15. KAPITEL
„Kira, wach auf.“
Langsam kam ich zu mir. Ich lag auf irgendeinem weichen Untergrund. Rogan war neben mir. Behutsam strich er mir die Haare aus dem Gesicht. Träge blinzelte ich, bis ich ihn erkennen konnte.
„Guten Morgen“, sagte er.
„Was …“ Meine Stimme klang schlaftrunken. „Was ist los? Wo sind wir?“
„Da bin ich mir gerade nicht ganz sicher.“
„Wie lange sind wir schon hier?“
„Das weiß ich auch nicht so genau, allerdings ist es draußen schon hell.“ Mit einem Kopfnicken wies er auf ein Fenster auf der linken Seite.
Ich blinzelte und erkannte, dass wir uns in einem kleinen Schlafzimmer befanden. Es sah aus wie ein billiges Motel. Doch es schien alles sauber zu sein. Trotz der grauen Wolken am Himmel fiel ein bisschen Licht durch das Fenster.
Ein flüchtiger Blick unter die Bettdecke zeigte mir, dass ich noch immer vollständig bekleidet war. Ich trug sogar noch meine Stiefel. Rogan war ebenfalls angezogen.
„Wir müssen stundenlang geschlafen haben.“ Ich probierte, mich aufzusetzen. Mein Körper schmerzte von Kopf bis Fuß, also ließ ich mich zurück auf die bequeme Matratze sinken. „Ich fühle mich immer noch furchtbar.“
„Ich auch.“
Ich berührte sein Gesicht. Zum ersten Mal seit gestern konnte ich ihn aus der Nähe betrachten. Er hatte überall blaue Flecken und kleine Wunden. „Autsch.“
„Ja“, erwiderte er und zuckte zusammen. „Ich bin ein Wrack. Als wäre diese verdammte Narbe nicht schon schlimm genug.“
Er glitt mit den Finger über die Narbe, die seine Augenbraue teilte und bis zur Mitte seiner linken Wangen reichte.
Ich ergriff seine Hand. „Du musst echt eitel gewesen sein, als du ein reicher hübscher Junge warst. Ich sage es ja nur ungern, weil es vielleicht dein Ego noch weiter aufpumpt, aber die Narben sind echt heiß.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Ist das so?“
Feierlich nickte ich. „Eigentlich finde ich, dass du noch nicht genug Narben hast. Dieses Spiel war anscheinend keine Herausforderung für dich.“
„Ja, es war toll. Ich kann kaum in Worte fassen, wie viel Spaß ich bisher hier hatte.“ Sein Lächeln erstarb, und er schaute sich im Raum um. „Hör mal, gestern nach dem Belohnungslevel in der Hotelsuite …“
Mein Magen verkrampfte sich. „Was denn?“
Er warf mir einen Seitenblick zu. „Ich bin mir nicht sicher, was geschehen ist.“
„Ach, echt? Denn für mich war es ziemlich eindeutig. Mach dir keine Sorgen deswegen. Es war ja nichts Ernstes. Eigentlich ist ja nichts passiert. Zum Glück, oder?“ Ich sagte es im Scherz, aber innerlich versetzte es mir einen Stich. Ich wusste nicht, ob ich seine Erwiderung darauf hören wollte.
Eine Weile schwieg er. „Es ist nichts passiert?“
„Also, ich meine, es ist etwas passiert, allerdings nichts … nichts, was man bereuen müsste. Oder … Ich habe keine Ahnung. Wie auch immer. Ist ja jetzt auch egal.“ Ich hasste es. Ich hasste es, mich wegen etwas unsicher zu fühlen, das sich in dem Moment so richtig angefühlt hatte und das mir jetzt, nachdem wir herausgefunden hatten, dass sie uns gefilmt hatten, ganz falsch erschien.
Weil er nicht antwortete, wagte ich es schließlich, ihn anzusehen. Überrascht stellte ich fest, dass er mich anlächelte.
„Lustig. Du bist ziemlich witzig, oder?“, meinte er.
Hitze schoss mir in die Wangen. „Ja, saukomisch. Mein Lebensziel ist es, dich zum Lachen zu bringen.“
„Du bist echt lustig … um mal damit zu beginnen. Das ist etwas Neues für mich.“
„Was ist etwas Neues für dich?“
„Du.“ Einen Moment lang hielt er meinen Blick gefangen. Mir stockte der Atem. Dann verfinsterte sich seine Miene, und er schaute weg. „Zwei Jahre lang führte ich ein Dasein, das mir das Gefühl vermittelte, als wäre es allen egal, ob ich nun am Leben war oder tot. Selbst meinen eigenen Vater schien es nicht zu interessieren. Verdammt. Warum sollte er sich so von mir abwenden? Ich wäre für ihn da gewesen. Wenn die Situation umgekehrt gewesen wäre … Und selbst wenn ich geglaubt hätte, dass er schuldig ist …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn so im Stich gelassen hätte wie er mich.“
Er musste erfahren, dass mit seinem Vater etwas nicht stimmte. Irgendetwas schien den echten Gareth Ellis dazu zu zwingen, all diese fürchterlichen Dinge zu tun. Und der echte Gareth war immer noch tief in seinem Inneren und kämpfte verzweifelt um sein Leben … Genau wie wir.
Bei dem Gedanken gefror mir das Blut in den Adern.
„Wo, denkst du, sind die Kameras?“, fragte ich leise.
„Weiß nicht. Sie könnten überall sein. Sie nehmen uns wahrscheinlich gerade auf.“ Er legte sich auf dem Bett zurück und schaute hoch an die Decke. „Diese Digicams … In ihnen ist auch ein KI-Programm. Darum bewegen sie sich, als hätten sie einen eigenen Willen. Weil es nämlich der Wahrheit entspricht.“
Mein Mund war mit einem Mal trocken. „Wie dieser Roboter?“
„Nicht genau so. Gerade genug, damit sie selbstständig in der Gegend herumfliegen können und uns nicht von ihrem Radar verlieren. Sie haben eingebaute Empfänger. Unsere Chips sind mit den Digicams verbunden. Und die Digicams wiederum sind an den Sender, der die Gameshow überträgt, gekoppelt.“
Ich zog ihn zu mir heran, damit ich ihm etwas ins Ohr flüstern konnte. „Warum können wir nicht einfach wegrennen? Wenn wir zusammenbleiben, werden unsere Implantate uns keine Probleme bereiten.“
Er presste die Lippen aufeinander. „Sie würden es herausfinden.“
„Also gibt es keine Möglichkeit, zu entkommen?“ Ich sagte es ganz leise. Falls Kameras in dem Zimmer versteckt waren, wollte ich nicht, dass sie mich hörten.
„Nicht, solange die verdammten Digicams in der Nähe sind.“
„Rogan“, wisperte ich noch leiser. „Ich muss dir etwas erzählen. Es ist wichtig.“
„Was?“
Mein Herz fing an, zu rasen. „Du meintest, dass du nicht verstehen würdest, warum sich dein Vater so von dir abgewandt und dich im Stich gelassen hat. Nun ja, ich … Ich glaube, ich kenne den Grund. Zumindest zum Teil.“
„Also? Wieso?“ In seinen Worten schwang eine gewisse Anspannung mit. „Sag es mir.“
In dem Moment erklang ein lautes Alarmsignal, und der Raum, in dem wir uns befanden, wurde in zwei Hälften geteilt. Die Grenze verlief mitten durch das Bett. Das Zimmer wurde getrennt, als wäre es auf Rollen, und Rogan starrte mich entsetzt an, während wir uns weiter und weiter voneinander entfernten.
Das Dach fuhr zurück und statt des Stucks war über uns der wolkenverhangene Himmel zu erkennen.
Mit sinkendem Mut – einem Gefühl, an das ich mich während Countdown allmählich gewöhnte – wurde mir klar, dass das Motelzimmer, in dem wir uns aufgehalten hatten, nichts weiter als eine Bühne gewesen war. Alles falsch. Wie in Hollywood. Alles geschaffen, um den geeigneten Hintergrund für die Szene „Emotionales Bettgeflüster“ zu bilden. Anscheinend war der ganze Raum mit Mikrofonen bestückt. Mit versteckten Kameras. Die Macher von Countdown hatten wahrscheinlich darauf gehofft, dass es wieder zu einer expliziten Szene mit Knutschen und Fummeln kommen würde. Doch stattdessen hatten sie dem Ganzen ein Ende bereitet, sowie ich enthüllen wollte, was ich über Gareth wusste.
Vor Schreck wie versteinert, beobachtete ich, wie meine Hälfte des Bettes sich von Rogan entfernte, bis wir fast dreißig Meter voneinander weg waren.
„Kira!“ Rogan sprang von seiner Betthälfte auf. Sein nächster Schritt führte ihn aus dem Motelzimmer-Set und auf den Asphalt einer weiteren menschenleeren Straße. Er schaute sich flüchtig in der Gegend um, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete.
„Willkommen zurück zu Countdown! Kira und Rogan sind ausgeruht und bereit für das letzte Level – Level sechs!“
Drei kugelförmige silberne Kameras erschienen und schwebten die Straße entlang. Sie flogen zuerst zu Rogan und umkreisten ihn wie Wespen, während er sie aufgebracht anfunkelte.
„In einer kürzlich vorgenommenen Umfrage unter unseren geschätzten Abonnenten lag der Beliebtheitsgrad von Rogan Ellis gerade einmal bei dreizehn Prozent. So wenig Zustimmung hat bisher keiner der Teilnehmer bei Countdown bekommen. Es ist für jeden Zuschauer offensichtlich, dass in der Brust dieses Jungen ein kaltes Herz schlägt – auch, wenn er gut aussieht.“
Die Kameras verließen Rogans Hälfte und konzentrierten sich stattdessen auf mich. Sie umschwirrten meinen Kopf, und ich konnte mein Spiegelbild in ihren schwarzen, glänzenden Linsen erkennen.
„Kira Jordan ist eine sehr beliebte Teilnehmerin von Countdown. Es zeigt, dass eine weibliche Kandidatin trotz ihres zerbrechlichen Äußeren ihren männlichen Gegenspielern nicht unbedingt unterlegen sein muss. Kiras Beliebtheitsgrad liegt bei zweiundsiebzig Prozent – ein Prozentsatz, der sich mit jedem erfolgreich absolvierten Level noch erhöht. Kira, gibt es irgendetwas, das du den Zuschauern sagen möchtest, die dich in dem Spiel so begeistert unterstützt haben?“
Eine Kamera schwebte herunter, bis sie mit mir auf Augenhöhe war. Ich spiegelte mich von der Taille aufwärts bis zum Scheitel in der Linse.
„Auf jeden Fall.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass jeder Einzelne von den Abonnenten mich anwidert. Warum schaut ihr traurigen, jämmerlichen Drecksäcke euch die Show an? Sie zwingen uns, zu spielen. Wir haben keine andere Wahl. Ihr möchtet sehen, wie Menschen sterben? Ihr seid krank! Ihr seid alle krank!“ Ich spuckte die Kamera buchstäblich an.
Es entstand eine lange Pause.
„Es tut uns sehr leid, doch unglücklicherweise haben wir einen Moment lang das Audiosignal verloren. Wir streben an, Ihnen die beste Unterhaltung zu bieten, aber wir sind abhängig von unseren Kameras. Kira wollte sich bei Ihnen allen für Ihre Unterstützung bedanken und Ihnen mitteilen, dass sie sich freut, Ihnen ein paar Stunden Vergnügen geschenkt zu haben. Gerne würden sie Ihnen das auch noch einmal persönlich sagen, doch leider reicht die Zeit einfach nicht. Nicht, wenn wir die Show fortsetzen wollen!“
Ich versuchte, mich zu beruhigen. Es bereitete mir Übelkeit und machte mich wütend, zu wissen, dass die Zuschauer – wie viele es auch immer waren – gemütlich irgendwo saßen und vor ihrem inneren Auge verfolgten, wie Rogan und ich um unser Leben kämpften.
„Alles hat zu diesem letzten Level geführt. Kira und Rogan haben eine Beziehung zueinander aufgebaut, Gemeinsamkeiten gefunden, sie haben gelernt, zusammenzuarbeiten, und sie hätten sich beinahe ihrer Lust hingegeben. Es war uns ein Vergnügen, all das mit Ihnen zu teilen. Die beiden haben einander geholfen, wenn der eine niedergeschlagen war oder nicht mehr konnte – denn ohne den Partner ist man bei Countdown nichts. Das heißt: bis zu Level sechs.“
Die Digicams teilten sich auf. Eine blieb bei mir, eine andere sauste zu Rogan, und die dritte schwebte zwischen uns.
„Unter jeder Hälfte des Bettes sind Waffen deponiert worden. Würden die Kandidaten diese Waffen jetzt bitte hervorholen?“
Ich sah zu Rogan. Er stand neben seinem Bett, die Hände, die er herabhängen ließ, zu Fäusten geballt. Ich hingegen hatte mich noch keinen Zentimeter gerührt und lag noch immer auf der Matratze. Die Bettdecke hatte sich um meine Beine gewickelt.
Eine Digicam kam zu mir geflogen.
„Bitte, nimm deine Waffe, Kira.“
Ich funkelte in die Linse. „Bitte, leck mich am Arsch.“
Drei kleine grüne Lichter über der Linse der Kamera wurden ein kleines bisschen heller. Ich zuckte zusammen, als ich spürte, wie mein Chip einen Schmerzimpuls aussendete. Eine Warnung.
Ich zwang mich, aufzustehen, und kniete mich dann neben das Bett, damit ich darunter schauen konnte. Es war eine Pistole. Ich schlang meine Finger um den Griff und zog die Waffe hervor.
Da war ich nun, neben dem halben Motelzimmer, neben dem grauen Asphalt der Straße, die Waffe in der Hand, und bemühte mich, Herr über meine wachsende Panik zu werden, gleichzeitig probierte ich, aus alldem hier schlau zu werden.
Rogan hatte ebenfalls eine Pistole in der Hand. Sein Arm hing schlaff an seiner Seite hinunter.
„Rogan und Kira haben bisher Seite an Seite gekämpft, aber jetzt müssen sie gegeneinander antreten. Denn nur, wenn einer den anderen besiegt, kann er das Spiel gewinnen. Für Rogan geht es nun darum, seinen Namen von seinen Verbrechen reinzuwaschen. Sollte er gewinnen, darf er ein neues Leben beginnen – frei von Vorstrafen, mit einer weißen Weste und mit der Vergebung seines Vaters. Kira kämpft ebenfalls um einen Neuanfang – in der Kolonie. Dort erwartet sie ein neues Leben, ein Luxusappartement und genug Geld bis ans Ende ihrer Tage. Das Einzige, was ihr nun noch im Weg steht, ist Rogan. Und umgekehrt. Wer auch immer am Ende von Level sechs übrig bleibt, wer auch immer noch atmet, soll der strahlende Sieger sein. Sollte keiner von beiden es schaffen, den anderen in der vorgegebenen Zeit umzubringen, endet das Level und beide Kandidaten werden eliminiert. Für dieses Level haben die Teilnehmer fünf Minuten. Und diese fünf Minuten starten jetzt. Viel Spaß!“
Als der Moderator aufhörte, zu reden, stand ich da und war wie betäubt. Ich starrte die Pistole in meiner Hand an.
Sie wollten, dass ich Rogan tötete.
Und sie wollten, dass Rogan mich umbrachte.
Töten oder getötet werden.
Und wenn keiner von uns den Abzug der Waffe betätigte, würden wir beide in fünf Minuten sterben.
Dann würde eine neue Runde mit neuen Kandidaten beginnen, und schon bald würde sich niemand mehr an uns erinnern.
Zorn drohte mich, zu überwältigen, und ich musste mich mühsam zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. Die Wut brannte direkt unter der Oberfläche. Mit Sicherheit konnten die Abonnenten in meinen Augen sehen, was ich dachte, als ich zur Linse hochschaute. Sie konnten bestimmt erkennen, wie sehr ich sie hasste – diese reichen, gesichtslosen, blutdurstigen Mistkerle, die irgendwo da draußen saßen und jeden meiner Schritte verfolgten. Diese Arschlöcher, für die der Anblick von Gewalt und Schmerz ein Kick war und die so versuchten, ihr langweiliges Leben aufzupeppen.
Einen Moment lang war ich so versunken in meine Gedanken, so abgelenkt, dass ich nicht merkte, wie Rogan sich näherte. In letzter Sekunde nahm ich seine schweren Schritte wahr, als er auf mich zuging.
„Komm nicht näher.“ Automatisch hob ich die Waffe und zielte auf ihn. Er blieb stehen und streckte die Hände in die Luft.
„Locker, Kira. Ganz locker.“
„Locker?“, brachte ich hervor. „Hier ist überhaupt nichts locker. Du hast gehört, was er gesagt hat. Bleib dahinten.“
„Für dieses Level von Countdown verbleiben noch vier Minuten.“
Unbehaglich beäugte er die Pistole in meiner Hand. „Wirst du mich erschießen?“
Meine Hände waren ruhig, doch der Rest von mir zitterte. „Das wollen sie zumindest. Sie wollen, dass wir uns gegenseitig kalt machen. Jonathan und dein Vater haben mir schon den Vorschlag unterbreitet. Ich hätte dich in einem früheren Level töten und das Spiel damit gewinnen können.“
Er presste die Lippen aufeinander. „Jonathan hat mir den gleichen Deal angeboten.“
„Was? Wann?“
„Durch eine Stimme in meinem Kopf vor Level vier.“
Ein eisiger Schauer durchlief mich. „Aber du hast es nicht getan.“
„Nein. Das habe ich nicht.“
Eindringlich betrachtete ich sein Gesicht. Vertraute ich ihm wirklich? Nachdem es nun so weit gekommen war und es „er oder ich“ hieß, war ich da echt der Meinung, dass es einen Weg geben könnte, wie wir beide das hier überleben könnten?
Eine Kugel, eine Bewegung meines Zeigefingers am Abzug, und ich könnte alles haben, was ich mir je erträumt hatte.
Einmal hatte ich einer Freundin erzählt, dass ich töten würde, falls ich es so in die Kolonie schaffen würde. Zu der damaligen Zeit hatte ich es so gemeint. Sie hatte gelacht und erwidert, dass sie genauso handeln würde.
Rogan hob die Waffe und zielte in meine Richtung.
„Was machst du da?“, fragte ich mit bebender Stimme.
„Ich mag es nicht besonders, dass eine Pistole auf mich gerichtet ist, wenn ich nicht dasselbe tue. Selbst wenn du es bist, die mich im Visier hat. Ich fühle mich dann ein bisschen zu verletzbar.“
„Das möchte ich natürlich nicht.“
„Nein, verletzbar zu sein ist manchmal nicht gut.“ Er kniff die Brauen zusammen. „Verletzbar zu sein kann allerdings auch ab und zu gut sein. Das hängt von der Situation ab.“
Ich glaubte nicht, dass er länger über Waffen sprach.
Eine Unmenge an verschiedenen Szenarien schoss mir durch den Kopf. Es musste ein Ausweg aus dieser Lage existieren. Ich blickte zu den Digicams, die gierig alles aufnahmen. Alles in diesem Spiel schien sich um diese Kameras und die Chips in unseren Köpfen zu drehen. Sie waren miteinander verbunden.
„Für dieses Level von Countdown verbleiben noch drei Minuten.“
Ich atmete aus. „Diese Digicams sehen alles, oder?“
„Das stimmt. Augen am Himmel. Sie wissen, wo wir sind und können uns immer finden.“
„Also gibt es kein Entkommen vor ihnen. Oder doch?“
Unsere Blicke schienen zu verschmelzen. „Kein Entkommen.“
„Das ist echt scheiße.“
„Ja.“
„Denn wenn wir vor diesen Kameras fliehen könnten …“
„Ein Jammer, dass wir das nicht können.“
„Genau.“
Ich schaute zu den Kameras, die uns umkreisten und unsere letzte Unterhaltung aufzeichneten, um sie zum Vergnügen der Abonnenten noch mal und noch mal zu wiederholen.
„Und was jetzt, Kira?“, erkundigte er sich.
„Denkst du, dass du mich umbringen kannst, Rogan?“ Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich bemerkte, dass er seine Aufmerksamkeit von mir auf die Kameras gelenkt hatte.
Einen Moment lang schwieg er. „Ich sollte dich dasselbe fragen.“
„Könntest du, falls du vor die Wahl gestellt wirst, dein Leben zu retten, indem du mir meines nimmst – und so ist es ja –, den Abzug betätigen? Kannst du gut zielen?“
Er konzentrierte sich wieder auf mich. „Ich habe früher mit meinem Bruder sehr oft Schießübungen gemacht. Zerbrich dir nicht den Kopf über meine Treffsicherheit.“
Mein Arm fing an, zu schmerzen, weil ich die schwere Pistole halten musste. „Lohnt es sich, mich zu töten? Ist es das wert? Die Löschung der Einträge in deiner Akte?“
„Was glaubst du?“
„Ich persönlich würde jemanden erschießen, um nicht nach Saradone zu müssen. Hast du eine Ahnung davon, was sie dort mit einem süßen Achtzehnjährigen wie dir anstellen?“
„‚Süß‘, ja? Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mich ‚absolut heiß ‘ finden würdest.“ Seine Lippen zuckten kurz, ehe sein Blick kalt wurde. „Aber, ja, ich habe ein paar lebhafte Bilder im Kopf, was sie mit mir machen würden. Und du? Würdest du jemandem eine Kugel in den Kopf jagen, damit du eine strahlende Zukunft in der Kolonie hast?“
„Sofort“, erwiderte ich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
Er presste die Lippen aufeinander. Einen Moment lang betrachtete er seine Waffe. „Es ist genug Munition in dieser Pistole, um sicherzustellen, dass wir nicht danebentreffen. Dieses Mal sind sie kein Risiko eingegangen.“
„Für dieses Level von Countdown verbleiben noch zwei Minuten.“
„Also, schieß schon“, forderte ich ihn auf. Mein Herz schlug so laut, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte.
„Noch nicht. Wir haben ihnen noch keine gute Show geboten. Ich bin überrascht, dass sie uns nur fünf Minuten gegeben haben. Sie hätte es viel weiter in die Länge ziehen können.“
„Ich werde mein Ziel nicht verfehlen.“
„Du hast Kurtis in die Schulter geschossen, obwohl ich wusste, dass du ihn töten wolltest. Ich werde wahrscheinlich mit einer Kugel im Bein davonhumpeln und jammern, was für eine lausige Schützin du doch bist.“
„Okay, jetzt bist du einfach nur noch gemein. Ich kann etwas treffen, wenn ich genug Munition habe. Mach dir darüber nur keine Sorgen.“
Es herrschte Schweigen. Abwechselnd sah ich zu den Digicams und dann wieder zu Rogans Finger am Abzug.
„Nicht mehr lange“, meinte er.
„Neunundfünfzig … achtundfünfzig … siebenundfünfzig …“
Eine Welle der Angst und des Schreckens durchströmte mich. In weniger als einer Minute würde ich herausfinden, wie gut ich schießen konnte. Und Rogan auch.
Es musste klappen. Wenn ich nicht genau zielte, dann würde ich sterben.
„Der Zeitpunkt ist da“, erklärte der Moderator, und seine für gewöhnlich so melodiöse Stimme klang ein bisschen atemlos. „Die Fassade der Partnerschaft und Freundschaft ist eingestürzt. Dahinter sind zwei harte Konkurrenten zum Vorschein gekommen. Wer wird in den verbleibenden Sekunden siegreich sein?“
„Dreißig … neunundzwanzig … achtundzwanzig …“
„Ich habe den Typ so satt“, stieß Rogan knurrend aus.
„Ja. Und sollte ich nie wieder einen Countdown hören, wäre mir das nicht unrecht.“
„Tja, in einigen Punkten sind wir noch immer einer Meinung.“
„Ja, das stimmt.“
„Also, ich werde dir einen letzten Gefallen erweisen.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Du kannst versuchen, den ersten Schuss abzugeben.“
Meine Hände schwitzten. „Ich werde es nicht nur versuchen.“
„Sieben … sechs … fünf …“
Ich schluckte schwer. „Fertig?“
Er verengte die Augen ganz leicht und verstärkte den Griff um seine Pistole. „Tu es, Kira. Jetzt!“
Ich schwang meinen Arm herum und drückte ab. Die Kamera, die gerade eine Großaufnahme von meinem Gesicht und von jeder möglichen Emotion machte, die sich darauf spiegelte, wurde zurückgeschleudert.
Ich nahm wahr, wie Schüsse krachten. Rogan feuerte wieder und wieder und wieder die Waffe ab. Bei jedem Schuss zuckte ich zusammen. Ich betrachtete eine der Digicams, die auf dem Boden lag, ruckend und Funken sprühend. Ich schoss darauf, bis das Magazin meiner Pistole leer war, ehe ich hektisch zu Rogan schaute. Zwei silberne Kameras hatten wir bereits unschädlich gemacht.
Er blickte mich an. Seine Brust hob und senkte sich schnell, und auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen.
Ich erwiderte seinen Blick. Beinahe rechnete ich damit, dass die Chips in unseren Köpfen zur Strafe spontan explodieren würden, doch nichts geschah. „Und jetzt?“
Er warf mir ein leichtes Lächeln zu. „Jetzt rennen wir, so schnell wir können.“