Energie fließt auch in der Entspannung

Yin-Sexualität ist ganz und gar nicht langweilig, selbst wenn man es auf den ersten Blick befürchten könnte. In ihr steckt ein Potenzial, das nahezu unbekannt ist, dabei ist es im Kern einfach und revolutionär: Sexuelle Energie fließt nämlich auch in der Entspannung. Diese Energie ist nicht heiß und geil, sondern eher strömend. Sie beschränkt sich nicht auf die Genitalien, sondern erfüllt den ganzen Körper. Entspannte Sexualität kann wohlig bis ekstatisch sein, auf alle Fälle aber befriedigend, wenn auch anders befriedigend als üblicher Sex.

Um Spannung zu erzeugen, benötigen Sie Reize. Um sexuelle Energie zu erwecken und zu lenken, bedarf es Können: Aufmerksamkeit, Körperpräsenz und ein wenig »Gewusst wie!«. Für Spannung müssen Sie auf die Jagd gehen, Energie fließt dagegen mit höherer Wahrscheinlichkeit im geschützten Raum einer vertrauensvollen Beziehung. In der Yang-Energie können Sie hundertmal die Partnerin wechseln, Sie kommen irgendwann immer wieder an den Punkt, wo Sie sagen: »Baby, du machst mich nicht mehr an.« Und danach geht es wieder von vorne los. Mit der Yin-Energie interessiert uns die Stimulation im Außen nicht mehr besonders, wir finden die Sexualkraft in uns selbst. Ist das gegeben, können wir mit Leib und Seele lieben anstatt mit Kopf und Schwanz.

Auf zur Ekstase

Sexuelle Energie, so wird allgemein angenommen, ist gleichbedeutend mit der Erregung, die im Becken aufwallt und anschließend danach drängt, über den Sexualakt gleich wieder entladen zu werden. Um die Yin-Sexualität zu verstehen und sie zu genießen, müssen wir diese Vorstellung erweitern.

Sexuelle Energie ist pure Vitalenergie, und wenn wir sie nicht einfach wieder abreagieren, sondern sie im Körper verteilen, manifestiert sie sich als Lebensfreude und Inspiration. Das ist eine der Kernaussagen im Tantra: Dort geht es darum, die Sexualenergie zu kultivieren und letztlich in Eks-tase zu verwandeln – Sie können es auch Glück und Vitalität nennen.

Wenn es Männern gelingt, ihre Energie vom Becken nach oben in den Körper zu lenken, machen sie die Erfahrung, dass sich ihr Getriebensein in Lebenskraft und Charisma verwandelt. Frauen gewinnen eine weiblich-kraftvolle Ausstrahlung von innen heraus, die nicht auf ein Schwenken der Hüften und einen tiefen Ausschnitt angewiesen ist. Es ist eine Souveränität, die selbstbewusst und weich zugleich in Erscheinung tritt.

Neue Wege in der Sexualität zu beschreiten bedeutet, sie umfassender zu definieren als üblich: Sex besteht nicht mehr allein aus dem Dreiklang Vorspiel, Akt und Orgasmus, sondern Sex ist, wenn Energie fließt.

Es ist spannend, unser gängiges erotisches »Inventar« unter dem Blickwinkel der Yin-Sexualität zu betrachten. Zu sehen, wie sich der eine oder andere Knoten löst – und vielleicht ein paar heilige Kühe dran glauben müssen.

Vorspiel und andere Hürden

Zankapfel Vorprogramm

Was das Vorspiel betrifft, herrscht ein weit verbreiteter Konsens: Es ist dazu da, die Erregung zu steigern, bis die Penetration möglich ist, und es besteht vor allem aus Küssen, Streicheln und Stimulation der Genitalien, wobei dies besonders für Frauen gedacht ist, weil sie (viel) länger brauchen als Männer, bis ihre »Betriebstemperatur« erreicht ist.

Oft ist das Vorspiel der Zankapfel eines Paares: Die Frauen klagen, dass es zu kurz ist oder zu mechanisch. Die Männer jammern, dass sie es den Partnerinnen nie recht machen können – oder dass sie nicht bekommen, was sie sich wünschen:

»Ich kann so lange machen, wie ich will, es ist einfach nie genug.«

»Er spult immer das gleiche Repertoire ab. Alles ist nur noch Routine.«

»Sie ist so passiv. Sie versucht gar nicht erst mich anzumachen oder sich mal auf einen Blowjob einzulassen.«

Im Yang-Sex gehen wir davon aus, dass hohe Erregung das Ziel des Vorspiels ist. Viele Männer absolvieren das geforderte Programm, weil sie etwas damit erreichen wollen – vor Verlangen außer Rand und Band geratene Partnerinnen.

Diese hingegen sind häufig nicht ganz zufrieden mit der zielgerichteten Vorgehensweise ihrer Liebhaber, weil sie eher absichtslos genießen möchten. Sie sind gar nicht so erregt, wie sie sein sollten, und stöhnen angemessen, aber nicht wirklich ehrlich. So schleicht sich Trägheit ins Vorspiel, und dabei sollen wir doch heiß werden.

Wenn Sie in hohe Erregung geraten, so ist das eine feine Sache, es muss aber nicht unbedingt sein. Stellen Sie sich das Vorspiel lieber als ein Werben vor, mit dem wir uns zum Sex einladen. Wir spielen miteinander, um einen gemeinsamen inneren Raum zu erschaffen, in dem eine lustvolle Vereinigung möglich ist. So kommen wir miteinander an, werden füreinander bereit, schwingen uns ein. Wenn beide sich öffnen und ganz präsent spüren, was gerade ansteht, werden sie kein festgelegtes Programm abspulen.

Dann wird jedes ihrer Vorspiele ein gutes sein.

Das kann sehr kurz ausfallen, wie jeder weiß, der schon mal einen heißen Quickie genossen hat. Hier liegt es an der ungewöhnlichen, erotisch aufgeladenen Situation, die beide im Raketentempo von null auf hundert bringt.

Es gibt aber auch Paare, die das Vorspiel freiwillig ausfallen lassen. Wenn eine innige Verbundenheit gegeben ist, kann der gemeinsame innere Raum sehr schnell betreten werden, ohne dass irgendetwas fehlt.

Frauen können auf eine halbstündige Streichelorgie verzichten, wenn sie sich nur intensiv umworben und eingeladen fühlen. Doch wenn jene Berührungen nicht erfolgen, nach der Leib und Seele sich sehnen, und der Mann nur schlampig sein Programm absolviert, um endlich zum Zug zu kommen, ist das wie Weißbrotessen: Man kann nicht aufhören, wird aber nicht richtig satt davon.

Versuchen Sie nicht, den Partner partout erregen zu wollen. Laden Sie die Yin-Energie ein, vergessen Sie Ziel und Zeit. Gelingt dies, sind die Berührungen achtsam, die Küsse seelenvoll und die oralen Lustbarkeiten eine Wonne. Es werden Ihnen spontan immer neue Spielereien einfallen, die Ihnen beiden Freude machen. Und es wird völlig unwichtig werden, wie lange es dauert.

Erotische Fantasien machen süchtig

Es gibt nichts, was so unmittelbar anmacht wie erotische Fantasien. Das, was uns erregt, ist Teil unserer sexuellen Prägung, und diese ändert sich im Laufe des Lebens nicht.

Inhalte dieser Kopffilme können ganz normale Praktiken sein mit einem zusätzlichen Kick, zum Beispiel Sex mit Unbekannten, mit mehreren Männern beziehungsweise Frauen, mit dem Chef oder Celebrities. Aber sie reichen oft weiter. Was soll man davon halten, wenn man Lust dabei empfindet, vergewaltigt oder erniedrigt zu werden?

Schuldgefühle sind jedenfalls nicht angebracht. Keine Frau, die Ähnliches lustvoll fantasiert, will in der wirklichen Welt vergewaltigt werden. Betrachten Sie die Bilder in Ihrem Kopf als das Ergebnis eines kreativen Recyclings – unser Gehirn versucht Erfahrungen von Gewalt und Ausgeliefertsein – ganz gleich, ob kollektiv oder als eigenes Schicksal erlebt – zu bewältigen, indem es die Inhalte in einen Bereich verlagert, wo es damit spielen kann. Wenn wir fantasieren, haben wir die vollkommene Kontrolle darüber, in welcher Weise die Geschichte abläuft. Was man von einer realen Vergewaltigung nicht behaupten kann.

Erotische Vorstellungen auszuleben, sie zu inszenieren, ist noch schärfer, als sie nur zu imaginieren – wobei die jeweilige sexuelle Ausrichtung der Partner passen muss. Wenn sich einer gern fesseln lässt, muss der andere auch gern Fesseln anlegen. Das Ausagieren von Fantasien wird häufig als stärkste oder gar ideale Ausdrucksform der Sexualität gesehen, da es besonders stark stimuliert. Doch der Partner wird dabei instrumentalisiert und nicht als er selbst wahrgenommen. Vergleichbar ist das mit einer parallelen Realität – in dem Film 9½ Wochen findet man das wunderbar in Szene gesetzt: Die Protagonistin (Kim Basinger) lebt zunehmend in zwei völlig unterschiedlichen Wirklichkeiten, und die Rückkehr zu »normalem« Sex wird ihr vermutlich schwerfallen nach der bizarren Intensität der sinnlichen Spiele, zu denen sie sich (gern) verführen lässt.

Erotische Fantasien sind Yang-Sexualität in reinster Form, die wirkliche Begegnung hat darin keinen Platz. Wenn man diese Bilder inszeniert, erlebt man eher eine Komplizenschaft mit dem Spielpartner als wirkliche Verbundenheit.

Genießen Sie das, was Sie heimlich erregt, in Maßen und ohne abwehrende Gefühle, aber füttern Sie es nicht auch noch zusätzlich. Wenn Sie in der Yin-Sexualität die Herzensverbindung mit Ihrem Partner suchen, brauchen Sie dazu Ihren Körper, Ihre Energie, Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Sinne – und kein Kino.

Er muss stehen

Die Erektion des Mannes wird in unserer Kultur in erster Linie mit Leistung in Verbindung gebracht und nicht so sehr mit Lust. Der Phallus steht für das pure Yang-Prinzip und glorifiziert es auf groteske Weise. Viele Männer tanzen um das Ding, das aus ihrer Mitte herausragt, herum wie um einen Götzen. Es ist Wahrzeichen, Stolz und Angstgegner gleichzeitig. Ein Mann definiert sein Selbstwertgefühl nicht selten über seine Erektionsfähigkeit. Wer nicht potent ist, ist kein Mann. Der Leistungsdruck ist enorm, und insbesondere die Pornografie heizt völlig übertriebene erotische Idealvorstellungen an, die diesen Druck noch steigern.

Dabei zählt das männliche Genital selbst nicht viel, nur im erigierten Zustand ist es von Bedeutung. Woher kommt aber diese Penisverliebtheit, die an Wahn grenzt? Warum wird dieses Körperteil so überbewertet?

Die Antwort ist einfach: Es stellt eine Schlüsselrolle in der Abgrenzung zum Weiblichen dar. Der Mann kann sich damit eindeutig als Mann definieren. Deshalb sind die Anforderungen an seinen Zauberstab auch so hoch. Groß soll er natürlich sein, die Erektion muss stehen wie eine Mit-telstreckenrakete, und auch der Abschuss soll selbstverständlich unter Kontrolle verlaufen. Der Wunsch nach einem eisenharten Riesenpenis entspringt dem Bedürfnis, eine Waffe zu haben. Und wenn er beim Sex nur hämmern will wie eine Maschine, offenbart sich die Furcht vollends: Da soll keine Verbindung zur Frau entstehen, das ist ein Wegstoßen.

Überhaupt ist der Stress groß für einen Penis. Er muss funktionieren, und er muss ertragen, als Bösewicht angesehen zu werden. Täglich wird er mit Reizen bombardiert und meist auch ziemlich hart angefasst. Kein Wunder, dass er manchmal kapituliert. Oder so übererregt ist, dass er schon vor dem Start das Ziel erreicht. Wenn ein Mann ständig Halbmast flaggt oder viel zu schnell kommt, wäre ihm eine körperliche Ursache dafür am liebsten. Psychische Gründe empfinden die meisten als ein noch schlimmeres Versagen. Psyche ist Schwäche!

Die männliche Lust gebärdet sich als pures Yang, lässt nicht den schmalsten Spalt dafür, schüchtern sein zu dürfen, auch mal unsicher, nicht immer topfit, sondern auch mal erschöpft. War die Leistung nur mittelprächtig, steigt sofort der Anspruch fürs nächste Mal, und so schaukelt sich das Problem hoch. Aber einen schwachen Schüler zu prügeln hat selten einen Klassenprimus aus ihm gemacht.

Dabei ist die Erektionsfähigkeit kein Garant für ein erfülltes Sexualleben. Ohne Zärtlichkeit fehlt etwas, nicht nur den Frauen, die sich nicht selten von dem Getue um die Aufrichtungen terrorisiert fühlen – entweder weil sie zu oft stattfinden, weil sie sie bewundern müssen oder weil sie ausbleiben.

Ein Penis, der zur Unzeit weich wird, drückt vielleicht aus, dass der Mann auch gern weich werden würde, seine Gefühle zulassen, seine Überforderung eingestehen möchte, seinen Wunsch nach tiefer Entspannung. All das, was hinter einer Fassade aus Leistungsfähigkeit und Perfektion versteckt wird.

Darum, Männer, entkrampft euch bitte. Vielleicht bricht die Welt gar nicht zusammen, wenn die Rakete nicht abgeht. Yin-Energie bedeutet, es nicht unbedingt zu wollen, Reize zu reduzieren und auch den damit verbundenen Anspruch. Die später folgenden Anregungen und Übungen im Kapitel »Mehr Energie in der Sexualität« (s. S. 233) sind nicht als bloße Techniken zu verstehen, sondern als Einladungen, um sich zu öffnen und Vertrauen zu fassen. Das ist wahre Stärke:

»Er war sechzig, ich war zwanzig, seine Erektion ziemlich unzuverlässig. Sie kam eher geschlichen als gerannt. Aber mir imponierte wahnsinnig, dass er nicht das geringste Problem damit hatte, mir nichts beweisen musste. Er war ein unglaublich souveräner Liebhaber, die Zeit mit ihm werde ich nie vergessen.«

Orgas-Muss?

Zum Ozean werden – weibliches Lustempfinden

Ein gar nicht so geringer Prozentsatz von Frauen hat nie einen Orgasmus erlebt (fünf bis fünfundzwanzig Prozent selten oder nie). Viele schaffen es, bei der Selbstliebe problemlos einen Höhepunkt zu bekommen, beim Partnersex aber nicht. Anderen gelingt ein solcher nur in einer einzigen, ganz bestimmten Stellung. Und die Frauen, die in jeder Lage sehr leicht und mehrfach ekstatische Wonnen erleben können, sind relativ überschaubar. Hemmungen mögen ein Grund für schwache sinnliche Reaktionen sein, doch es gibt genügend Beispiele, dass auch schüchterne Frauen wie die Feuerwehr kommen und sexuell sehr offene schwer dafür arbeiten müssen. Experimentieren Sie ausgiebig mit Ihrem Orgasmus; jede Frau sollte ihr persönliches Maximum erreichen können. Wenn es psychische Gründe sind, die Ihr Vergnügen behindern, Sie Schwierigkeiten haben, sich gehen zu lassen, die Routine im Bett oder die erotischen Qualitäten Ihres Gefährten der Engpass sind, dann heben Sie Ihr verstecktes Potenzial. Tun Sie alles, um lustvoll und frei mit Ihrer Sexualität umzugehen, Selbstliebe ist wichtig, erforschen Sie den Beckenboden, G-Punkt, bestimmte Techniken und Stellungen.

Und anschließend lassen Sie los. Natürlich will man bei einer Bergwanderung am liebsten das Gipfelkreuz erreichen, aber wenn man grade für den Dreitausender nicht in Form ist, kann man trotzdem eine traumhaft schöne Tour genießen, die Sonne, den Wald, die Natur, den eigenen Körper in Bewegung, das Atmen, frische Luft … Wer eine Bergpartie nur macht, um ganz oben zu stehen, hat das Leben nicht begriffen. Nicht jede Frau kann, will, muss mehrfach und immer. Einen »richtigen« Orgasmus beschreiben Frauen oft wie eine Welle, die sich am höchsten Punkt überschlägt. Dabei kann man sich den klitoralen Orgasmus wie eine steile Welle vorstellen, der vaginale fühlt sich im Vergleich dazu wie eine weniger hohe, letztlich aber mächtigere Welle an, die sich ebenfalls am höchsten Punkt der Erregung bricht. Der G-Punkt – ein erogenes Drüsengewebe an der Vorderwand der Vagina – trägt maßgeblich dazu bei. Viele Frauen erleben eine Mischform aus diesen beiden Orgasmen. Gemeinsam ist, dass es dabei zu unwillkürlichen Kontraktionen des Beckenbodens kommt, einem lustvollen Pulsieren und einer Art Reset im Hirn. Für Sekunden verliert man die Kontrolle. Traumhaft.

Und was ist, wenn die Welle sich nicht überschlägt?

Dann werden Sie einfach zum Ozean.

Nahezu unbekannt ist der Muttermundorgasmus, der so breit und tief ist, dass er nicht als Orgasmus wahrgenommen wird. Er ist wie eine flach bleibende, aber dennoch machtvolle Woge an erotischem Wohlbefinden, ein Öffnen, ein Weit-Werden, eine breite orgasmische Energie. Dabei entstehen keine Kontraktionen, sondern man erfährt eher ein Strömen. Es ist eine subtile Wahrnehmung von sich ausbreitender Energie, verbunden mit tiefen Liebesgefühlen. Bei Frauen, die keinen Orgasmus erreichen und Sex trotzdem sehr genießen, sind vermutlich diese sanften und lang nachwirkenden ekstatischen Vibrationen der Grund dafür.

Ausgelöst wird diese wunderschöne Empfindung durch den Kontakt von Penis und Muttermund, der eine spezielle Energie fließen lässt. Das findet wohl auch bei starken Stößen statt, aber wenn diese Begegnung ruhig und vertrauensvoll geschieht, bekommt es eine besonders feine und intensive Qualität. Paare, die sich in ihre Erregung hineinentspannen, die nichts erreichen wollen als sich gegenseitig vor allem zu genießen, laden diese Form von Erleben ein.

Gründen Sie sich deshalb tief in der Gegenwart, im Spüren. So werden Sie alle Variationen an wonnigen Empfindungen genießen und wertschätzen können.

Gemeinsam einsam beim Orgasmus?

Das ist eine Frage, die selten gestellt wird: Muss ein Höhepunkt überhaupt sein? Eigentlich macht er doch häufig genug Probleme. Wenn es gar nicht klappt, muss man mit der Frustration umgehen. Wenn es schwierig ist, ihn zu erreichen, dreht sich beim Liebemachen oft alles nur um den Gipfelsturm und gar nichts um die Sinnlichkeit. Und wird er bei beiden leicht erreicht, wird er erstaunlich schnell nebensächlich.

Die Bedeutung des Orgasmus wird überhöht – was auch verständlich ist. Dieses Gefühl, dieses Überflutetwerden, dieser Rausch, für ein paar Augenblicke nichts zu denken und danach in eine Entspannung zu sinken, die einzigartig und köstlich ist, das ist einfach umwerfend. Selbstverständlich sind wir wild auf dieses Erleben. Für Männer ist Sex ohne Orgasmus kein Sex. Und Frauen fühlen sich als Liebhaberinnen zweiter Klasse, wenn sie nicht zur »Big-O«-Spitzengruppe gehören und zuverlässig und am besten mehrfach kommen können.

Das Streben nach dem Höhepunkt hat jedoch einen großen Haken für die Lust: Es führt in einen Tunnel. Männer können ihn schon in dem Moment betreten, wenn sie eine Frau auf einen Kaffee einladen. Frauen spätestens dann, sobald sie anfangen, auf ihren Orgasmus hinzuarbeiten. Dieser Sog ist fast unwiderstehlich. »Der Saft muss raus, koste es, was es wolle« – das jedenfalls meinen die meisten Männer.

Das unbedingte Streben danach macht uns im Orgasmus einsam, deshalb wird der gemeinsame Höhepunkt auch so ersehnt. Doch letztlich sind wir bei diesem speziellen Erlebnis nur gemeinsam einsam, wirkliche seelische Verbindung entsteht anders.

Für eine Sexualität mit Leib und Seele müssen Sie lernen zu verweilen, und das bedeutet, den Orgasmus erst einmal zu vergessen. Es darf einer kommen, aber wenn Sie von Anfang an nichts anderes im Kopf haben, nur ihn, können Sie sich nicht in der Gegenwart ausdehnen, in Ihren Empfindungen. Erst wenn Sie den Orgasmus weit nach hinten schieben, schaffen Sie Platz für das Yin.

Die Wahlfreiheit des Mannes am Gipfel

Kein Ziel zu haben, das klingt für Männer meist nicht sehr verführerisch. Sie wissen lieber, wohin sie wollen, und beim Sex arbeiten sie gern daran, wie oft sie hintereinander können. Begierig hören sie Geschichten über Multiorgasmen, denn das klingt nach einer ordentlichen Leistung.

Bitte vergessen Sie den multiplen Multisuperturboorgasmus. Eine echte Leistung ist es, wenn Sie in Ihrem Penis präsent sind, die Vagina spüren, in der Sie sich gerade aufhalten, vielleicht sogar mit gelassenen, langsamen Bewegungen. Machen Sie Liebe, veranstalten Sie keine Leistungsshow. Vielleicht lassen Sie den Orgasmus auch mal ganz, einfach aus dem Grund, weil es so schön ist:

»Es war spätnachts, und wir hatten einen traumhaften Tag an einem See verbracht. Beim Sex stimmte alles zwischen uns; er war total aufmerksam, und ich hatte zwei, drei Höhepunkte. Er ging so mit mir mit, dass wir ein paar Minuten einfach nur glücklich dalagen, er noch in mir. Doch dann rappelte er sich plötzlich wieder hoch – und begann zu ›arbeiten‹. Es fühlte sich irgendwie nicht richtig an, und ich fragte ihn: ›Du, willst du jetzt wirklich noch?‹ Da brach er fast erleichtert auf mir zusammen. Fast im selben Moment sind wir eingeschlafen. Und am nächsten Morgen haben wir gleich als Erstes eine kleine Nummer geschoben.«

Es einfach mal zu lassen hat mehrere Vorteile. Die Energie bleibt erhalten. Zu viele Orgasmen, die beim Mann in den allermeisten Fällen mit einer Ejakulation verbunden sind, erschöpfen. Gut möglich, dass Männer, die keine Lust auf Sex haben, nur instinktiv ihre Ressourcen schonen. Dazu müssten sie allerdings nicht auf Sex verzichten, sondern nur auf die Ejakulation. Das kann eine interessante Spannung aufbauen:

»Die Woche über kommt mein Mann immer total erledigt nach Hause. Da lief früher gar nichts, und am Wochenende meist auch nichts. Bis wir den aufgestauten Frust abgebaut hatten, war es Sonntagabend, und er dachte schon wieder an die nächste Arbeitswoche. Jetzt haben wir vereinbart, dass ich ihn unter der Woche überfallen, meine Zärtlichkeitsgefühle an ihm austoben darf, wobei er aber nichts leisten muss. Meistens schaffe ich es, dass wir uns vereinigen und ein wenig miteinander bewegen. Aber es herrscht Orgasmusverbot. Er darf nicht. Und manchmal möchte er dann doch schon fast. Wenn das ein-, zweimal unter der Woche so läuft, ist er am Wochenende richtig heiß, und wir haben eine schöne erotische Zeit miteinander.«

Männer mit Überdruck sehen in solchen Abmachungen natürlich keinerlei Sinn, sie brauchen die Ejakulation als Ventil, um allgemeine Spannungen abzureagieren. Aber doch bitte nicht in der Vagina! Lieber Laufschuhe an und ab in den Wald. Und gute Selbstliebe praktizieren, also sich nicht schnell Erleichterung verschaffen, sondern den ganzen Körper einbeziehen. Der Grund für den ungesund hohen Druck ist ja, dass alle Energie in den Penis fließt und keine in den Körper, als würde die Lust gleichsam in einem betonierten Kanalbett dahinrauschen. Wäre es nicht viel schöner, wenn sie mäandernd durch die Landschaft zöge?

Gerade Männer mit Überdruck sollten lernen, zu verweilen, Energie zu verteilen und weit zu werden – wozu übrigens auch so »grauenhaft öde« Dinge wie Yoga oder Tai-Chi gut sind. Durch diese Techniken lädt sich der ganze Körper mit vitaler Energie auf, und der zwanghafte Wunsch, unbedingt Sex und natürlich eine Ejakulation haben zu müssen, wird schwächer. Tun Sie es lieber weniger oft, und streben Sie stattdessen intensivere Orgasmen an. Dann ist es irgendwann kein Verzichten mehr, wenn Sie nicht zum Abschluss drängen, sondern ein Abwägen: Welches Erleben ist mir jetzt wichtiger, ein rascher, heißer Höhepunkt und danach ein flottes Abschlaffen? Oder eine Woge an Energie, die lange verweilt und ein vibrierendes, inniges Nachglühen miteinander ermöglicht?

Willkommen in der Liebesschule

Das Wort »Schule« weckt selten angenehme Assoziationen, und in Bezug auf Erotik hätte man es am liebsten, nichts lernen zu müssen, weil man alles bereits beherrscht – eine romantische Vorstellung. Doch man setzt sich auch nicht einfach in ein Auto und braust mit wehendem Haar in den Sonnenuntergang, sondern nimmt erst Fahrstunden, um so ein Gefährt bedienen und sich mit den anderen Verkehrsteilnehmern arrangieren zu können. Auch in einer Liebesschule gäbe es vieles zu lernen, vorzugsweise, bevor man den ersten Sex hat: Was Sie ab Seite 103 unter den »Liebes- und Leibesübungen« finden, wäre Teil des Lehrplans.

Ganz zu Anfang stehen natürlich Beckenbodenübungen. Damit stärken Sie Ihre Körperbasis, was für Frauen und Männer gleichermaßen wichtig ist. Zusätzlich erfahren Sie, wie Sie Ihr Becken und die speziellen Muskeln darin erotisch zum Einsatz bringen können.

Danach dreht sich alles um Selbstliebe – für den Sex und fürs Herz. Im Anschluss daran finden Sie zahlreiche Anregungen für eine gemeinsame Sprache der Liebe, denn sich über Intimes austauschen zu können ist befreiend und verbindend. Ein Zauberschlüssel, der alles Erleben bunter und intensiver macht, ist, ganz und gar im Hier und Jetzt zu sein. Und zu guter Letzt werden Sie noch in eine andere Art des Liebemachens eingeführt.

Beim erotischen »Nachhilfeunterricht«, der vermutlich den meisten von uns etwas bringt, weil keiner eine Liebesschule besuchen konnte, hätten viele gern einfache Tipps und Stellungen, möglichst mit exakten Anleitungen.

Aber genau vorgegebene Lösungen haben einen gravierenden Nachteil: Wenn Sie die befolgen, achten Sie hauptsächlich darauf, alles richtig zu machen, und weniger darauf, wie Sie und Ihr Partner sich dabei fühlen. Für eine gute Übersetzung genügt es nicht, nur gelernte Vokabeln aneinanderzureihen, Sie müssen Sprachgefühl mit einfließen lassen. Daher möchte ich Sie dazu ermuntern, ein entsprechendes »Sexgefühl« zu entwickeln. Das Richtige zur richtigen Zeit zu tun ist wichtiger, als exakte Stellungen auszuführen. Wenn Sie Ihre Wahrnehmung intensivieren, werden Sie nur Dinge tun, die in Einklang mit Ihrer Seele sind.

Deshalb sind die Anleitungen, die Sie im folgenden zweiten Teil finden, bewusst offen gestaltet. Erlauben Sie sich, in Kontakt mit sich selbst zu kommen und offen, experimentierfreudig und feinfühlig an alles heranzugehen. Dann finden Sie von selbst heraus, was Sie für Ihre ganz persönliche Ekstase brauchen. Was Sie von innen heraus entwickeln, ist für Sie richtig und hat am meisten Kraft.

Genießen Sie das Lernen in der Liebesschule!