8. Kapitel
Er hat es nicht so gemeint, dachte Isolde. Ich darf das nicht persönlich nehmen. Er hat mich ja nicht hinaus geworfen, sondern mich höflich, wenn auch eindringlich gebeten, zu gehen. Es war alles zu viel für ihn. Er muss sich erst neu orientieren, allein sein, zu Kräften kommen, um sich in Ruhe Gedanken zu machen über – ja, über was eigentlich? überlegte Isolde. Über unsere Zukunft natürlich, was sonst.
Sie saß an ihrem Arbeitsplatz und blickte auf den Bildschirm ihres Computers. Sie bemerkte nicht, wie die Zeit verstrich, während sie vor sich hin sinnierte. Es war schon Viertel nach zwei, und eigentlich hätte die Bücherei an diesem Tag bereits um 14 Uhr geöffnet haben müssen. Aber die Tür war verschlossen. Isolde wäre das nicht weiter aufgefallen. Sie hätte wahrscheinlich noch bis Feierabend vor sich hingedöst, wenn die neue Praktikantin nicht an die Tür geklopft hätte. Isolde schrak aus ihren Gedanken, kramte nach dem Schlüsselbund und schloss die Tür auf.
"Haben Sie vergessen aufzuschließen?“, erkundigte sich Frau Strohmeier verwundert.
„Sie kommen eine Viertelstunde zu spät“, erwiderte Isolde, ohne auf die Frage einzugehen.
Die Strohmeier entschuldigte sich maulend und verschwand in der Teeküche. Isolde stand unschlüssig da und liebäugelte mit dem Gedanken, sich wieder an ihren PC zu setzen und so zu tun, als wäre sie in ihre Arbeit vertieft. Aber ein plötzlicher Andrang von Leseratten hinderte sie daran. Unermüdlich musste sie nun mit dem Laserstrahl über ausgeblichene Bücher fahren, im Computer nach vorhandenen und noch nicht geklauten Büchern nachsehen und die Praktikantin antreiben, die zurückgebrachten Medien wieder in die Regale zu räumen. Isolde tat es gewissenhaft. Sie schenkte dem einen Leser ein Lächeln, anderen einen guten Tipp. Sie zuckte ratlos mit den Schultern, wenn sich Leute über herausgerissene Seiten beschwerten und lächelte nachsichtig, wenn Mütter, nicht in der Lage waren, ihre plärrenden Kinder in Zaum zu halten. Isolde war die Ruhe selbst. Sie zürnte nur, wenn ihre neunmalkluge Praktikantin sie einmal wieder mit irgendwelchen Schnapsideen nervte.
„Ich fände es im Interesse unserer Kunden sinnvoller, wenn wir die Bücher nach Genre und nicht nach Autoren ordnen würden“, verkündete die Strohmeier hochmotiviert, als Isolde gerade damit beschäftigt war, ein Dutzend Bestseller aus der Bestandsliste zu löschen, weil die nicht mehr auffindbar waren.
„Und ich fände es in ihrem Interesse besser, wenn sie sich den Gegebenheiten anpassen würden. Bis jetzt hat sich noch niemand beschwert, und die Leute sind auch keine Kunden, sondern…“ Isolde erhob geziert ihre Augenbrauen und warf einen Blick auf ihre Bestandsliste der gestohlenen Bücher, „nun ja“, seufzte sie gedehnt. „Übrigens, es ist 17 Uhr, schließen Sie bitte die Tür ab. Ich habe keine Lust hier noch eine freiwillige Nachtschicht einzulegen. – Ach, da fällt mir gerade ein“, Isolde blickte schmunzelnd über den Rand ihrer Computerbrille, „wenn Sie sich unbedingt gestalterisch betätigen wollen, dann können Sie ja einen Bestsellertisch arrangieren, das ist rasch erledigt. Sie bräuchten nämlich nur ein Schild zu entwerfen auf dem die Bemerkung „vergriffen“ drauf steht. Und wenn Sie sich dann immer noch überqualifiziert für diesen Job fühlen, dann können Sie ja ein paar Bestsellerautoren anrufen und fragen, ob die sich nicht zu einer kostenlosen Lesung in unsere Leihbücherei einfinden möchten.“
„Sind Sie eigentlich immer so unflexibel“, schnippte die Strohmeier verärgert zurück.
„Nur wenn man mir in die Quere kommt“, brummte Isolde.
„Wissen Sie, was ich denke?“ Die Strohmeier stemmte ihre Handflächen auf Isoldes Schreibtisch und versuchte, ihre Vermutung mit einem maliziösen Lächeln aufzuhübschen, dabei neigte sie mit den Kopf zum phallusförmigen Kaktus, der auf Isoldes Tisch stand. „Sie brachen einen Kerl, der es Ihnen mal so richtig besorgt.“
Isolde lächelte tapfer und rückte ihren Kaktus betulich zurecht. „Wissen Sie Fräulein Strohmeier, ich würde mich mit Ihnen gern geistig duellieren, aber leider sind Sie unbewaffnet.“
Demonstrativ stand sie auf und wandte sich den letzten Besuchern zu. „Feierabend, meine Herrschaften, wir müssen schließen!“
Es war kurz vor Ladenschluss, als Isolde das Schmuckgeschäft in der Landshuter Altstadt betrat.
„Ich möchte bitte, dass Sie mir aus diesem Ring den eingravierten Namen entfernen und ihn durch einen neuen ersetzen.“
„Welcher Name soll eingesetzt werden?“, erkundigte sich der Juwelier beflissen.
„Isolde!“ Sie buchstabierte sicherheitshalber, während der Juwelier sich seine Notiz machte.
„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“
„Ja“, sagte Isolde, „ich möchte, dass sie mir genau den gleichen Ring anfertigen, und zwar in einer 16er-Ringgröße, und in diesen Ring möchte ich, dass Sie den Namen Paul eingravieren - Paul, wie Paula, A wie….“
„Verstehe“, unterbrach der Juwelier, „aber den brauche ich nicht anzufertigen, nur zu verkleinern, den habe ich, glaube ich, in Größe 17…“ Der Juwelier blickte sich zerstreut um und holte eine Präsentationsplatte hervor. „Schauen Sie!“
„Wunderbar!“, Isolde klatschte begeistert in die Hände. Weit weniger euphorisch reagierte sie, als ihr der Juwelier die anfallenden Kosten mitteilte.
„Geht es denn wenigstens schnell?“
„Ist Ihnen morgen schnell genug?“
Isolde leistete eine Anzahlung und verließ zufrieden das Geschäft.
Es war noch hell, als Isolde zu Hause eintraf. Sie schloss die Tür auf und tätschelte den kleinen Hund, der ihr aufgeregt entgegengehopst kam. Kurz entschlossen griff sie nach der Hundeleine, um mit dem Tier noch einen Spaziergang zu unternehmen. Zielstrebig schlug sie den Weg ein, der zur Villa führte. Sie stutzte, als sie vor der Einfahrt ein ihr unbekanntes Auto erspähte. Sie ging aber weiter, da auf der anderen Straßenseite der Nachbar seinen Rasen mähte. Ihre Gelassenheit täuschte. Isolde war innerlich aufgewühlt. Es gab im Augenblick nichts Wichtigeres für sie, als herauszufinden, wem diese Schrottmühle gehörte. Also machte sie wieder kehrt, achtete darauf, dass sie nicht in den Blickwinkel des rasentrimmenden Nachbars geriet, aber trotzdem das Auto im Auge behielt. Sie konnte erkennen, dass sich im Auto zwei große Hunde befanden. Obwohl sie sich auf eine längere Wartezeit eingestellt hatte, ging plötzlich alles ganz schnell. Aus der Haustür trat eine Frau. Energisch knallte sie die Haustür zu, ohne abzuschließen. Überhaupt schien es Isolde, als wäre dieses hysterische Bündel mit den Gepflogenheiten des Hauses vertraut. Isolde schätzte die Unbekannte auf Ende zwanzig. Sie trug eine abgeschnittene Jeans, die ihr nur knapp über das üppige Gesäß reichte, und ein kurzärmliges Karohemd, das sie über der Hüfte zusammen geknotet hatte. Während sie eilig auf ihr Auto zulief, war sie damit beschäftigt, eine auffällige Haarspange in ihre feuerroten, aufgeblähten Locken zu befestigen. Mit der anderen Hand telefonierte sie. Obwohl ihre Stimme temperamentvoll klang, verstand Isolde kein Wort. Schwungvoll setzte sich die Fremde ins Auto und brauste, das Handy an ihr Ohr gepresst, von dannen. Das Einzige, was Isolde im Eifer des Gefechts aufschnappen konnte, war das Landshuter Autokennzeichen.
Isolde kam diese Nacht sehr spät ins Bett. Es war schon eine Stunde nach Mitternacht, als sie wie gerädert von ihrem Baum kletterte. Ohne Erfolg. Während der Observation stand die Maibach-Villa wie ein erloschener Lampenschirm da. Nichts tat sich. Vielleicht ist dieser Feuerteufel auch nur eine Verwandte der Toten gewesen. Mit diesen tröstlichen Gedanken schlief sie endlich in den frühen Morgenstunden ein.