Kapitel 28 Keine Überraschungen. Aber das heißt nicht viel.
Rauch quillt aus der Stiefelkammer in die Küche. Lange hält das Feuer die Zombies nicht mehr draußen.
»Hier lang!« Smitty führt uns aus der Küche und wir rennen durch die Räume, bis wir in die Halle kommen.
»Oh-oh!«, ruft Alice.
Eine Handvoll Untote stehen um den Globus versammelt; sie schlagen mit ihren übel zugerichteten Händen dagegen und versuchen ihn zum Drehen zu bringen. Keine Frage, sie streben die Weltherrschaft an.
Ich schnappe mir Alice und ziehe sie hinter Smitty und Pete her zur Kellertür.
Runter geht’s, und zwar ohne auf die Nägel zu treten, die Cam auf den Stufen verteilt hat. Wir kommen im Keller an.
»Scheiße, was denn noch alles!« Smitty bleibt mit einem Ruck stehen.
Es ist ein Déjà-Buh. Ein halbes Dutzend Zombies, die herumstehen und nichts zu tun haben. Bis sie uns sehen.
»O mein Gott.« Ich klinge schon wie Alice. »Das ist Gareth.«
Kein Zweifel. Da, mitten zwischen den anderen, steht unser alter Freund von der Tankstelle beim Cheery Chomper. Er hat ganz schön was durchgemacht. Sein Arm, der aussah wie ein angeknabberter Maiskolben, ist ganz abgefallen und die meisten seiner Klamotten sind ihm auch abhandengekommen, aber es ist eindeutig Gareth. Schließlich hat er noch sein Namensschild. Er sieht zu uns hoch und knurrt.
»Meint ihr, er erkennt uns?«, flüstere ich.
»Ich glaube, er erkennt Smitty«, sagt Pete.
»Ach ja.« Smitty leckt sich die Lippen.
»Action!« Alice geht wieder voll ab. Sie rennt in den Keller hinunter, packt den Rasenmäher unter seiner Plane beim Griff und schiebt ihn mit einem Mordsächzen in den vordersten Zombie rein, mäht ihn buchstäblich um. Jetzt ist der Weg zur Vorhangwand frei. »Kommt schon, ihr Lahmärsche!«
Wir rennen los. Was sollen wir auch sonst machen?
Pete und ich sind bei Alice am Vorhang und Smitty reißt eine leere Holzkiste hoch und kegelt mit einem grandiosen Wurf gleich zwei Zombies um. Aber als er sich das nächste Wurfgeschoss schnappt, wird er von Zombie-Gareth gepackt. Er hebt Smitty mit seinem verbliebenen Arm am Kragen der Lederjacke hoch. Smitty zappelt herum wie ein Tintenfisch an einem Angelhaken und rutscht aus seiner Jacke heraus und lässt Gareth wie einen Kleiderständer dastehen.
Smitty ist schon fast bei uns, da bleibt er stehen.
»Nee. So läuft das nicht.« Er dreht sich um und starrt Gareth an. »Der Drecksack kriegt meine Jacke nicht.«
»Smitty, nein!« Mein Schreien nutzt nichts.
Er saust zu Gareth zurück, weicht unterwegs dem Hieb eines anderen Monsters aus, krallt sich die Jacke und führt einen perfekten Roundhouse-Kick aus, der Gareth mit einem ordentlichen Knirschen in den Zombiehintern trifft.
Dann sprintet er mit grimmigem Gesicht wieder zu uns zurück. »Den hätte diese Matschbirne schon am Anfang kriegen müssen.«
Wir rennen durch den Vorhang in den Weinkeller und dann in den Gang mit den Zellen.
»Wo ist dieses Tastenfeld?«, keucht Smitty, der das Ende des Gangs als Erster erreicht.
»Irgendwo links.« Ich komme bei ihm an und lasse meine Hand über die Mauersteine gleiten.
»Ich hab das vorher schon alles abgesucht und nichts gefunden.« Petes Atem geht wieder pfeifend.
»Überlasst das mir.« Alice kniet sich hin. »Hier!« Sie drückt etwas und ein Stein kommt vorgesprungen und da ist das Tastenfeld.
Ein grausiges Ächzen hallt durch den Gang.
»Schnell!«, sagt Alice. »Mach die Tür auf!«
Smittys Finger schwebt über der Tastatur.
»Dein Geburtstag?«
»Der 16. April – warte!« Ich bremse seine Hand. »Scheiße.«
»Was denn?«
»Amerikanisch oder britisch?« Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare. »Nein!«
Hinten im Gang wird das Ächzen lauter.
»Gib den Code ein!«, kreischt Alice und versucht die Wand mit den Händen wegzuschieben.
»Aber wie rum?« Pete treten die Augen aus dem Kopf.
»Keine Ahnung!«, rufe ich verzweifelt.
»Was meint ihr denn überhaupt?«, fragt Smitty und schlägt mit der Faust gegen die Wand.
»Das Datum.« Ich starre ihn an. »Wenn Mum es amerikanisch eingegeben hat, dann kommt zuerst der Monat und dann der Tag. Wenn sie die englische Schreibung genommen hat, erst der Tag und dann der Monat. Das war mal unser Running Gag, weil wir’s immer durcheinandergewürfelt haben.«
»Sie sind hier!« Alice behält den Gang im Auge.
»Also wie rum würde sie es eingeben?« Smittys Finger schwebt über den Tasten.
Ich kneife die Augen zu und denke nach.
»Die Uhr tickt, Bobby!«, sagt Pete.
»Englisch. Erst der Tag, dann der Monat.«
»Bist du sicher?«, fragt Smitty. »Eine zweite Chance kriegen wir nicht.«
Ich nicke hektisch. »Sie hat immer gesagt, dass es logischer wäre. Und außerdem, verdammt«, ich verdrehe die Augen, »wir sind Engländer.«
Er tippt 1604 ein, ich halte den Atem an, etwas knirscht laut und die Wand gleitet beiseite und verschwindet in sich selbst. In Anbetracht der Umstände wär’s schick, wenn wir sie wieder hinter uns zumachen könnten, aber man kann nicht alles haben. Wir müssen auf Tempo setzen.
Wir rennen einen breiten, schwach beleuchteten Gang hinunter. Unsere Füße trommeln auf dem Betonboden. Abwärts, abwärts, abwärts führt der Gang, tief unter die Erde. Sagte ich nicht, das hier wäre die Klassenfahrt aus der Hölle? Tja, jetzt geht es dahin zurück.
Schließlich verläuft der Gang horizontal weiter. Jetzt ist es rutschig unter den Füßen. Irgendwas rauscht auch und ich spüre Regen auf dem Gesicht, was mir überhaupt nicht einleuchtet, weil wir doch in einem Tunnel eine Meile unter der Erde sind. Und dann wird mir klar: Wir sind unter dem See. Ich renne immer weiter und bete, dass der Tunnel nicht auf die Idee kommt, sich volllaufen zu lassen. Alice geht ab wie eine Rakete und führt das Rennen an, Smitty ist gleich neben mir und Pete bildet das Schlusslicht. Wir müssen weiter – irgendwann holen sie uns ein und …
»Aaah!«
Ich reiße den Kopf herum. Ich sehe gerade noch, wie Pete hinfliegt. Richtig übel, mit vollem Karacho. Seine Füße verdrehen sich unter ihm und er knallt brutal mit dem Brustkorb auf den Boden. Da liegt er in der Nässe, die Arme ausgestreckt, und hält die Minikühltasche nach oben wie einen Rugbyball in einem Match, das er nie spielen wird.
Wir rennen zu ihm; er zittert total.
»Gerade noch gerettet«, keucht er und gibt mir die Tasche. »Brauche … Inhalator.« Er tastet mit den Händen an seiner Brust herum und sucht nach einer Tasche. Smitty kniet sich hin und geht Petes Jackentaschen durch.
Der Reißverschluss der Kühltasche ist aufgegangen. Ich halte die Luft an und schaue schnell hinein.
Keine zerbrochenen Spritzen.
»Alles heil!«, rufe ich.
Smitty hat den Inhalator gefunden und Pete saugt blindlings daran, verzweifelt, eine Hand um Smittys Arm gekrampft. Ich sichere die Spritzen und hänge mir die Tasche über die Schulter. Pete stützt sich auf Smitty und kommt wieder hoch.
»Kannst du rennen?«, frage ich.
Er nickt. Und ist am Zittern.
»Kommt!«, ruft Alice weiter vorn. »Hier ist irgendwas!«
Wir laufen los und Pete bricht beim ersten Schritt zusammen und liegt wieder als zuckender Haufen auf dem nassen Boden. »Mein Knöchel!«
Ohne Diskussion werfen Smitty und ich uns jeder einen Arm über die Schultern, genau wie damals, als wir dem Fahrer aus dem Schnee in den Bus geholfen haben. Wir hinken den Tunnel entlang, die Kühltasche schlägt mir gegen die Seite und mein Handgelenk pocht schmerzhaft. Inzwischen geht es bergauf. Das Wasser, das von der Decke und den glatten Wänden läuft, rinnt an uns vorbei nach unten.
»Das ist eine Sackgasse!«, heult Alice auf. Der Weg ist mit alten verrotteten Brettern versperrt; durch die Spalte dringt Tageslicht.
»Nicht mehr lange!« Smitty setzt denselben Roundhouse-Kick ein, den er so wirkungsvoll bei Gareth angebracht hat, und bevor ich es noch richtig mitkriege, stürzen wir uns alle auf das Holz und prügeln und treten uns da durch, reißen die Bretter weg.
Wir purzeln hinaus ins Freie. Freiheit.
Tageslicht und Kälte. Bittere, bittere Kälte, mit einem heftigen, schneidenden Wind. Das erinnert mich wenigstens daran, dass ich am Leben bin – noch. Ich sehe mich um. Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht und meine Augen fangen an zu brennen.
Wir sind auf der Insel. Sie ist ungefähr halb so groß wie ein Fußballfeld, bloß dass es hier nichts gibt außer ein paar dicht stehenden Bäumen. Auf der anderen Seite des zugefrorenen Sees ist die Burg zu sehen und dahinter recken sich schwer mit Schnee beladene Kiefern und ferne blaue Berge gen Himmel. Der Stoff, aus dem die Weihnachtskarten sind.
Alice duckt sich in den Tunnel, um dem Wind zu entkommen. Ihre blonden Haare sind zu Strähnen verfilzt und ihre zitronengelben Jogginghosen haben einen zarten Schlammton angenommen. Kein Lipgloss mehr und keine Mascara. Auf einmal überkommt mich schreckliche Traurigkeit.
»Und wo ist deine Mum nun?«, fragt sie.
Gute Frage.
Und dann sehe ich sie drüben bei den Bäumen, wie sie auf uns zukommt. Eine schlanke Gestalt, die entschlossen durch den Schnee stapft. Ich habe keine Ahnung, ob ich zu ihr hin- oder vor ihr weglaufen soll.
Ich bleibe, wo ich bin. Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie einen schwarzen, einteiligen Skianzug trägt. Sieht irgendwie modelmäßig aus. Gar nicht wie die Mutter, die ich kenne.
»Das ist sie?«, fragt Smitty. »Holla.«
O Graus. Ekelig hoch drei. Smitty steht auf meine Mutter. Gerade wo ich dachte, dass es schlimmer nicht mehr werden kann.
Sie fängt an zu laufen. »Geht’s dir gut?« Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände, die in Skihandschuhen stecken. Ich zucke zusammen. »Verletzt? Gebissen?«
Ich entziehe mich ihr. »Pillepalle.« Ich halte mein steifes Handgelenk hoch und sie guckt mich kritisch an. »Nicht gebissen, verstaucht«, sage ich.
»Und ihr anderen?« Sie wendet sich ihnen zu.
»Pete hat sich den Knöchel verrenkt. Davon abgesehen ist alles schick«, sagt Smitty wachsam. Er steht vielleicht auf sie, aber er traut ihr nicht. Jedenfalls vorläufig nicht.
»Gut. Dann los.« Sie zeigt zu den Bäumen und ich sehe erst jetzt, dass dort ein kleiner Steg ist. Und an seinem Ende kann ich gerade noch zwei Quads ausmachen, die dort auf dem Eis zusammengekettet sind. »Wir sollten hier weg, bevor sie kommen.« Sie nickt zur Burg hinüber. Meint sie die Gangster oder die Zombies? Im letzten Tageslicht sind Schatten auszumachen, die über das Eis in unsere Richtung wanken, mit ausgestreckten Armen. Fernes Ächzen ist zu hören.
»Die Osiris-Spritzen habt ihr?«, fragt meine Mutter.
Ich berge die Kühltasche an meiner Brust wie ein Baby. »Jepp.«
»Gute Arbeit.« Sie streckt ihre Hände danach aus.
»Die trage ich.«
Sie schnalzt ungeduldig mit der Zunge. »Meinetwegen. Dann los.« Sie wendet sich ab und geht voran zum Steg, und Smitty und ich hieven Pete vom eisigen Boden hoch.
»Ähm, hallo?« Alice fasst mich am Arm. »Wir latschen der bösen Wissenschaftlerin einfach hinterher?«
Und was wäre die Alternative?
»Wir brauchen ein paar Antworten!«, stottert Pete.
»Hier.« Ich lade ihn Alice auf, dann stapfe ich durch den Schnee hinter meiner Mutter her und versuche sie einzuholen, ganz wie es das kleine Mädchen auf dem Foto getan hätte.
»Bloß weil wir von den Untoten gehetzt werden, gibt dir das noch keinen Freischein, weißt du!«, rufe ich. »Du hast hier gearbeitet, oder nicht? Hast du diese Zombies geschaffen?« Der Wind reißt meine Fragen mit hinaus auf den See. »Du bist mir eine Erklärung schuldig!«
Sie bleibt nicht stehen oder wird auch nur langsamer und zuerst denke ich, sie hat mich gar nicht gehört. Aber dann blickt sie nach hinten.
»Für den Moment brauchst du nur zu wissen, dass unsere Absichten gut gewesen sind.«
»Jepp, das hat uns Grace auch schon vorgeflötet«, rufe ich ihr nach und habe Mühe, das Tempo zu halten. »Euer kleines Team hat einen Zombievirus nachgebildet, den Xanthro kriegen sollte.«
»Wir haben versucht ein Heilmittel zu finden!« Sie bleibt plötzlich stehen und fährt herum. »Das Stimulans war ein Fehler. Ich hab versucht es vor Xanthro zu verbergen. Hätte ich gewusst, dass es auf so was hier hinausläuft …«, sie zeigt auf die näher rückenden Zombies auf dem Eis, »dann hätte ich mich geweigert da mitzumachen!«
Ich hole sie keuchend ein.
»Du hast nichts von dem Gemüsesaft gewusst?«
Sie schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Mein Team hat mich hintergangen – oder jedenfalls Grace, Michael und Shaq –, zu jung und zu blöd, um etwas anderes als Gier zu kennen. Sie haben das Stimulans an Xanthro weitergegeben. Xanthro hat den Saft hergestellt, um einen kontrollierten Ausbruch durchzuführen und zu schauen, wie es sich verbreitet. Jetzt, wo ihr Experiment gelaufen ist, wollen sie kommen und die Beweise vernichten.«
»Zu Ihrer Info: Wir sind Beweise!«, ruft Smitty, der uns einholt.
»Exakt«, sagt meine Mutter. »Das Einzige, was unsere Sicherheit garantiert, ist das Gegenmittel.« Sie zeigt auf die Kühltasche über meiner Schulter. »Xanthro hat Osiris 17 nicht, und solange wir es haben, können wir mit ihnen verhandeln.«
»Noch mehr Infos für euch, ihr Superhelden!«, ruft Alice von hinten. »Zombies ahoi!«
Ich werfe einen Blick zum Tunneleingang; unsere Freunde aus dem Keller sind da. Und wie es aussieht, haben sie noch Zuwachs bekommen.
»Los, weiter!«, ruft meine Mutter und wir machen, dass wir zum Steg kommen.
»Das sind Hunderte! Da drüben!« Alice zeigt über den See zu einer anderen Stelle auf dem Eis, wo ein weiterer Mob auf uns zukommt, torkelnd und grässlich, mit blutigem Speichel und zerfetzten Klauenhänden. »Und da!« Sie dreht sich verzweifelt zu meiner Mutter um. »Wo kommen die alle her?«
Meine Mutter antwortet nicht auf die Frage, sondern nickt nur grimmig und rennt auf den Steg hinaus zu den Quads.
»Ich werd’ nicht mehr.« Alice ist baff. »Sie verschwinden.«
»Hast du Halluzinationen?« Smitty späht in das nachlassende Licht. Aber Alice hat Recht. Ganze Gruppen von Untoten verschwinden im See. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was da passiert.
»Ha ha!« Smitty lacht triumphierend. »Sie brechen im Eis ein! Diese Fettsäcke! Ich lach mich tot!«
Pete räuspert sich. »Ähm, ja. Aber wenn sie zu schwer sind, wie steht’s dann mit uns fünfen auf Quadbikes?«
Meine Mutter übernimmt das Kommando. »Das Eis ist dort am dicksten, wo ich entlanggekommen bin.« Sie zeigt mit einem behandschuhten Finger in die entgegengesetzte Richtung von der Burg. »Wenn wir jetzt losfahren, schaffen wir es.« Sie nickt zu einem baufälligen Tor am Ende des Stegs hinüber. »Macht das hinter euch zu!«
»Ist ja toll«, murrt Alice. »Das wird echt was bringen.«
»Es hält sie ein paar Minuten auf.« Die bionischen Ohren meiner Mutter funktionieren tadellos. Sie klettert die Leiter hinunter und geht über das Eis zu der Stelle, wo die Quads geparkt sind. »Kannst du so eins fahren?«, ruft sie Smitty zu. »Gas, Bremse, Gangschaltung.« Sie dreht den Zündschlüssel und macht die Scheinwerfer an.
»Hakuna Matata.« Smitty schleppt Pete nach unten aufs Eis und setzt ihn auf das Quad.
»Oh nee, das muss ja wohl nicht sein.«
Zuerst denke ich, Pete protestiert dagegen, dass er hinter Smitty im Sozius mitfahren soll, aber dann sehe ich, dass er sich zur Seite gelehnt hat und auf das umgebende Eis hinunterschaut.
»Das solltest du dir lieber mal ansehen!«, fügt er hinzu und nimmt die Füße vom Eis hoch.
Smitty guckt fassungslos nach unten. »Gibt’s doch nicht!«
Dort unter dem Eis sind, wie Kaulquappen in Gelee, die Horden. Sie sind zwar in den See gefallen, aber sie haben ihre Mission nicht aufgegeben, an uns heranzukommen. Sie schlagen mit blauen Händen auf die Eisdecke ein, versuchen auszubrechen. Da, wo es flach ist, sind sie auf allen vieren und pressen die Rücken gegen das Eis. Es knackt.
»Schlimmer geht’s ja wohl nicht mehr!« Alice springt auf dem Steg auf und ab. »Wir! Müssen! Los!«
»Dann schafft eure Hintern hier runter!«, drängt Smitty uns und schwingt sich vor Pete auf das Quad. »Auf geht’s!«
Als ich zu ihm gucke, ist ein lautes Bersten zu hören, das Quad ruckt nach vorn und Pete fliegt hinunter aufs Eis. Smitty hält sich am Lenker fest, das Gesicht starr vor Schreck. Aber es ist okay, das Eis hält, ihm passiert nichts. Er lacht erleichtert auf.
»Wuu-huu! Was für ein Ritt –«
Ein zweites Bersten, ohrenbetäubend – als würde die Hölle selbst sich öffnen –, und beide Quads werden vom Eis verschluckt.
»Smitty!«
Ich renne zum Rand des Stegs. Das Quad kommt im Wasser wieder hoch, aber Smitty ist weg. Pete schiebt sich auf dem Eis zu meiner Mutter hinüber und beide bringen sich über die Leiter in Sicherheit.
Dann sehe ich es. Eine Hand, Smittys Hand, greift aus einem dunklen Fleck im Wasser und krallt nach der Luft. Und dann kommt sein Kopf hoch, sein weißes, panisches Gesicht, und er schnappt nach Luft. Kopf, Schultern und die andere Hand; er zieht sich aus dem kalten Wasser auf das Eis.
Und dann sehe ich die dritte Hand.
Aufgeschwemmt und wabbelig und blau erhebt sie sich hoch über Smitty, legt sich auf seinen Kopf und drückt ihn wieder unter Wasser.
Ich sehe mich verzweifelt um – irgendwie muss ich ihm helfen!
Wieder kommt Smitty für einen Atemzug nach oben, wirft sich wie ein durchbrechender Wal hoch in die Luft. Aber nicht hoch genug. Er streckt auf dem Eis die Arme aus, rutscht aber zurück. Unsere Blicke treffen sich für einen Moment und die Hoffnungslosigkeit in seinen Augen breitet sich in mir aus. Und dann wird sein Gesicht hart, als er versucht tapfer zu sein, versucht noch ein letztes Mal stark zu sein – stark genug, um sich zu retten und mir zu ersparen, dass ich dabei zusehen muss, wie er in die Tiefe rutscht.
Die blaue Hand kommt wieder hoch – und dann noch eine und noch eine; sie greifen nach Smitty, der sich so schlüpfrig wie ein Otter durch das Wasser rollt, mit Armen und Beinen um sich schlägt und alles in den Kampf legt, was er hat. Bloß reicht das vielleicht nicht.
Am Ende des Stegs hängt ein zusammengerolltes Seil. Ich schnappe es mir; es ist steif gefroren und so gut wie nutzlos, aber etwas Besseres habe ich nicht. Rasch stelle ich die Kühltasche beiseite und trete vom Ende des Stegs auf das Eis.
»Bobby, nein!«
Ich ignoriere die Rufe meiner Mutter. Zu rennen traue ich mich nicht, aber ich mache große, gleitende Schritte auf Smittys tapferes Gesicht zu. Er hat sich zwischen ein paar Eisschollen verkeilt, damit die Zombies ihn nicht wieder nach unten ziehen können.
»Ich komme!«, rufe ich, mit schrecklich dünner Stimme – aber er hört mich und ich sehe einen Hoffnungsschimmer in seinen Augen. Dann Angst, Angst um mich.
»Das Eis …«, keucht er. »Dünn …«
Weiß ich doch. Ich gehe auf alle viere hinunter und rutsche wie eine Babygiraffe auf ihn zu, dabei gucke ich nach unten, gucke durch das Eis, um das zu sehen, was ihn nach unten zieht. Da sind sie, die Viecher, die mal Menschen gewesen sind, eine wimmelnde Masse von Gliedmaßen und grotesken, geschwollenen, grauen Köpfen. Ich reiße mich von dem Anblick los und konzentriere mich auf das Loch.
»Hier!« Ich werfe das Seil. Mist, zu kurz. Ich muss dichter heran. Ich krabbele vorwärts, lege mich flach aufs Eis und werfe noch mal, mit mehr Kraft. Smitty hechtet sich darauf zu und – schnapp – habe ich ihn am Haken. Ein Rekordfisch. Ich schiebe mich rückwärts, aber es ist klar, dass ich ihn nicht herausziehen kann.
»Halt einfach fest!«, ruft er mit dem Mund voll Eiswasser. Ich klemme mir das Seil zwischen die Beine, wickle es mir um die Hüfte und ziehe es über meine Schulter, dann lege ich mich mit meinem vollen Gewicht darauf. Mit einem heftigen Ruck zieht sich Smitty hoch, während die Hände nach ihm greifen. Ich halte gegen und hoffe, dass das reicht.
Und das tut es.
Auf einmal ist er neben mir, triefnass und keuchend wie ein Neugeborenes.
Und dann ist Mum da und packt mich an den Beinen, sichert mich, während ich Smitty sichere.
Für Worte fehlt uns die Energie. Wir kriechen zum Steg zurück, helfen einander. Als wir dort ankommen, hat Smitty sich schon erholt und klettert als Erster hoch, aber mein Bein gibt bei dieser letzten unmöglichen Hürde nach und ich klappe zusammen. Er greift zu mir nach unten, packt mich an der Jacke und zieht mich hoch; Mum schiebt von unten. Und dann sind wir endlich oben, wieder auf festem Boden.
Während wir da keuchend liegen, fällt mir auf, dass das eine Hosenbein von Smitty am Knie zerrissen ist.
Und in seinem bleichen Fleisch sind drei zerklüftete böse Bisswunden.