Geheime Konten

Sören hätte den restlichen Abend lieber gemeinsam mit Tilda am heimischen Kamin verbracht, aber jetzt musste er dringend mit Martin sprechen. Nicht nur wegen der Unterlagen, sondern vor allem darüber, was Schmidlein ihm soeben hatte ausrichten lassen. Es war zwar nur ein Zettel, den der Bote gebracht hatte, aber die darauf notierte Adresse hatte es in sich.

Willi Schmidlein war sofort einverstanden gewesen. Nicht nur wegen des Quartiers, das Sören ihm in Aussicht gestellt hatte. Für ihn war es eine Ehrensache gewesen. Sören hatte ihm genug Geld für vielleicht notwendige Droschkenfahrten und einen Boten gegeben, bevor sie sich an der Kaffeeklappe getrennt hatten. Es hatte also tatsächlich funktioniert. Sie hatten den Spieß einfach umgedreht und den Verfolger zum Verfolgten gemacht. Sören wollte Gewissheit haben, wer der Mann war, der ihn beschattete. Das wusste er jetzt zwar immer noch nicht, aber es gab kaum einen Zweifel, für wen er arbeitete. Die Adresse, die der Mann aufgesucht hatte, nachdem Sören heimgefahren war, kannte er nur zu genau. Sören war zutiefst beunruhigt, jetzt bekam die Angelegenheit wirklich bedrohliche Züge.

Er hatte sich für den nächsten Nachmittag mit Willi Schmidlein vor dem Panoptikum verabredet. Bevor Schmidlein bei der Polizei seine Aussage machte, wollte Sören sich vergewissern, dass der Hinterhof in der Schmuckstraße, in dem man die Leiche von Simon Levi gefunden hatte, tatsächlich der Ort war, an dem David den Mann niedergeschlagen hatte. Vorher musste Sören noch mit Lisbeth sprechen und sie davon in Kenntnis setzen, dass Schmidlein für eine gewisse Zeit im Haus in der Gertrudenstraße unterkommen würde. Er war sich sicher, dass sie nichts dagegen einzuwenden hatte. Platz gab es dort schließlich genug, und wahrscheinlich war Lisbeth sogar froh, wenn sie ein wenig Gesellschaft bekam. Schmidleins Unterbringung hier in der Feldbrunnenstraße war jedenfalls zu heikel, zumal er davon ausgehen musste, dass das Haus überwacht wurde, solange er hier war. Sören hatte zwar nichts Auffälliges entdecken können, als er vorhin vom Schlafzimmerfenster aus vorsichtig einen Blick auf die Straße geworfen hatte, aber das wollte nichts heißen.

Er musste Tilda dreimal versprechen, auf sich Acht zu geben, dann nahm er das Fahrrad und trat wie von Sinnen in die Pedale. Erst in nördliche Richtung, dann kreuzte er die Heimhuderstraße und fuhr den Heimweg bis zum Mittelweg, schlug einen letzten Haken über Böttgerstraße und Magdalenenstraße und bog trotz des riesigen Umwegs nach nur wenigen Minuten Fahrzeit in die Alte Rabenstraße ein. Zweimal hatte er außerdem angehalten, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war, was aber bei dem Tempo, das er vorgelegt hatte, so gut wie unmöglich schien. Sören fühlte sich, als hätte er soeben das Sechstagerennen beendet. Schweißgebadet betätigte er Martins Glocke.

«Du bist ja völlig außer Atem», begrüßte Martin ihn, nachdem er die Tür hinter Sören geschlossen hatte.

«Komme ich ungelegen?», fragte Sören. Martin trug nur einen Hausmantel und Puschen, was ungewöhnlich war.

«Ich wollte mir gerade ein Bad einlaufen lassen.» Er machte eine abwertende Handbewegung. «Aber das kann warten. Was gibt’s denn?»

«Ich werde verfolgt.»

Martins Gesicht verfinsterte sich. «Verfolgt?», fragte er. Gleich darauf löschte er das Licht im Entree und warf einen kontrollierenden Blick durch das schmale Fenster neben der Garderobe.

«Nein, nicht bis hierher», beruhigte ihn Sören. «Ich hätte ihn abgehängt. Bin gefahren wie der Teufel.»

«Wer verfolgt dich?»

«Ich kann es selbst kaum glauben.» Sören presste die Lippen aufeinander. «Aber ich bin mir ziemlich sicher.»

«Mach es nicht so spannend.»

«Der Kerl aus dem Hotel», antwortete Sören.

«Ja und? Das weißt du doch. Er ist hinter den Papieren her. Der Einbruch in deine Kanzlei wird auch auf sein Konto gehen.»

«Sicher.» Sören nickte. «Wenn es nur das wäre …, aber ich muss davon ausgehen, dass der Kerl ein Vigilant der Polizei ist.»

«Was?» Martin schaute Sören entgeistert an. Dann schüttelte er den Kopf und deutete auf die Tür zum Herrenzimmer. «Da ist noch Glut im Kamin. Leg zwei neue Scheite auf. Ich zieh mir nur schnell was an.»

 

Es dauerte keine Minute, bis die Glut das trockene Eichenholz entzündet hatte. Die Flammen züngelten gierig um die Scheite. Knisternd spritzten Funken umher, dann beruhigte sich das Feuer, und schon kurze Zeit später breitete sich behagliche Wärme im Raum aus. Obwohl Martin ungewöhnlich aufgeregt wirkte, hatte er es sich nicht nehmen lassen, eine Flasche Rotwein zu öffnen. «Und woher weißt du das?», fragte er, während er den Inhalt der Flasche behutsam in eine Karaffe dekantierte.

Sören erzählte ausgiebig von seinem Besuch auf der Werft und dass Schmidlein dem Mann später bis zum Stadthaus gefolgt war. «Es gibt eigentlich keinen Zweifel», schloss er seine Ausführungen.

«Das wirft ein ganz neues Licht auf die Sache.» Martin schwenkte sein Weinglas. Nachdenklich betrachtete er den Inhalt, dann hielt er das Glas gegen die Flammen im Kamin, als wollte er seinen Worten einen doppelten Sinn verleihen. «Bist du dir ganz sicher, dass es mehrere Personen sind, die dich beschatten, oder kann es auch sein, dass du den Kerl auf der Hinfahrt nur übersehen hast?»

«Vielleicht hat er sich sehr geschickt verborgen gehalten.» Sören zuckte unschlüssig mit den Schultern. Er merkte selbst, dass seine Worte nicht sehr überzeugend klangen. Schließlich war er sich sicher, dass der Mann beim Übersetzen zur Werft nicht auf der Barkasse gewesen war. Aber er wusste auch, was es in letzter Konsequenz bedeuten würde, wenn er sich nicht geirrt hatte.

«Du bist dir also sicher», entgegnete Martin und stierte weiterhin auf sein Weinglas. «Demnach können wir persönliche Motive für die Tat wohl ausschließen.»

«Schmidlein hat mir nur die Adresse zukommen lassen. Das sagt ja nicht, dass er wirklich Polizist ist. Er ist nur im Stadthaus verschwunden. Vielleicht … Außerdem habe ich es ja nicht gesehen, wie er Waldemar Otte aus dem Fenster gestoßen hat …» Es war einfach unvorstellbar. Aber Martin hatte natürlich recht. Sören wollte es nur nicht wahrhaben.

«Vergiss deine Einwände. Rate mal, warum man es sofort als Unfall bezeichnet hat. Die Polizei ist doch sonst nicht so schnell dabei, ein Verbrechen auszuschließen. Das ist doch auffällig. Der Empfangschef hätte sich mindestens an zwei Besucher erinnern müssen. Entweder hat man ihn bestochen, eine Falschaussage zu machen, oder man hat ihm einfach nahegelegt, die Klappe zu halten. Das passt alles zusammen.»

«Man hätte es ohne weiteres mir in die Schuhe schieben können.»

«Quatsch. Wenn man dir schaden wollte, dann wäre das längst geschehen. Glaub mir, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um Ottes Unterlagen. Um irgendetwas, das darin steht. Wahrscheinlich belastet es jemanden.»

«Und dieser Jemand hat genügend Einfluss, sich der Polizei bedienen zu können? Das wäre ungeheuerlich.»

«Aber so wird es sein.» Martin hielt einen Augenblick inne und konzentrierte sich wieder auf sein Weinglas, als könnte er darin des Rätsels Lösung lesen. «Was ist mit Ballin?», fragte er schließlich.

«Wenn man auf Schichau zu sprechen kommt, reagiert er nervös. Außerdem sagt er nicht die Wahrheit, was Waldemar Otte betrifft. Er streitet ab, ihn zu kennen.»

«Sehr verdächtig. Sein Brief kann ja noch nicht so alt sein.» Martin stand auf und legte neues Scheitholz in den Kamin.

«Wo sind die Papiere eigentlich?»

«Das sage ich dir besser nicht», antwortete Martin und schenkte Wein nach. «Es ist deine Versicherungspolice. Solange wir die Papiere haben, passiert dir nichts.»

«Wie beruhigend», meinte Sören ironisch. Er musste trotzdem schlucken, denn so deutlich hatte er es sich bislang nicht vor Augen geführt. Bisher war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass man Otte wegen der Papiere getötet hatte. «Wobei wir berücksichtigen müssen, dass in unserem Teil der Unterlagen vielleicht gar nichts Wichtiges steht. Der Kerl wird sich im Hotelzimmer nicht die Mühe gemacht haben, alles durchzulesen. Vielleicht geht aus den Papieren auch gar nichts hervor, aber dieser Jemand will einfach auf Nummer sicher gehen.»

«Doch, doch.»

«Was heißt: doch, doch?»

«Ich kann mir schon vorstellen, dass Ottes Unterlagen brisantes Material enthalten. Man muss es eben nur erkennen und deuten können.» Martin lächelte wissend. «Von meiner Seite gibt es auch Neuigkeiten. Vielleicht nicht ganz so gravierende wie von dir, aber immerhin … Vielleicht passt es sogar zusammen. Ich habe mich ein wenig schlau gemacht, was es mit diesen Konten auf sich hat. Anfangs dachte ich, es handle sich um gewöhnliche Transferkonten, aber dann habe ich Informationen über die Höhe der Einlagen erhalten, und das hat mich doch stutzig gemacht. Halt dich fest! Summa summarum ruhen da sage und schreibe über vierhundert Millionen Goldmark.»

«Vier-hun-dert Mil-lio-nen?», wiederholte Sören ungläubig.

Martin nickte. «Natürlich habe ich diese Auskünfte nicht auf legalem Weg bekommen. Ich bin zwar ein langjähriger Geschäftspartner und kenne Max Schinckel recht gut, aber für solche Nachforschungen habe ich andere Quellen.»

Sören verkniff es sich, nachzufragen, wer der Informant war. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um einen von Martins guten Freunden, der an der Quelle saß. «Wem gehören die Konten?»

«Das ist nicht so einfach zu durchschauen. Scheinbar handelt es sich dabei um ein Konsortium verschiedener Industrie- und Handelsunternehmen. Das habe ich über die Eingänge feststellen können. Borsig ist dabei, Fritz Friedländer-Fuld sowie Krupp aus Essen, aber auch andere Namen tauchen auf, etwa James Simon aus Berlin. Den größten Teil des Kuchens, den man namentlich zuordnen kann, hat dabei Friedrich Alfred Krupp beigesteuert. Der gute Capri-Fischer hat alleine mehr als zwanzig Millionen Mark auf die Konten verteilt.»

«Capri-Fischer?»

Martin lächelte vielsagend. «So wird er hinter vorgehaltener Hand von denjenigen tituliert, die einmal seinen opulenten Feierlichkeiten in der Marina piccola auf Capri beiwohnen durften.» Er blickte kurz auf, als wollte er sich vergewissern, ob Sören den Wink verstanden hatte. «Wie du ja weißt, halte ich mich in den Übergangsmonaten gerne in wärmeren Gefilden auf. Aber ich schweife ab … Interessant scheint mir, wer die Konten eingerichtet hat. Das geschah nämlich in allen Fällen durch die Geschäftsführer der einzelnen Bankhäuser.»

«Ist das so ungewöhnlich?»

«Allerdings. Ein solcher Vorgang lässt darauf schließen, dass es zwischen Einzahlern und Bankinstituten einen außerordentlichen Vertrag gibt, wie es beispielsweise bei der Einrichtung von Spendenkonten üblich ist. Daran habe ich zuerst auch gedacht, aber die Summen sind einfach zu groß. Die Konten wurden alle im letzten Herbst angelegt, mehr oder weniger gleichzeitig. Bis dato ist nur ein einziger Ausgang verbucht, und der ging von der Norddeutschen Bank an die Schiff- und Maschinenbau AG Germania in Kiel.»

«Eine Werft.»

«Richtig. Aber nicht irgendeine Werft. Ich bin natürlich gleich neugierig geworden, weil mich der Verwendungszweck der Gelder interessiert hat. Und worauf bin ich gestoßen? Die Schiff und Maschinenbau AG Germania ist seit fast sechs Jahren ein Pachtbetrieb der Firma Friedrich Krupp in Essen. Eine vollständige Übernahme des Betriebs ist für dieses Jahr geplant. Aber das Beste kommt noch …» Martin klatschte freudig aufgeregt wie ein Kind in die Hände. «Weißt du, wer die Anweisung des Betrags unterschrieben hat? Du wirst es nicht glauben: Albert Ballin. Der Mann hat Prokura.»

«Was! Dann müssen das Gelder und Konten der Hapag sein.»

Martin schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht. Die Höhe der Einlagen übersteigt das Kapital der Hapag bei weitem. Ich denke vielmehr, es sind Konten, mit denen Großaktionäre der Hapag spekulativ in neue Aufträge der Hapag investieren. Die Hapag hält sich ja leider sehr bedeckt, was die Namen ihrer Aktionäre betrifft. Sonst hätte man das anhand der Einzahler verifizieren können.»

«Also ich kann deinen Gedankengängen nicht folgen.» Sören stand auf und ging im Zimmer auf und ab. «Krupp überweist Gelder an die Hapag. Und die Hapag bestellt dann wieder bei einem Unternehmen, das Krupp gehört. Das ist doch völlig unlogisch.»

Martin griff nach einer Zeitung, die zuoberst auf einem Stapel neben dem Tisch lag. «Die Hapag hat bei der Germania-Werft aber überhaupt kein Schiff im Bau», sagte er bedächtig und blätterte durch die Seiten. Schließlich schien er gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte.

«Hier.» Martin tippte auf einen Artikel. «Laut Bericht des Unparteyischen Correspondenten haben Hamburger Reedereien derzeit folgende Dampfschiffe in Bau. Die Hamburg-Amerika Linie führt die Liste mit elf Schiffen an. Zwei davon lässt man in Hamburg bauen, zwei Dampfer in Flensburg, zwei in Vegesack, ein Schiff in Rostock und zwei in England. Die Levante-Linie folgt auf Platz zwei mit sechs Schiffen, wovon je zwei in Hamburg und Rostock auf Kiel gelegt sind und je eins in Lübeck und Helsingör. Unser alter Klassenkamerad Woermann hat vier Schiffe bei Blohm + Voss in Hamburg bestellt, die Kosmos ebenfalls zwei in Hamburg, die Deutsche Ostafrika Linie hat einen Dampfer in Flensburg geordert, und in Geestemünde wird noch der Fünfmaster Preußen für die Laeisz-Reederei gebaut.»

«Lies noch mal vor», bat Sören und blieb nachdenklich vor dem Kamin stehen. – «Das macht neun und nicht elf Schiffe», sagte er schließlich, nachdem Martin der Aufforderung nachgekommen war. «Wenn die Zahlen stimmen, sind zwei Schiffe für die Hapag nicht näher aufgeführt.»

«Stimmt», bestätigte Martin, nachdem er die Zeilen noch einmal still überflogen hatte. «Es fehlen zwei. Und Kiel wird als Werftstandort gar nicht erwähnt.»

«Genauso wie der Norddeutsche Lloyd nicht aufgeführt ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die zurzeit kein Schiff in Bau haben.»

«Die Rede war nur von Hamburger Reedereien», korrigierte Martin. «Aber trotzdem stellt sich die Frage, ob das mit den zwei fehlenden Schiffen Zufall oder Absicht ist. Vielleicht solltest du Ballin …»

«… noch einmal einen Besuch abstatten und darauf ansprechen? Die Idee ging mir auch gerade durch den Kopf. Sag mal, hast du die besagten Papiere hier im Haus?»

Martin zögerte einen Moment, dann nickte er schließlich.

 

«Und das willst du ihm einfach so unter die Nase halten?», fragte Martin, nachdem sie das Schreiben von Ballin an Otte noch einmal genau studiert hatten. «Das wäre ein Affront, wenn du mich fragst.»

«Er wird es nicht von der Hand weisen können», entgegnete Sören. «Hier, er schreibt wörtlich: verbleibe mit dem Wunsch einer guten Zusammenarbeit  Das hatte ich die ganze Zeit im Hinterkopf, aber ich war mir nicht mehr sicher. Allein die Formulierung deutet darauf hin, dass es sehr wohl einen Vertrag zwischen Hapag und der Schichau-Werft gibt.»

«Zumindest ist etwas in Aussicht gestellt», ergänzte Martin. «Wenn du ihm das Schreiben zeigst, dann bezichtigst du Ballin der Lüge. Und das, was du von seinem Nervenkostüm berichtet hast, lässt nichts Gutes erwarten.»

«Jedenfalls keine angenehme Plauderei, richtig. Aber weißt du eine Alternative?»

«Ehrlich gesagt nein. Nicht, wenn wir herausbekommen wollen, was es mit diesen Konten auf sich hat. Allerdings solltest du dir schon mal eine glaubwürdige Geschichte ausdenken, wie du an diesen Brief gekommen bist. Der Name Waldemar Otte wird fallen … und dann? Über das Ableben seines Geschäftspartners ist er womöglich informiert. Willst du ihm etwa erzählen, dass du annimmst, er könnte etwas mit dem Tod von Otte zu tun haben? Er wird dich hochkant rausschmeißen!»

Sören machte ein nachdenkliches Gesicht. Keine Frage, Martin hatte recht. Wortlos starrte er auf Ottes Papiere und Briefe, die ausgebreitet vor ihm lagen. Er wusste nicht mehr, wie oft er die Unterlagen schon durchgegangen war, war sich aber immer noch sicher, dass sie ein Geheimnis bargen, das sie bislang übersehen hatten. Ein Geheimnis, das einen Mord rechtfertigte. War es die Existenz dieser ominösen Konten, deren genaue Funktion sie sich nicht erklären konnten? Sören zweifelte keine Sekunde daran, dass angesichts einer solchen Größenordnung ein Menschenleben nichts zählte. Zumindest für den- oder diejenigen, die sich mit einem solchen Apparat einen kapitalen Vorteil versprachen. Aber hatte Otte überhaupt wissen können, welche Summen dort lagerten? Und wie war er überhaupt in den Besitz dieser Dokumente gekommen?

Blatt für Blatt und Zeile für Zeile ging er alles noch einmal durch. Martin hatte es sich derweil in seinem Sessel bequem gemacht und beobachtete Sören durch sein Weinglas hindurch. Die privaten Briefe von Otte gaben nicht den geringsten Hinweis auf irgendwelche Unstimmigkeiten oder sonstige Berührungspunkte zwischen Geschäft und privatem Leben. Er legte sie wieder beiseite und konzentrierte sich auf den Briefwechsel mit der englischen Werft Harland & Wolff. Wie er ja von Ballin erfahren hatte, ließ auch die Hapag Schiffe auf der Werft in Belfast bauen. Wenn es also um eine Ausschreibung ging, dann hätte sich die Schichau-Werft mit Sicherheit nicht bei einem Konkurrenzunternehmen über Erfahrungen im Bau von mit Turbinen angetriebenen Schiffen informiert. Andererseits stand die englische Werft nicht auf dem Verteiler des Schreibens der Hapag. Dort waren lediglich Werften aus Stettin, Geestemünde, Danzig und Hamburg aufgeführt. Zudem ging der Einsatz von Turbinen nicht aus den Vorgaben für den Bauplan des Schiffs hervor, sondern beruhte auf der Einschätzung der Schichau-Werft bezüglich der geforderten Leistung. Warum erklärte sich die Werft Harland & Wolff trotzdem sofort bereit, einen Mitarbeiter nach Hamburg zu schicken, um sich dort mit Waldemar Otte zu treffen?

An dieser Stelle stockte Sören jedes Mal – intuitiv fühlte er, dass hier etwas nicht stimmte, aber er konnte es nicht benennen. Möglich, dass es nur daran lag, dass das Geschäftsgebaren miteinander konkurrierender Unternehmen normalerweise anders aussah. Er wusste es nicht und legte den Brief wie jedes Mal unzufrieden auf den Stapel zurück.

Blieb noch das Schreiben aus dem Reichsmarineamt, das leider nicht vollständig war. Dummerweise fehlte der Briefkopf, sodass nicht ersichtlich war, an wen das Schreiben gerichtet war. Den wenigen Zeilen war nur zu entnehmen, dass es um eine Havarie auf der Ostsee ging, die sich im September letzten Jahres zugetragen haben musste. Demnach hatte ein nicht näher benanntes Schiff in rauer See einen Maschinenschaden davongetragen, und man bezweifelte, dass die angestrebte Geschwindigkeit überhaupt hätte erreicht werden können. Das Schreiben endete mit einem Verweis darauf, dass vergleichbare englische Schiffe inzwischen einen Geschwindigkeitsvorteil von mehr als fünf Knoten hätten, was aus verständlichen Gründen nicht hinnehmbar sei. Alle weiteren Details könne man bei besagtem Ortstermin im Januar besprechen. Wann und wo dieser Termin war, ging aus den Zeilen nicht hervor. Unterschrieben war der Brief von Staatssekretär Admiral von Tirpitz.

«Und wenn unsere bisherigen Überlegungen nun in eine völlig falsche Richtung zielen?», fragte Sören und machte einen tiefen Atemzug.

«Was meinst du?»

«Die Schichau-Werft in Danzig baut, wie andere Werften auch, Schiffe für die Kaiserliche Marine. Wenn du dir das Gelände von Blohm + Voss anschaust, dann könnte man denken, es sind fast nur noch Kriegsschiffe, die auf den Werften auf Kiel gelegt werden. So wie in den Kaiserlichen Marinehäfen in Wilhelmshaven und Kiel. Soweit mir bekannt ist, werden in Danzig vor allem Torpedoboote und kleine Kreuzer gebaut. So steht es in den täglichen Pressemeldungen über die Marine.»

«Aber die Hapag hat nichts mit der Marine zu tun.»

«Wer redet von der Hapag? Es geht um Ballin.»

Martin blickte Sören fragend an.

«Albert Ballin steht der Hamburger Sektion des Flottenvereins vor», erklärte Sören.

«Du meinst, die Konten gehören dem Flottenverein?»

«Das wäre doch denkbar, oder?»

«Aber warum dann dieses Geflecht? Warum die ganze Geheimniskrämerei? Das passt doch nicht.» Martin war irritiert. «Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes ist doch stets bemüht, die Werbetrommel zu rühren, und geht mit jedem noch so kleinen Erfolg an die Öffentlichkeit. Jede Kiellegung, jeder Stapellauf wird an die große Glocke gehängt. Und die Menschen feiern die schwimmende Wehr der Nation. Der Deutsche Flottenverein hat inzwischen bestimmt mehr als eine halbe Million Mitglieder, Tendenz steigend. Nicht einmal mehr die Abgeordneten des Zentrums blockieren die Vorlagen, die Tirpitz dem Parlament vorlegt. 1898 gab es noch Zweifler, aber vor zwei Jahren, als er mit der nächsten Flottenvorlage kam, hat man kaum noch Gegenstimmen vernommen.»

«Eben. Alle glauben, vom Flottenprogramm des Reichs profitieren zu können. Die Menschen sehen die entstehenden Arbeitsplätze, der Wirtschaft geht es prächtig. Nur außenpolitisch ist es ein riskantes Spiel, das Tirpitz treibt. Waffen dienen nicht nur der Abschreckung. Im Regelfall werden sie auch benutzt.»

«Deine mahnenden Worte in Ehren …» Martin rollte mit den Augen. «Darf ich dich daran erinnern, dass du Ilka im letzten Sommer einen Matrosenanzug gekauft hast.»

Sören blickte beschämt zu Boden. «Weshalb ich mit Tilda ziemlich heftig aneinandergeraten bin. Es war unüberlegt von mir. Ich glaube, sie hat ihn weggeschmissen.»

«Eine Überlegung ist es jedenfalls wert», griff Martin den Faden wieder auf und machte nun plötzlich ein ernstes Gesicht. «Auch die Institutionen, die Gelder auf diese Konten transferieren, profitieren schließlich vom Flottenbau. Krupp an erster Stelle. Unklar ist mir hingegen immer noch, warum das Ganze im stillen Kämmerlein stattfindet. Die einzige Erklärung dafür wäre, dass da etwas im Busch ist, das keinesfalls an die Öffentlichkeit kommen soll. Zumindest momentan nicht.» Er blickte Sören eindringlich an. «Wir werden es herausbekommen.»