatischer Schüler von Franz Joseph Gall, dem Begründer der Phrenologie:
»Weil dieser Bursche zwei außergewöhnlich entwickelte Höcker an der hinteren Schädelbasis hat: das Knöchelchen des Stolzes und das der Schande. Berühren Sie sie, Madam. Hier, hier. Fühlen Sie sie? Er war vom Schicksal dazu verdammt, ein Mörder zu werden.«
Nur zwei Dinge wagte Flora am englischen Strafsystem zu kritisieren: das Sprechverbot, das die Häftlinge zwang, niemals den Mund zu öffnen – ein einziges lautes Wort zog die schwersten Strafen nach sich –, und daß man ihnen das Arbeiten untersagte. Der gebildete Direktor von Coldbath Fields, ein ehemaliger Kolonialsoldat, versicherte ihr, das Schweigen begünstige die Annäherung an Gott, mystische Zustände, Reue und Besserungwünsche. Und was die Arbeit betreffe, so sei die Frage im Parlament debattiert worden. Man sei zu dem Schluß gekommen, daß es ungerecht gegenüber den Arbeitern sei, die Häftlinge arbeiten zu lassen, da die Verbrecher in unlauteren Wettbewerb zu ihnen treten würden, wenn sie sich für niedrigere Löhne verdingten. In England gab es keine Altersgrenze, um verurteilt zu werden, und in den drei Gefängnissen traf Flora acht- und neunjährige Kinder an, die Strafen für Diebstahl und andere Vergehen verbüßten.
Doch obwohl es einem das Herz zerriß, diese Kinder hinter Gittern zu sehen, sagte sich Flora, daß es vielleicht besser für sie war; zumindest aßen sie und schliefen unter einem Dach, in sauberen Zellen. In der Gemeinde von Saint Gilles dagegen, in dem von der Oxford Street und der Tottenham Court Road begrenzten Häusergeviert, im Viertel der Iren – Bainbridge Street – starben die Kinder buchstäblich vor Hunger. Sie waren zerlumpt und schliefen fast unter freiem Himmel, in Konstruktionen aus Karton und Blech, ohne Schutz vor den Regenfällen. Umgeben von schmutzigen Wasserpfützen, fauligen Ausdünstungen, Schlamm, Fliegen und allen Arten von Ungeziefer – an jenem Abend entdeckte Flora in ihrer Pension, daß ihre Kleider vom Besuch im Irenviertel voller Läuse waren –, hatte sie das Gefühl, sich in einem Alptraum zu bewegen, zwischen Skeletten, alten Männern, die auf Häufchen von Stroh hockten, und zerlumpten Frauen. Überall lag Unrat, und Ratten schlüpften zwischen den Beinen der Leute hindurch. Nicht einmal wer Arbeit hatte, konnte seine Familie ernähren. Alle waren abhängig von den Nahrungsspenden der Kirchen, um ihre Kinder mit Essen zu versorgen. Verglichen mit der Misere und dem Verfall der Iren, erschien ihr das Viertel der armen Juden um die Petticoat Road weniger finster. Obwohl extreme Armut herrschte, gab es einen aktiven Altkleiderhandel in kleinen Läden und Kellern, zwischen denen sich im hellen Tageslicht mit viel Getue auch halbnackte jüdische Huren anboten. Und der Markt der Field Lane, wo zu einem Spottpreis sämtliche in den Straßen Londons gestohlenen Taschentücher zum Verkauf geboten wurden – man mußte diese Gasse ohne Brieftasche, Uhren oder Broschen betreten –, erschien ihr menschlicher und sogar sympathisch mit seinem entfesselten Stimmengewirr und den laut ausgetragenen pittoresken Debatten zwischen Verkäufern und Kunden, die um Nachlässe feilschten.
In der Irrenanstalt, dem Bethleen Hospital, passierte etwas, das dir das Blut in den Adern gefrieren ließ, Florita. Weder deine Freunde von der Chartistenbewegung noch die Oweniten teilten deine These, daß der Wahnsinn eine soziale Krankheit war, eine Folge der Ungerechtigkeit, eine dunkle, instinktive Rebellion gegen die etablierten Mächte. Und deshalb begleitete dich niemand auf deinem Weg durch die Irrenhäuser Londons. Das Bethleen Hospital war alt, sehr sauber, hatte gepflegte Gärten und eine gute Versorgung. Plötzlich sagte der Direktor zu dir, während er dich herumführte, sie hätten einen Landsmann von dir dort, einen französischen Seemann namens Chabrié. Wolltest du ihn sehen? Dir stockte der Atem. War es möglich, daß der gute Zacharie Chabrié von der Méxicain, dem du in Arequipa jenen bösen Streich gespielt hattest, um dich von seiner Liebe zu befreien, hier gelandet war, im Wahnsinn? Du durchlebtest einige angstvolle Minuten, bis sie die fragliche Person brachten. Er war es nicht, sondern ein junger, hübscher Bursche, der glaubte, er sei Gott. Er erklärte es dir in bedächtigem Französisch und sehr behutsam: Er sei der neue Messias, auf die Erde gesandt, »damit die Knechtschaft ein Ende fände und um die Frau vor dem Mann und den Armen vor dem Reichen zu retten«. »Wir beide führen den gleichen Kampf, mein guter Freund«, sagte Flora lächelnd zu ihm. Er nickte mit verschwörerischem Augenzwinkern.
Diese Reise nach England im Jahre 1839 war eine lehrreiche – und anstrengende – Erfahrung gewesen. Ihr Ergebnis war nicht nur dein Buch, Spaziergänge durch London, das Anfang Mai 1840 erschien und die bürgerlichen Journalisten und Kritiker anders als das Publikum, das in wenigen Monaten zwei Auflagen kaufte, durch seine Radikalität und Offenheit erschreckte. Sondern auch deine Idee des Bündnisses zwischen den beiden großen Opfern der Gesellschaft, den Frauen und den Arbeitern, deine Broschüre L’Union Ouvrière und dieser Kreuzzug. Seit fünf Jahren versuchtest du nun schon, Andalusierin, diesen Plan in einer übermenschlichen Anstrengung in die Tat umzusetzen!
Würde es dir gelingen? Wenn dein Körper nicht versagte, ja. Wenn Gott dir noch ein paar Jahre Leben schenkte, bestimmt. Doch du warst nicht sicher, daß dir die nötigen Jahre vergönnt sein würden. Vielleicht weil Gott nicht existierte und dich deshalb nicht erhören konnte oder weil er existierte und zu sehr mit transzendentellen Angelegenheiten beschäftigt war, um sich mit so nichtigen materiellen Dingen wie deinen Koliken und deiner kaputten Gebärmutter zu befassen. Jeden Tag, jede Nacht fühltest du dich schwächer. Zum erstenmal bedrängte dich die Vorahnung einer Niederlage.
Auf der letzten Versammlung in Carcassonne erbot sich einer der chevaliers, der Flora bislang nicht weiter aufgefallen war, der Anwalt Théophile Marconi, spontan, ein Komitee der Arbeiterunion in der Stadt zu organisieren. Er sei nach anfänglichen Vorbehalten zu dem Schluß gelangt, daß Floras Strategie solider sei als die Verschwörungs- und Bürgerkriegspläne seiner Freunde. Der solidarische Bund von Frauen und Arbeitern, dessen Ziel es wäre, die Gesellschaft zu ändern, erscheine ihm klug und durchführbar. Nach dem Treffen mit Marconi begleitete ein junger spitzbübisch wirkender Arbeiter namens Lafitte sie bis zum Hotel und brachte sie zum Lachen mit einem Plan, den er, wie er ihr gestand, ausgeheckt habe, um den bürgerlichen Phalanstère-Anhängern einen Streich zu spielen. Er würde sich als Fourierist ausgeben und den chevaliers eine Geldanlage offerieren, durch die sie ihr Kapital verdoppeln könnten, indem sie zu einem Spottpreis ein paar gestohlene Webstühle kauften. Wenn er das Geld beisammen hätte, würde er sie verhöhnen: »Meine Herren, die Habgier ist Ihr Verderben. Dieses Geld geht in die Kassen der Arbeiterunion, für die Revolution.« Er scherzte, doch in seinen Augen lag ein Flackern, das Flora beunruhigte. Und wenn sich nun die Revolution in ein Geschäft für ein paar Spitzbuben verwandelte? Beim Abschied bat der sympathische Lafitte sie um Erlaubnis, ihr die Hand küssen zu dürfen. Sie reichte sie ihm und nannte ihn lachend ein »angehendes Mitglied der guten Gesellschaft«.
In der letzten Nacht in der ummauerten Stadt träumte sie von dem eisernen Schöpflöffel und seinem Totengeklapper. Es war eine hartnäckige Erinnerung, die gleichsam ihre Reise nach England symbolisierte: das Klappern dieses metallenen Löffels, der mit einer Kette an den Wasserpumpen befestigt war, die an vielen Ecken Londons standen und an denen die Ärmsten ihren Durst stillten. Das Wasser, das sie tranken, war verschmutzt; bevor es zu den Pumpen kam, war es durch die Abwasserkanäle der Stadt geflossen. Die Musik der Armut, Florita. Sie klang seit vier Jahren in deinen Ohren. Manchmal sagtest du dir, daß dieses Geklapper dich bis in die andere Welt begleiten würde.