John kam durch die Hintertür in die Küche. Als er Sabiha auf die Wange küsste, zuckte sie zusammen, so kalt waren seine Lippen. »Ich habe alles dabei.« Er stellte die Einkaufstasche auf die Arbeitsplatte. »Sonja kommt Montag früh her, und dann fahre ich dich zum Flughafen.« Er zog Mantel und Schal aus und hängte sie an die Haken im Flur.
Auf dem Markt hatte Sonja ihn streng gemustert. »Was ist mit dir und Sabiha? Betrügst du sie etwa?« Sie war eine kleine stämmige Frau von Mitte fünfzig und sah so aus, als wäre sie nie etwas anderes gewesen als die robuste, füllige Mutter von zwei erwachsenen Mädchen, beide unverheiratet. Sonjas Haut war so jugendlich wie die Haut ihrer Töchter, sie hatte die Wangen und Hände eines Teenagers, samtig und weich.
John hatte gelacht, als sie ihn das fragte.
»Das war kein Witz«, erklärte Sonja daraufhin. »Ich erkenne Sabiha nicht wieder. Du solltest dich besser um sie kümmern. Eine solche Frau findest du kein zweites Mal. Bilde dir ja nicht das Gegenteil ein.« Sie wog ihre Ras-el-Hanout-Mischung aus, Sabiha zufolge die beste von Paris. »Du bleibst schön zu Hause und siehst nach dem Rechten«, ermahnte ihn Sonja. Dann reichte sie ihm die verschiedenen Gewürzpäckchen und benannte bei jedem den Inhalt, während sie Sabihas Liste überflog. Zum Schluss gab sie ihm ein großes Glas dieses aromatischen Honigs, der in französischen Läden nicht zu finden war.
»Du bist kein Tunesier«, stellte Sonja fest. Als er sie fragte, wie er das auffassen sollte, wiederholte sie nur: »Du bist kein Tunesier.« Als läge es auf der Hand, was sie damit meinte. »Wir sehen uns Montag früh. Pass gut auf Sabiha auf!« Sonjas mütterliche Ader führte dazu, dass sie sich beinah für alle, die sie kannte, verantwortlich fühlte.
»Hast du Bruno gesehen?«, fragte Sabiha. Der Klang seines Namens, von ihr selbst ausgesprochen, erschütterte sie.
John trat neben sie. »Er war nicht da. Sein Stand war mit einer Plane abgedeckt.«
»Und der Lieferwagen?«
»Auch nicht da.« John zuckte mit den Achseln. »Sollte ich vielleicht Angela anrufen? Was meinst du? Was geht uns das eigentlich an?«
Eine furchtbare Angst durchzuckte Sabiha. Sie musste John unbedingt die Wahrheit beichten. Sie konnte sie ihm nicht länger vorenthalten. Er durfte sie auf keinen Fall von einem anderen erfahren. Das wäre einfach entsetzlich.
*
Der Tag verstrich, ohne dass Sabiha ihre Beichte ablegte. Es gab so viel zu tun, und schließlich ließ ihre Panik nach. John und sie verrichteten wie gewohnt ihre Arbeit, und ehe sie sich’s versahen, war es wieder Abend und sie waren müde und reif fürs Bett. Montagmittag wäre Sabiha schon in El Djem bei ihrem sterbenden Vater und ihrer Schwester.
Am Freitagnachmittag war sie ins Krankenhaus gegangen. Dort wartete sie zwei Stunden auf eine Untersuchung. Der Frauenarzt bestätigte ihr, dass sie schwanger war. Auf der Rückfahrt in der Métro überkam Sabiha das Gefühl einer Enttäuschung. Auch wenn sie sich sagte, dass sie endlich ihr Baby nach El Djem bringen würde, war doch alles anders als gedacht. Der Traum hatte einen Beigeschmack von Tod. Sie und Zahira würden von ihrem Vater Abschied nehmen. Es war das Ende. Anstatt froh und glücklich zu sein, fühlte sie sich niedergeschlagen, traurig und seltsam leer, als könnte selbst ihr Kind unmöglich das sein, was sie sich erträumt hatte. Musste sie damit rechnen, dass auch die Mutterschaft sich als Enttäuschung herausstellen würde?
Wieder im Chez Dom, rollte sie den Teig für eine frische Ladung honiggetränkter Briouats aus, die am Samstagabend gereicht werden sollten. Dass ihre Tränen sich mit dem Teig vermischten, sprach für den stillen Triumph eines geregelten Alltags.
Vor dem Samum steht alles still. Es herrscht eine vollkommene Reglosigkeit, die die ganze Feuchtigkeit aus der Luft zieht, aus den Lungen und aus dem Kopf. Ihre Großmutter hatte diese Art von Stille als Lachen der Götter bezeichnet. Sabiha hatte sich immer gefragt, warum. Jetzt wusste sie es. An diesem Tag erkannte Sabiha, was ihre Großmutter gemeint hatte. Sie hörte das Lachen der Götter. Es ist ganz gleich, für welchen Weg man sich entscheidet. Es kann nie der richtige sein. Es gibt keinen richtigen Weg.