Viertes Kapitel
O niederschmetterndes Déjà-vu! Theodor, den
Mortagnes Kutsche, wie er glaubte, allen peinlichen Erinnerungen
entrissen hatte, fand sich am Ziel der Reise vor die Aufgabe
gestellt, eine mathematische Gleichung zu lösen, die sich ungleich
komplizierter darstellte als alles, woran er schon in den Stunden
mit Meister De Broglie gescheitert war.
In einer visuell beeindruckenden Imitation der
kabbalistischen Welt geometrischer Zeichnungen versuchte Theodor
das Schloß horizontal in Ebenen der Wichtigkeit, vertikal in Säulen
geographischer Zugehörigkeit zu unterteilen und verband die
einzelnen Niveaus mit Diagonalen und Treppen. Aber das reichte bei
weitem nicht aus. Das ohnehin schon unverständliche Diagramm mußte
noch mit diversen Kreisen kompliziert werden, in deren Mittelpunkt
kleine Fixsterne saßen, umkreist von ihren Trabanten. Die Arbeits-
und Funktionsbereiche breiteten ein enges Raster über das
Gekritzel, das schließlich an der Unmöglichkeit der Wiedergabe
einer Art Kräuselung scheiterte: Ganze Flügel, Bewegungen,
Uniformen, Gesten und vertane Tage, Umherhuschen und Stimmen,
tanzende Körper und hallendes Gelächter, die nichts und niemand
zuzuordnen waren, verzerrten die Wahrnehmung, wie wenn der Wind
über den See geht und alles Gespiegelte in Licht und Schatten
auflöst. Außerdem hätte das wahnwitzige Schaubild noch von
unregelmäßigen Parabeln durchwellt gehört, das Ansteigen und
Abfallen einer allgemeinen Spannung darstellend, die von
unbekannten Ereignissen herrührte, Besuchen,
Abreisen, Aufführungen, Festivitäten, welche sämtliche Niveaus,
deren Verbindungen, die Kreise und die Flimmerfelder in
zusätzliche, unberechenbare Bewegung versetzten und
durcheinandergeraten ließen.
Und alledem floß noch eine vierte Dimension zu, die
die Lösung der Gleichung, die Theodor aufgegeben war, vollends
unmöglich machte: Die Zeit, die Dauer, das Wissen um Tradition und
Langlebigkeit, das jede Bewegung, Geste und Handlung nach hinten zu
einem unendlichen Raum hin öffnete, und alles als die Konsequenz
weit herkommender, gewachsener Entwicklungen und Prozesse erkennen
ließ.
Und all das, all dieser pulsierende Wirrwarr
berührte noch gar nicht das Innerste, das Unsichtbar-Numinose, das
schlagende Herz im Zentrum, die Sonne, die diesen Kosmos am Leben
hielt, den Kreis des alt und bigott gewordenen und an all den
Lustbarkeiten und Tollheiten seiner Welt kaum mehr partizipierenden
Königs, seiner allerchristlichsten Majestät Ludwigs des
Vierzehnten.
Dabei hatte der erste Anblick Theodor noch
beglückt: Eine Zentralperspektive mit dem Fluchtpunkt des weiß
leuchtenden, rasch sich vergrößernden Schlosses, während Sand und
Kies von den Pferden aufgewirbelt wurden und den Ausblick auf das
Camelot der Neuzeit mit avalonschen Nebeln verschleierten. Er hatte
kein Auge für die Umgebung, starrte nur voraus, und da lag es,
hinter der majestätischen schwarzen grille d’honneur,
ockergolden, immens, überwältigend in seiner Schönheit.
Aber das dauerte nur kurz. Das Schloß entpuppte
sich rasch als dreidimensionales Labyrinth mit einem jedes
Raumgefühl verhöhnenden Treppengewirr, ein steinerner Moloch, der
den Umherirrenden fraß und verdaute. Unaufhörlich tauchten neue
Gesichter auf. Es war ein Kommen und Gehen, Türen-Aufstoßen,
Zimmerfluchten-Durchhasten, in Sälen Verschwinden von Körpern und
Gesichtern,
und sobald ein Kabinett sich öffnete, befreite sich der gefangene
Gestank nach Urin und Kot und mischte sich mit dem talgigen Geruch
nach altem Schweiß, der unter den Perücken weste, daß man
zurückprallte.
Unmöglich, in einem Gesicht zu lesen, ein Wort zu
verstehen, war man der Codes, der Zeichensprache nicht mächtig, in
der hier kommuniziert wurde.
Der erste Impuls, irgendeinen Auslöser zu
entdecken, von dem aus all diese Bewegung einen Sinn bekäme,
stellte sich rasch als illusorisch heraus. Dergleichen gab es
nicht. Dennoch brach nicht alles zusammen, stand der Komplex auch
am nächsten Morgen noch, rumpelten die Wagenkolonnen der
Lieferanten herein, beschleunigte sich das nächtlich ein wenig
verlangsamte und mit kleinerer Besetzung fortgeführte Ballett von
neuem.
Vielleicht, dachte Theodor auf seinen ersten
Botengängen, war das ganze undurchsichtige Getriebe dieser Arche ja
nichts anderes als die Summe solcher Wege wie der seinen, gespickt
mit unerwarteten Zusammenstößen, vom Kurs gebracht durch
Abschweifungen, Irrgänge und Aufenthalte, tausendfach potenziert,
sinnvoll und zielgerichtet im einzelnen, aber sich in seiner
Gesamtheit zu einem gigantischen, wahnsinnigen Gewusel
ballend.
Es schien die ersten Tage, in denen er bis in die
Gesichtsmuskeln wie gelähmt war von der schieren Größe des
Schloßkomplexes und dem Wald ineinander übergehender, einander
gleichender Gesichter, vollkommen hoffnungslos, jemals so etwas wie
Orientierung und Übersicht zu erlangen, und sei es nur im engsten
Kreis um ihn herum, was doch, das spürte Theodor,
überlebensnotwendig war, wollte er nicht unter die Räder
kommen.
Seine Herrin, Madame, die Palatine
wurde sie überall genannt, sah er zum ersten Mal am zweiten Tag
nach seiner Ankunft. Eine massige alte Dame in grünem Brokat, die
ihn in ihrer blühenden Runzligkeit an einen Obstbaum erinnerte.
Ihr breites Gesicht saß auf einem zum Fettkranz geschwollenen, den
Hals verbergenden Doppelkinn, das die Bewegungen des Kopfes nicht
immer ganz mitmachte. Der Kopf drehte sich weg, der Wulst blieb
liegen. Ihr Hühnermund spitzte sich unter einer breiten, hohen
Oberlippe, einer großen, leeren Fläche und so bleich, als habe die
Herzogin sich soeben erst einen buschigen grauen Walroßschnäuzer
abrasiert. Ihre wachen, beständig feuchten Äuglein musterten
jedermann mit mißtrauischen (aber wer blickte hier nicht
mißtrauisch?), häckselnden Blicken, woraufhin die zerkleinerten
Eindrücke hinter der hohen, faltenlosen und schön gewölbten Stirn
in die Wursthäute der Erinnerung gestopft zu werden schienen.
Die große Frau wußte durchaus, wen sie vor sich
hatte, als er sich, im Vorzimmer von einem Lakaien angeleitet, ihr
dienernd näherte, was, wie Theodor anhand der aufmerkenden
Umstehenden befriedigt bemerkte, offenbar nicht selbstverständlich
war. Sie duzte ihn sofort.
Ei, Theodor, sagte sie, nachdem sie sich seine
Geschichte angehört hatte, deren Darstellung sie mit erhobenen
Händen (kürzer, schneller), offenen Handflächen (sprich dich aus),
flatternden Fingern (will ich nicht so genau wissen) dirigiert und
in ihr genehme Formen und Proportionen gebracht hatte, ei, Theodor,
jetzt gehst du als’ mal da drüben in die Kammer und stellst dich da
ans Fenster und guckst, wann die Leute kommen und gehen, die ich
hier auf dieser Liste stehen hab, gell. Man wird dir dabei
helfen.
Oui, Madame, flötete Theodor, rot vor Stolz,
ihre Handzeichen so fehlerlos interpretiert zu haben, als seien sie
ein Code, den er schon seit Jahren perfekt beherrsche. So erblickte
er gleich zu Anfang, was mancher der Glücklichen, der nicht dort
hausen mußte, die »Kloake von Versailles« nannte, das im großen
Innenhof verborgene und von außen unsichtbare »Armenviertel« des
Schlosses.
Mehrere Reihen lieblos hochgezogener,
spitzgiebliger,
mietskasernenartiger Wohnhäuser standen dort, von Hofmauer zu
Hofmauer reichend, dicht an dicht, kleine Lichthöfe dazwischen,
hölzerne Außentreppen führten in die vier Etagen eines jeden, das
dennoch niedriger war als das nur zwei Stockwerke umfassende
Schloß. Die Häuser waren durch Arkaden miteinander verbunden, die
ebenso im Schatten des Palastes lagen wie die kleinen Fenster der
niedrigen Wohnungen.
In dieser Düsternis und in Zimmerchen, die nicht
größer waren als Gefängniszellen, hausten, wie Theodor später
erfuhr, mehrere tausend Männer und Frauen, die meisten von ihnen
Adlige, die zu Hause auf dem Land in hundertmal komfortablerem
Rahmen gelebt hatten. Sie waren aus allen Teilen des Landes an den
Hof gedrängt, um der Sonne des Königs teilhaftig zu werden, und
lebten in schwer vorstellbarer Promiskuität, was auch der Grund
war, warum man ihr Kommen und Gehen, von Kammer zu Kammer, von
Block zu Block, wie die Palatine es jetzt von Theodor
verlangte, von den Fenstern der Beletage ausspionierte.
Er selbst mußte nicht so tief anfangen, sondern
genoß auch weiterhin Privilegien, die seiner inneren Überzeugung,
ein Auserwählter zu sein, der nur vorübergehend inkognito auftrat,
weiter genügend Nahrung zuführten. Er brauchte nicht Arbeit in
einem niederen Sinn zu tun, Mortagne, den er in den ersten Monaten
nur zweimal zu Gesicht bekam, sorgte nach wie vor für seine
schulische und edelmännische Ausbildung, die Stunden vor
lateinischen, englischen und italienischen Büchern, die Räume, in
denen er studierte, das bleiche, von einem Tic, der das linke Auge
und den linken Mundwinkel aufeinanderzuzog, durchzuckte Gesicht
seines neuen Lehrers, des Abbé Ducreux, und das altrosa getönte
Vorzimmer von Madame wurden seine Zuflucht, seine Fixpunkte
im unbegreiflichen Chaos von Versailles.
Im Kabinett der Pfälzerin wurde auch Politik
gemacht,
aber so – kam es Theodor vor – wie in jedem zweiten Raum des
Schlosses: auf eine hypothetische, kinderspielhafte Weise, als
träfe man sich zum Schach und räumte hinterher die Figuren
verdrossen und enttäuscht angesichts all der verpufften
Geistesanstrengung zurück in ihr Holzkästchen. Es wurde intrigiert,
worum, wußte Theodor nicht. Damenzirkel schlossen sich ein,
seltsame gepuderte Herren mit krankhaften Rougeflecken auf den
Wangen trippelten ein und aus, die Lakaien und Zimmermädchen
klatschten und übertrumpften einander im beiläufigen Fallenlassen
ellenlanger Namen, von denen keiner Theodor etwas sagte.
Bittsteller standen Schlange, sie kamen aus der Provinz, sie kamen
aus der verwüsteten Heimat von Madame, ihr Akzent war durch
geschlossene Türen, ohne daß man ein Wort verstanden hätte, nur am
Klang sofort zu erkennen. Sehr viele jüngere Damen und Herren saßen
herum, kamen und gingen, von einer sonderbaren Unruhe getrieben,
und unterhielten sich stundenlang, in offenbar grenzenloser
Kenntnis der Örtlichkeiten, darüber, was man tun könne, am
Nachmittag, heute abend, heute nacht, am morgigen Tag, um sich die
Langeweile zu vertreiben.
Eine Unmenge Zeit, die für die mehr oder weniger
ständigen Bewohner des Palasts allerdings auch im Übermaß zur
Verfügung stand, wurde auf die Veränderung, Verschönerung,
Verkleidung und Verwandlung der Körper verwandt. Theodor war
regelmäßig zugegen, wenn Madame am Vormittag, bevor sie ihren Sohn
zu einer fünfminütigen entrevue empfing, hergerichtet wurde.
Was ihm zunächst in jugendlicher Unduldsamkeit lächerlich und
absurd vorkam, fing nach einiger Zeit an, ihn zu beeindrucken.
Soviel Ausdauer und Mühe, so viele Cremes, Essenzen,
Parfumflaschen, Batisttücher, so viele Hände des Perückenmachers,
Coiffeurs, der Schneiderin, der Zofen, soviel Verschleierung – die
Haut wurde weiß grundiert, die Schönheitsflecke mehrmals versetzt,
die geschwollenen Knöchel bandagiert,
um in die Schnürstiefeletten eingeführt werden zu können, die
hellbraunen Altersflecken auf den Händen überschminkt, die
Garderobe der Jahreszeit, dem Wochentag, der Stunde, der
Sonneneinstrahlung, der Tapete des zum Gespräch bestimmten Raums
angepaßt – soviel Aufwand, um aus einer häßlichen alten Frau, ja,
was zu machen? Eine immer noch häßliche alte Frau, aber eine, die
aus Höflichkeit oder Eitelkeit mit allen Mitteln gegen diese
Zumutung der Tatsachen anging.
Manchmal, wenn er stundenlang zugesehen und
assistiert hatte, schien es Theodor, als sei der Schein, der
häßliche Schein, das Werk der Natur, und alle menschliche Mühe
diene dazu, den Schleier dieses Scheins fortzureißen und die höhere
Wahrheit des Gewünschten ans Licht zu ziehen. Denn bestand nicht
eine direkte Verbindung zwischen den Retuschen, die an Madame
vorgenommen wurden, und der Art, wie im Park aus der wildwuchernden
Natur ein Extrakt von Maß und Schönheit herausdistilliert war, oder
der Verwirklichung der alten menschlichen Idee, ein Dach über dem
Kopf zu benötigen, in der Architektur des Schlosses?
Es waren im übrigen keineswegs nur die Frauen, die
Stunden damit verbrachten, sich zu schminken und Kleider zu
probieren. Zahlreiche Männer taten das gleiche. Einige von ihnen
waren ungeheuer effeminiert, ohne daß das irgendwen schockiert
hätte. Sie alle einte die gleiche zärtliche Aufmerksamkeit, die sie
der eigenen Person widmeten, ein ständiges Bemühen, gut auszusehen,
in Form zu sein, brillant aufzutreten; eine kreiselnde
Selbstbezogenheit, die sie den Damen zum Verwechseln ähneln ließ
und die die gesamte Schloßstadt in ein androgynes Licht tauchte,
das Theodor blendete.
Die Wahrheit zu sagen, fand er, sobald er sich an
dieses Licht gewöhnt hatte, nichts weiter daran auszusetzen. Gewiß,
er war ein Mann, weil Gott eben seinerzeit, um ein
wenig Ordnung zu schaffen, die Menschen in Mann und Frau
geschieden und der Zufall ihn ja nun auf einer der Seiten hatte
plazieren müssen. War aber von einer physischen Gegebenheit
unbedingt auf eine existentielle zu schließen? Das männliche
Verhalten mit seinen Konventionen, denen er ihren Willen tat wie
nörgelnden Kindern, bildete sozusagen das Alltagskleid seines
Lebens, was aber war natürlicher, als daß seinem reichen
Seelenleben auch andere Gewänder zur Verfügung standen? Wenn es
weiblich war, sich in wollüstigem Genuß kämmen zu lassen, nun, dann
gebot er eben auch über weibliche Eigenschaften, und wenn es für
männlich galt, andere Männer in die Seite zu puffen, grobianisch
auf die Schulter zu schlagen, einander beim Pissen den Schwengel zu
halten oder in durchsoffenen Nächten mit immer schwererer Zunge dem
Freund die Welt und die eigene Misere zu erklären, kurz, wenn
Mangel an Würde, Zurückhaltung und Abstand sein Geschlecht
kennzeichneten, dann lag hier eine Grenze, an der er das Mitspielen
verweigerte. Er empfand es als unglaubliche Zumutung und
Einschränkung, seine innere Welt so ganz aus seiner
geschlechtlichen Zugehörigkeit definieren zu sollen.
Solche Gedanken waren der Tatsache geschuldet, daß
Theodor in diesen ersten Monaten bei Hofe noch unschuldig war und
das geschlechtliche Drunter und Drüber mit neutralem Blick
betrachtete. Mehr als die Frage, ob man sich eher zu einem Menschen
des eigenen oder des anderen Geschlechts hingezogen fühlen sollte,
beschäftigte ihn die, ob überhaupt jemand außer seinem eigenen
Blut, sprich seiner Schwester, würdig war, Einblicke ins Tabernakel
seines Inneren gewährt zu bekommen.
Daß er, wenn es darauf ankam, trotz dieser
geschlechtlichen Flimmeridentität Grenzen zu ziehen vermochte,
konnte er kurz darauf feststellen, als ihn seine Studien zum
wiederholten Mal zu Monsieur de Cheisseux führten, dem
Bibliothekar in seinem sonnendurchfluteten Bücherreich im ersten
Stock.
Theodor hatte in Versailles Männer gesehen, die in
einem behaarten und muskulösen Körper eingesperrte Frauen waren,
unglückliche, groteske Zwitterwesen. Er hatte Männer gesehen, so
männlich, daß die Jagd auf Frauen ihr einziges Ziel war, und ihr
glücklichster Augenblick der, wenn sie auf die erlegte Strecke
niederblicken konnten.
Monsieur de Cheisseux dagegen war auf eine andere
Weise vollkommen männlich. Er war so sehr Mann, daß er die Frauen
einfach nicht brauchen konnte. Nicht, daß er sie verachtet hätte,
aber in seiner Welt des Geistes und der Begeisterung durch junges
Leben kamen sie schlicht nicht vor.
Saß Theodor an einem der großen
Kirschholzschreibtische, die im Tageslicht rotgolden glänzten, und
blätterte die Seiten eines Buches um, daß der Staub in den
Lichtbahnen wilde Tänze vollführte, konnte es geschehen, daß der
Bibliothekar sich von hinten über ihn beugte, sich mit den Händen
zu beiden Seiten des Buches abstützte und dann eine hob, um Theodor
übers Haar zu streichen, oder ihm die Schultern massierte. Dabei
dozierte er auf eine angenehm erzählerische Art und Weise, und
Theodor hörte um so aufmerksamer zu, als er den Eindruck hatte, der
Bibliothekar rede mehr zu sich selbst und hätte auch gesprochen,
wenn er alleine im Raum gewesen wäre.
Mehrere Nachmittage genoß der junge Page die
kräftigen massierenden Hände mit der gleichen prinzenhaften Huld
wie einst die seiner Mutter oder Minnes und lauschte den Lehrworten
männlicher Geistigkeit so geschmeichelt, als hätte De Cheisseux ihn
in einen exklusiven Club eingeführt.
Das hätte so weitergehen dürfen, aber plötzlich
brachte der Bibliothekar das »Du« ins Spiel, und was bislang in der
Schwebe gehangen hatte, unpersönlich und anonym gewesen war, wurde
mit einem Mal konkret: Es ging um ihn, Theodor, und um den
vierzigjährigen, glattrasierten Mann,
der ihn ganz anders ansah als zuvor, ja, der ihm überhaupt zum
ersten Mal in die Augen blickte.
Allez, mon petit baron, ich sehe, die Jugend
ist bereit, sich von der Reife an die Hand nehmen zu lassen.
Das war sie jedoch keineswegs. Theodor entzog sich
De Cheisseux und ging auf Abstand. Er verstand nicht recht, an
welchem Punkt und aus welchem Grund Ton und Stimmung sich verändert
hatten, begriff aber, daß der Bibliothekar eine Grenze
überschritten hatte, indem er sozusagen nicht mehr hinter ihm
stand, sondern vor ihm, sich ihm zeigte und ihm ins Gesicht
sah.
Theodors Gefallen an zärtlichen Händen und klugen
Worten war eines. Der Schweratmende, der ihn jetzt in die Enge
trieb und sagte: Soyez pas coquin, seit Wochen schon regst
du mich auf, war etwas ganz anderes. Für ihn empfand Theodor
nichts.
Ne sois pas si réfractaire, Bengel! Wer das
Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste. Laß dir die Augen öffnen.
Wovor hast du Angst? Vor meiner Zärtlichkeit?
Schulden wir die Zärtlichkeit und das mit offenen
Augen ausgesprochene Du nicht doch den Damen? entgegnete Theodor
unsicher und im Bemühen, De Cheisseux nicht zu verletzen.
Mais que m’importent les bonnes femmes. Dich
will ich! Allez, pas de manières. Ce n’est pas parce que je
t’enculerai une ou deux fois que tu deviendra
pédéraste...
Er zerrte mit wachsender Ungeduld an Theodor, der
fieberhaft nachdachte, wie er einen Ringkampf mit ungewissem
Ausgang verhindern könne. Es hieß improvisieren, wobei er Dinge
glaubwürdig in Worte fassen mußte, von denen er keinen genauen
Begriff hatte, die aber, dessen war er sicher, in dieser Situation
die gewünschte Wirkung nicht verfehlen würden. Er nahm einen, wie
er hoffte, verschlagen-verderbten Gesichtsausdruck an und flüsterte
dem Erregten sein Sätzchen ins Ohr. Der prallte zurück.
Petite crapule! Warum hast du das nicht
gleich gesagt? Aus meinen Augen! Fort mit dir! Ich rechne dir deine
Ehrlichkeit hoch an, armes, verlorenes Kind!
So schnell zurück? fragte die Herzogin. Hat De
Cheisseux versucht, dich zu inkommodieren?
Ich habe, um mich vor einem Privatissimum zu
drücken, eine Krankheit vorgeschützt, unter der ich Gott sei Dank
noch nicht wirklich leide, Madame...
Bien fait, mon petit. Diese Franzosen sind
alles Schweine, Sodomiten und Schmutzfinken.
Theodor fand, daß seine Herrin übertrieb. Er
vermochte auch dem Bibliothekar nicht böse zu sein, das Groteske
und Peinliche des Auftritts wurde doch überwogen von der leisen
Erschütterung, Zeuge geworden zu sein, wie ein Mensch sich ihm
öffnete und sich dadurch vor ihm erniedrigte, ohne dabei seiner
Würde verlustig zu gehen. Fast bedauerte er es, das Privileg
ausgeschlagen zu haben, Monsieur de Cheisseux in seine reine und
von einer gewissen Tragik der Sterilität umwölkte Welt zu folgen,
in der reife Männer den Samen des Geistes in junge Adepten
pflanzten und aus der, ähnlich wie im Kloster, die fremde,
beängstigende, mysteriöse Lockung der Weiblichkeit ausgeschlossen
war.
Aber kurz darauf nahm Theodor zum ersten Mal die
Baroness Valentini wahr, eine der Ehrendamen der Herzogin, und der
kalt-heiße Sturm von Empfindungen, den ihr Anblick auslöste, ließ
ihn dem Schicksal danken, sich einer derartigen Erfahrung nicht vor
der Zeit versagt zu haben.
Wenn er die Italienerin auf den ersten Blick als
derart berückend empfand, daß er sich einen zweiten verbot – es war
ihm, als dürfe man eine Epiphanie nicht versuchen, indem man sie
von vorn und hinten begaffte wie ein Händler ein Stück Vieh -, so
hatte das mit ihrer Gesichts- und Körperbildung rein gar nichts zu
tun.
Die Baroness war eine Frau, gewiß doppelt so alt
wie er oder doch kaum weniger, er war unfähig, eine weitergehende
Beschreibung von ihr zu geben. Dennoch war sie es, ganz eindeutig
sie, die ihn so verstörte.
Es war, genauer gesagt, der Kontrast zwischen ihrer
weißen Haut und ihrer bläulich getönten Perücke und den dazu
passend lackierten Nägeln und ummalten Augen. Der Eindruck war so
schlagend künstlich und maskenhaft, daß er Theodors Fantasie
ungleich mehr erregte, als hätte sie sich ihm nackt gezeigt. Er
mußte an die mechanischen tanzenden Püppchen im Kabinett Madames
denken, die er, fasziniert von dem Geheimnis in ihrem Innern,
stundenlang betrachten konnte.
Er wußte nicht einmal, ob die Dame, die kichernd
mit anderen Ehrenjungfern in der offenen Equipage saß, ihn
überhaupt gesehen hatte, und eigentlich war es ihm auch ganz
gleichgültig. Aber diese weißblaue Porzellanmaske war entschieden
verheißungsvoller als aller männliche Geist von Monsieur de
Cheisseux.
Die ersten Fortschritte, die Theodor im
Verständnis des minoischen Palastes machte und die ihm halfen,
seiner verzagten Verwirrung langsam Herr zu werden, waren
geographischer Art. Auf seinen Botengängen, bei den
Spionagediensten im Auftrag Madames sowie den Ausflügen durch das
Anwesen in ihrem Gefolge fühlte er sich wie ein in die Ferne
Verschlagener, der die Wunder des fremden Kontinents nur nickend
quittiert und, ganz aufs Überleben und die glückliche Heimkehr
konzentriert, nicht ans Verstehen, Einordnen oder Klassifizieren
denkt, jedoch wurde ihm der Plan der Örtlichkeiten
durchsichtig.
Er fand heraus, welcher Eingang von der Hof-,
welcher von der Parkseite am schnellsten in den Flügel Madames
führte. Er prägte sich die Anordnung ihrer Zimmerfluchten und
Kabinette ein. Er erkundete den Bereich Monsieurs
Vorzimmer für Vorzimmer. Er grenzte im Geiste den dem König
reservierten Teil des Schlosses ab. Er durchforschte die »Kloake«,
die enge Welt der Höflinge, mit all ihren Treppchen, Durchgängen
und Arkaden. Er machte sich die Anordnung der Wirtschaftsgebäude
klar, dieses lärmenden, nach hundert Gerüchen stinkenden,
wimmelnden Orkus voll hart arbeitender Tischler, Zimmerleute,
Schmiede, Stukkateure, Maurer, Köche, Bäcker, Gärtner, Schreiber,
Aufpasser, Näherinnen, Spinnerinnen, Weberrinnen – all jener
Gesichts- und Namenlosen, die die Welt von Versailles
ermöglichten.
Er studierte Le Nôtres Plan des Parks, erforschte
die Wege zum Trianon oder zum Potager du Roi, lernte spielerisch,
welches Fenster zu welchem Saal oder Kabinett gehörte, und nach
einigen Monaten in Versailles hatte er einen perfekten Begriff von
der Verpackung, wenn auch noch immer keinen von ihrem Inhalt.
Die Hierarchien, Intrigen, die ungeheure Menge an
wichtigen, scheinbar wichtigen und unwichtigen Leuten, all das
blieb ein Buch mit sieben Siegeln.
Immerhin dämmerte ihm, welch ein Informationsmarkt
der Palast war: Das Zuhören und heimliche Horchen, das Weitersagen,
Ausplaudern, Fortspinnen, Verschweigen von Gerüchten, Gesprächen,
Unterredungen und Unterhaltungen war auf allen Ebenen und
Zuständigkeiten eine der eifrigst verfolgten Tätigkeiten, nur
sagten ihm die Themen nichts, um die die Gespräche sich drehten,
ebensowenig wie die Anspielungen auf politische Entscheidungen,
diplomatische Vorstöße, Feldzüge, Belagerungen und Verhandlungen,
das Geschacher um Posten und Ämter, den Ärger in Paris und der
Provinz, noch auch all die Namen, die flüsternd, hochachtungsvoll,
zweifelnd, verächtlich oder genüßlich genannt wurden. Nun, er lebte
auch so, aber er war zum Verstummen und Große-Augen-Machen
verurteilt, und das lag ihm letztlich nicht.
Jedes zweite Gespräch in Versailles drehte sich um
Geld, und das war für Theodor ein weiteres großes Mysterium. Die
Welt des Palastes schien nach ähnlichen Gesetzen zu funktionieren
wie die Existenz des Grafen von Mortagne: ein offenbar unabhängiger
Kreislauf von Geld und Arbeit auf der einen und frei und unabhängig
agierende Individuen auf der anderen Seite. Aber obwohl alles da
war, was man brauchte, Nahrung, Kleidung, Möbel, obwohl Reisen
stattfanden und in Luxus geschwelgt wurde, war die Rede vom Geld,
seinem Mangel, genauer gesagt, und woher es kommen sollte,
omnipräsent.
Die Schulden des Landes, das hieß die Schulden des
Königs, seien unermeßlich, hörte Theodor, und soviel er verstand,
nahm jedermann das als Freibrief, sich an dieses Kreditleben
anzuhängen und um so verächtlicher – aber auch öfter – vom Geld zu
sprechen, je prekärer die eigene Situation wurde.
Der Abbé Ducreux erklärte ihm: Die Spannung
zwischen dem Palast und Paris wächst von Jahr zu Jahr. Es ist ein
Mysterium, wie lange das Geld noch von dort zu uns fließen wird.
Haben Sie gesehen, wie viele Bankiers hier mittlerweile
herumlaufen?
Für Theodor war das Mysterium die Frage, wie es
eines Tages zu ihm gelangen werde, wenn er nämlich, was zwar noch
in ferner, unsichtbarer Zukunft lag, aus seinem Nest hier fallen
würde.
Wieder einmal stellte er fest, daß ihm Mysterien
lieber waren als klar überschaubare, analysierbare Gegebenheiten.
Es war ihm angenehmer, in eine dunkle Wolke hineinzuschreiten und
sich Schicksal und Zufall anzuvertrauen, als sich seinen Weg durch
eine vor ihm liegende Aufgabe hindurchdenken zu müssen. Das eine
verlangte Improvisation und Glück, das andere eine an ihren
Resultaten meßbare Anstrengung, und derlei Anstrengungen empfand er
als Zumutung an sein Selbstwertgefühl. Nein, er ließ den
Dingen und Menschen lieber ihren Lauf und zog es vor, sich von
ihnen überraschen zu lassen.
Das Geld, woher es kam und wie es wieder
verschwand, daß man es brauchte und was man damit anfing, war ein
solches Mysterium, ein Hort möglicher Überraschungen, ein anderes
war die verlockend blauschimmernde Baroness Valentini.
Ein drittes ergab sich aus der Begegnung mit dem
Marchese Vanzetti, dem Astrologen Madames, zu dem Theodor eines
Tages geschickt wurde. Der Marchese, der, wie seine Herrin
angedeutet hatte, gar kein richtiger Marchese war, erwies sich
nichtsdestoweniger mit seinem vollen schwarzen Lockenhaar, das
keine Perücke duldete, seinem Richelieu-Bart und einer etwas
theatralischen, rotsamtgefütterten schwarzen houppelande,
als höchst beeindruckende Erscheinung, die den jungen Mann zum
ersten Mal mit einer Sonderform der Naturwissenschaften
bekanntmachte, die seinen Neigungen entgegenkam.
Denn sowohl die Astrologie als auch die
alchimistischen Experimente, die der Italiener praktizierte, gingen
von naturwissenschaftlichen Prämissen aus, benutzten auch die
Regeln und das Vokabular, ließen jedoch eine breite Bresche im
arroganten, selbstgenügsamen System der Zahlen, in die das
Unwägbare, Unkontrollierbare, das Interpretierbare, kurz: das dem
Wort Zugängliche und sich ihm Beugende einströmen konnte.
Theodor fragte so begeistert nach, daß der Marchese
ihn in die Grundregeln der Sterndeutung einführte, und lernte
soviel, wie er immer lernte, daß heißt genug, um jeden
Außenstehenden glauben zu machen, er verstehe etwas von der
Materie. Mit anderen Worten: Er lernte die symbolische Handhabung
dieser Wissenschaften, die menschlich genug waren, dort wo Theodors
Wissen zerfaserte, sich in ebenso interessant klingenden wie vagen
Sätzen fassen und manipulieren zu lassen.
Die Alchimie liebte der Page noch mehr als die
Gestirnskunde, denn sie ließ vor allem Auge und Ohr auf ihre Kosten
kommen. Das Exakteste an ihr schien der halb rosenkreuzerische,
halb katholische Ritus von Beschwörungs- und Konsekrationsformeln,
Gesten, Anrufungen und Versen, einer peinlich genau respektierten
Anordnung verschiedener Steine, Metalle und Werkzeuge, Momenten der
Stille und Sammlung und gregorianisch anmutender gesummter
Antiphone, mit der sie sich umgab, um ein dem Gelingen günstiges
geistiges Klima zu schaffen, lange bevor es an konkrete
Verrichtungen ging. Das, zusammen mit der blasenschlagenden Suppe
im Kupferkessel, den Glaskolben und Phiolen, Reagenzgläsern und
Retorten, den vielfarbig durch Röhren fließenden und blubbernden
Flüssigkeiten, wirkte und roch und klang dank herrlicher Worte wie
conjunctio, maza, nigredo oder
citrinitas so überaus faszinierend, daß es kaum mehr nötig
schien, ein greifbares Ergebnis so schöner Anstrengungen erwarten
zu wollen.
Und, was kommt dabei heraus? fragte Theodor den
Marchese dennoch ungezogen, aber in der vagen Hoffnung, nicht durch
eine präzise Antwort enttäuscht zu werden.
Nichts, mein Junge, entgegnete der Astrologe
leichthin und vielleicht doch ein wenig unvorsichtig. Der Weg ist
das Ziel, und da schaute Theodor ihn so erfreut an, daß der
Marchese die Pfälzerin bat, ihn zu seinem Gehilfen machen zu
dürfen.
So schritt Theodors Eroberung der hiesigen Welt
weiter voran, wobei er mitunter ins Stolpern geriet. Wochenlang
hielt er aufgrund einer falschen logischen Verknüpfung einen der
Marschälle des Reichs, der sich öfter mit dem Herzog Philippe bei
der Pfälzerin traf, für einen hartnäckigen Schnorrer aus der
Provinz, einen dieser Landedelleute, die um Geld einkamen, mit dem
sie irgendwelche utopischen Projekte zur Sumpftrockenlegung oder
Landgewinnung
finanzieren wollten, und grüßte ihn mit hochgezogenen Brauen und
abschätzig zuckenden Mundwinkeln.
Mit der Zeit aber lernte er, Gesichter zu
unterscheiden und die Bewohner und Besucher des Palastes in Gruppen
zu scheiden.
Diejenige Kategorie, die Theodor am
faszinierendsten und undurchsichtigsten fand, waren die von ihm so
genannten »gefährdeten Trabanten«: Frauen und Männer, die keinen in
Zahlen faßbaren Nutzen besaßen, auch kein Amt ihr eigen nannten und
die lediglich kraft des Wortes, durch die Gefälligkeit ihrer Person
sich ein lichtes, aber in jeder Sekunde vom Absturz bedrohtes Nest
gebaut hatten. Ihre Beharrlichkeit, ihr bohrender Wille, sich einen
Platz an der Sonne zu erkämpfen, die Disziplin, die sie an den Tag
legten, um à la mode, geistvoll, kreativ, witzig, spitz,
unterhaltsam zu sein, die ungeheuren Nebelmaschinen, die sie mit
allen Kräften bewegten, um ihre vollkommene Überflüssigkeit für den
Gang der Dinge zu kaschieren, waren bewundernswert und erschreckend
zugleich. Mit dem ihm selbst noch nicht bewußten fachmännischen
Blick, den Menschen gleicher Berufung und ähnlicher Artung
füreinander haben, machte Theodor sich zum mitfühlenden,
mitleidenden Zuschauer ihrer heroischen Anstrengungen, heroisch,
weil nichts davon, auf die Gefahr hin völligen Aus-der-Mode-Kommens
und damit sofortigen Verschwindens von der ersten Bühne der Welt,
nach außen dringen durfte.
Es waren Gesellschafter der noblen Herrschaften,
Liebesbotschafter, bestallte Intriganten und inoffizielle Herolde,
Künstler, Halb- und Viertelskünstler, Lebenskünstler, Hofnarren.
Einen von ihnen lernte Theodor näher kennen, als die Pfälzerin ihn
bat, Monsieur de Mortemart dienstbare Gesellschaft zu
leisten.
Der braungelockte, schlanke junge Mann mit den
hektisch geröteten Wangen riß Theodor um halb sechs Uhr morgens aus
dem Schlaf.
Was ich von Ihnen erwarte und worum ich Sie bitte,
erklärte er, ist, was die Engländer coachen nennen.
Theodor erfuhr rasch, was damit gemeint war. Nach
einem zweistündigen scharfen Ritt in den Sonnenaufgang mußte er den
Erhitzten mit vor Anstrengung zitternden Muskeln mit Güssen kalten
Wassers überschütten, wie man kein Pferd traktiert hätte.
So, nun bin ich wach, kommentierte Mortemart, auf
ins Studierzimmer!
Theodor sah zu, wie der Eifrige seine mitgebrachten
Bücher an vorgemerkten Stellen aufschlug und rezitierte. Es waren
Sammlungen von Gedichten, Sinnsprüchen, Aphorismen und Aperçus, von
den griechischen Klassikern über die persische und indische
Dichtung bis zu gegenwärtigen französischen oder englischen
Produktionen. Daneben besaß Mortemart ein Quartheft, in das er
selbst geistvolle Wendungen eingetragen hatte, die Theodor ihn
abfragen mußte. Der Proband bekam feuchtglänzende Schläfen, aber er
vertat sich nicht ein einziges Mal.
So, und jetzt, und bei diesen Worten nahm er mit
gespitzten Fingern seine Schläfen in eine Art Klammer, um sich zu
konzentrieren, jetzt reden Sie. Sie sprechen über irgend etwas, das
Ihnen gerade in den Sinn kommt, und dann fragen Sie mich nach
meiner Meinung oder fordern eine Stellungnahme. Auf,
vorwärts!
Theodor extemporierte, und Mortemart zündete ein
regelmäßiges, in bunten Arabesken explodierendes Feuerwerk
kommentierender Bonmots, Sottisen und wie aus der Pistole
geschossener Repliken, daß dem Pagen vor Staunen der Mund
offenstand. Er hatte einen Meister vor sich.
Wie spät ist es? Mittag? Sehr gut. Ich ruhe jetzt
eine Stunde, nehme anschließend eine leichte Kollation mit zwei
Gläsern Mousseux, und dann wird es Zeit für das Déjeuner von
Madame. Nun muß ich noch meine Atemübungen machen. Wenn Sie mich
dazu entschuldigen würden...
Am Nachmittag war Theodor bei der bunten
Gesellschaft im Park zugegen, wo die Schranzen sich in
konzentrischen Kreisen um die Pfälzerin und ihre Cour drängten wie
schwärmende Wespen um ihre Königin.
Es dauerte über eine Stunde, bis Mortemart sein
Stichwort bekam. Eine der hohen Damen sagte etwas, und bevor der
Klang ihrer Worte noch verweht war, durchschnitt aus der zweiten
Reihe, scharf wie ein Tranchiermesser, der Spruch des jungen
précieux die Stille. Ein Herzschlag Pause, dann Gelächter,
Applaus, Fächergeschwirr, Erröten und kokett drohende Finger.
Mortemart hatte sich seinen Tag verdient.
Gegen Ende der Lustbarkeit wandte sich eine Gräfin
an ihn und lud ihn zum Wiederkommen ein. Mit einem Kopfnicken zu
Theodor verschwand er mit seinem Bücherköfferchen, leicht gebeugt
wie ein Handwerker, der nach getaner Arbeit nach Hause geht, zurück
ins Nichts, aus dem er vermutlich kam.
Und seinesgleichen gab es Hunderte.
Ihnen gegenüber fand sich die privilegierteste
Gruppe der Versailler Bevölkerung: der Hof selbst, die
farbenprächtige, strahlende, brillante, hypersensible, dekadente,
gelangweilte, perverse, hochgebildete und unaufhörlich plappernde
Pfauenschaft all derer, die sich nicht zu rechtfertigen brauchten,
deren Existenz finanziell und hierarchisch gesichert war, die nicht
arbeiten mußten oder doch nur symbolischen Tätigkeiten nachkamen,
einer Kabinettssitzung hier, einem bunten, fahnenschwenkenden
Feldzug da, und die nach Zeitvertreib lechzten wie sündige Seelen
nach dem Heil.
Es war das funkenschlagende Aufeinandertreffen der
hungrigen Aufstrebenden mit den übersatten Arrivierten, ihre
Dialoge, ihre Liebeshändel, ihre Intrigen, ihre Spiele und
Aufführungen, die dem Hofe seinen ganz Europa erleuchtenden Glanz
verliehen.
Le Nôtres Park war die erste Bühne der Welt, auch
wenn es wie üblich hieß, früher, als der König noch jung und
lebenslustig gewesen sei und selbst mitgemacht habe, sei alles
größer, schöner, wilder und verrückter zugegangen, und Theodor
sagte sich schwindelnd, daß er mitten darauf stand und von
Millionen Menschen beneidet wurde.
Freilich ahnten diese Millionen nichts von den
Realitäten. Denn waren Hof und Park auch eine Bühne, so doch
ebensosehr ein Ort, an dem Lebenszeit dahinging, wo die Uhren
womöglich noch erbarmungsloser tickten als andernorts, und was in
Spiel und Selbstdarstellung an Energien verpulvert wurde, konnte
nicht mehr für das eigentliche Leben genutzt werden.
Aber was ist das eigentliche Leben denn eigentlich,
fragte Theodor sich verwirrt und wie in die Unendlichkeit einer
Spiegelflucht blickend. Gibt es überhaupt eine Grenze zwischen dem,
was man für die anderen darstellt, und einem andern, das man nur
für sich selbst wäre? Lag eine Tiefe unter der schimmernden, aus
tausend verschwiegenen Anstrengungen bestehenden Oberfläche, oder
war diese Oberfläche alles, was es gab, und besaß womöglich einfach
eine gewisse, das Nichts abdeckende Dicke?
War die Leichtigkeit, die er so liebte, das
Element, aus dem man bestand, oder nur der Firnis, die Endpolitur
über einem schweren, soliden, langweiligen Unterbau aus Arbeit,
Lernen und Bildung, der all die brillanten Figuren bei Hofe
lediglich zu auffälligeren, zivilisierten Verwandten der
herkömmlichen Menschen, der dumpfen Landbevölkerung gemacht hätte,
so wie letztendlich auch der Pfau nur ein etwas prächtigeres Huhn
ist.
Instinktiv suchte Theodor Halt bei der alten
Pfälzerin, die in den vierzig Jahren, die sie hier lebte, kupiert,
beschnitten, verpflanzt und entrindet worden war und dennoch im
Kern sich nicht verändert und verformt hatte. Sie ließ sich
Theodors sohnes-, oder besser enkelhafte Anlehnung
gefallen, und er lauschte stundenlang, wenn sie von früher
erzählte, von daheim, und klagte.
In ihrem Schutz und Schatten lernte er die
komplizierte Grammatik der Versailler Kommunikation, die
Standardformeln und ihre Bedeutung, die Sprachcodes, die die
Hierarchien trennten und verbanden, das Parlando, das Geplauder,
das sich selbst in Worten, in einem Ton Definieren, erforschte die
Grenzbereiche dieser redegeregelten Welt, die dem Flickenteppich im
Osten des Landes glichen, die Halbinseln und Besitzstandswechsel
zwischen dem gebotenen, dem erlaubten, dem tolerierten und dem
unmöglichen Wort.
Sein Mangel an Gewißheiten und Meinungen machte
Theodor zu einem guten Zuhörer, einem tiefen Gefäß ohne Deckel, in
das alles mögliche fallen konnte, womöglich aber auch, wie er sich
selbst zweifelnd fragte, zu einem ohne Boden.
Denn je mehr er erfuhr von den Verhältnissen des
Palastes, der Stadt, des Landes, desto weniger Sicherheit zog er
daraus: Alles schien ihm gleich gerechtfertigt, gleich wichtig und
gleich faszinierend, und nach einiger Zeit gleich beliebig. Das
heißt, er lernte unter der Hand die Ironie: den wohlwollenden
Zweifel an der Einzigartigkeit aller Dinge, der das Ergebnis des
tiefsten Zweifels an sich selbst ist.
Die erste Gelegenheit, selbst den Mund zu öffnen,
ließ er nicht ungenützt verstreichen. Der Herzog von Orléans,
Madames Sohn, echauffierte sich bis zur Weißglut über ein
höhnisches Papier aus Paris, gegen das er immer wieder mit der
flachen Hand schlug, nachdem es einmal die Runde gemacht
hatte.
Was sagen Sie dazu? rief er die Umstehenden an. Was
erlauben diese Leute sich? Halten sie sich denn für kompetenter als
den König?
In die Stille hinein sagte Theodor: Tintenflecke
auf
einem Rattenfell machen daraus noch keinen königlichen
Hermelinpelz.
Wie? fragte Philippe verwirrt. Sagen Sie das noch
einmal!
Theodor wiederholte sein improvisiertes
Sätzchen.
Das ist ja großartig! rief der Herzog. Tintenflecke
auf einem Rattenfell? Ganz köstlich! Und er wandte sich an seinen
Sekretär: Verbreiten Sie diesen Satz als meine Antwort! Sie haben
doch nichts dagegen, junger Mann?
Theodor verneigte sich: Es ist Ihre Antwort.
Ich habe sie Ihnen nur vorwitzigerweise von den Lippen
gelesen...
Es fiel ihm auf, welch tiefen,
lebensrechtfertigenden Genuß ihm der Applaus bereitete und wie
geschmäcklerisch sich dennoch sein Mund verzog, wenn er nicht
weiter nennenswerten Leistungen gezollt wurde. Manche der jungen
Höflinge und précieux neideten ihm seine Nähe zu den
Höchsten und nannten ihn einen Liebediener und Intriganten. Aber
sie täuschten sich in ihm. Er konnte einfach gut mit der Herzogin,
deren mütterliche Strenge es ihm angetan hatte und die im übrigen
so gar keinen Einfluß auf den Gang der Dinge besaß. Es wäre ihm
viel zu anstrengend gewesen, den ganzen Palast nach einem auf seine
Zwecke zugeschnittenen Gönner zu durchforsten, die Pfälzerin war
nur einfach dagewesen, wo er sich auch befand, und er bestätigte
ihre Überzeugungen ebenso leichthin wie die eines jeden
anderen.
Als Theodor dem Pagenalter entwuchs, legte seine
Herrin ihm nahe, sich eine Wohnung in Paris zu nehmen und ab und zu
Bericht zu erstatten, was geredet werde in den Salons und
Cafés.
Theodor dachte nach. Die Kapitale, die »Stadt«, wie
sie kurzerhand genannt wurde im Gegensatz zum »Schloß«, zwei
Stunden Wegs durch lichte Wälder entfernt und vom Fluß sich bis zu
den sie umgebenden Hügeln dehnend, war ein Aspekt, den er bislang
sträflich vernachlässigt hatte.
Sei du mal nicht so eingebildet, weil du in diesem
Vogelbauer sitzt und ein bißchen mitzwitschern darfst, hatte ihn
ein Kollege belehrt. Die Adler und Bussarde leben in Paris. Ich bin
da zur Schule gegangen. Der König kann noch so sehr versuchen, der
Stadt das Rückgrat zu brechen, es wird ihm nicht gelingen. Das
Leben findet dort statt. Auf den Faubourgs, in den Salons und
Cafés. Alle wichtigen, alle richtigen Menschen schwören auf Paris.
Da wird gedacht und gehandelt, nicht hier in dieser
Theaterkulisse.
Ich weiß nicht, sagte er. Ich würde Versailles
ungern verlassen.
Erwachsen werden heißt verzichten lernen, Theodor,
antwortete die Herzogin.
Nun ja, wir wollen einmal sehen, sagte er.