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In meinem neunzigsten Jahr wollte ich mir zum Geburtstag eine liebestolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen schenken. Mir kam Rosa Cabarcas in den Sinn, die ein heimliches Bordell betrieb und guten Kunden Bescheid zu geben pflegte, wenn sie etwas Neues zu bieten hatte. Nie war ich dieser noch sonst einer ihrer obszönen Verlockungen erlegen, sie aber glaubte nicht an die Reinheit meiner Prinzipien. Auch die Moral ist eine Frage der Zeit, sagte sie mit einem maliziösen Lächeln, du wirst schon sehen. Sie war nur etwas jünger als ich, und ich hatte seit so vielen Jahren nichts von ihr gehört, dass sie inzwischen verstorben sein mochte. Doch nach dem ersten Klingelzeichen erkannte ich ihre Stimme am Telefon und sagte ohne Umschweife:
»Heute ist es so weit.«
Sie seufzte: Ach, du trauriger Gelehrter, zwanzig Jahre lang bist du verschwunden, dann tauchst du wieder auf und verlangst Unmögliches. Sogleich besann sie sich jedoch auf ihr Handwerk und machte mir ein halbes Dutzend köstlicher Angebote, allerdings nur Gebrauchtware. Ich insistierte, nein, das Mädchen müsse Jungfrau sein, und ich wolle es für eben diese Nacht. Beunruhigt fragte sie: Was willst du dir beweisen? Nichts, erwiderte ich, dort verletzt, wo es am meisten schmerzte, ich weiß genau, was ich kann und was nicht. Gleichmütig meinte sie, Gelehrte wüssten alles, aber eben doch nicht alles: Die einzigen Jungfrauen, die es auf der Welt noch gibt, seid ihr, die im August geborenen. Warum hast du mir den Auftrag nicht früher gegeben? Die Inspiration kündigt sich nicht an, sagte ich. Aber sie wartet vielleicht, sagte sie, wie stets schlagfertiger als jeder Mann, und bat, ich solle ihr wenigstens zwei Tage geben, um den Markt zu sondieren. Ich erwiderte ernst, dass bei einem solchen Geschäft und in meinem Alter jede Stunde ein Jahr ist. Dann geht es eben nicht, sagte sie ihrer Sache gewiss, aber egal, umso aufregender das Ganze, was soll's, in einer Stunde rufe ich dich an.
Ich brauche es nicht zu erwähnen, denn man sieht es mir meilenweit an: Ich bin hässlich, schüchtern und altmodisch. All das wollte ich nicht sein und habe deshalb das genaue Gegenteil vorgetäuscht. Bis heute, da ich aus eigenem, freien Willen beschließe, mich so zu schildern, wie ich bin, und sei es nur, um mein Gewissen zu erleichtern. An den Anfang stelle ich den unsäglichen Anruf bei Rosa Cabarcas, denn von heute aus gesehen, begann damit ein neues Leben, und das in einem Alter, in dem die meisten Sterblichen schon tot sind.
Ich wohne auf der Sonnenseite des Parks San Nicolás, in einem Haus aus der Kolonialzeit, in dem ich ohne Frau und Vermögen mein ganzes Leben verbracht habe, in dem schon meine Eltern lebten und starben und wo ich mir vorgenommen habe, allein zu sterben, in eben dem Bett, in dem ich geboren wurde, an einem Tag, den ich mir fern und schmerzfrei wünsche. Mein Vater ersteigerte das Haus gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, vermietete das Erdgeschoss an ein italienisches Unternehmen, das dort Luxusgeschäfte eröffnete, und reservierte für sich den ersten Stock, um hier mit der Tochter von einem der Italiener glücklich zu sein. Florina de Dios Cargamantos spielte vortrefflich Mozart, beherrschte mehrere Sprachen und verehrte Garibaldi, im Übrigen war sie die schönste und begabteste Frau, die es je in der Stadt gegeben hat: meine Mutter.
Das Haus ist geräumig und hell, hat stuckverzierte Bogen, Böden aus florentinischen Fliesen, im Schachbrettmuster verlegt, und vier verglaste Türen zu einem umlaufenden Balkon, auf dem meine Mutter an Märzabenden saß und mit ihren italienischen Kusinen Liebesarien sang. Von dort aus sind der Park San Nicolás, die Kathedrale und das Denkmal für Christoph Kolumbus zu sehen und in der Ferne die Speicher am Flusshafenkai und der weite Horizont des Rio Grande de la Magdalena, zwanzig Meilen vor seiner Mündung. Der einzige Nachteil des Hauses ist, dass die Sonne im Laufe des Tages von Fenster zu Fenster rückt und man sie allesamt schließen muss, um im glühenden Dämmerlicht Siesta halten zu können. Als ich mit zweiunddreißig Jahren allein zurückblieb, zog ich in das ehemalige Schlafzimmer meiner Eltern um, ließ eine Durchgangstür zur Bibliothek brechen und versteigerte nach und nach, was ich nicht zum Leben brauchte, und das war am Ende fast alles, außer den Büchern und dem Pianola mit den Notenrollen.
Vierzig Jahre lang habe ich beim Diario de la Paz Meldungen aufbereitet, eine Arbeit, die darin bestand, die verstümmelten Nachrichten aus aller Welt, die wir über Kurzwelle oder Morsezeichen im Himmelsraum abfingen, zu rekonstruieren und in der Prosa der Eingeborenen auszuschmücken. Heute ernähre ich mich mehr schlecht als recht von der Pension, die mir von diesem ausgestorbenen Beruf geblieben ist; schlechter noch von der eines Latein- und Spanischlehrers, kaum von der Sonntagsglosse, die ich über ein halbes Jahrhundert lang unverdrossen geschrieben habe, und überhaupt nicht von meinen Musik- und Theaterbesprechungen, die man aus reiner Gefälligkeit abdruckt, wenn mal wieder ein bedeutender Interpret in der Stadt weilt. Ich habe nie etwas anderes getan als zu schreiben, fühle mich aber nicht zum Erzähler berufen, die Gesetze der Dramaturgie sind mir unbekannt, und ich wage mich auch nur an dieses Unterfangen, weil ich darauf vertraue, dass all das, was ich in meinem Leben gelesen habe, mich erleuchten möge. Kurz gesagt, ich bin der Letzte eines Geschlechts, bin glanzlos und ohne Verdienste und hätte den Nachlebenden nichts zu hinterlassen, wären da nicht die Ereignisse, die, so gut es geht, zu schildern ich mich anschicke, in diesem Bericht über meine große Liebe.
Am Vortag meines neunzigsten Geburtstags war ich wie immer um fünf Uhr morgens erwacht. Es war Freitag, und meine einzige Verpflichtung bestand darin, die namentlich gezeichnete Glosse zu schreiben, die sonntags im Diario de la Paz erscheint. Die Symptome bei Tagesanbruch waren wie geschaffen, um nicht glücklich zu sein: Ich war wie gerädert, die Knochen schmerzten seit Mitternacht, der Hintern brannte, und nach drei regenlosen Monaten donnerte es bedrohlich. Ich duschte, während der Kaffee kochte, trank eine große Tasse, mit Honig gesüßt, aß dazu zwei Maniokschnitten und zog dann meinen Hausanzug aus Drillich an.
Das Thema der Glosse sollte diesmal, ganz klar, mein neunzigster Geburtstag sein. Ich habe mir das Alter nie als undichte Stelle im Dach vorgestellt, die tropfend anzeigt, wie viel Leben einem noch bleibt. Als kleiner Junge hörte ich, dass, wenn ein Mensch stirbt, sich zur Schande der Familie die Läuse, die in seinem Haar nisten, in Panik über das Kopfkissen davonmachen. Das schreckte mich derart ab, dass ich mir für die Schule den Schädel kahl scheren ließ und noch heute die paar verbliebenen Strähnen mit einer Seife für den dankbaren Hund wasche. das heißt, sage ich mir jetzt, dass in der Kindheit mein Sinn für Peinlichkeit stärker entwickelt war als der für den Tod.
Seit Monaten stand für mich fest, dass meine Geburtstagsglosse nicht die übliche Klage über die entschwundenen Jahre, sondern genau das Gegenteil sein sollte: eine Verherrlichung des Alters. Zunächst fragte ich mich, wann ich zum ersten Mal wahrgenommen hatte, dass ich alt war, und das lag, so glaubte ich, noch gar nicht lange zurück. Mit zweiundvierzig war ich wegen Rückenschmerzen, die mich beim Atmen behinderten, zum Arzt gegangen. Er hielt es für harmlos: Die Schmerzen sind ganz natürlich in Ihrem Alter.
»In diesem Fall«, sagte ich, »ist mein Alter nicht natürlich.«
Der Arzt schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. Ich sehe, Sie sind ein Philosoph, sagte er zu mir. Das war das erste Mal, dass ich den Begriff Alter mit mir verband, aber ich vergaß es bald. Ich gewöhnte mich daran, jeden Tag mit einem anderen Schmerz aufzuwachen, der, indes die Jahre vergingen, sich an immer neuen Stellen auf unterschiedliche Weise bemerkbar machte. Manchmal hielt ich ihn für einen Prankenschlag des Todes, am nächsten Tag verflüchtigte er sich jedoch. Zu jener Zeit hörte ich, das erste Symptom des Alters sei, dass man seinem Vater zu ähneln beginne. Ich muss zu ewiger Jugend verdammt sein, dachte ich damals, da mein Pferdeprofil niemals dem derb karibischen meines Vaters oder dem römisch imperialen meiner Mutter ähneln wird. In Wahrheit kommen die ersten Veränderungen langsam und fast unmerklich, man sieht sich von innen immer noch so wie früher, die anderen aber nehmen von außen den Verfall wahr.
Im fünften Jahrzehnt begann ich eine Vorstellung vom Alter zu bekommen, als ich die ersten Gedächtnislücken bemerkte. Auf der Suche nach der Brille schnürte ich durchs Haus, bis ich entdeckte, dass ich sie auf der Nase hatte, oder ich ging mit Brille unter die Brause oder setzte mir die Lesebrille auf, ohne die Fernbrille abzusetzen. Eines Tages frühstückte ich zweimal, weil ich das erste Mal vergessen hatte, und ich lernte die Unruhe meiner Freunde deuten, wenn sie nicht wagten, mich darauf hinzuweisen, dass ich ihnen dieselbe Geschichte vor einer Woche schon einmal erzählt hatte. Damals hatte ich eine Liste bekannter Gesichter im Gedächtnis und eine weitere Liste mit den dazugehörigen Namen, doch wenn es ans Begrüßen ging, konnte ich Gesichter und Namen nicht zur Deckung bringen.
Sexuell hat mir mein Alter nie große Sorgen gemacht, denn meine Manneskraft hing weniger von mir ab als von den Frauen, und sie wissen, worauf es ankommt, wenn sie wollen. Heute lache ich über die Jungs, die, erschrocken ob derlei Missgeschick, mit achtzig den Arzt aufsuchen und nicht wissen, dass es mit neunzig noch ärger wird, aber nicht mehr so wichtig ist: Es ist das Risiko, wenn man noch lebt. Ein Triumph des Lebens hingegen ist, dass wir Alten das Gedächtnis für unwesentliche Dinge verlieren, es uns aber nur selten im Stich lässt, wenn etwas wirklich wichtig ist. Cicero hat das mit einem Federstrich illus-triert: Kein Greis vergisst, wo er seinen Schatz vergraben hat.
Aus diesen und ein paar anderen Überlegungen hatte ich einen ersten Entwurf der Glosse fertig gestellt, als die Augustsonne zwischen den Mandelbäumen im Park explodierte und der Flussdampfer mit der Post, wegen der Dürre eine Woche verspätet, tutend in den Hafenkanal einfuhr. Ich dachte: Da kommen meine neunzig Jahre. Ich werde nie wissen warum und will es auch gar nicht, aber genau in dem Augenblick und mit dem Wunsch, dieses niederschmetternde Bild zu bannen, beschloss ich, Rosa Cabarcas anzurufen, sie sollte mir dabei helfen, meinen Geburtstag mit einer libertinen Nacht zu begehen. Schon seit Jahren lebte ich in heiligem Frieden mit meinem Körper, las wahllos meine Klassiker wieder, stellte mir meine privaten Programme klassischer Musik zusammen, doch an jenem Tag war mein Begehren so drängend, dass es mir ein göttlicher Fingerzeig zu sein schien. Nach dem Anruf konnte ich nicht mehr weiterschreiben. Ich befestigte die Hängematte in einem Winkel der Bibliothek, den die Morgensonne nicht erreicht, und legte mich hinein, das Herz verkrampft in sehnsüchtigem Warten.
Ich war das verhätschelte Kind einer vielseitig begabten Mutter, die mit fünfzig von der Schwindsucht dahingerafft wurde, und eines pedantischen Vaters, dem nie ein Fehler nachgesagt werden konnte und der genau an dem Tag morgens tot in seinem Witwerbett lag, als der Vertrag von Neerlandia unterzeichnet wurde, der dem Krieg der Tausend Tage und den vielen Bürgerkriegen des letzten Jahrhunderts ein Ende setzte. Der Frieden veränderte die Stadt auf unvorhergesehene und unerwünschte Weise. Ein Schwarm freier Frauen brachte Rausch und Raserei in die alten Kneipen an der Calle Ancha, die später Camellón Abello hieß und heute Paseo Colón, in dieser Stadt meines Herzens, die von Hiesigen und Fremden wegen der Liebenswürdigkeit ihrer Menschen und der Reinheit ihres Lichts geschätzt wird.
Ich habe nie mit einer Frau geschlafen, ohne dafür zu zahlen, und die wenigen, die nicht vom Gewerbe waren, überzeugte ich kraft Vernunft oder Gewalt, das Geld anzunehmen, und sei es nur, damit sie es später in den Müll warfen. Ich war um die Zwanzig, als ich begann, ein Verzeichnis anzulegen, in dem ich Namen, Alter, Ort und eine knappe Gedächtnisstütze über die Umstände und die stilistischen Eigenarten notierte. Bis zu meinem Fünfzigsten waren es fünfhundertvierzehn Frauen, mit denen ich mindestens einmal zusammen gewesen war. Ich führte die Liste nicht weiter, als der Körper nicht mehr so viel hergab und ich nichts Schriftliches brauchte, um den Überblick zu behalten. Ich hatte meine eigene Ethik. An Gruppenspielchen oder öffentlichen Orgien beteiligte ich mich nie, ich teilte keine Geheimnisse und erzählte nie ein Abenteuer des Leibes oder der Seele weiter, weil ich schon früh merkte, dass nichts davon ungestraft bleibt.
Lediglich mit der treuen Damiana unterhielt ich über Jahre eine seltsame Beziehung. Sie war fast noch ein Kind, kräftig und wild, sie hatte Indiozüge, war kurz angebunden und entschieden, und sie bewegte sich barfuß durchs Haus, um mich nicht beim Schreiben zu stören. Ich erinnere mich daran, dass ich gerade Die schöne Andalusierin in der Hängematte im Gang las, als ich zufällig sah, wie Damiana sich über den Waschtrog beugte, wobei der kurze Rock ihre köstlichen Kniekehlen freigab. Ich hob ihn von hinten hoch, ergriffen von einem unwiderstehlichen Fieber, streifte den Schlüpfer bis zu den Waden herunter und rammte sie verkehrt herum. Ach, Señor, sagte sie mit einem düsteren Klagelaut, das ist nicht als Eingang gedacht, sondern als Ausgang. Ein tiefer Schauder ließ ihren Körper erbeben, aber sie hielt stand. Gedemütigt, weil ich sie gedemütigt hatte, wollte ich ihr das Doppelte von dem zahlen, was damals die Teuersten kosteten, aber sie nahm keinen Centavo, so dass ich ihr Gehalt erhöhen musste, dabei einen monatlichen Ritt einkalkulierte, immer beim Wäschewaschen und immer verkehrt herum.
Einst dachte ich, dass jene Aufzählung von Betten das Gerüst für eine Geschichte über die
Miseren meines irregeleiteten Lebens hergeben könnte, und der Titel fiel mir in den Schoß: Erinnerung an meine traurigen Huren. Mein öffentliches Leben war vergleichsweise uninteressant: Vollwaise, Junggeselle ohne Zukunft, mittelmäßiger Journalist, der sechsmal das Finale im Dichterwettstreit der Blumenspiele von Cartagena de Indias erreichte, Liebling der Karikaturisten wegen meiner beispielhaften Hässlichkeit. Das heißt, ein verlorenes Leben, das an jenem Nachmittag einen schlechten Anfang genommen hatte, als meine Mutter mich, den Neunzehnjährigen, an die Hand nahm und beim Diario de la Paz vorsprach, damit die Zeitung eine Chronik des Schullebens veröffentlichte, die ich im Spanisch- und Rhetorikunterricht geschrieben hatte. Sie wurde am Sonntag mit einer hoffnungsvollen Einleitung des Direktors abgedruckt. Als ich nach vielen Jahren erfuhr, dass meine Mutter für diese und sieben folgende Veröffentlichungen gezahlt hatte, war es zu spät, sich zu schämen, da meine wöchentliche Kolumne inzwischen etabliert war und ich zudem die Kabelmeldungen aufbereitete und Musikkritiken verfasste.
Sobald ich das Abitur mit Auszeichnung bestanden hatte, begann ich gleichzeitig an drei staatlichen Schulen Spanisch und Latein zu unterrichten. Ich war ein schlechter Lehrer, ohne Ausbildung, ohne Berufung und ohne Erbarmen für diese armen Kinder, die nur deshalb zur Schule gingen, weil sie so am leichtesten der Tyrannei ihrer Eltern entkamen. Das Einzige, was ich für sie tun konnte, war, mit meinem Holzlineal Furcht und Schrecken zu verbreiten, damit sie wenigstens mein Lieblingsgedicht fürs Leben lernten: Hier, Fabio, oh Schmerz, wo du jetzo siehst verwüstete Stätten, welke Höhen, blühte einst, des Ruhmes reich, Italica. Erst im Alter erfuhr ich zufällig von dem bösen Spitznamen, den die Schüler mir hinter meinem Rücken gegeben hatten: Professor Welke Höhen.
Das ist alles, was mir das Leben gegeben hat, und ich habe nichts dafür getan, ihm mehr abzugewinnen. Ich aß allein, zwischen zwei Unterrichtsstunden, und kam um sechs Uhr abends in die Redaktion, um die Signale aus dem Himmelsraum zu erjagen. Um elf Uhr nachts, nach Redaktionsschluss, begann mein wirkliches Leben. Zwei- bis dreimal in der Woche schlief ich im Barrio Chino, und in so wechselnder Begleitung, dass ich zweimal zum Kunden des Jahres gekürt wurde. Nach dem Abendessen im nahen Café Roma wählte ich irgendein Bordell und betrat es heimlich durch die Hintertür. Ich ging zum Vergnügen dorthin, aber die Besuche wurden schließlich zu einem Teil meines Berufs, dank der Redseligkeit der mächtigen Herren, die ihren Geliebten für eine Nacht Staatsgeheimnisse anvertrauten, ohne zu bedenken, dass die Öffentlichkeit durch die Trennwände aus Pappe mithörte. Auf diese Weise, aber ja, erfuhr ich auch, dass mein untröstliches Zölibat nächtlicher Päderastie zugeschrieben wurde, die ich bei den Waisenjungen aus der Calle del Crimen befriedigte. Ich hatte das Glück, das Gerücht zu vergessen, aus guten Gründen, erfuhr ich doch zugleich, wenn etwas Gutes über mich gesagt wurde, und das wusste ich zu schätzen, sofern es der Rede wert war.
Ich hatte nie echte Freunde, und die wenigen, die es annähernd waren, sind in New York. Das heißt: tot, denn ich nehme an, dass unerlöste Seelen sich dorthin begeben, um sich nicht der Wahrheit ihres vergangenen Lebens stellen zu müssen. Seit meiner Pensionierung habe ich wenig zu tun, außer freitagabends meine Seiten zur Zeitung zu tragen und anderen Beschäftigungen von gewissem Belang nachzugehen: Konzerte im Bellas Artes, Ausstellungen im Centro Artistico, dessen Gründungsmitglied ich bin, die eine oder andere Bürgerversammlung der Gesellschaft für gemeinnützige Aufgaben oder ein großes Ereignis wie das Gastspiel der Fabregas im Teatro Apolo. In meiner Jugend bin ich ins Freilichtkino gegangen, wo wir ebenso von einer Mondfinsternis wie von einem verirrten Regenguss und einer nachfolgenden Lungenentzündung überrascht werden konnten. Mehr als die Filme interessierten mich jedoch die Nachtvögelchen, die für den Preis der Eintrittskarte, umsonst oder auf Pump mit einem schliefen. Denn das Kino ist nicht meine Sache. Der geradezu obszöne Kult um Shirley Temple war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Gereist bin ich kaum: viermal zu den Blumenspielen in Cartagena de Indias, als ich noch keine dreißig war, und einmal, es war eine unangenehme Nachtfahrt mit dem Motorboot, nach Santa Marta, eingeladen von Sacramento Montiel, die dort ein Bordell eröff-nete. Was mein häusliches Leben angeht, so esse ich wenig und bin leicht zufrieden zu stellen. Nachdem Damiana alt geworden war, wurde zu Hause nicht mehr gekocht, und meine einzige regelmäßige Mahlzeit bestand aus der Kartoffeltortilla im Café Roma nach Redaktionsschluss.
Also hatte ich am Tag vor meinem Neunzigsten nicht zu Mittag gegessen und konnte mich in Erwartung einer Nachricht von Rosa Cabar-cas nicht auf meine Lektüre konzentrieren. Die Zikaden schrillten nach Leibeskräften in der Hitze der zweiten Mittagsstunde, und die Sonne zwang mich bei ihrer Runde um die offenen Fenster, dreimal mit der Hängematte umzuziehen. Ich hatte schon immer gemeint, dass der heißeste Tag des Jahres in die Zeit um meinen Geburtstag fiel, hatte auch gelernt, das zu ertragen, doch an jenem Tag war ich nicht in der Verfassung. Um vier Uhr versuchte ich, mich mit den sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach in der endgültigen Interpretation von Pablo Casáis zu besänftigen. Für mich sind diese Suiten das Allerweiseste in der Musik, doch statt mich wie üblich zu beruhigen, verschlimmerten sie meinen Zustand. Bei der zweiten, die ich ein wenig schleppend finde, nickte ich ein, und im Traum mischte sich das Klagen des Cellos mit dem eines traurigen Dampfers, der ablegte. Gleich darauf schreckte mich das Telefon auf, und die rostige Stimme von Rosa Cabarcas erweckte mich wieder zum Leben. Du hast das Glück des Narren, sagte sie. Ich habe einen Backfisch gefunden, viel besser noch als von dir gewünscht, aber die Kleine hat einen Makel: Sie ist kaum vierzehn. Ich habe nichts dagegen, Windeln zu wechseln, scherzte ich, ohne ihre Beweggründe zu verstehen. Es geht nicht um dich, sagte sie, aber wer bezahlt mir die drei Jahre Gefängnis ?
Niemand würde dafür zahlen, und sie schon gar nicht, das war klar. Sie pflückte ihre Früchte unter den Minderjährigen, die in ihrem Laden einkauften, lernte sie an und presste sie aus, bis sie dann als diplomierte Huren ein übleres Leben im denkwürdigen Bordell der Negra Eufemia begannen. Nie hatte Rosa Cabarcas eine Strafe gezahlt, denn ihr Patio war das Arkadien der lokalen Behörden, vom Gouverneur bis zum letzten Spitzbuben aus der Bürgermeisterei, und es war kaum vorstellbar, dass es der Herrin des Hauses an Einfluss fehlte, um nach Gutdünken das Gesetz zu übertreten. Also wollte sie mit ihren Skrupeln im letzten Moment wohl nur weitere Vorteile aus ihrer Gefälligkeit schlagen: je strafbarer, desto teurer. Der Konflikt wurde mit einem Aufschlag von zwei Pesos für die Dienstleistungen behoben, und wir vereinbarten, dass ich um zehn Uhr mit fünf Pesos, bar und im Voraus zu zahlen, bei ihr erscheinen würde. Keine Minute früher, denn das Mädchen musste die kleinen Geschwister abfüttern und schlafen legen sowie die vom Rheumatismus geplagte Mutter ins Bett bringen.
Bis dahin waren es noch vier Stunden. Indes sie vergingen, füllte sich mir die Brust mit beißendem Schaum, der mir das Atmen schwer machte. Ich unternahm den fruchtlosen Versuch, mir die Zeit mit den Formalitäten des Ankleidens zu vertreiben. Gewiss nichts Neues, denn sogar Damiana sagt, dass ich mich nach dem Ritual eines Bischofs anziehe. Ich schnitt mich mit dem Rasiermesser, musste warten, bis das in den Rohren von der Sonne aufgeheizte Duschwasser abkühlte, und schon die kleine Anstrengung beim Abtrocknen brachte mich erneut zum Schwitzen. Ich kleidete mich dem glücklichen Anlass des Abends gemäß: weißer Leinenanzug, blau gestreiftes Hemd mit steif gestärktem Kragen, eine Krawatte aus chinesischer Seide, die mit Zinkweiß aufgefrischten Halbschuhe und die Uhr aus schwerem Gold samt Kette, die im Knopfloch des Revers befestigt war. Zum Schluss schlug ich die Hosenbeine nach innen ein, damit nicht auffiel, dass ich eine Spanne geschrumpft war.
Ich habe den Ruf eines Geizkragens, weil sich niemand vorstellen kann, dass ich wirklich arm bin, da ich doch wohne, wie ich wohne, tatsächlich aber überstieg eine solche Nacht bei weitem meine Möglichkeiten. Der Schatulle mit meinen Ersparnissen, die ich unter dem Bett verborgen hatte, entnahm ich zwei Pesos für die Zimmermiete, vier für die Hausherrin, drei für die Kleine und fünf Pesos als Reserve für mein Abendessen und andere kleinere Ausgaben. Insgesamt also die vierzehn Pesos, die mir die Zeitung monatlich für meine Sonntagsglossen zahlte. Ich steckte das Geld in eine Geheimtasche im Hosenbund und parfümierte mich mit dem Zerstäuber des Agua de Florida von Lanman & Kemp-Barclay & Co. Dann spürte ich die Pranke der Panik, und beim ersten Glockenschlag der achten Stunde tastete ich mich, vor Angst schwitzend, die finstere Treppe hinab und ging hinaus in die strahlende Nacht meines Vorabends.
Es hatte abgekühlt. Einsame Männer standen in Grüppchen auf dem Paseo Colon zwischen den in der Mitte der Fahrbahn aufgereihten Taxis und diskutierten lautstark über Fußball. Eine Blaskapelle spielte unter den blühenden Alleebäumen einen schleppenden Walzer. Eines der armen Hürchen, die in der Calle de los Notarios auf Kundenfang gehen, bat mich wie immer um eine Zigarette, und wie immer erwiderte ich: Ich habe vor jetzt dreiunddreißig Jahren, zwei Monaten und siebzehn Tagen zu rauchen aufgehört. Als ich am Alambre de Oro vorbeiging, betrachtete ich mich in dem erleuchteten Schaufenster und sah mich nicht so, wie ich mich fühlte, sondern älter und schlechter gekleidet.
Kurz vor zehn stieg ich in ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle mich zum Allgemeinen Friedhof bringen, damit er nicht merkte, wohin ich eigentlich wollte. Er schaute mich amüsiert im Rückspiegel an und meinte: Jagen Sie mir keinen Schreck ein, mein gelehrter Herr, möge Gott mich so lebendig erhalten, wie Sie es sind. Wir stiegen beide vor dem Friedhof aus, weil er kein Kleingeld hatte, und wir mussten in La Tumba wechseln, einer ärmlichen Kneipe, wo übernächtigte Trunkenbolde ihre Toten beweinen. Als ich die Rechnung beglich, sagte mir der Fahrer sehr ernst: Passen Sie auf, Don, das Haus von Rosa Cabar-cas ist längst nicht mehr das, was es einmal war. Ich konnte mich nur bedanken, wie jedermann davon überzeugt, dass es für die Taxifahrer am Paseo Colón kein Geheimnis unter dem Himmel gibt.
Ich betrat nun ein Armenviertel, das kaum noch an jenes erinnerte, in dem ich mich einst ausgekannt hatte. Da waren noch die breiten, heißen Sandstraßen, dieselben Häuser mit offen stehenden Türen, Wänden aus rohen Rrettern, Dächern aus Palmstroh und Schotter in den Patios. Aber den Menschen war die Ruhe abhanden gekommen. In den meisten Häusern wurde freitags gefeiert, und die Trommeln und Tschinellen bebten in den Ein-geweiden nach. Für fünfzig Centavos durfte jeder an dem Fest, das ihm am besten gefiel, teilnehmen, konnte aber auch gratis auf dem Ziegeltrottoir tanzen. Unruhig eilte ich weiter und wäre in meinem Stutzeraufzug am liebsten im Boden versunken, doch keiner achtete auf mich, außer einem hageren Mulatten, der schläfrig im Eingang eines Mietquartiers saß.
»Viel Glück beim Vögeln, Doktor!«, rief er mir herzlich zu.
Was blieb mir übrig, als ihm zu danken? Dreimal musste ich stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen, bevor ich die letzte Steigung geschafft hatte. Von dort aus sah ich, wie ein riesiger Messingmond am Horizont aufstieg, und ein plötzlicher Drang im Gedärm ließ mich um mein weiteres Schicksal fürchten, doch es ging vorüber. Am Ende der Straße, wo das Viertel in einen Obsthain überging, betrat ich den Laden von Rosa Cabarcas.
Sie schien nicht mehr dieselbe zu sein. Einst war sie die verschwiegenste und deshalb auch bekannteste Puffmutter gewesen. Eine Frau von großer Fülle, die wir zur Sergeantin der Feuerwehr küren wollten, sowohl wegen ihrer Korpulenz als auch wegen der Effizienz, mit der sie die Kerzen in der Gemeinde löschte. Doch die Einsamkeit hatte ihren Leib schrumpfen lassen, ihre Haut war runzlig und ihre Stimme dünn geworden, aber auf eine so listige Weise, dass sie wie ein altes kleines Mädchen wirkte. Von damals waren ihr nur die vollkommenen Zähne geblieben, und einen davon hatte sie sich kokett in Gold fassen lassen. Wegen des Todes ihres Mannes nach fünfzig Jahren gemeinsamen Lebens trug sie strenge Trauer, die sie mit einer Art schwarzem Barett noch gesteigert hatte, nachdem ihr einziger Sohn, Helfer in kniffligen Lagen, gestorben war. Lebendig waren nur noch ihre durchsichtigen, grausamen Augen, und daran merkte ich, ihr Wesen hatte sich nicht verändert.
An der Decke des Ladens hing eine schwächliche Lampe, und in den Regalen lagen kaum Waren, eine kümmerliche Staffage für ein Geschäft, das alle kannten, aber niemand anerkannte. Rosa Cabarcas bediente gerade einen Kunden, als ich auf Zehenspitzen eintrat. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich nicht erkannte oder nur so tat, um die Form zu wahren. Ich setzte mich auf die Wartebank und versuchte sie mit den Augen der Erinnerung so zu sehen, wie sie gewesen war. Mindestens zweimal hatte sie mich, als wir beide noch in Saft und Kraft standen, von der Not erlöst. Ich glaube, sie hatte meine Gedanken gelesen, denn sie drehte sich zu mir um und musterte mich beunruhigend intensiv. Für dich vergeht die Zeit nicht, seufzte sie traurig. Ich wollte ihr schmeicheln: Für dich schon, aber es bekommt dir. Im Ernst, sagte sie, selbst deine Ähnlichkeit mit einem toten Pferd kommt wieder heraus. Vielleicht weil ich den Futtertrog gewechselt habe, erwiderte ich verschmitzt. Sie wurde munter. Soweit ich mich erinnere, hattest du den Prügel eines Galeerensklaven, sagte sie. Wie steht's um ihn? Ich wich aus: Seit damals hat sich nur geändert, dass mir zuweilen der Hintern brennt. Ihre Diagnose erfolgte sofort: mangelnder Gebrauch. Er dient mir nur für das, wofür Gott ihn mir gegeben hat, sagte ich; tatsächlich brannte mir der After schon seit geraumer Zeit und immer bei Vollmond. Rosa kramte in ihrem Nähkasten und öffnete dann eine Dose mit einer grünen Pomade, die nach Arnika roch. Sag der Kleinen, sie soll sie dir mit ihrem Fingerchen auftragen, so, und sie bewegte den Zeigefinger mit schlüpfriger Eloquenz. Ich entgegnete, dass ich Gott sei Dank noch ohne Indiosalben zurechtkäme. Sie spottete: Ach, Meister, sei mir gnädig und verzeih. Und kam zur Sache. Die Kleine sei seit zehn Uhr in dem Zimmer, sagte sie; sie sei schön, sauber und wohlerzogen, allerdings voller Angst, da eine ihrer Freundinnen, die sich mit einem Stauer aus Gayra davongemacht habe, in zwei Stunden verblutet sei. Na ja, räumte Rosa ein, verständlich, die aus Gayra haben schließlich den Ruf, auch Mauleselinnen zum Singen zu bringen. Und nahm den Faden wieder auf: Arme Kleine, sie muss neben allem anderen auch noch den lieben langen Tag in einer Fabrik Knöpfe annähen. Mir schien das kein besonders schwerer Beruf zu sein. Das können auch nur Männer glauben, entgegnete sie, tatsächlich ist es schlimmer als Steineklopfen. Außerdem gestand sie mir, dem Mädchen einen Trunk aus Bromid mit Baldrian gegeben zu haben und dass es nun schlafe. Ich fürchtete, dass ihr Mitgefühl eine weitere List war, den Preis hochzutreiben, aber nein, sagte sie, mein Wort ist Gold wert. Nach festen Regeln: jede Leistung extra, bar auf die Hand und im Voraus. So geschah es.
Ich folgte ihr über den Patio, war gerührt über ihre welke Haut und den beschwerlichen Gang ihrer geschwollenen Beine, die in groben Baumwollstrümpfen steckten. Der Vollmond näherte sich der Himmelsmitte, und die Welt wirkte wie in grünes Wasser getaucht. Neben dem Laden war der Patio für die Feste der Behörden mit Palmstroh überdacht, es gab zahlreiche Lederhocker und Hängematten, die an den Pfeilern baumelten. Im Hinterhof, dort wo der Obsthain begann, befand sich ein flaches Gebäude aus unverputztem Lehm mit sechs Zimmern, die Fenster vergittert gegen die Mücken. Nur ein Zimmer war besetzt und halb erleuchtet, und im Radio sang Toña la Negra ein Lied von gescheiterter Liebe. Rosa Cabarcas holte tief Luft: Der Bolero ist das Leben. Ich war ganz ihrer Meinung, habe jedoch bis heute nicht gewagt, das auch niederzuschreiben. Sie stieß die Tür auf, ging hinein und kam nach einem Augenblick wieder heraus. Sie schläft immer noch süß, sagte sie: Du tätest gut daran, sie so lange schlafen zu lassen, wie ihr Körper es verlangt, schließlich ist deine Nacht länger als die ihre. Ich war verwirrt: Was, glaubst du, soll ich tun? Du wirst es schon wissen, sagte sie mit unangebrachter Gelassenheit, schließlich bist du der Gelehrte. Sie kehrte um und ließ mich allein mit der Angst. Es gab kein Entrinnen. Ich trat in das Zimmer, und mein Herz schlug wie verrückt, auf dem riesigen Mietbett sah ich das schlafende Mädchen, nackt und schutzlos, wie ihre Mutter sie geboren hatte. Die Kleine lag halb auf der Seite, das Gesicht zur Tür, von einem grellen Deckenlicht beleuchtet, das kein Erbarmen kannte. Ich setzte mich auf den Bettrand und betrachtete sie, alle fünf Sinne verzaubert. Ihr Leib war braun und warm. Man hatte sie einer Hygiene- und Schönheitskur unterzogen, die nicht einmal den zarten Flaum ihrer Scham verschont hatte. Ihr Haar war in Locken gelegt und die Nägel an Händen und Füßen durchsichtig lackiert, die melassefar-bene Haut aber wirkte rauh und vernachlässigt. Die knospenden Brüste waren fast noch die eines Knaben, doch schienen sie von einer heimlichen Energie bedrängt, die kurz vor dem Ausbruch stand. Das Beste an ihr waren die großen Füße für einen geschmeidigen Tritt, mit langen Zehen, sensibel wie Finger. Trotz des Ventilators war das Mädchen mit glitzerndem Schweiß überzogen, und die Hitze wurde im Laufe der Nacht noch unerträglicher. Es war kaum zu erahnen, wie das Gesicht wirklich aussah, das voll gekleistert war mit einer dicken Kruste Reispulver, zwei Rougepflastern auf den Wangen und falschen Wimpern; Brauen und Lider waren schwarz gerußt und die Lippen wie mit Schokoladenguss vergrößert. Doch weder Putz noch Schminke konnten ihr Wesen verbergen: die stolze Nase, die zusammengewachsenen Brauen, die heftigen Lippen. Ich dachte: ein sanfter Kampfstier.
Um elf ging ich zu meinen routinemäßigen Verrichtungen ins Bad, wo ihre ärmlichen Kleider mit bürgerlicher Sorgfalt auf einem Stuhl geordnet lagen: ein Baumwollkleid mit aufgedruckten Schmetterlingen, eine gelbe Unterhose aus Mischgewebe und Sandalen aus Agavenfasern. Auf der Kleidung lag ein billiges Armband und ein dünnes Kettchen mit einem Medaillon der Heiligen Jungfrau. Auf der Ablage des Waschbeckens stand eine Handtasche, darin ein Lippenstift, ein Rougedöschen, ein Schlüssel und ein paar lose Münzen. Alles war so billig und abgenutzt, dass ich mir niemanden vorstellen konnte, der ärmer gewesen wäre als sie.
Ich entkleidete mich und hängte die Stücke, so gut es ging, auf den Kleiderbügel, damit die Seide des Hemds und das gebügelte Leinen keinen Schaden nahmen. Ich urinierte in das Kettenklosett, im Sitzen, wie es mir Florina de Dios als Kind beigebracht hatte, um nicht den Beckenrand zu bespritzen, und immer noch, in aller Bescheidenheit, mit einem schnellen und steten Strahl wie ein wildes Fohlen. Bevor ich das Bad verließ, schaute ich in den Spiegel über dem Waschbecken. Das Pferd, das mir entgegensah, war nicht tot, sondern traurig, hatte ein päpstliches Doppelkinn, aufgedunsene Lider, und das schüttere Haar war einst meine Musikermähne gewesen.
»Scheiße«, sagte ich zu ihm, »was kann ich schon tun, wenn du mich nicht magst?«
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, setzte ich mich nackt auf das Bett, die Augen hatten sich schon an das trügerische rote Licht gewöhnt, und ich untersuchte sie von Kopf bis Fuß. Mit der Kuppe des Zeigefingers fuhr ich über ihren nassen Nacken, und sie erschauerte im Innersten wie bei einem Harfenakkord, drehte sich knurrend zu mir um und hüllte mich in ihren säuerlichen Atem. Mit Daumen und Zeigefinger drückte ich ihr die Nase zu, und sie schüttelte sich, zog den Kopf weg und wandte sich ohne aufzuwachen von mir ab. Eine unverhoffte Erregung brachte mich darauf, mit dem Knie zwischen ihre Beine zu dringen. Den ersten zwei Versuchen widerstand sie mit angespannten Schenkeln. Ich sang in ihr Ohr:
Um das Bett von Delgadina schweben Engelchen im Chor. Sie entspannte sich ein wenig. Warm strömte es durch meine Adern, und das träge pensionierte Tier erwachte aus seinem langen Schlaf.
Delgadina, mein Herz, flehte ich voller Verlangen. Delgadina. Sie stieß einen dunklen Klagelaut aus, entzog sich meinen Beinen und rollte sich zusammen wie eine Schnecke in ihrem Haus. Der Baldriantrunk muss für mich wie für sie gleichermaßen wirksam gewesen sein, denn nichts geschah, weder ihr noch sonst jemandem. Aber das machte mir nichts aus. Ich fragte mich, wozu ich sie hätte wecken sollen, gedemütigt und traurig, wie ich mich fühlte, kalt wie eine Seebarbe.
Deutlich, unentrinnbar, schlugen die Glocken dann zur Mitternacht, und es begann der 29. August, Tag des Martyriums von Johannes dem Täufer. Irgendjemand auf der Straße heulte laut, und keiner kümmerte sich darum. Ich betete für ihn, falls es ihm Not tun sollte, und auch für mich, als Dank für die empfangenen Wohltaten: Niemand täusche sich, nein, das Erwartete dauert fürwahr nicht länger als das, was war. Die Kleine wimmerte im Traum, und ich betete auch für sie: Denn alles vergeht auf gleiche Weise. Dann drehte ich das Radio aus und löschte zum Schlafen das Licht.
Ich wachte im Morgengrauen auf und wusste nicht, wo ich war. Das Mädchen schlief noch immer in Fötallage und wandte mir den Rücken zu. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, gespürt zu haben, wie sie im Dunkeln aufgestanden war, glaubte, die Spülung im Bad gehört zu haben, aber vielleicht war das auch nur ein Traum gewesen. Ich kannte nicht die Tricks der Verführungskunst, hatte die Bräute für eine Nacht immer nach dem Zufallsprinzip gewählt und mich dabei eher vom Preis als von ihren Reizen leiten lassen, und wir hatten uns ohne Liebe geliebt, meistens noch halb angekleidet und immer im Dunkeln, um uns Besseres vorstellen zu können. In jener Nacht entdeckte ich das unglaubliche Vergnügen, den Körper einer schlafenden Frau zu betrachten, ohne vom Begehren gedrängt oder von der Scham behindert zu werden.
Um fünf Uhr stand ich von Unruhe getrieben auf, da meine Sonntagsglosse vor zwölf in der Redaktion sein musste. Ich verrichtete pünktlich mein Geschäft, schmerzhaft brannte noch der Vollmond, und als ich die Kette der Wasserspülung losließ, spürte ich, wie der Groll der Vergangenheit durch die Kanalisation fortgeschwemmt wurde. Als ich frisch und angekleidet zurück ins Zimmer kam, schlief das Mädchen auf dem Rücken, im versöhnlichen Licht der Morgenröte; sie lag quer auf dem Bett, die Arme seitlich ausgestreckt, ganz Herrin ihrer Unschuld. Gott möge sie dir erhalten, sagte ich zu ihr. Alles Geld, das mir noch übrig blieb, das ihre und das meine, legte ich auf das Kopfkissen und verabschiedete mich für immer mit einem Kuss auf die Stirn. Das Haus kam, wie jedes Bordell bei Tagesanbruch, dem Paradies sehr nahe. Ich ging durch die Gartenpforte hinaus, um niemandem zu begegnen. Auf der Straße, unter der brennenden Sonne, begann ich das Gewicht meiner neunzig Jahre zu spüren und Minute um Minute die Minuten der Nächte zu zählen, die bis zu meinem Tod noch fehlten.