VII

Es war Anfang Januar, und die Oranienstraße glich einer krebskranken Raucherlunge. Die verharschten Schneehaufen auf beiden Straßenseiten waren rußig schwarz bis in die Poren, gelb befleckt von Hundepisse und mit bräunlichen und grünen Haufen gekrönt und garniert. Auf der Fahrbahn hatte der Schnee sich mit Asche, Abgasen und Streusand zu einem braunen Matsch vermischt, durch den die Autos pflügten. Es war klirrend kalt, und in den Läden standen Türken und alte Leute Schlange mit Eimern und Kannen, in die sie sich Wasser füllen ließen, denn die Leitungen und Rohre aller alten Häuser waren eingefroren.

Nichts hatte sich verändert. Johann war fort gewesen und war jetzt wieder da. Seine Anwesenheit wurde von den anderen so gleichmütig hingenommen, als sei er nur eben Zigarettenholen gegangen. Ihm selbst fiel es schwer zurückzufinden, und jeder seiner Schritte war ein unsicheres Tasten auf einem fremden Planeten, dessen Schwerkraftgesetze er nicht kannte. Er verließ kaum das Haus. Die Wohnung war schmutzig, es war Johann nie aufgefallen, wie schmutzig sie war. Ihr Anblick ließ den altbekannten Ekel in ihm aufsteigen, und er begann sie zu reinigen.

Schmierige Fenster filterten die Strahlen der matten Wintersonne, ihr Licht färbte die weißen Wände staubgrau. Ritzen und Rillen des Zementfußbodens waren schwarz vor Dreck, und Staubflocken rollten in Ecken und Nischen und stapelten sich dort zu wolligen Ballen. Klebriges Geschirr mit braunen festgebeizten Speiseresten gammelte in der Spüle, im Zuckersatz der Kaffeetassen waren Zigaretten ausgedrückt, die Aschenbecher quollen über, die Kippen klebten faulig darin, denn die oberste Schicht war, wenn sie nicht ausgehen wollten, mit Wasser gelöscht worden. Der Geruch alter Asche schwamm bitter auf der trockenen Zentralheizungshitze.

Sein eigenes Zimmer reinigte Johann besonders gründlich und entfernte dann alles daraus, was das Auge ablenken oder den Blick einfangen konnte. Er verbrachte ganze Nachmittage an der Waschmaschine oder beim Saugen oder Spülen, und er überstrich die bunten Wände des großen Raumes mit drei Schichten weißer Farbe. Die anderen ließen ihn schulterzuckend gewähren. Sein Zimmer war sauber, seine schlichte schwarze Kleidung frisch gewaschen, seine Haut war rein, sein Körper glatt, und manchmal tat er nichts anderes, als vor seinem Bett zu knien und mit der Hand leicht über das weiße Laken zu streichen und der Schattenlinie zu folgen, die der Fensterrahmen zeichnete.

Johann saß bei Maria und fragte sie nach den großen Zeiten. Peter hat mir gesagt, ich sei zu spät gekommen.

Ashes to ashes, sagte Maria. Jahre wie alle Jahre.

Und doch mußte da etwas gewesen sein, dachte Johann, das er verpaßt hatte, und er mußte davon wissen. Er wußte nicht warum, aber bevor der Tag käme, auf den er wartete, mußte er wissen, was geschehen war.

Witzig war es, sagte Maria. Das ja. Aber tragisch nur für die, deren einziges Abenteuer es gewesen ist, die danach nicht mehr wach wurden. Peter. Ja, Peter. Kein Wunder.

Johann war nicht zufrieden. Er gab keine Ruhe. Was versprichst du dir davon? wollte Maria wissen.

Johann schüttelte den Kopf. Er vermochte es nicht zu sagen.

Was bist du so wild auf Dinge, die vorbei sind? Wieder schüttelte Johann den Kopf. Nichts war vorbei. Gar nichts war vorbei. Eine Vorstellung, die sie nicht wiederholen würden, hatte Peter gesagt. So würde er ihr Theater anzünden. Aber er mußte wissen, was er versäumt hatte. Stumm und unfähig, seinen Wunsch zu begründen, starrte er Maria an.

Schließlich begann sie zu erzählen.

Zu Anfang sah es nach etwas aus. Wie es so manchmal nach ruhigen Zeiten ist, in denen deine Atmung fast zum Stillstand kommt, waren plötzlich alle in Aufbruchstimmung. Es hatte tatsächlich was von Anarchie. Die Mädchen jobbten in der Peepshow, die Jungs lebten von Stütze, es war Bier und Punk, und keiner arbeitete.

Das erste, was ich miterlebte, war die Kottidemo. Wir waren gerade auf dem Weg ins Kino und kamen von unten die Treppe hoch, und da war der Krach schon zu hören. Von allen Seiten strömten die Leute herbei, alle Besetzer, die es schon gab, und ein Haufen anderer, immer mehr. Damals funktionierte die Kette auch noch, weißt du, eine Telefonnummernliste für die besetzten Häuser. Ich weiß gar nicht mehr, was genau der Grund war, ich glaube, am Fraenkelufer hatten sie Häuser durchsucht, und damals wurde auf solche Provokationen noch sofort reagiert.

Du mußt dir das vorstellen, es war ja die Punkzeit, der ganze Kotti voller Lederjacken, Sicherheitsnadeln, Igelhaare, und dazu noch die ganzen anderen, die Parka-Leute, Bordsteine wurden losgebrochen, und aus allen Richtungen schleppten sie die unmöglichsten Dinge herbei, um in der Adalbertstraße eine Barrikade zu bauen. Die Stimmung kannst du dir nicht vorstellen, es war ein Revolutionsfilm, Panzerkreuzer Potemkin, die Choreografie, die ausholenden Gesten, die trippelnden Bewegungen, sogar in Schwarzweiß, zumindest in meiner Erinnerung, heute ist das alles ein bißchen lächerlich, aber damals sah es nach was aus, direkte Aktion.

Punks und Intellektuelle verbauten gemeinsam Kinderwagen und Teppiche in die Barrikade, und aus den weit geöffneten Fenstern dröhnte die Musik, als sei plötzlich alles möglich, und als die Polizei von weitem auftauchte, da brach wirklich so etwas los wie Revolution, alle wollten was ändern, aber es war natürlich alles Schwachsinn, denn niemand wußte was, und so endete es beim Kaputtschlagen, das aber mit einer solchen Energie und Lust, daß die Bullen sich nicht nähertrauten, dieses eine Mal, sondern in ihrem weiten Kreis innehielten und sich nicht mucksten.

Selbst die haben wohl gespürt, an jenem Tag wäre etwas explodiert, wäre wirklich Revolution losgebrochen, hätte auch nur der geringste Anlaß existiert, die winzigste Provokation außer Schaufenstern. Das war so nur an diesem einen Tag, stärker hab ich es nie erlebt, weißt du, da war keiner, der es ignorierte, der noch seines Wegs ging, selbst die Alten und die Türken mischten sich ein, blieben stehen, begannen auf offener Straße auf die Verhältnisse zu fluchen und stritten mit den Punks über Taktik im Straßenkampf, plötzlich hatten sie alle wieder eine Erinnerung daran, bei manchen muß wohl der alte Kommigeist hochgekommen sein, so denk ich mir die wildesten Zeiten von Weimar.

Plötzlich stieg es in allen hoch, plötzlich ging es zu wie auf einem Forum, und alle redeten sich heiß, sangen sogar, reckten die Fäuste, was weiß ich. Und dann knallte es, und jemand hatte die Scheibe von Aldi eingeschmissen, und die Leute fluteten rein, nicht etwa nur die Punks, allesamt. Plündernde Omas vor den Aldi-Regalen wie beim Schlußverkauf, Türken kamen mit vollbepackten Einkaufswagen rausgerollt, dann war Salamander an der Reihe, den ganzen Laden klauten sie leer, die weißen Schuhkartons flogen nur so, und zwischen den Scherben sahst du Punks und alte Männer auf den Bänkchen hocken und sich gegenseitig mit dem Schuhlöffel in neue Latschen helfen.

Aus dem Optikerladen haben sie tausend Brillengestelle geholt, mit denen kein Mensch was anfangen konnte, aber dortbleiben durften sie natürlich auch nicht, und die Bullen, immer ganz brav im Hintergrund, mucksten sich nicht, die wußten, an dem Tag wären sie unter die Räder gekommen, na, sie haben sich später genug rächen dürfen, ich möcht nicht wissen, wie viele von denen, die da bibbernd vor Angst standen wie Kinder am Strand bei Sturmwarnung, wenn die Brecher aufeinanderschlagen, wie viele von denen zwei Jahre später am Winterfeldtplatz ihren Frust rausgelassen und die Leute gnadenlos zusammengekloppt haben, als die Verhältnisse anders aussahen und die Taktik geplant war wie im Krieg.

Aber der Abend am Kotti, das war kein Krieg, das war Revolution, und wenn es jemand gegeben hätte, der damals an jenem Abend die Sache in die Hand genommen hätte, ungelogen, ganz SO 36 hätte sich zur freien Zone erklärt, denn weißt du, das unglaubliche war, die grauen Theorien wurden Realität, die Menschen waren tatsächlich traurig und allein und haßerfüllt und wahnsinnig und eben doch nicht zufrieden mit Glotze und Mallorca und Stütze und Biersuff, kein einziger war es, und da brach es heraus, aber da kam keiner, der es in die Hand nahm, denn so waren die Zeiten nicht mehr, jetzt ging es um individualistische Anarchie, und das ist eben nichts weiter als kaputthauen, wenn du kannst, und am nächsten Tag selbst aufgemischt werden, kleine Explosionen, die den Tag nicht überdauern.

Schließlich knackten wir die Panzerscheiben der Deutschen Bank mit Pickeln und Bauhacken, aber drinnen gabs nicht viel zu holen, nur ein bißchen zu zerfetzen und umzuwerfen, ich habe so eine kleine Rechenmaschine mitgehen lassen, und dann, gegen elf, war der Spuk vorbei, sie hatten uns alles machen lassen, und der Kotti sah aus wie ein unaufgeräumtes Kinderzimmer, und mitten auf der leeren Adalbertstraße stand wie blöde die Barrikade, und davor und dahinter Leute, die sie noch einmal betrachteten, eine Sandburg, wenn man abends vom Strand nach Hause geht, und dann zerstreute sich wieder alles.

Es war ein Fick ohne Liebe, danach willst du nur noch zu Hause und allein sein. Aber es war das erste Mal und auch das beste. Danach kämpfte alles schon auf verlorenem Posten, der Sieg war Trug gewesen, denn es hatte keinen Gegner gegeben, und dann kam das Rollback. Und zum Schluß kamen die Wessis und machten Kriegstourismus, weil Beirut zu weit ist und dort auch scharf geschossen wird.

Im Sommer als ich ankam, sagte Johann, redete auch einer von der Freien Republik Kreuzberg.

Lachhaft, schnappte Maria. Das war eine Sternschnuppe, eine Vision, die einen Abend lang, vier Stunden leuchtete, aber keiner griff danach. Wie willst du Sternschnuppen auch festhalten?

Johann antwortete nicht.

Aber damals war ich nicht oft in Kreuzberg. Beim Atonalfestival war ich hier. Es gab hier von allem ein erstes Mal und danach noch ein paar matte Kopien, und dann war Schluß. Aber das Atonal im Esso, das war echtes Kreuzberg, wie es zu dieser Zeit war.

Maria unterbrach sich. Ich rede wie eine Fremdenführerin. Wozu interessiert dich der alte Kram überhaupt?

Ich muß wissen, was war, sagte Johann. Ich muß wissen, was vor mir passiert ist, bevor es mich gab. Ich brauch Boden unter den Füßen.

Bevor es dich gab, sagte Maria. Natürlich gab es dich, du warst nur zufällig nicht in Berlin, wie ungefähr vier Milliarden andere Leute auch.

Es geht darum, ob es mich hätte geben können, ob ich hätte dabeisein können, ob –

Ob du dabeigewesen wärst, ergänzte Maria. Müßige Frage, da dus nicht warst. Aber wenn du dir eine Vergangenheit bauen willst, an mir solls nicht liegen.

Ich will keine Abenteuermärchen hören! sagte Johann.

Maria schüttelte den Kopf. Ich erzähle, woran ich mich erinnere.

Das Atonal. Warte, wer spielte? Die Neubauten, die waren damals noch Kreuzberger Geheimtip, und die Tödliche Doris und Borsig. Gott, was für Namen! Zerstörermusik, Blutpogo. Genau das, was auf den Straßen passierte. Oder vielmehr nicht passierte. Aber in den Köpfen der Leute. Sicherheitsnadeln im Hirn, Glasscherben im Herz, Vorschlaghämmer auf die Ohren.

Das Esso war wegen Lärmbelästigung ja eigentlich schon lange geschlossen und zum türkischen Nachbarschaftsheim geworden. Und dann drei Tage lang Festival, und danach mußten sie natürlich sofort wieder schließen.

Es war heiß dort und stank, denn es gab nirgends Abzüge, und die Klos standen unter Wasser, Bierdosen flogen und rollten auf dem Boden, Paderborner, Paderborner und die blutigen Köpfe und der Lärm, der dich totschlug in dem schwarzen Loch, und draußen auf der O-Straße heulten sie wie die Wölfe oder prügelten sich oder schlugen grundlos auf irgendwen ein und dann wieder hinein, wo die Musik auf sie einhämmerte, es war einfach, wie wenn du zum ersten Mal Scheiße schreist, alle schrien laut Scheiße, oder Ficken, sie schrien und schrien es, und es war laut und neu und schien etwas zu bedeuten, es war die kürzeste Chiffre, und das war eigentlich alles.

Nein, sagte Johann.

Natürlich nicht, sagte Maria. Natürlich nicht.

 

Später saßen sie in Johanns Zimmer. Es war sauber, und die weißen Laken glänzten schneeig in der Wintersonne, die klar und scharf hinter dem Fenster stand. Auch an der Wand hinter der Matratze hing ein Laken wie ein Segel. An der anderen Wand stand eine aufgebockte Glasplatte. Darauf lag ein polierter onyxfarbener Gasrevolver, ein silberschimmernder Schlagring und ein mattglänzender Totschläger. An einem Haken in der weißen Wand baumelten Peters Messer und ein weiterer Dolch, schlanker, spitzer als der andere, sein feminines Gegenstück. Die Waffen, unbenutzt, glänzten sauber. Maria betrachtete sie, ohne eine Miene zu verziehen.

Sie erzählte von ihrem Leben in der Danckelmannstraße. Es war ein ganzer besetzter Block gewesen, neun Häuser. Auf der Vorderseite wohnten die Verhandler, die mit der Neuen Heimat sprachen, in den Hinterhäusern hausten die Nichtverhandler, und dort, im Haus Deutsche Krebshilfe, hatte Maria gelebt.

Es war ein riesiger Tisch im Zimmer, vom Sperrmüll oder von irgend jemandes Eltern, der immer voll schmutzigem Geschirr stand, und drumherum eine bunte Sammlung verschiedenster Stühle, alte weißlackierte Küchenstühle, räudige altrosa Plüschsessel, aus deren Polsterung die Holzwolle quoll, Drahtrohrstühle wie vom Bauhaus, und auf dem Tisch lagen stets die türkischen Weißbrote, angeknabbert, aufgeschnitten, angetrocknet, und auf dem Bord drei Pfund Kaffee, und ohne Unterbrechung den ganzen Tag, das heißt ab zwei Uhr nachmittags, tropfte und blubberte der Kaffee in der Maschine.

Die Anlage lief den ganzen Tag mit voller Lautstärke, meistens war einer der Lautsprecher durchgeknallt, aber vierundzwanzig Stunden am Tag Musik, denn es gab keinen Augenblick, in dem nicht irgendeiner wach war oder nach Hause kam. Der Ausguß war bunt, jeden Tag von anderer Farbe, weil alle Leute sich andauernd die Haare färbten, das war eine der Hauptbeschäftigungen, immer lehnte irgendwer über dem Becken, und an den Seiten glänzten Hennaränder über pinkfarbenen, grünen, blauen, wasserstoffblonden, karottenfarbenen und schwarzen.

Auf dem alten Sofa stapelten sich die schmutzigen Klamotten, der Abfall und die Müllsäcke. Und in den einzelnen Zimmern war nichts vor den anderen sicher. Unter dem Banner der Anarchie klaute jeder jedem alles, was er gerade brauchte, frische Unterhosen und Socken, Cassetten, Bleistifte, gebunkerte Fressalien, Bücher, und wenn du irgend etwas verschlossen hattest, was ohnehin verpönt war, dann konnte es auch passieren, daß sie dir den Schrank aufbrachen, während du fort warst, man kannte ja die Hälfte der Leute nicht, es war ein ständiges Kommen und Gehen, und jeder brachte Freunde mit, oder Bekannte, und irgendwelche Punks oder Treber kamen einfach so, um Geld oder Shit zu schnorren oder sich nur vollzufressen oder eine Anlage mitgehen zu lassen.

Der Verrückteste, der bei uns wohnte, war Zoss, der war damals erst sechzehn oder siebzehn, und niemand wußte, wo er herkam, und natürlich war er arbeitslos, er dröhnte sich den ganzen Tag den Kopf voll Speed und Musik und war nachts unterwegs. Er war klein und mager und völlig weiß, er lebte auch nur von dem Türkenbrot und Kaffee, und er war wochenlang unterwegs, ohne zu schlafen, und manchmal tagelang verschwunden, und dann kam er zurück und fiel einfach um und schlief drei Tage lang durch. Einmal räumte ich die dreckige Wäsche und die Müllsäcke vom Sofa, und da lag er drunter, zusammengerollt wie eine Katze, und schlief wie ein Baby.

Er hatte eine Gabe, er konnte aus Nichts, Müll und Spucke wunderbare und witzige Geschenke machen, er besaß eine ungeheure Phantasie, wenn es ihn überkam, zog er sich mit allem Kram, den er im Haus auftreiben konnte, einen Nachmittag lang in ein Zimmer zurück und machte Geschenke für die Leute, Geschenke, die irgendeinem Tick oder einer Eigenart oder einem Wunsch von uns entsprachen oder sich darüber lustig machten, die Sachen waren herrlich, und du kamst aus dem Lachen nicht mehr raus, und er griente dich an mit seinen schlechten Mäusezähnen, den roten oder grünen Filz auf dem Kopf, und war glücklich.

Das konnte er wie kein Zweiter, aber zu Geld läßt sich so etwas natürlich nicht machen, und das war das einzige, was ihm Spaß machte. Letztes Jahr habe ich ihn zuletzt gesehen, er war völlig verändert, von Speed und Alk weg, und jobbte irgendwo, wo er unglücklich war, und wohnte allein in Neukölln und brachte kein Wort mehr heraus.

In der Danckelmann hatte er einmal zwei zahme Ratten, und als er wieder für zwei Wochen verschwand, ließ er sie in meiner Handtasche und steckte ein Weißbrot hinein. Als er wiederkam, war die ganze Tasche lebendig und bewegte sich und stank, und außer den zwei Großen waren jetzt zwanzig Kleine da, winzig, weiß und noch blind, und die flitzten dann in der Wohnung rum, nagten alles an, fraßen vom Tisch, so daß man glaubte, schon im Delirium zu sein. Schließlich kratzten die Großen ab, weil irgendwer Gift gelegt hatte, und Zoss war so außer sich, daß er wie wahnsinnig tobte und ein Fenster mit dem Stuhl einwarf und auf dem Hof ein Feuer anzündete und alle zusammenschrie, er fragte schreiend, wer es gewesen sei, und er wolle den Rest der Arbeit auch noch gerne tun, und er hatte all die kleinen Ratten in einer Tasche, und dann warf er die Tasche ins Feuer, und schrie und sang, und die Leute standen an den Fenstern wie Ölgötzen, und als die Tasche verbrannte und man das Fiepen bis in den vierten Stock hören konnte, wollte Zoss auch in die Flammen, und wir konnten ihn nur mit Mühe festhalten, und am nächsten Tag war er dann verschwunden.

Aber weißt du, wie das Leben wirklich war? Es war, alles das bis zum Exzeß zu tun, was immer verboten gewesen war. Es kam gar nicht darauf an, was oder wie, es war der Traum aller Sechzehnjährigen von Freiheit. Einmal zum Beispiel wollten wir einen Kuchen backen, die ganze Krebshilfe. Wir bereiteten einen Teig, rollten ihn und wollten ihn in die Form legen. Da begann die erste, Linda, glaub ich, eine kleine Berlinerin, die ihr Geld in der Toplessbar verdiente, mit dem Finger durch den Teig zu fahren und ihn dann abzulecken. Vadammt, dat wollt ick als kleene Jöre und hab immer eens uff de Flossen jekriecht ..., und danach war kein Halten mehr. Es war ein riesiger Teig, sollte Kuchen für zwanzig Leute oder mehr geben, und alle begannen wie die Verrückten, den süßen Teig zu fressen, Kinder mit glänzenden Augen, die ganzen dreckigen Finger fuhren durch den gelben Teig, die Stachelköpfe beugten sich über die Form, ein Gedrängel und Geschubse, und sie kicherten und schaufelten den Teig in sich rein, leckten sich die Finger und wurden immer ausgelassener, es war wie ein Kindergeburtstag, keine Joints mehr, kein Bier, alles vergessen für diesen Moment, dazu war es noch Sonntagnachmittag, und alle räuberten sie den Teig, fraßen ihn weg, fuhren den Rand entlang, um auch noch die letzten Reste zu ergattern, ich stand daneben, die Mutti, und endlich durften sie, was sie nie gedurft hatten, und dann war alles weg, alles aufgegessen, aufgeleckt, und sie hielten sich die Bäuche und sahen einander an, als seien sie plötzlich aufgewacht, und dann verzogen oder verkrochen sich alle ganz schnell oder gingen raus auf die Straße, als fiele ihnen mit einem Schlag wieder ihr eigentliches Leben ein, chaotisch und no-futurehaft und scheißegal und stoned und nicht an gestern denken und traurig und allein, und vom Kuchenbacken war nie mehr die Rede, solange das Haus stand.

Wieso, steht es nicht mehr?

Nein, es wurde im Winter einundachtzig auf zweiundachtzig geräumt, weil wir ja Nichtverhandler waren, und kurzerhand gesprengt.

Ich erinnere mich, es war seltsam und traumartig, ein surreales Gemälde, es war im Februar, und Sergej, der auch kurz in der Danckelmann gewohnt hatte, und ich saßen auf den Trümmern, auf dem Schutt, dem Steinhaufen. Wir waren auf Trip. Es war, als wärst du in dein eigenes Gedächtnis hinabgestiegen. Ein Berg aus zerbröseltem Mauerwerk, Reste von Backsteinwänden, die noch aneinanderklebten, zerborstene Balken und dazwischen, denn wir gruben und wühlten in dem staubigen Schutt, plötzlich etwas, das du wiedererkanntest, ein paar Bretter eines Küchenschrankes, die Hälfte einer Sprungfedermatratze, das verbogene Gitter eines Bettes, ein genau in seiner Längsachse geborstenes Klo mit einem Stück Rohr daran und sogar eine blecherne Kaffeetasse, dunkelblau wie ein Nachthimmel.

Zwei Wochen zuvor war es noch ein Haus gewesen, in dem wir gewohnt hatten, jetzt war nichts mehr davon übrig, und die Sachen, die wir ausbuddelten und unter dem Mörtel und dem Mauerwerk hervorzerrten, waren komisch, lächerlich, fremd, sie hatten keinen Sinn mehr; was irgendwann in einem Haus, in dem Menschen lebten, nützlich und verständlich gewesen war, das wirkte jetzt deplaziert, unlogisch, als sei es einem kranken Hirn entsprungen oder komme aus einer anderen Welt, die nichts mit unserer gemein hat.

Wir zerrten eine Matratze hervor und legten sie über die Trümmer, und dann saßen wir obendrauf in vier Meter Höhe unter der Februarsonne, und der Wind trieb den Staub umher, fast wie Nebelschwaden, und wir saßen obenauf, auf der Matratze, und rauchten unseren Joint. Es war ein Ende, eines von so vielen fremden Enden, mit denen man nicht zurechtkommt, und es war allemal das Ende der großen Zeiten, das wurde uns klar, als wir da oben hockten in der Stille, selbst wenn es noch ein wenig weiter schwelte eine Zeitlang.

Sie hatten uns die Nabelschnur gekappt, noch einmal, und obwohl wir auf Trip waren und das tote Gestein lebte wie ein Ameisenhaufen und das Haus noch zu existieren schien, nur in wahnwitzig veränderter Perspektive, während der Himmel sich wölbte und die Erde an Geschwindigkeit zulegte und wir vor lauter Zentrifugalkraft beinahe nach oben und draußen geschleudert wurden und das Vorderhaus schmolz und ein gebleichtes Skelett freigab, wenn alles Fleisch abfiel, auch wenn alles so an Bewegung und Geschwindigkeit zunahm, war doch klar, daß wir nicht mehr mitmachten. Wir waren draußen. Wir waren außerhalb ihres Drinnen und jetzt auch außerhalb dessen, was wir für unser Drinnen gehalten hatten.

Und wirklich war ja alles, was dann kam, auch wenn es für die Wessis und die Zeitungen erst jetzt richtig losging, nur noch Rückzugsgefechte. Das Ende kam schon mit der Winterfeldtdemo, du weißt, als sie diesen Rattay umbrachten. Sie sperrten die Häuser in der Winterfeldt, der Bülow und der Knobelsdorff vorne und hinten mit zehn Meter hohen Gittern ab, und dann kamen sie rein. Alle brennenden Autos, alle zerplatzenden Schaufenster änderten nichts. Und Lummer, nachdem die Bülowstraße geräumt war, ging er unter Polizeischutz in den ersten Stock hoch und auf den Balkon und winkte für die Presse runter, der Feldherr nach gewonnener Schlacht, der verdammte Faschist.

Es war eine erstklassige Geschichtsstunde für alle, die dabei waren: Macht entscheidet, und nur wer die Macht hat, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen, bleibt Sieger. Der Rest wird vor die Tür gekehrt. Und es hat noch nicht einmal viel Sinn, ihn umzubringen, denn vor der Tür steht tausendfacher Ersatz, der seine Sache genauso machen wird.

Du mußt eben nicht einen Lummer umbringen, sagte Johann.

Sondern?

Sondern irgendeinen. Egal wen. Es bleibt sich gleich. Es spielt gar keine Rolle. Entscheidend ist der Tod. Jeder kann so sterben. Nicht nur die.

Maria deutete auf die Waffensammlung. Damit? Johann zuckte die Schultern. Irgendwie. Irgendwen. Aber bald. Hier draußen kann ich es leicht tun.

Er fühlte sich herausgesogen aus allem, was ihn umgab, er verließ seine Haut, die in den Kleidern sitzenblieb, wurde emporgehoben, flog hinterrücks mit einem dumpfen Knall durch die geschlossene Fensterscheibe, höher und höher, ließ das weiße Haus unter sich mit dem Viereck des brachen Hinterhofs, erhob sich über die grauen Wellen Kreuzbergs, immer nach hinten und oben fortgerissen, hinauf über die Stadt, immer weiter in immer dünnere und reinere Luft, bis das Muster von Straßen, Autos, Bahnen und Menschen ganz einfach, klar und geometrisch wurde, logisch und überschaubar, und das sich bewegende Leben in einen schwarzen Punkt einschmolz, den er deutlich umrissen im Visier hatte, von hier draußen im Visier, und er mußte nur noch abdrücken, und die Schleusen des Himmels würden sich öffnen, blutrot, und das Vakuum bräche mit einem Knall in sich zusammen, und er hatte die Gestalt im Visier, den Menschen, der sich die Straßen entlangbewegte, den Menschen, eine fremde Ballung von Molekülen, und emporgerissen und herumgewirbelt am anthrazitfarbenen Himmel, immer schneller, bis die Sterne ein helles fließendes Band wurden, der Mond sich drehte wie eine Töpferscheibe, da wußte er, daß er abdrücken würde, jetzt, jetzt und jetzt, zurückgekehrt auf die Straße, sobald sein Opfer das Zeichen geben würde.

 

Am nächsten Tag wurde Anatol verrückt. Er hatte sich in seinem Zimmer verschanzt und von Woche zu Woche weniger von sich hören lassen. Als er an diesem Abend Ende Januar Johann zu sich bat, war sein Gesicht bleich, seine Augen glühten fiebrig, seine Bewegungen hatten etwas Unkoordiniertes.

Erinnerst du dich? fragte er leise. Unser letzter Sommer? Die Kriegsgöttin. Ich glaube, ich habe jetzt was, ich weiß aber nicht –

Johann sagte nichts.

Verstehst du. Eine Herkunft, ein Mythos, Väter, Mütter, eine Jugend ... Anatol hörte auf zu sprechen.

Johann erkannte Anatols Zimmer kaum wieder. Es war dunkel wie eine Theaterbühne vor dem Auftritt, ein schwarzgefärbtes Laken war vor das Fenster gespannt, schwarze Tücher über die Lampen gebreitet, und die einzige Lichtquelle war die Klavierbeleuchtung über dem Notenständer. Johann stieg der verhaßt-vertraute Geruch eines ungemachten verschwitzten Bettes in die Nase, und er spürte seinen Magen, setzte sich aber auf den Stuhl, den Anatol mit einer fahrigen Bewegung von aufgetürmten Wäschebergen freiwischte und ihm zuwies.

Er stand ganz dicht vor Johann, und der roch den alkoholisierten Atem des andern.

Du hörst zu?

Johann nickte.

Anatol setzte den Cassettenrecorder in Gang, auf den er mit Synthesizer die Grundmelodien und die elektronischen Chöre gespielt hatte, und begab sich zum Klavier, um seinen Einsatz abzuwarten. Im leisen Rauschen des Bandes beobachtete Johann ihn. Sein Gesicht wurde von unten beleuchtet, Schatten wie Lepralöcher in seinen Wangen, nichts erinnerte an den rosigen ehrgeizigen Anatol, der in der Roten Rose am Bier sparte und in Berlin als Studiomusiker gefragt war.

Dann setzte die Musik vom Band ein.

Es war ein schrilles Sirren oder Zirpen, schmerzhaft laut, dann tiefer und quakender, ein metallischer Froschchor, als sei eine morgendliche Sumpfwiese zum Leben erwacht, aber die Töne klangen nicht natürlich, eine Armee von Ersatzgeschöpfen kreischte einen gläsernen Kunsttag ein, schließlich waren alle verschiedenen Stimmen eingefallen, tausendfach verstärkt sirrte ein Umspannwerk, die Alarmtröte eines Militärstützpunktes trompetete quäkend, ein Wald von Sirenen heulte Bombenalarm, dann plötzlich Stille, die noch schmerzhafter war als der infernalische Lärm, und in den Abgrund von Tonlosigkeit schlug Anatol das Klavier an, rhythmisch hämmerte er ausschließlich auf den Baßtasten Synkopen, die bald wie der Ruf von Buschtrommeln klangen, bald wie in Beton wühlende Schlagbohrer, ba dam – da dam, ba dam – da dam ohne Unterlaß, und das Tempo steigerte sich, und plötzlich war das Band wieder dabei, schwirrende, brummende Kreissäge; Unmelodien, die elektronischen Schreie und die trommelnden Hämmer des Klaviers bekämpften einander, es war Musik, die schmerzen sollte, körperlich schmerzen, nichts anderes, sie verfolgte kein anderes Ziel als weh zu tun, sich selbst und dem einzigen Zuhörer, den sie hatte, sie war völlig verrückt, keine Ordnung bändigte sie, kein Zusammenhang erklärte sie, ihre Wirrnis drohte mit Endlosigkeit, die Geräuschwellen liefen voneinander fort, ohne in irgendeinem Thema wieder zusammenfinden zu können, und rissen an Johann, dann war es wieder nur noch das Klavier, das Schwerter schmiedete, dann leiser wurde, langsamer, und nun ertönte vom Band ein irrwitziger Chor, eine Hymne, ein verrückt gewordener Computer imitierte Menschenstimmen, er kannte sie, er hätte sie so gut nachahmen können, daß niemand gezweifelt hätte, aber er mokierte sich, ließ Mutanten greinen, Roboter einen Hymnus rasseln, kalt wie Eisblöcke, leblose Materie, die dennoch elektrisch geladen zuckte und flimmerte wie menschliches Leben; dann plötzlich vermeinte Johann etwas wiederzuerkennen, was er schon einmal gehört hatte, wie Menschen, denen man am Tag begegnet war, in Träumen als fratzenhafte Karikatur ihrer selbst erscheinen, und sein schmerzender Kopf zweifelte einen Moment lang, ob nicht doch System in der Musik stecke. Begleitet von den wieder anschwellenden Buschtrommelsynkopen, wand sich der Chor empor, spiralte sich höher und höher, eine schiefgedrehte Schraube, die sich mit schrecklich mahlendem Geräusch in ihrem Gewinde festfraß, die nadelspitzen Klänge stachen in Johanns Ohren, die rhythmischen Konvulsionen drückten sein Gehirn durch einen Fleischwolf ...

Aufhören! schrie er. Das ist ja nicht auszuhalten!

Er sprang auf, riß das schwarze Laken vom Fenster, und der Silberschimmer einer klaren Winternacht breitete sich über das Zimmer.

Anatol war aufgestanden und hatte den Recorder ausgeschaltet.

Tut es weh? fragte er leise.

Johann winkte wortlos ab.

Du hast doch Waffen in deinem Zimmer, flüsterte Anatol mit einer Stimme, die wie eine heiser zitternde Wiederholung seiner elektronischen Chöre klang.

Darf ich die benutzen?

Johann sah auf.

Darf ich die benutzen?

Wie benutzen?

Darf ich die benutzen? fragte Anatol eindringlich.

Mach, was du willst, Spinner, sagte Johann. Er hatte genug. Er hatte mit diesem Verrückten nichts zu schaffen. Fremd war der, und Johann sah ihn an wie ein Traumbild. Er war ja allein. Es gab ja niemanden außer ihm. Er blickte hoch, als Anatol das Zimmer verließ. Dann stand er auf, trat ans Fenster, überlegte einen Moment, was Anatol mit den Waffen tun würde, sollte er damit tun, was er mochte, und betrachtete den schwarzen Samthimmel, an dem Mond und Sterne hingen wie Silberschmuck in der Auslage eines Juweliers.

 

Was währenddessen passierte, erfuhr er erst zwanzig Minuten später von einer aufgebrachten Barbara, die die Tür von Anatols Zimmer aufriß. Was hast du mit ihm gemacht?

Ich? Nichts, sagte Johann.

Er hat versucht, sich umzubringen!

Er spinnt, sagte Johann.

Ja, allerdings, schrie Barbara. Aber gestern hat er noch nicht gesponnen.

Er spinnt schon lange.

Was hast du mit ihm gemacht?

Überhaupt nichts. Er hat mir Musik vorgespielt und ist dann hinausgegangen. Was ist überhaupt passiert?

Anatol hatte in Johanns Zimmer die geladene Gaspistole abgefeuert und dann eines der Messer genommen, um sich damit die Pulsadern aufzuschneiden. Er war gerade dabei gewesen, mit dem Messer in seinen Unterarm zu stechen, zu schaben und zu stochern, ohne die Vene finden zu können, als, alarmiert vom Lärm des Schusses, Barbara und Wolfgang ins Zimmer gekommen waren. Anatol weinte wie ein kleines Kind und ließ sich das Messer von Wolfgang ohne Gegenwehr aus der Hand nehmen. Der Arm blutete heftig, Anatol hatte eine Sehne angeschnitten, aber sein Zustand war nicht wirklich gefährlich. Barbara verband den Arm mit einem Kissenbezug von Johanns Bett und redete auf Anatol ein, während Wolfgang den Notarzt anrief.

Wolfgang steckte den Kopf zur Tür herein. Der Arzt ist da. Kommst du?

Barbara ging. Johann blieb noch einige Minuten in dem Raum stehen, dann ging er hinüber in sein Zimmer, lüftete es durch und legte sich aufs Bett. Die getrockneten Blutstropfen sahen auf dem grauen Zementboden braun aus.

Später kam Barbara zurück.

Kann ich mit dir reden?

Johann nickte.

Ich versteh dich nicht. Warum hast du ihn gehen lassen?

Wer bin ich, jemanden aufzuhalten? fragte Johann.

Aber du hast doch gesehen, daß er ausgeflippt war, oder nicht?

Johann hob die Schultern, als könne er nicht beurteilen, was ausgeflippt sei und was nicht.

Hast du denn überhaupt nichts mit den Leuten zu schaffen?

Johann überlegte eine Weile. Nein.

Und ich zum Beispiel, was glaubst du, warum ich am ersten Abend mit dir ins Bett bin?

Johann sah sie an. Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du Lust zu vögeln.

Barbara blickte zurück. Glaubst du, die hätte ich gehabt, wenn ich dich nicht gemocht hätte?

Johann dachte wiederum nach. Ich weiß nicht, sagte er.

Weißt dus wirklich nicht?

Nein.

Also dann weißt dus jetzt.

Gut.

Mehr fällt dir dazu nicht ein?

Es ist lange her, und es war nicht der Rede wert.

So!

Johann schwieg.

Das heißt also, daß du sowas wie Sympathie für mich nicht hattest, sagte Barbara umständlich.

Was verstehst du unter Sympathie?

Herrgott, hast du mich gern gehabt, warst du verliebt in mich?

Johann dachte nach. Nein.

Jetzt hör mir zu. Ich war verliebt in dich. Hörst du: Verliebt.

Und jetzt ist es vorbei, sagte Johann.

Ja, jetzt ist es vorbei.

Also wozu noch darüber reden.

Ich gehe gleich, keine Angst, sagte Barbara. Aber ich werde dir noch sagen, warum ich fertig bin mit dir.

Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen jetzt, wo du fertig bist mit mir, und vorher.

Barbara schwieg.

Wir haben miteinander geschlafen und etwas miteinander geredet. Jetzt reden wir auch miteinander. Das Reden ist nicht sehr viel anders.

Barbara sah ihn an.

Ansonsten hast du deine Arbeit gemacht, und ich habe mein Leben gelebt. Was ist also noch zu besprechen?

Zu besprechen ist, sagte Barbara, daß du mir Angst machst. Es macht mir nichts aus, daß du nicht in mich verliebt warst, oder nicht gemerkt hast, daß ich in dich verliebt war. Aber mir macht Angst, daß du überhaupt keine Gefühle hast. Auch nicht für Anatol, der dir nichts getan hat.

Ich habe Gefühle –

Ja. Haß –

Nicht nur Haß –

Und Egoismus, sagte Barbara.

Ich habe zu Hause genug Moralpredigten bekommen, deine werde ich mir nicht anhören. Außerdem hast du dich ja an Wolfgang schadlos gehalten, was willst du also noch raus haben?

Haß und Egoismus, wiederholte Barbara.

Johann schüttelte den Kopf. Es hat gar keinen Sinn. Ich bin nicht anders als andere.

Du bist verantwortungslos, sagte Barbara. Du bist nicht allein auf der Welt.

Johann lächelte. Aber du, du fühlst dich allein. Und deshalb pfuschst du jedesmal, wenn du allein bist, ein wenig in den Leben anderer Leute rum und nennst es Teilnahme. Das ist der einzige Unterschied. Wenn du allein bist, vögelst du mit einem fremden Jungen, rettest einen Spinner vor dem Selbstmord, schreibst moralische Zeitungsartikel. Du hast Angst, du bildest dir ein, du tust jemandem was Gutes, das ist egoistisch, also erspar mir eine Predigt.

Ich weiß nicht warum – warum du so bist, Barbara begann zu stottern, du bist, du bist –

Hör auf zu heulen, sagte Johann.

Barbara sah auf. Johann hielt das Messer in seiner Hand und sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. Hör auf zu heulen, sagte Johann mit zitternder Stimme.

Barbara zog ein Taschentuch und schnupfte sich aus.

Ich dachte an Freundschaft, sagte sie.

Ich glaube nicht, daß das noch möglich ist.

Vielleicht hast du recht, sagte Barbara. Nicht zwischen Menschen, nicht zwischen uns. Kennst du dich mit Delphinen aus?

Johann schüttelte den Kopf.

Delphine sind die einzigen Tiere, die die Menschen um ihrer selbst willen lieben, eine Freundschaft, die nicht auf Vorteil bedacht ist.

Warum erzählst du mir das?

Ich weiß nicht. Ich habe Delphine gesehen, im Mittelmeer, in Griechenland. Delphine, die mit den Fischerjungs spielten, die mit ihnen befreundet waren. Warum gehst du nicht dahin?

Jetzt redest du Unsinn, sagte Johann leise.

Ich weiß. Barbara lächelte. Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben. Verzeih, ich kann dich nicht aus der Wohnung werfen, aber ich, ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben.

Sie sah Johann an. Dann stand sie auf, ging aus dem Zimmer und schloß behutsam die Tür. Johann nickte, als schlösse er ein Kontobuch.

Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände unter dem Kopf und sah zur Decke, wo in weißen Schlieren die Zeit ineinanderfloß. In einem Nebenzimmer spielte Musik, es war wie immer. Bewegungslos die Zeit passieren lassen, als läge er am Ufer eines Flusses, von Musik angeweht wie von leichtem Wind, das schien ihm plötzlich die Konstante seines Lebens zu sein, des Lebens aller; wann immer man ein Zimmer betrat, lagen Menschen hingestreckt auf Kissen, Matratzen oder Betten und ertrugen wartend die Strömung der Zeit. Johann schlief ein.

 

Am Morgen kämpfte er sich aus einem schweren Traum frei.

Sein Blick irrte im Zimmer umher und verweilte auf der Waffensammlung, die schwarz, silbern, kalt metallisch, ungebraucht noch, an der Wand hing. Dann erinnerte er sich an die Delphine, von denen Barbara gesprochen hatte. Glatt, elegant, freudig glitten sie durch warme blaue Tiefen, voll Zuneigung für den Menschen, ohne Arglist, ohne zurückzufordern, eine Welle von Wärme flutete über Johann hinweg, und er glitt, indem seine Augen sich von den Umrissen der Waffen lösten, noch einmal zurück in einen morgendlichen Halbschlaf.

 

Am Abend ging er zu Peter. Die Tür war nur angelehnt, und das Schloß war herausgebrochen. Die Wohnung war ein Trümmerhaufen. Kleider, Vorhänge, Bücher und Glassplitter lagen auf dem Boden, das Waschbecken war von der Wand gebrochen und mit einem Hammer zerhauen worden, die weißen zackigen Scherben lagen zerstreut auf der Erde.

Peter telefonierte.

Also kann ich es haben oder nicht? – So, und warum nicht? – Nein, weil ich anderes zu tun hatte, du solltest meine Wohnung sehen – Nein. – Nein. – Also endgültig nicht? Gut. – Nein, ich bin nicht böse. – Nein. – Nein, gute Nacht.

Peter blickte auf. Er sah müde aus. Seine Haut war grau, sein Hemd schmutzig. Er roch nach Schweiß.

Was ist hier passiert? fragte Johann.

Ich habe eine Rechnung nicht bezahlt. Nicht rechtzeitig. Überhaupt noch nicht. Das hier ist die Quittung.

Wen hast du gerade angerufen?

Bokassa, ich wollte seinen Wagen leihen, weil wir doch heute abend ausgehen.

Und?

Peter schüttelte den Kopf. Er braucht ihn selbst.

Macht nichts, sagte Johann.

Peter schüttelte den Kopf. Er saß inmitten der zerstörten Wohnung auf einem Stuhl und schwieg. Johann fragte ihn, wann der Einbruch geschehen war. Vor zwei Tagen. Ob er nicht aufräumen wolle. Peter zuckte die Schultern und nickte. Ob er schon einen Installateur gerufen habe. Peter reckte den Kopf mit einer Anstrengung und antwortete, daß er im Moment kein Geld für einen Installateur habe, sein Kapital sei aufgebraucht. Er sprach kaum, die Sätze steckten wie getrockneter Speichel zwischen seinen Zähnen, und es bereitete ihm Schmerzen, den Mund zu öffnen. Schließlich stemmte er sich aus dem Stuhl hoch und kämpfte ein Lächeln auf sein Gesicht.

So, gehen wir.

Johann wandte sich zur Tür.

Nur, wohin? fragte Peter.

Johann zählte die Plätze vom vergangenen Sommer auf. Peter blickte ihn leer an. Schließlich fragte Johann nicht weiter, sondern entschied, zum Risiko zu fahren.

Es war eine kalte Winternacht ohne Mond, und Berlin war still wie eine kleine Provinzstadt. Nur in der U-Bahn züngelte unter dem fahlen Licht gelbliches Leben, müde, gebändigt, auf schläfrigem Nachhauseweg oder in den Gleisen kleiner Wochenendabenteuer.

Später saßen sie schweigend nebeneinander am Tresen und tranken. Eine Gruppe von vier jungen Leuten betrat laut lachend die Bar und stellte sich im Gedränge in die zweite Reihe hinter Peter und Johann.

Es waren zwei gutaussehende Pärchen, die für ein Wochenende Berlin besuchten, die ehemalige Reichshauptstadt, die dekadente Amüsierhauptstadt. Sie genossen das Leben in Maßen und an Samstagen, sie waren selbstsicher und hatten allen Grund dazu, denn sie waren erfolgreich, das heißt, sie hatten Geld oder die Aussicht darauf, und statt zu denken, besichtigten sie, und statt teilzunehmen, drängten sie sich um das Vakuum ihrer eigenen Mitte. Sie waren das verwaschene Endprodukt einer Idee, die in Berlin selbst geboren war; wild, häßlich, provokant hatte sie begonnen, die Vermischt-Spalten der Zeitungen zu interessieren, und dann war die Industrie eingestiegen, die Werbung, die Musik, und das System bediente sich, walzte, stanzte, nivellierte, und die Idee rollte auf gerundeten Kanten in die Provinz, wo sie sich plötzlich in Form von Haargel und bunten Pullovern wiederfand, und Mode geworden und harmlos, kehrte sie auf kurzen Trips wieder zu ihrem Herkunftsort zurück und konfrontierte ihre ahnungslosen Väter mit den Kopien ihrer ursprünglichen Form.

Die vier hatten zu Abend gegessen und wußten noch nicht, wo sie die Nacht verbringen wollten. Die Männer bestellten Bier, die Mädchen verlangten einstimmig Sekt.

Ich will in jedem Falle tanzen gehen heute abend, sagte eine von ihnen.

Und ich will in diesen Laden, wenn ich nur wüßte, wie er heißt, wo die ganzen Schwulen sind, die ganze Berliner Szene, wißt ihr, wo das Kokain offen über den Tresen verkauft wird, sagte ihre Freundin.

Also Schwuchteln muß ja nicht sein, meinte ihr Begleiter.

Der andere kicherte. Vor denen mußt du dich in acht nehmen, so wie du heute aussiehst.

Der Angesprochene machte eine Geste, als müsse er sich übergeben.

Eines der Mädchen flüsterte: Frag die beiden mal, wohin man gehen kann.

Du kannst nicht einfach so jemanden ansprechen.

Aber sicher. Die kennen sich garantiert aus.

Mit Koks vielleicht, bei den Visagen, sagte der eine junge Mann leise.

Meinst du, die haben welches?

Du willst doch nicht etwa –

Nein, aber meinst du, hier wird welches genommen?

Alle vier schwiegen und betrachteten nachdenklich die beiden schwarzgekleideten jungen Männer, deren Gesichter im Licht der Tresenbeleuchtung elfenbeinweiß schimmerten. Einer der Touristen faßte sich ein Herz und tippte Peter auf die Schulter.

Entschuldigung, kennt ihr euch hier gut aus? Wir möchten ein bißchen was sehen, und hier wird einem nichts geboten, aber wir wissen nicht, wo was los ist.

Peters Gesicht straffte sich, und er lächelte dünn. Berliner Nightlife? fragte er. Tja, wo soll man da anfangen.

Genau das ist unser Problem. Darf ich euch etwas spendieren?

Peter nickte und verlangte Whisky. Der junge Mann wandte sich zu Johann. Ebenfalls.

Er hob den Finger, um zu bestellen. Peter lächelte Johann zu. Er schien wieder zum Leben zu erwachen.

Eines der Mädchen mischte sich ein. Ich würde gern diese ganzen Läden sehen, von denen man hört. Geht es wirklich so heiß her?

Es ist ruhiger geworden, sagte Peter.

War es noch verrückter?

Aber ja, jetzt ist ja gar nichts mehr los.

Ich meine, wie war es so, wenn man richtig mit drin war?

Ein einziger langer Exzeß, sagte Peter ernst. Eine lange laute Nacht von vier Jahren, stell dir vor, eine vier Jahre dauernde schlaflose Nacht, von Bar zu Bar, Speed, wenn du müde wirst, und Valium, wenn du ausflippst. Und Musik. Und an jedem Tresen eine neue Erkenntnis, wie nah das Ende der Welt ist.

Und wie finanziert man das? fragte einer der jungen Männer.

Das Geld ist einfach da. Es kommt irgendwie, sagte Peter.

Siehst du, sagte eines der Mädchen mit dem Sektglas in der Hand.

Sie verließen alle die Bar, und Peter und Johann stiegen in den Golf des einen Pärchens, das andere stieg in ein Käfer-Cabrio, dessen Fahrer, entflammt vom Glühen der geöffneten Ränder der Nacht, das Dach abnahm und der kalten Januarluft trotzte.

Peter und Johann lotsten die Touristen zu den magischen Stätten der Nacht, eingehüllt in laute Schlagermusik aus den Wagenlautsprechern, und hinaus in die kalte Finsternis, wo die Zerberusse den Weg in den grün pulsierenden Hades freigaben, in den, von einem heiseren Orpheus geführt, ein ganzes Heer von Weltmüden einbrach, ihn bestaunte, für ein holografiertes Abenteuer mit Rückfahrkarte eroberte.

Wenn Peter gedacht hatte, sie könnten sich über die Gäste lustig machen, so sah er sich bald getäuscht. Mit der ihnen eigenen Selbstverständlichkeit benutzten sie ihre Führer, betrachteten, was ihnen geboten wurde, wie eine Filmaufführung, bedienten sich wie vom kalten Büffet und breiteten über jede Spitze, über jeden Versuch, sie lächerlich zu machen, das dicke Fell ihrer guten Laune. Und während sie staunend, ein wenig verkühlt und eng beieinander an Tresen und Tanzflächenrändern standen, die Gläser schützend vor der Brust, ihre Sinne vom Lichtgeflimmer geblendet, wurden Peter und Johann in all der Hektik, dem Hinein und Hinaus von Mal zu Mal schweigsamer. Die Erinnerung an Abenteuer des Vergessens in Sommernächten wurde immer greller, lächerlicher, abgeschmackter, und die zauberischen Stätten eines originalen, verzweifelten, schnellen Lebens verloren ihre Bedeutung, ihre Besonderheit, der glitzernde Staub der Schmetterlingsflügel war abgeschabt.

Noch einmal versuchte Peter, der längst nicht mehr Herr der Situation war, die Zügel des Abends in die Hand zu bekommen, seine Begleitung auf seine Augen zu fixieren, das Spinngewebe der Zeit, das vor seinen Augen dichter wurde, mit einem Schlag zu durchtrennen, einer Tat voll selbstmörderischen Charmes, einer unwiderstehlichen Dummheit, einem Balanceakt am Rande des Unglücks, der alle Welt neidvoll, ängstlich abgestoßen und doch rettungslos fasziniert um ihn scharen würde.

Sie waren in einer Bar, die erst vor kurzem eröffnet hatte, aber schon berühmt war für ihre nächtlichen, aus Speed und Rausch geborenen kleinen Dramen. Es war ein großer hoher Raum, durch den die Stimmen der vielen Gäste hallten und sich zu einem unaufhörlichen gleichförmigen Summen mischten, ein Saal wie aus einem Hollywoodfilm der dreißiger Jahre, an dessen Stirnseite ein Pianist und ein Saxofonist Klangkuben formten, die mit dem Rauch zur Decke stiegen, von der ein riesiger Kronleuchter hing, das Markenzeichen der Bar.

Peter stand am Tresen und suchte angestrengt nach einer Idee, aber nichts wollte ihm mehr einfallen. Schließlich reckte er sich empor, rief Johann und den Touristen zu, sie sollten achtgeben, und stieg auf einen Tisch. Mit Ausnahme der Leute, die um den Tisch saßen, fiel das in der vollen Bar fast niemandem auf. Der Tisch stand direkt unter dem Kronleuchter. Peter sprang hoch, um sich daran festzuhalten und in einer Zirkusnummer durch die Luft zu schwingen.

Vielleicht dachte er an alte Filme, inspirierte ihn das sorgfältig nachempfundene Styling des Raumes – Abenteuer voller Tempo, die romantische Begeisterung für die wilde Bewegung flamboyanter Helden, vielleicht war es nur eine letzte Hoffnung auf Aufmerksamkeit, Johann wußte nicht, welche Bilder hinter Peters Augen aufleuchteten, aber langsam wandte das Interesse der Masse sich ihm zu.

Peter sprang, aber der Leuchter hing zu hoch, und er erreichte ihn nicht. Aus dem Publikum kamen aufmunternde Rufe. Peter sprang noch einmal, seine Fingerspitzen berührten die Messingarme, aber er konnte sie nicht greifen. Ein weiter Kreis Schaulustiger hatte sich um ihn gebildet. Peter sprang wieder hoch, der Tisch wackelte, und wieder griff er fehl. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen.

Von der Bühne aus überblickte man den ganzen Raum. Ein weites Zuschauerrund voll leuchtender Kleidung, bizarrer Haarschöpfe umstand den Tisch, ein fettes Juwel im leichten Dunst aus Musik, Rauch und Parfüm, und eine gekrümmte schwarze Gestalt versuchte in lächerlichen Verrenkungen mit ausgestreckten Armen und gekrallten Fingern, mit vergeblichen Hüpfern den Leuchter zu fassen. Die ersten Lacher kullerten aus der Menge, dann wurde das Scheitern deutlich und das Zuschauen peinlich, und die Menschen winkten ab und drehten sich um.

Peter versuchte es verzweifelt ein letztes Mal, aber die Kraft reichte nicht, und er knickte mit dem Fuß um, fiel und riß den ganzen Tisch mit sich. Benommen hörte er Gelächter, und als er sich aufrappelte, waren keine Zuschauer mehr da, die alte Ordnung war wiederhergestellt, der Zwischenfall bereits vergessen.

Eine Hand packte Peter an der Schulter. Es war der Manager, der ihn hinauswerfen wollte. Die Touristen kamen ihm jedoch zu Hilfe. Einer der jungen Männer war betrunken.

Halt halt, lallte er und legte dem Barbesitzer die Hand auf die Schulter. Das is unser Kumpel Peter. Der meints nich böse, der is nur n bißchen hinüber. Aber nen besseren Führer kannst du dir gar nicht wünschen. Der kennt sich hier aus, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht, und sein ruhiger Freund hier, das is n stilles Wasser, aber auch n ganz schöner Schluckspecht, aber du lieber Himmel, unter uns, morgen früh werd ich aufwachen und hoffen, daß ich das alles nur geträumt hab.

Peter sah in das Gesicht des aufgebrachten Barbesitzers und erkannte ihn wieder. Es war Henna. Auch der erkannte Peter. Henna war verändert, sah elegant aus, hatte sich seiner Kundschaft angeglichen, und man merkte ihm an, daß es ihm gutging.

Das ist deine Kneipe? fragte Peter.

Ja, seit zwei Monaten. Es läuft nicht schlecht. Sieht so aus, als hätte ichs geschafft. Und du? Er warf einen Blick auf Johann und die Touristen.

Peter drehte sich um und ging. Den Rest des Abends kümmerte er sich nur um die Westdeutschen, brachte ihnen Getränke und wartete jedesmal schweigend ab, bis sie genug gesehen hatten. Er stand abseits zusammen mit Johann, und in stroboskoperleuchteten Spiegelwänden begegneten sie ihren Abbildern des vergangenen Jahres wieder, schwarzweißen Gestalten, erstarrt im Lärm und in der Bewegung, zwei betrogene Betrüger, lächerliche Exponate einer veralteten Werbekampagne, Strohmänner eines Lebensschwindels.

Draußen auf der Straße kamen alle wieder zu Atem. Die Touristen waren aufgedreht, beschwipst, wenn auch nicht restlos begeistert.

Ganz schön verrückt – ja, aber eigentlich auch nicht soo viel anders als bei uns – ich bin jetzt jedenfalls müde – aber die Gestalten, diese Gestalten – ja, das ist schon extremer als bei uns – na, was willst du, dafür ist es schließlich Berlin. Peter und Johann standen schweigend ein wenig abseits.

Können wir euch irgendwo absetzen, wir machen Schluß für heute, sagte einer der jungen Männer.

Peter schüttelte den Kopf.

War gar nicht schlecht, was ihr uns da geboten habt. Allein findet man so was ja nicht.

Peter schüttelte den Kopf.

Und was macht ihr jetzt? fragte der Tourist.

Wir machen weiter, sagte Peter.

Die anderen waren schon in die Autos gestiegen. Der letzte junge Mann zögerte noch etwas.

Ich weiß nicht, wir haben euch ja vielleicht euer Programm durcheinandergebracht und euch ganz schön ausgenutzt heute nacht.

Das geht in Ordnung, sagte Peter.

Trotzdem, hier, sagte der junge Mann, drückte Peter einen Fünfzigmarkschein in die Hand und schloß sie mit seinen Händen.

Nochmals Dankeschön für Berlin.

Dann drehte er sich um und lief zum Auto.

Peter und Johann gingen schweigend durch die stille Nacht. Die grauen Quader der Häuser zogen sich vor ihnen zurück und leugneten jede Verheißung, die zu anderen Zeiten von ihnen ausgegangen war. Die Steinfronten zu beiden Seiten wandten sich ab, wölbten die leere hallende Straße empor, die nun direkt unter dem schwarzen Himmel entlangführte, kalt und von fernem Neonschimmer erhellt, abgeschnitten und losgelöst von der Biederkeit eines kollektiven Schlummers, der endlich seine Selbstgenügsamkeit wiedergefunden hatte.

Auf dem Kneipenschiff Pik As, das im zugefrorenen Landwehrkanal vertäut lag, brannte noch Licht. Peter und Johann betraten den niedrigen dunkel getäfelten Raum, der nach Bratwürsten roch, drängten sich an der Theke mit Zapfhahn und matt erleuchtetem Kuchenbuffet vorbei und setzten sich an einen Tisch, der schwach von einer Elektrokerze erhellt wurde, die am Fensterrahmen hing. Es waren nur noch ein alter Mann da, der ständig über seinem Kaffee einnickte, und zwei keifende Frauen, die nach dem türkischen Ober riefen, um eine allerletzte Lage Bier und Underberg zu bestellen. Manchmal knirschte das Eis leise am Schiffsrumpf.

Peter trank Bier. Johann schwieg und blickte gegen das beschlagene Fenster.

Ende des Wegs, sagte Peter. Weißt du, daß ich letzthin öfter vom Sterben geträumt habe. Entsetzliche Träume. Ich weiß aber nicht, was ich dagegen tun soll. Abenteuer sind aus. Das ist vorbei. Das letzte ist Mord oder Tod. Das letzte Ernsthafte, das man übriggelassen hat, jenseits all der Parties, die man uns zugestand und von denen wir immer früher weggingen, um unsere eigenen zu suchen.

Er verfiel wieder in Schweigen. Dann sah er Johann an.

Dein Gefühl, zu spät zu kommen, diese Feigheit, eine Dummheit zu machen, weil andere dich auslachen könnten, und dich dann zu schämen, wenn die verpaßte Dummheit sich als große Dummheit erweist, über die die Welt spricht, hängt dir wie ein Klotz am Bein.

Der Kellner kam und bat, die Rechnung überreichen zu dürfen, weil er schließen wolle. Peter hielt ihm den Fünfzigmarkschein hin und sagte, er solle den Rest behalten.

Trotz allem, Johann, hat es mich erschreckt, daß du den guten Anatol einfach hast gehen lassen. Wußtest du nicht, daß er Dummheiten machen würde?

Johann antwortete nicht.

Wußtest dus nicht, oder war dirs egal, oder wolltest dus womöglich sogar?

Johann antwortete nicht. Es war Zeit, Peter loszuwerden, es war spät. Er verabschiedete sich kurzerhand, stand auf und ging. Am Ende der Admiralstraße nahm ihn das hohe zugige Burgtor des NKZ, des Selbstmördertroja, auf. Er hörte seine Schritte auf dem Asphalt, die Mauern gaben den Klang zurück.