Ich werde nie diesen ersten Tag in Auschwitz vergessen, den ersten Tag in Mauthausen. Dort hob ich sie nach einer Weile auch vom Fuß einer hohen Klippe empor, wo ihr Versuch zu entkommen jämmerlich gescheitert war. Es waren zerschmetterte Körper und tote, liebliche Herzen. Aber das war immer noch besser als das Gas. Manche von ihnen fing ich noch im freien Fall auf. Gerettet, dachte ich dann und hielt ihre Seelen fest, während der Rest ihres Daseins - ihre körperliche Hülle - auf die Erde stürzte. Alle waren sie leicht, wie die Schalen einer hohlen Walnuss. Rauchige Himmel, fast überall. Ein Geruch wie von einem Ofen, aber so kalt, so kalt. Ich zittere, wenn ich daran denke - wenn ich versuche, die Wirklichkeit ungedacht zu machen.
Ich blase mir warme Luft in die geballten Hände, um die Kälte zu vertreiben. Aber es ist so schwer, sie zu wärmen, wenn die Seelen noch vor Kälte beben. Gott.
Immer sage ich diesen Namen, wenn ich daran denke. Gott.
Zwei Mal spreche ich ihn aus.
Ich sage Seinen Namen in dem vergeblichen Versuch zu verstehen. »Aber es ist nicht deine Aufgabe zu verstehen.« Ich bin es selbst, der mir antwortet. Gott sagt niemals etwas. Glaubt ihr vielleicht, ihr seid die Einzigen, die nie eine Antwort von ihm bekommen? »Deine Aufgabe ist es...« Und dann höre ich mir nicht mehr länger zu, denn ehrlich gesagt langweile ich mich selbst. Wenn ich anfange, so zu denken, bin ich schnell erschöpft, und den Luxus, Ermüdungserscheinungen nachzugeben, kann ich mir nicht leisten. Ich bin gezwungen weiterzumachen, denn obwohl es nicht auf jeden Menschen auf Erden zutrifft, so doch auf die allermeisten: Der Tod wartet auf niemanden. Und wenn er es doch tut, wartet er nicht lange.
Am 23. Juni 1942 saß eine Gruppe französischer Juden in einem deutschen Gefängnis auf polnischem Boden. Die erste Person, die ich mir nahm, befand sich nahe an der Tür. Die Gedanken rasten, dann schlenderten sie, dann taumelten sie, langsam, langsamer ...
Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ich an diesem Tag jede Seele aufhob, als wäre sie neugeboren. Ich küsste sogar ein paar erschöpfte, vergiftete Wangen. Ich lauschte ihren letzten, erstickten Schreien. Ihren verschwindenden Worten. Ich betrachtete ihre Visionen von Liebe und befreite sie von ihrer Angst.
Ich nahm sie alle mit, und wenn es jemals eine Zeit gab, in der ich der Ablenkung bedurfte, so war es diese. In vollkommener Verlassenheit schaute ich in die Welt da oben. Ich sah den Himmel, der sich von Silber zu Grau wandelte und dann die Farbe des Regens annahm. Sogar die Wolken flohen von diesem Ort.
Manchmal stellte ich mir vor, wie es über diesen Wolken aussah. Ich wusste ohne Zweifel, dass die Sonne blond war und die endlose Atmosphäre ein einziges, riesiges blaues Auge.
TEIL 7
DUDEN BEDEUTUNGS WÖRTERBUCH
Es wirken mit:
Champagner und Akkordeon - eine Trilogie - Sirenen - ein Himmelsdieb -lange Marsch nach Dachau - Frieden - ein Idiot und ein paar Mantelmänner
champagner und akkordeon
Im Sommer 1942 bereitete sich Molching auf das Unausweichliche vor. Es gab immer noch Menschen, die sich weigerten zu glauben, dass diese kleine Stadt am Rande von München als Ziel dienen könnte, aber die Mehrzahl der Bewohner hatte daran keinen Zweifel mehr. Die einzige Frage war: Wann? Luftschutzräume wurden deutlicher kenntlich gemacht, Fenster nachts verdunkelt, und jeder wusste, wo sich der nächste Keller befand.
Für Hans Hubermann bedeutete diese beunruhigende Entwicklung allerdings eine gewisse Erleichterung. In einer unglücklichen Zeit hatte irgendwie das Glück wieder zu ihm gefunden, zumindest was seine Arbeit betraf. Leute, die Jalousien an den Fenstern hatten, kamen zu ihm, damit er sie schwarz anmale. Sein Problem war, dass schwarze Farbe normalerweise nur benutzt wurde, um andere Farben abzudunkeln, und schon bald war sie gänzlich ausverkauft. Aber er war ein guter Handwerker, und ein guter Handwerker hat immer einen Trick parat. Er nahm Kohlestaub und rührte ihn in die Farbe, und er machte den Leuten gute Preise. In vielen Häusern in allen Teilen von Molching verbarg er das Fensterlicht vor den Augen des Feindes.
Manchmal ging Liesel mit ihm.
Sie karrten die Farbtöpfe durch die Stadt, rochen in einigen Straßen den Hunger und schüttelten in anderen die Köpfe angesichts des Reichtums. Wenn sie auf dem Heimweg waren, kamen manchmal Frauen aus den Häusern gerannt, denen nichts als ihre Kinder geblieben war, und flehten ihn an, ihre Jalousien schwarz anzumalen.
»Frau Halla, tut mir leid, ich habe keine schwarze Farbe mehr«, sagte er dann, aber nach nur ein paar Schritten kehrte er um. Er war ein großer Mann, der auf einer langen Straße stand. »Morgen«, versprach er, »gleich als Erstes«, und als der nächste Morgen dämmerte, war er da und strich die Jalousien umsonst an, für einen Keks oder eine Tasse Kaffee. Am Abend zuvor hatte er wieder eine Möglichkeit gefunden, blaue oder grüne oder gelbe Farbe in Schwarz zu verwandeln. Niemals wimmelte er die Menschen ab, indem er ihnen erklärte, dass sie ihre Fenster mit Decken verhängen sollten, denn er wusste, sie würden sie brauchen, wenn der Winter käme. Man behauptete sogar, dass er Jalousien für eine halbe Zigarette anmalte, die er sich, auf den Eingangsstufen sitzend, mit dem Hausbesitzer teilte. Gelächter und Rauch stiegen aus dem Gespräch auf, ehe er sich zum nächsten Haus aufmachte.
Ich erinnere mich ganz deutlich daran, was Liesel Meminger, als ihre Zeit zu schreiben gekommen war, über diesen Sommer zu sagen hatte. Viele Worte sind mit den Jahrzehnten verblasst. Das Papier, das in meiner Tasche steckt, hat unter der Reibung meiner Bewegungen gelitten, aber dennoch konnte ich einige ihrer Sätze nicht vergessen.
EINIGE SÄTZE, VON EINEM MÄDCHEN GESCHRIEBEN
Dieser Sommer war ein neuer Anfang, ein neues Ende. Wenn ich zurückschaue, muss ich an meine Hände denken, glitschig vor Farbe, und an den Klang von Papas Schritten auf der Münchener Straße. Ich weiß, dass ein kleiner Teil
des Sommers 1942 nur einem einzigen Mann gehörte. Wer sonst würde für den Preis einer halben Zigarette einen Auftrag als Anstreicher annehmen? Das war Papa, das war typisch für ihn, und ich liebte ihn.
An den Tagen, an denen sie zusammen arbeiteten, erzählte er Liesel seine Geschichten. Über den Großen Krieg und wie seine miserable Handschrift ihm das Leben rettete und über den Tag, an dem er Mama kennenlernte. Er sagte, dass sie einmal sehr schön gewesen war und tatsächlich zurückhaltend. »Ich weiß, das kann man kaum glauben, aber es stimmt.« Jeden Tag gab es eine Geschichte, und Liesel verzieh ihm, wenn er die eine oder andere mehr als ein Mal erzählte.
Manchmal, wenn sie tagträumte, tippte ihr Papa leicht mit dem Pinsel auf die Nasenwurzel, direkt zwischen die Augen. Wenn auf dem Pinsel zu viel Farbe war, lief ein kleiner, dunkler Pfad über ihren Nasenflügel. Dann lachte sie und versuchte, sich zu revanchieren, aber Hans Hubermann ließ sich nicht so leicht erwischen. Bei der Arbeit war er flink und lebendig.
Wenn sie eine Pause machten, um etwas zu essen oder zu trinken, spielte er auf seinem Akkordeon, und daran erinnerte sich Liesel am besten. Jeden Morgen schob oder zog Papa den Karren mit den Farbeimern, und Liesel trug das Instrument. »Lieber lasse ich die Farbe liegen«, sagte Hans zu ihr, »als die Musik zu vergessen.« Wenn sie sich zum Essen hinsetzten, schnitt er das Brot und beschmierte es mit etwas Marmelade, die er mit der letzten Lebensmittelmarke ergattert hatte. Oder er legte eine dünne Scheibe Wurst darauf. Dann saßen sie beieinander auf den Farbeimern und aßen etwas, und während sie noch den letzten Mundvoll kauten, wischte Papa sich schon die Finger ab und öffnete den Akkordeonkasten.
In den Falten seines Arbeitskittels verbargen sich Pfade aus Brotkrumen. Farbbekleckste Hände marschierten über die Knöpfe und Tasten oder verharrten inmitten einer Note. Seine Arme bearbeiteten die Blasebälge und gaben dem Instrument die Luft zum Atmen.
Liesel saß mit den Händen zwischen den Knien mitten im Herzen des Tageslichts. Sie wünschte sich, dass keiner dieser Tage zu Ende gehen möge, und sie war jedes Mal enttäuscht, wenn sie die Dunkelheit daherkommen sah.
Was die Arbeit selbst betraf, so fand Liesel das Mischen der Farben am interessantesten. Wie die meisten Leute, so hatte auch sie angenommen, dass ihr Papa einfach zum nächsten Geschäft ging und die richtige Farbe kaufte. Ihr war nicht klar gewesen, dass Farbe meistens die Beschaffenheit von Klumpen hatte, so ähnlich geformt wie ein Backstein. Dieser Klumpen musste dann mit einer Champagnerflasche ausgerollt werden. (Champagnerflaschen, so erklärte Hans, waren dafür ideal, weil ihr Glas etwas dicker war als das gewöhnlicher Weinflaschen.) Nachdem dies geschehen war, fügte man Wasser hinzu, Weiße und Kleister, wobei es alles andere als leicht war, den richtigen Farbton zu treffen.
Die Kunst und Wissenschaft, die hinter dem Handwerk steckte, verschaffte Papa in Liesels Augen nur noch mehr Respekt. Es war gut und schön, wenn man zusammen aß und musizierte, aber Liesel fand es aufregend zu sehen, dass ihr Papa in seinem Beruf kein Stümper war. Kompetenz macht attraktiv.
Eines Nachmittags, kurz nachdem Papa Liesel in die Geheimnisse des Farbenmischens eingeführt hatte, arbeiteten sie an einem der wohlhabenderen Häuser östlich der Münchener Straße. Am frühen Nachmittag holte Papa Liesel ins Haus. Sie hatten sich gerade auf den Weg zu einem anderen Auftrag machen wollen, als er seine Stimme erhob und sie zu sich rief.
Sie betrat die Küche, wo zwei ältere Frauen und ein Mann auf zierlichen, sehr zivilisierten Stühlen saßen. Die Frauen waren gut gekleidet. Der Mann hatte weiße Haare und einen Backenbart, so dicht wie eine Hecke. Auf dem Tisch standen hohe Gläser, die mit einer sprudelnden Flüssigkeit gefüllt waren.
»Sodenn«, sagte der Mann, »zum Wohl!«
Er nahm sein Glas und bedeutete den anderen, es ihm nachzutun.
Der Nachmittag war warm gewesen. Liesel zuckte angesichts der Kälte des Glases leicht zusammen. Sie schaute Papa an, der ermutigend nickte, grinste und sagte: »Prost, Mädel!« Ihre Gläser stießen klingend aneinander, und in dem Moment, in dem Liesel das Glas an den Mund hob, wurde sie von dem spritzigen, widerlich süßlichen Geschmack des Champagners gebissen. Reflexartig spuckte sie das Zeug direkt auf den Kittel ihres Papas, wo die Flüssigkeit schäumte und tropfte. Gelächter brauste auf, und Hans forderte sie auf, es noch einmal zu versuchen. Diesmal konnte sie schlucken und den Geschmack einer ruhmreich gebrochenen Regel genießen. Es fühlte sich großartig an. Die Bläschen auf ihrer Zunge, die noch in ihrem Bauch kitzelten. Sogar als sie sich auf den Weg machten, konnte sie noch immer das Kribbeln in ihrem Innern spüren.
Papa, der den Karren zog, erzählte ihr, dass die Leute behauptet hätten, kein Geld zu haben. »Und da hast du Champagner verlangt?«
»Warum nicht?« Er schaute sie über den Karren hinweg an, und seine Augen waren noch nie so silbrig gewesen. »Ich wollte nicht, dass du denkst, Champagnerflaschen sind nur dazu da, dass man Farbklumpen damit platt rollt.« Er warnte sie: »Erzähl bloß Mama nichts davon, hörst du?«
»Darf ich es Max erzählen?« »Sicher, Max darfst du es sagen.«
Als sie im Keller saß und über ihr Leben schrieb, schwor sich Liesel, dass sie nie wieder Champagner trinken würde, denn er würde nie wieder so gut schmecken wie an jenem Nachmittag.
Mit dem Akkordeon war es genauso.
Oft wollte sie fragen, ob Papa ihr das Spielen beibringen könne, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Vielleicht wusste sie intuitiv, dass sie nie in der Lage sein würde, so zu spielen wie Hans Hubermann. Nicht einmal der weitbeste Akkordeonspieler konnte sich mit ihm messen. Auf keinem anderen Gesicht lag jener Ausdruck von gelassener Konzentration. Kein anderer Musiker hatte eine Zigarette zwischen den Lippen, die er gegen den Anstrich einer Jalousie eingetauscht hatte. Und keiner von ihnen konnte eine falsche Note im Nachhinein mit dem Dreiklang eines Lachens quittieren. Nicht so wie er.
Manchmal wachte sie in diesem Keller auf und spürte den Klang des Akkordeons in den Ohren. Sie fühlte das süße Brennen des Champagners auf der Zunge.
Manchmal lehnte sie an der Wand und sehnte sich nach dem warmen Finger aus Farbe, der noch einmal ihren Nasenflügel hinabrinnen möge, oder nach dem Anblick von Papas Sandpapierhänden.
Wenn sie doch noch ein Mal so ahnungslos sein und, ohne es zu wissen, solche Liebe verspüren könnte, wenn sie noch ein Mal diese Liebe mit Lachen und Brot mit einem Hauch Marmelade verwechseln könnte.
Es war die schönste Zeit ihres Lebens.
Lasst euch nicht täuschen. Es war ein Bombenteppich.
Kühn und strahlend zog sich die Trilogie des Glücks durch den Sommer und bis in den Herbst hinein. Und dann nahm sie ein jähes Ende, denn die strahlende Helligkeit hatte dem Leid den Weg gewiesen.
Harte Zeiten näherten sich.
Wie bei einer Parade.
Mit großen Schritten.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - ERSTER EINTRAG
Glück: Zustand innerer Harmonie und Zufriedenheit. Synonyme: Freude, Seligkeit, Wonne.
die trilogie
Liesel arbeitete, und Rudi rannte.
Er drehte Runden auf dem Sportplatz, rannte um die Häuserblocks und lieferte sich mit fast allen ein Wettrennen, vom Fuße der Himmelstraße bis zu Frau Lindners Eckladen, wobei er seinen Gegnern jeweils einen gehörigen Vorsprung gab.
Wenn Liesel Mama in der Küche half - was zurzeit selten vorkam -, schaute Rosa hin und wieder aus dem Fenster und sagte: »Was heckt dieser kleine Saukerl wohl diesmal wieder aus? Was soll diese Rennerei?«
Liesel kam zum Fenster. »Wenigstens hat er sich nicht wieder schwarz angemalt.«
»Na, das ist doch schon mal was, nicht wahr?«
RUDIS GRÜNDE
Mitte August fand ein Sportfest der Hitlerjugend statt, und Rudi beabsichtigte, vier Wettkämpfe zu gewinnen: die 1500, 400, 200 und natürlich die 100 Meter. Er mochte seine neuen Anführer bei der Hitlerjugend und wollte ihnen gefallen, und er wollte seinem alten Freund Franz Deutscher eins auswischen.
»Vier Goldmedaillen«, sagte er eines Nachmittags zu Liesel, als sie mit ihm auf dem Sportplatz rannte. »Wie Jesse Owens 1936.«
»Bist du immer noch so besessen von ihm?«
Rudis Füße hämmerten im Rhythmus seines Atems. »Eigentlich nicht, aber es wäre doch schön, oder? Es würde all den Mistkerlen, die mich für verrückt halten, das Gegenteil beweisen. Dann würden sie merken, dass ich doch nicht so dämlich war.«
»Aber kannst du wirklich vier Wettkämpfe gewinnen?«
Sie kamen am Ende der Bahn zum Stehen, und Rudi legte die Hände auf die Hüften. »Ich muss.«
Sechs Wochen lang trainierte er. Dann war der Tag des Sportfests gekommen. Es war Mitte August, und der Himmel war sonnenheiß und wolkenlos. Das Gras wurde von der Hitlerjugend, den Eltern und einer Menge von braunbehemdeten Anführern niedergetrampelt. Rudi Steiner war topfit.
»Schau«, sagte er. »Da ist Deutscher.«
Inmitten der Grüppchen, die sich in der Menge gebildet hatten, stand der blonde Inbegriff des Hitlerjugend-Ideals und gab zweien seiner Untertanen Befehle. Sie nickten und dehnten gelegentlich ihre Glieder. Einer von ihnen beschattete mit der Hand die Augen, wie zum Salut.
»Willst du ihm Guten Tag sagen?«, fragte Liesel.
»Nein, vielen Dank auch. Das mache ich später.«
Wenn ich gewonnen habe.
Die Worte wurden nicht ausgesprochen, aber sie standen da, zwischen Rudis blauen Augen und Deutschers befehlenden Händen.
Es folgte der obligatorische Marsch über den Platz. Die Nationalhymne. Heil Hitler.
Erst dann konnten sie anfangen.
Als Rudis Altersgruppe für die 1500 Meter aufgerufen wurde, wünschte ihm Liesel Glück.
»Hals- und Beinbruch, Saukerl.«
Jungen sammelten sich am Ende des ovalen Feldes. Ein paar machten Dehnübungen, andere konzentrierten sich, und der Rest war da, weil er da sein musste.
Neben Liesel saß Barbara, Rudis Mutter, mit ihren Jüngsten. Eine dünne Decke war randvoll mit Kindern und Grashalmen. »Könnt ihr Rudi sehen?«, fragte sie die Kleinen. »Er steht da ganz links.« Barbara Steiner war eine freundliche Frau, die immer frisch gekämmt aussah.
»Wo?«, fragte eines der Mädchen, wahrscheinlich Bettina, das jüngste. »Ich kann ihn nicht sehen.«
»Da. Der Letzte. Nein, nicht da. Da.«
Sie waren immer noch mit Suchen beschäftigt, als der Startschuss erklang. Rauch zog auf. Die kleinen Steiners sausten zum Zaun.
Auf der ersten Runde führte eine Gruppe von sieben Jungen das Feld an. Auf der zweiten Runde waren es noch fünf und auf der letzten noch vier. Rudi lief an vierter Position, bis zur letzten Runde. Ein Mann rechts von ihnen behauptete, dass der Junge, der derzeit Zweiter war, den besten Eindruck machte. Er war am größten. »Wart's nur ab«, sagte er zu seiner verblüfften Frau. »Wenn die letzten 200 Meter anbrechen, läuft er den anderen davon.« Der Mann irrte sich.
Ein riesiger Mann in einem braunen Hemd informierte die Rennläufer darüber, dass die letzte Runde angebrochen war. Er sah nicht so aus, als ob er unter irgendeiner Rationierung zu leiden hätte. Er rief ihnen etwas zu, als die Spitzengruppe die Start-Ziel-Linie überlief, aber es war nicht der zweite Junge, der beschleunigte, sondern der vierte. Und er tat es zweihundert Meter früher als erwartet.
Rudi rannte.
Zu keinem Zeitpunkt schaute er zurück.
Wie ein Gummiband baute er seine Führung auf, bis jeder Gedanke an einen möglichen anderen Sieger in sich zusammenfiel. Er flog über die Bahn, während sich hinter ihm die drei anderen Läufer der ehemaligen Spitzengruppe um den zweiten Platz stritten. Auf der Zielgeraden war nur noch blondes Haar und viel Abstand zu sehen, und als er über die Ziellinie lief, blieb er nicht stehen. Er riss nicht die Arme in die Höhe, sank nicht vor Erleichterung zusammen. Er lief noch zwanzig Meter weiter und schaute erst dann über die Schulter zurück, um mit anzusehen, wie die anderen ins Ziel kamen.
Auf dem Weg zu seiner Familie begegnete er zuerst seinen Anführern und dann Franz Deutscher. Die beiden nickten sich zu.
»Steiner.«
»Deutscher.«
»Sieht so aus, als hätte es sich ausgezahlt, dass ich dich die ganze Zeit Runden habe laufen lassen.«
»Sieht so aus.«
Das Lächeln sparte er sich auf für den Zeitpunkt, wenn er alle vier Rennen gewonnen haben würde.
EINE TATSACHE, DIE SPÄTER BEDEUTSAM WERDEN WIRD
Rudi war nun nicht nur als guter Schüler anerkannt, sondern auch als vielversprechender Athlet.
Liesel startete über 400 Meter. Sie kam als Siebte ins Ziel, und über die 200 Meter wurde sie Vierte. Alles, was sie vor sich sehen konnte, waren die Kniesehnen und die hüpfenden Pferdeschwänze der Mädchen, die ihr vorausliefen. Beim Weitsprung genoss sie das Gefühl des Sandes, der sich um ihre Füße schloss, mehr, als dass sie sich um die Weite scherte, und auch das Kugelstoßen absolvierte sie nur mäßig. Dieser Tag, das war ihr klar, gehörte Rudi.
Im 400-Meter-Finale ging er schon vor der Geraden in Führung und ließ sie sich nicht mehr nehmen. Die 200 Meter gewann er nur knapp.
»Wirst du müde?«, fragte Liesel ihn. Es war mittlerweile früher Nachmittag.
»Natürlich nicht.« Er atmete schwer und dehnte seine Oberschenkel. »Wovon redest du überhaupt, Saumensch? Was weißt du denn schon davon?«
Als die 100-Meter-Läufe angekündigt wurden, erhob er sich langsam und folgte der Gruppe von Jugendlichen zum Start. Liesel kam ihm nach. »He, Rudi.« Sie zupfte ihn am Ärmel. »Viel Glück.«
»Ich bin nicht müde«, sagte er.
»Ich weiß.«
Er zwinkerte ihr zu.
Er war müde.
Im Vorlauf lief Rudi langsamer und beendete das Rennen als Zweiter. Weitere zehn Minuten, in denen die anderen Vorläufe stattfanden. Dann wurde der Endlauf ausgerufen. Zwei andere Jungen wirkten frisch und ausgeruht, und in Liesels Bauch nagte das Gefühl, dass Rudi dieses Rennen nicht gewinnen könne. Tommi Müller, der in seinem Lauf Vorletzter geworden war, stand neben ihr am Zaun. »Er wird gewinnen«, erklärte er.
»Ich weiß.«
Nein, wird er nicht.
Als die Finalisten sich der Startlinie näherten, ließ sich Rudi auf die Knie fallen und grub mit seinen Händen Startlöcher in den Boden. Ein kahl werdendes Braunhemd marschierte auf ihn zu und befahl ihm, die Mätzchen zu lassen. Liesel sah auf den deutenden Finger des Erwachsenen und auf den Schmutz, der zu Boden rieselte, als Rudi sich die Hände abwischte.
Die Läufer wurden aufgerufen. Liesels Hände umschlossen die Zaunlatte fester. Einer der Wettkämpfer verursachte einen Fehlstart; aus der Starterpistole ertönte ein zweiter Schuss und rief die Läufer zurück. Der Fehlstarter war Rudi. Wieder richtete der Mann im braunen Hemd das Wort an ihn, und der Junge nickte. Beim zweiten Mal würde er draußen sein.
Wieder machten sich die Läufer fertig. Liesel schaute mit gebannter Aufmerksamkeit zu, und ein paar Sekunden lang begriff sie nicht, was sie da sah. Erneut gab es einen Fehlstart, und es war derselbe Athlet, der schon für den ersten verantwortlich war. Vor Liesels geistigem Auge lief ein perfektes Rennen ab, in dem Rudi im Mittelfeld blieb, aber am Ende mit mehr als zehn Metern Vorsprung gewann. Was sie tatsächlich sah, war Rudis Disqualifikation. Er wurde von der Bahn geführt und an der Seite abgestellt. Dort stand er dann, allein, als die restlichen Jungen ein drittes Mal vortraten.
Sie stellten sich auf und rannten.
Ein Junge mit rostbraunen Haaren und großen Schritten gewann mit fünf Metern Vorsprung. Rudi blieb zurück.
Später, als der Tag fertig und die Sonne vom Himmel genommen worden war, saß Liesel mit ihrem Freund auf dem Bürgersteig der Himmelstraße.
Sie redeten über alles andere, von Franz Deutschers Gesicht nach dem 1500-Meter-Rennen bis zu einem elfjährigen Mädchen, das einen Anfall bekommen hatte, nachdem sie das Diskuswerfen verloren hatte.
Bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten, griff Rudis Stimme zu ihr hinüber und überreichte Liesel die Wahrheit. Die saß eine Zeit lang auf Liesels Schulter, aber ein paar Gedankengänge später bahnte sie sich den Weg in ihr Ohr.
RUDIS STIMME
»Ich hab's absichtlich gemacht.«
Nachdem sie den Inhalt des Geständnisses begriffen hatte, stellte Liesel die einzige Frage, die sie parat hatte: »Aber warum, Rudi? Warum hast du das getan?«
Er stand da, mit einer Faust in die Hüfte gestemmt, und gab ihr keine Antwort. Nichts außer einem wissenden Lächeln und ein paar langsamen Schritten, die ihn nach Hause trieben. Sie sprachen nie wieder darüber.
Dennoch fragte sich Liesel oft, wie Rudi geantwortet hätte, hätte sie ihn gedrängt. Vielleicht, dass drei Medaillen ausreichend seien, um zu beweisen, was er hatte beweisen wollen. Oder dass er Angst gehabt habe, dieses letzte Rennen zu verlieren. Am Ende schenkte sie einer jungen Stimme Gehör, die aus ihrem Innern kam.
»Weil er nicht Jesse Owens ist.«
Erst als sie vom Bürgersteig aufstand, sah sie die drei unechten Goldmedaillen neben sich liegen. Sie klopfte an die Tür der Steiners und hielt Rudi die Medaillen entgegen. »Die hast du vergessen.«
»Nein, habe ich nicht.« Er machte die Tür zu, und Liesel nahm die Medaillen mit nach Hause. Sie brachte sie hinunter in den Keller und erzählte Max von ihrem Freund Rudi Steiner.
»Er ist wirklich dumm«, sagte sie abschließend.
»Zweifellos«, stimmte Max zu, »aber ich glaube nicht, dass er sich zum Narren halten ließ.«
Dann arbeitete Max an seinem Skizzenbuch weiter, während Liesel den Traumträger las. Sie war schon im letzten Drittel angelangt, in dem der junge Priester an seinem Glauben zu zweifeln beginnt, nachdem er eine fremde und elegante Dame kennengelernt hat.
Sie legte das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten in ihren Schoß. Max fragte, wann sie glaube, damit fertig zu sein.
»In ein paar Tagen.«
»Und dann? Ein neues Buch?«
Die Bücherdiebin schaute hinauf zur Kellerdecke. »Vielleicht, Max.« Sie schlug das Buch zu und lehnte sich zurück. »Wenn ich Glück habe.«
DAS NÄCHSTE BUCH
Es ist nicht das Duden Bedeutungswörterbuch, wie ihr vielleicht erwartet habt.
Nein, das Wörterbuch kommt erst am Ende dieser kleinen Trilogie zum Zuge, und derzeit befinden wir uns im zweiten Teil. Dies ist der Abschnitt, in dem Liesel den Traumträger zu Ende liest und eine Geschichte mit dem Titel Ein Lied im Dunkeln stiehlt. Wie immer stammte sie aus dem Haus des Bürgermeisters. Der einzige Unterschied war, dass sie diesmal allein dorthin ging. Rudi war an diesem Tag nicht bei ihr.
Der Morgen war reich an Sonne und schaumigen Wolken.
Liesel stand in der Bibliothek des Bürgermeisters. Gier klebte an ihren Fingern und Buchtitel an ihren Lippen. Heute fühlte sie sich sicher genug, um mit den Händen über die Regale zu streichen - eine abgekürzte Wiederholung dessen, was sie früher in diesem Raum getan hatte -, und sie flüsterte im Vorbeigehen viele der Titel vor sich hin.
Unter dem Kirschbaum.
Der zehnte Leutnant.
Wie so oft fühlte sie sich von etlichen dieser Titel in Versuchung geführt, aber nach ein oder zwei Minuten entschied sie sich für Ein Lied im Dunkeln, wahrscheinlich weil das Buch grün war und sie noch kein Buch in dieser Farbe besaß. Die geprägte Schrift auf dem Einband war weiß, und zwischen Titel und Autor befand sich das Bild einer kleinen Flöte. Mit dem Buch kletterte sie aus dem Fenster und bedankte sich dabei lautlos.
Normalerweise fehlte ihr etwas, wenn Rudi nicht da war, aber an diesem besonderen Morgen war die Bücherdiebin aus irgendeinem Grund lieber allein. Sie ging zur Amper, setzte sich ans Ufer - weit genug von dem üblichen Treffpunkt von Viktor Chemmel und Arthur Bergs ehemaliger Bande entfernt - und las. Niemand kam vorbei, niemand störte sie, und Liesel las vier der sehr kurzen Kapitel von Ein Lied im Dunkeln. Sie war glücklich.
Es war das Vergnügen und die Befriedigung.
Über einen gelungenen Diebstahl.
Eine Woche später war die Trilogie des Glücks komplett.
In den letzten Augusttagen wurde ihr ein Geschenk gemacht, oder besser gesagt: Das Geschenk wurde bemerkt.
Es war später Nachmittag. Liesel schaute Kristina Müller beim Seilspringen auf der Himmelstraße zu. Rudi Steiner kam schlitternd auf dem Fahrrad seines Bruders vor ihr zum Stehen. »Hast du Zeit?«, fragte er sie.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wofür?«
»Ich glaube, du solltest mitkommen.« Er legte das Fahrrad ab und ging nach Hause, um ein zweites zu holen. Liesel betrachtete die kreiselnden Pedale vor ihren Füßen.
Sie fuhren die Große Straße hinauf. Rudi hielt an und wartete. »Und?«, fragte Liesel. »Was ist denn?« Rudi deutete mit dem Finger. »Schau genau hin.«
Sie schoben sich näher, um einen besseren Blick zu haben, und versteckten sich hinter einer Blautanne. Durch die stacheligen Zweige sah Liesel das angelehnte Fenster und dann einen Gegenstand hinter der Glasscheibe.
»Ist das ...?«
Rudi nickte.
Sie besprachen die Situation ein paar Minuten lang, bis sie entschieden, dass es getan werden musste. Das Buch war ganz offensichtlich absichtlich dort hingestellt worden, und wenn es eine Falle war, so war es jedenfalls den Versuch wert.
Inmitten der pudrig blauen Zweige sagte Liesel: »Ein Bücherdieb würde es tun.«
Sie legte das Fahrrad auf den Boden, schaute sich auf der Straße um und ging durch den Hof. Die Wolkenschatten waren im dunklen Gras vergraben. Waren es Löcher, in die man fallen, oder dunkle Flecken, in denen man sich verbergen konnte? In ihrer Einbildung rutschte sie in eines dieser Löcher hinein, direkt in die bösartigen Fänge des Bürgermeisters. Wenn diese Gedanken etwas Gutes hatten, dann die Tatsache, dass sie Liesel ablenkten und sie das Fenster schneller als erwartet erreichte.
Alles war wie damals, als sie den Pfeifer gestohlen hatte.
Ihre Nerven leckten ihre Handflächen feucht.
Kleine Ströme aus Schweiß kräuselten sich in ihren Achseln.
Als sie den Kopf hob, konnte sie den Titel lesen: Duden Bedeutungswörterbuch. Kurz wandte sie sich zu Rudi um und formte lautlos die Worte: Es ist ein Wörterbuch. Er zuckte mit den Schultern und breitete kurz die Arme aus.
Sie ging überlegt vor, hob das Fenster an und fragte sich gleichzeitig, wie die ganze Szene vom Innern des Hauses betrachtet aussehen würde. Sie stellte sich den Anblick ihrer diebischen Hand vor, die das Fenster hochschob, bis das Buch hinausfiel. Es schien sich nur zögernd zu ergeben, wie ein gefällter Baum.
Es fiel.
Kaum ein Geräusch war zu hören.
Das Buch neigte sich ihr entgegen, und sie nahm es mit ihrer freien Hand. Sie machte sogar das Fenster wieder zu, vorsichtig und ordentlich. Dann drehte sie sich um und ging durch die Schlaglöcher aus Wolken wieder zurück.
»Saubere Arbeit«, sagte Rudi und reichte ihr den Lenker ihres Fahrrads.
»Danke.«
Sie fuhren auf die Straßenecke zu, wo sie die Bedeutsamkeit des Tages erwartete. Liesel wusste es. Da war wieder dieses Gefühl - das Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Stimme trat in ihrem Herzen in die Pedale. Zwei Mal rundherum.
Schau zum Fenster. Schau zum Fenster.
Sie konnte nicht anders.
Wie ein Jucken, das nach einem Fingernagel verlangt, verspürte sie das unbezähmbare Bedürfnis anzuhalten.
Sie stellte die Füße auf den Boden und drehte sich um, schaute zurück zum Haus des Bürgermeisters, zum Fenster der Bibliothek, und sie sah es. Sie hätte wissen müssen, dass die Möglichkeit bestand, aber dennoch konnte sie den Schreck nicht verbergen, als sie die Frau des Bürgermeisters erblickte, die hinter der Glasscheibe stand. Sie war durchsichtig, aber sie war da. Ihre fusseligen Haare sahen so aus wie immer, und sie gab ihre verwundeten Augen, ihren verletzten Mund und ihr Gesicht Liesels Blicken preis.
Sehr langsam hob sie die Hand, grüßte die Bücherdiebin unter ihr auf der Straße. Ein bewegungsloses Winken.
In ihrem Schreck sagte Liesel nichts, weder zu Rudi noch zu sich selbst. Sie reckte nur die Schultern und hob ebenfalls die Hand, um den Gruß der Frau zu erwidern.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - ZWEITER EINTRAG
verzeihen: Ein Unrecht, eine Kränkung o. Ä. nicht zum Anlass für eine heftige Reaktion, eine Vergeltungsmaßnahme nehmen, sondern mit Nachsicht und Großzügigkeit reagieren. Synonyme: entschuldigen, nachsehen, vergeben.
Auf dem Heimweg hielten sie auf der Brücke an und begutachteten das schwere schwarze Buch. Rudi blätterte durch die Seiten und entdeckte einen Brief. Er zog ihn heraus und schaute langsam zur Bücherdiebin auf.
»Da steht dein Name drauf.«
Der Fluss zog dahin.
Liesel nahm das Stück Papier.
DER BRIEF
Liebe Liesel,
ich weiß, dass du mich für jämmerlich und verachtenswert hältst (schlag die Wörter nach, wenn du sie nicht kennst), aber ich bin nicht so dumm, dass ich deine Fußspuren in der Bibliothek übersehen würde.
Als ich das erste Mal bemerkte, dass ein Buch fehlt, dachte ich, dass ich es einfach verlegt hätte, aber dann sah ich die Konturen von Fußabdrücken auf dem Boden, dort, wo das Licht hinfällt.
Ich musste lächeln.
Ich war froh, dass du dir genommen hast, was ohnehin dir gehört. Dann beging ich einen Fehler. Ich dachte, es wäre zu Ende.
Als du zurückkamst, hätte ich wütend sein sollen, aber ich war es nicht. Das letzte Mal konnte ich dich hören, aber ich beschloss, dich in Ruhe zu lassen. Du nimmst ja jedes Mal nur ein Buch, und es wird tausend Besuche dauern, bis sie alle weg sind. Ich hoffe nur, dass du eines Tages an die Haustür klopfen und das Haus auf anständige Art und Weise betreten wirst.
Ich möchte dir noch einmal sagen, wie leid es mir tut, dass wir deine Pflegemutter nicht länger beschäftigen können.
Abschließend hoffe ich, dass dir das Wörterbuch von Nutzen sein wird, wenn du deine gestohlenen Bücher liest.
Mit freundlichen Grüßen Ilsa Hermann
»Wir sollten jetzt heimfahren«, schlug Rudi vor, aber Liesel machte keine Anstalten aufzubrechen.
»Kannst du zehn Minuten auf mich warten?«
»Na klar.«
Liesel strampelte wieder die Große Straße hinauf bis zur Hausnummer 8. Sie setzte sich auf die vertraute Treppenstufe. Das Buch hatte Rudi, aber sie hielt den Brief und rieb mit den Fingern über das gefaltete Papier. Unter ihr wurden die Stufen immer härter. Vier Mal machte sie Anstalten, an das einschüchternde Fleisch der Tür zu klopfen, aber sie brachte es nicht fertig. Alles, wozu sie den Mut hatte, war, ihre Fingerknöchel auf die Wärme des Holzes zu legen.
Wieder fand ihr Bruder den Weg zu ihr.
Er stand am Fuß der Treppe. Sein Knie heilte gut. Er sagte: »Na, mach schon, Liesel. Klopf an.«
Sie ergriff ein zweites Mal die Flucht. Schon bald sah sie in der Ferne Rudis Gestalt auf der Brücke. Der Wind brauste durch sein Haar. Seine Füße schwammen auf den Pedalen.
Liesel Meminger war eine Verbrecherin.
Aber nicht, weil sie durch ein offenes Fenster geklettert und eine Handvoll Bücher gestohlen hatte.
Ich hätte klopfen sollen, dachte sie, und obwohl sie eine gute Portion Schuld empfand, verspürte sie auch das jugendliche Kitzeln von Gelächter in sich aufsteigen.
Sie radelte dahin und redete mit sich selbst.
Du verdienst es nicht, glücklich zu sein, Liesel. Wirklich nicht.
Kann man Glück stehlen? Oder ist das wieder so ein sinnhafter, sündhafter menschlicher Trick?
Liesel schüttelte die Gedanken ab. Sie überquerte die Brücke, forderte Rudi auf, sich zu beeilen und das Buch nicht liegen zu lassen.
Auf rostigen Rädern fuhren sie nach Hause.
Sie fuhren eine Wegstrecke, fuhren vom Sommer in den Herbst, von einem ruhigen Abend in die lärmenden Bombennächte über München.
der klang der sirenen
Von dem bisschen, das Hans im Sommer verdient hatte, kaufte er ein gebrauchtes Radio. »So erfahren wir«, sagte er, »wann die Luftangriffe kommen, noch bevor die Sirenen losgehen. Sie bringen im Radio einen Kuckucksruf und verkünden dann die Gebiete, die gefährdet sind.«
Er stellte das Radio auf den Küchentisch und schaltete es ein. Sie versuchten es auch im Keller, wegen Max, aber dort hatten sie keinen Empfang, nur statisches Rauschen und verstümmelte Stimmen.
Im September schliefen sie und hörten es nicht.
Entweder funktionierte das Radio nicht mehr richtig, oder die Ankündigung wurde von dem kreischenden Klang der Sirenen verschluckt.
Eine Hand schob sich sanft auf Liesels Schulter und weckte sie. Papas Stimme folgte, ängstlich.
»Liesel, wach auf. Wir müssen gehen.«
Liesel, aus dem Schlaf gerissen, war zuerst orientierungslos und konnte kaum die Konturen von Papas Gesicht erkennen. Das einzig Erkennbare war seine Stimme.
Im Flur blieben sie stehen. »Wartet«, sagte Rosa.
Sie eilten durch die Dunkelheit in den Keller. Die Lampe war angezündet.
Max schob sich hinter den Farbeimern und Lumpen hervor. Sein Gesicht war müde, und er hakte die Daumen nervös in den Hosenbund. »Zeit zu gehen, was?«
Hans trat zu ihm. »Ja, Zeit zu gehen.« Er schüttelte Max die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Bis nachher, in Ordnung?«
»Natürlich.«
Rosa umarmte ihn, genauso wie Liesel.
»Auf Wiedersehen.«
Wochen vorher hatten sie darüber gesprochen, ob sie alle beisammen im eigenen Keller bleiben oder ob die Hubermanns und Liesel Zuflucht bei einer Familie namens Fiedler suchen sollten. Max traf die Entscheidung. »Sie sagen doch, dass der Keller als Luftschutzraum nicht geeignet ist. Ich habe euch schon genug in Gefahr gebracht.«
Hans hatte genickt. »Es ist eine Schande, dass wir Sie nicht mitnehmen können. Eine himmelschreiende Schande.«
»So ist es nun einmal.«
Draußen heulten die Sirenen die Häuser an, und die Leute kamen herausgerannt, zögerten und schreckten zurück, weil sie ihr Zuhause nicht verlassen wollten. Die Nacht schaute zu. Einige Leute erwiderten den Blick und versuchten, die blechernen Flugzeuge ausfindig zu machen, die über den Himmel jagten.
Durch die Himmelstraße zog sich eine Prozession durcheinanderlaufenden Menschen, die sich mit ihren Kostbarkeiten abplagten. Manchmal war es ein Baby. Manchmal ein Stapel Fotoalben oder eine Holzkiste. Liesel hatte ihre Bücher bei sich, zwischen ihrem Arm und ihren
Rippen. Frau Holzinger schleppte mit hervorquellenden Augen und kleinen Schritten einen Koffer über den Bürgersteig.
Papa, der alles vergessen hatte - sogar sein Akkordeon -, lief zu ihr und rettete den Koffer aus ihren Händen. »Jesus, Maria und Josef, was haben Sie denn da drin?«, fragte er. »Einen Amboss?«
Frau Holzinger lief neben ihm her. »Nur das Nötigste.«
Die Fiedlers wohnten sechs Häuser weiter. Sie waren zu viert, alle mit weizenfarbenem Haar und guten deutschen Augen. Wichtiger noch: Sie verfügten über einen geräumigen, tief ausgehobenen Keller.
Zweiundzwanzig Personen drängten sich hinein, einschließlich der Familie Steiner, Frau Holzinger, Pfiffikus, einem jungen Mann und einer Familie namens Jenson. Im Interesse der Friedfertigkeit hielt man Rosa Hubermann und Frau Holzinger getrennt, obwohl es Situationen gab, die über kleinliche Streitereien erhaben waren.
Eine Glühbirne baumelte von der Decke herab. Der Raum war feucht und kalt. Zerklüftete Wände neigten sich vor und stachen den Menschen, die herumstanden und sich unterhielten, in den Rücken. Der gedämpfte Klang der Sirenen drang von irgendwo herein. Obwohl dieser
Umstand an der Qualität des Schutzraums zweifeln ließ, waren sie froh, dass sie doch wenigstens die drei Sirenentöne hören würden, die das Ende des Luftangriffs und damit ihre Sicherheit verkünden würden. Sie brauchten keinen Luftschutzwart.
Es dauerte nicht lange, da entdeckte Rudi Liesel und stellte sich neben sie. Sein Haar deutete zur Decke. »Ist das nicht toll?«
Sie konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen. »Es ist ganz großartig.«
»Ach, komm schon, Liesel, sei doch nicht so. Was kann denn schon passieren, außer dass wir platt gewalzt oder gebraten werden oder was Bomben sonst noch so anstellen?«
Liesel schaute sich um und spähte in die Gesichter. Sie erstellte eine Liste von denjenigen, die sich am meisten fürchteten.
DIE ERSTEN AUF DER LISTE
1. Frau Holzinger
2. Herr Fiedler
3. der junge Mann
4. Rosa Hubermann
Frau Holzingers Augen waren aufgerissen, die Lider wie angeklebt. Ihr drahtiger Körper neigte sich nach vorn, und ihr Mund war ein offener Kreis. Herr Fiedler fragte jedermann, manchmal mehrmals, wie er oder sie sich fühle. Der junge Mann, Rolf Schultz, hockte allein in einer Ecke, führte Selbstgespräche und fluchte leise in die Luft hinein. Seine Hände waren in seinen Taschen festgebacken. Rosa wiegte sich vor und zurück, ganz leicht nur. »Liesel«, flüsterte sie, »komm her.« Sie umarmte das Mädchen von hinten, drückte sie fest an sich. Sie sang ein Lied, aber so leise, dass Liesel es nicht verstand. Die Noten wurden in ihrem Atem geboren und starben auf ihren Lippen. Neben ihnen blieb Papa still und bewegungslos. Einmal legte er seine warme Hand auf Liesels kühlen Schädel. Du wirst leben, sagte die Hand, und sie hatte recht.
Zu ihrer Linken standen Alex und Barbara Steiner mit den beiden jüngsten Kindern, Emma und Bettina. Die zwei Mädchen hingen an den Beinen der Mutter. Der Älteste, Kurt, starrte in perfekter Hitlerpose geradeaus und hielt Karin an der Hand, die winzig klein war, sogar für eine Siebenjährige. Die zehnjährige Anna-Marie spielte mit der unregelmäßigen Oberfläche der Wand.
Auf der anderen Seite der Steiners standen Pfiffikus und die Jensons. Pfiffikus beherrschte sich und pfiff nicht.
Der bärtige Herr Jenson hielt seine Frau fest umschlungen, und ihre zwei Kinder durchbrachen ab und zu das Schweigen. Manchmal ärgerten sie einander, hielten aber inne, bevor es zu einem Streit kommen konnte.
Nach etwa zehn Minuten war das Allesbeherrschende in diesem Keller die Bewegungslosigkeit. Die Körper waren wie zusammengeschweißt, und nur die Füße scharrten hin und wieder oder wechselten sich mit dem darüberliegenden Gewicht ab. Starre hatte sich der Gesichter bemächtigt. Sie betrachteten einander und warteten.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - DRITTER EINTRAG
Angst, beklemmendes, banges Gefühl, bedroht zu sein. Synonyme: Ängstlichkeit. Beklemmung, Furcht, Panik.
Es gab Geschichten über andere Luftschutzräume, in denen »Deutschland, Deutschland über alles« gesungen wurde oder wo sich Leute inmitten ihres eigenen, abgestandenen Atems stritten. Nichts dergleichen geschah im Keller der Fiedlers. Hier gab es nur Angst und Sorge und das tote Lied auf Rosa Hubermanns Pappkartonlippen.
Kurz bevor die Sirenen Entwarnung gaben, lockte Alex Steiner - der Mann mit dem unbeweglichen, hölzernen Gesicht - die Kinder von den Beinen seiner Frau weg. Er streckte die Hand aus und nahm die freie Hand seines Sohnes. Kurt, immer noch stoisch und starrend, nahm sie und drückte mit der anderen Hand die Hand seiner Schwester ganz leicht. Bald darauf hielten sich alle an den Händen, und die Gruppe von Deutschen stand in einem klumpigen Kreis. Kalte Hände trafen auf warme, und manchmal fühlte man den Puls des Nebenmanns. Er drang durch die Lagen aus bleicher, verkrampfter Haut. Manche schlossen die Augen und warteten auf den Untergang oder hofften auf ein Zeichen, dass der Angriff vorüber war.
Hatten sie etwas Besseres verdient, diese Leute?
Wie viele von ihnen hatten offen andere Menschen drangsaliert, waren Hitlers Wahnsinn verfallen, plapperten seine Sätze, seine Phrasen, sein Werk nach? War Rosa Hubermann schuldig? Die Hüterin eines Juden? Oder Hans? Verdienten sie zu sterben? Die Kinder?
Die Antworten auf diese Fragen interessieren mich sehr, obwohl ich nicht zulassen darf, dass sie mich verführen. Ich weiß nur, dass all diese Menschen mich in jener Nacht gespürt hätten, wenn ich da gewesen wäre, auch die kleinsten Kinder. Ich war die Andeutung. Ich war der Bescheid, und die Vorstellung von meinen Füßen ging durch die Küche und den Flur entlang.
Wie so oft, wenn ich in den Worten der Bücherdiebin über Menschen las, hatte ich Mitleid mit ihnen, allerdings nicht so viel wie mit jenen, die ich zu dieser Zeit aus den Lagern schaufelte. Die Deutschen in den Kellern waren bemitleidenswert, sicher, aber sie hatten wenigstens eine Chance. Ein Keller ist kein Waschraum. Sie wurden nicht dorthin geschickt, um sich zu duschen. Für diese Menschen war das Leben noch erreichbar.
In dem krummen Kreis schlurften die Minuten dahin. Liesel hielt Rudi und Mama an der Hand. Nur ein Gedanke machte sie traurig. Max.
Würde er überleben, wenn die Bomben auf die Himmelstraße fielen?
Sie betrachtete den Raum, der sie umgab. Der Keller der Fiedlers war viel massiver und auch viel geräumiger als derjenige in der Himmelstraße 33.
Stumm fragte sie ihren Papa.
Denkst du auch an ihn?
Ob die lautlose Frage nun bemerkt wurde oder nicht, jedenfalls schenkte er dem Mädchen ein rasches Nicken. Wenige Minuten später folgte ein Dreiklang aus Sirenengeheul, der flüchtige Sicherheit verkündete.
Die Menschen in der Himmelstraße 45 sanken erleichtert in sich zusammen. Manche kniffen die Augen zusammen und öffneten sie wieder. Eine Zigarette wurde herumgereicht.
Gerade als sie Rudis Lippen erreichte, wurde sie ihm von seinem Vater vor der Nase weggeschnappt. »Du nicht, Jesse Owens.«
Die Kinder umarmten ihre Eltern, und es dauerte mehrere Minuten, bis allen klar war, dass sie noch lebten und dass sie auch weiterhin am Leben bleiben würden. Erst dann erklommen ihre Füße die Treppe nach oben, in Herbert Fiedlers Küche und hinaus.
Eine schweigende Prozession marschierte wieder nach Hause. Die Menschen schauten nach oben und dankten Gott für ihr Leben.
Als die Hubermanns heimkamen, gingen sie auf direktem Weg in den Keller, aber es sah so aus, als wäre Max nicht da. Der Lampenschein war klein und orange, und sie konnten ihn weder sehen noch eine Antwort vernehmen.
»Max?«
»Er ist verschwunden.«
»Max, sind Sie da?« »Ich bin hier.«
Sie dachten zuerst, dass die Stimme hinter den Lumpen und den Farbeimern hervorkam, aber Liesel sah ihn als Erste. Er war direkt neben ihnen. Sein abgespanntes Gesicht fiel zwischen den Malutensilien und dem Werkzeug kaum auf. Seine Augen und Lippen waren wie betäubt.
Sie wendeten sich ihm zu, und er öffnete den Mund.
»Ich konnte nicht anders«, sagte er.
Rosa kauerte sich nieder und schaute ihm ins Gesicht. »Wovon sprechen Sie, Max?«
»Ich ...« Er kämpfte mit der Antwort. »Als alles still war, bin ich hinaufgegangen, und im Flur habe ich gesehen, dass der Vorhang im Wohnzimmer einen Spalt offen stand ... Ich konnte nach draußen sehen. Ich habe nur ein paar Sekunden lang hingeschaut.«
Er hatte die Welt da draußen seit zweiundzwanzig Monaten nicht mehr gesehen.
Keine Wut. Kein Tadel.
Papa stellte eine Frage. »Wie hat es ausgesehen?«
Max hob den Kopf. In seinem Blick standen Trauer und Erstaunen. »Da waren Sterne«, sagte er. »Sie haben meine Augen verbrannt.«
Vier Menschen.
Zwei standen. Zwei saßen.
Alle hatten in dieser Nacht etwas erlebt.
Dieser Ort war der wahrhaftige Keller. Hier lebte die wahre Angst. Max riss sich zusammen und stand auf, um sich wieder hinter den Lumpenberg zu begeben. Er wünschte ihnen eine gute Nacht, doch er kam nicht weit. Mit Mamas Erlaubnis blieb Liesel bei ihm bis zum Morgen, las Ein Lied im Dunkeln, während er an seinem Buch arbeitete.
Von einem Fenster in der Himmelstraße aus, schrieb er, setzten die Sterne meine Augen in Brand.
der himmelsdieb
Es stellte sich heraus, dass der erste Luftangriff gar kein Luftangriff war. Hätten die Leute darauf gewartet, Flugzeuge am Himmel zu sehen, hätten sie die ganze Nacht lang warten können. Das erklärte auch die Tatsache, dass kein Kuckucksruf aus dem Radio ertönt war. Das Molchinger Abendblatt berichtete, dass ein einzelner Flak-Offizier etwas übereifrig gewesen sei. Er hätte schwören können, dass er das Rattern von Flugzeugen wahrgenommen und sie am Horizont auch gesehen hätte. Er hatte den Alarm ausgelöst.
»Vielleicht hat er es absichtlich getan«, überlegte Hans Hubermann. »Würdet ihr gerne an einer Flak sitzen und auf Flugzeuge schießen, die mit Bomben beladen sind?«
Max, der den Artikel im Keller las, erfuhr, dass der Mann mit der blühenden Fantasie seines Postens enthoben worden war. Wahrscheinlich wurde er irgendwo anders hin versetzt.
»Viel Glück für ihn«, sagte Max. Er schien die Zusammenhänge zu begreifen. Dann widmete er sich dem Kreuzworträtsel.
Der nächste Alarm war echt.
In der Nacht des 19. September rief der Kuckuck aus dem Radio, gefolgt von einer tiefen, sachlichen Stimme, die Molching als ein mögliches Ziel nannte.
Wieder zog sich eine Schlange aus Menschen durch die Himmelstraße, und wieder ließ Papa sein Akkordeon zurück. Rosa erinnerte ihn daran, aber er schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal hatte ich es auch nicht dabei«, erklärte er, »und wir haben überlebt.« Der Krieg ließ eindeutig die Grenzen zwischen Logik und Aberglauben verschwimmen.
Unheilschwangere Luft folgte ihnen in den Keller der Fiedlers. »Ich glaube, heute Abend ist es kein falscher Alarm«, sagte Frau Fiedler, und die Kinder merkten schnell, dass ihre Eltern diesmal noch mehr Angst hatten. Sie reagierten auf die einzige Art, die sie kannten. Das Jüngste fing an zu heulen und zu schreien, während der Raum zu zittern begann.
Selbst hier unten konnten sie gedämpft die Melodie der Bomben hören. Der Luftdruck schob sich bodenwärts, wie eine Zimmerdecke, als wollte er die Erde zerquetschen. Aus Molchings leeren Straßen wurde ein Stück herausgebissen.
Rosa klammerte sich an Liesels Hand fest.
Schreiende Kinder, die um sich traten und schlugen.
Rudi stand aufrecht da, spielte den Gleichmütigen, spannte sich gegen die Anspannung an. Arme und Ellbogen kämpften um Platz. Ein paar von den Erwachsenen versuchten, die Kinder zu beruhigen. Etliche andere konnten nicht einmal sich selbst zur Ruhe zwingen.
»Bringt die Kinder zum Schweigen!«, rief Frau Holzinger, aber ihr Ruf war nur eine weitere unglückselige Stimme in dem warmen Durcheinander des Luftschutzraums. Schmutzige Tränen lösten sich aus den Augen der Kinder, und der Geruch von nächtlichem Atem, Achselschweiß und ungewaschenen Kleidern wurde umgerührt und erhitzt in dem Raum, der jetzt mehr einem Kessel glich, in dem menschliche Wesen schwammen.
Obwohl sie nebeneinander standen, musste Liesel schreien, um sich bemerkbar zu machen: »Mama?« Noch einmal. »Mama, du zerdrückst mir die Hand!«
»Was?«
»Meine Hand!«
Rosa ließ sie los, und um sich zu trösten und dem Tumult um sich herum zu entgehen, öffnete Liesel eines ihrer Bücher und fing an zu lesen. Das oberste Buch auf dem Stapel war Der Pfeifer, und sie las laut, um sich besser konzentrieren zu können. Der erste Absatz lag taub in ihren Ohren.
»Was hast du gesagt?«, brüllte Mama, aber Liesel achtete nicht auf sie. Sie hielt ihren Blick auf die erste Seite gerichtet.
Als sie umblätterte, bemerkte Rudi, was sie tat. Er hörte zu, während sie las, und er tippte seine Geschwister an und sagte, sie sollten ebenfalls zuhören. Hans Hubermann kam näher und rief die anderen, und schon bald sickerte Stille durch den überfüllten Keller. Auf Seite drei schwiegen alle, außer Liesel.
Sie wagte nicht aufzuschauen, aber sie fühlte die verängstigten Augen, die an ihr hingen, während sie die Worte ein- und ausatmete. Eine Stimme spielte in ihrem Innern die Noten. Dies so sagte die Stimme, ist dein Akkordeon.
Das Rascheln der Seite, die umgeblättert wurde, schnitt sie in Stücke.
Liesel las weiter.
Etwa zwanzig Minuten lang verschenkte sie die Geschichte. Die kleinen Kinder wurden ruhig beim Klang ihrer Stimme, und alle anderen sahen Bilder vom Pfeifer vor sich, der vom Tatort floh. Liesel nicht. Die Bücherdiebin sah nur den Mechanismus der Worte - ihre Körper, die auf dem Papier lagen, niedergeschlagen, damit sie darübergehen konnte. Irgendwo, in den Lücken zwischen einem Punkt und dem nächsten Satzanfang, war auch Max. Sie dachte daran, wie sie ihm vorgelesen hatte, als er krank war. Ist er im Keller?, fragte sie sich. Oder stiehlt er wieder ein Stückchen Himmel?
EIN HÜBSCHER GEDANKE
Sie war die Bücherdiebin. Er stahl den Himmel.
Alle warteten darauf, dass die Erde bebte.
Das war immer noch so, unbestritten, aber wenigstens waren sie jetzt abgelenkt, von dem Mädchen mit dem Buch. Einer der kleineren Jungen überlegte, ob er wieder anfangen sollte zu weinen, aber in diesem Moment hielt Liesel inne und tat, was normalerweise ihr Papa, oder auch Rudi, tun würde. Sie zwinkerte ihm zu und fuhr mit dem Lesen fort.
Erst als sich der Klang der Sirenen wieder in den Keller stahl, wurde Liesel unterbrochen. »Wir sind gerettet!«, sagte Herr Jenson.
»Pst!«, ermahnte ihn Frau Holzinger.
Liesel schaute auf. »Es sind nur noch zwei Absätze, dann ist das Kapitel zu Ende«, sagte sie. Sie las weiter, weder hastig noch triumphierend. Nur die Worte.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - VIERTER EINTRAG
Wort, a) kleinste, selbstständige sprachliche Einheit, die eigene Bedeutung oder Funktion hat; b) Wort als Träger eines Sinnes. Synonyme: Äußerung, Ausspruch.
Aus Respekt sorgten die anwesenden Erwachsenen für Ruhe, und Liesel beendete das erste Kapitel vom Pfeifer.
Auf dem Weg die Treppe hinauf hasteten die Kinder an ihr vorbei, aber viele der älteren Leute - selbst Frau Holzinger, selbst Pfiffikus (was nur angemessen war, wenn man bedenkt, welchen Titel das Buch trug, aus dem sie gelesen hatte) - bedankten sich im Vorbeigehen bei dem Mädchen für die Zerstreuung. Dann eilten auch sie aus dem Haus, um nachzusehen, ob die Himmelstraße Schaden genommen hatte.
Die Himmelstraße war unberührt geblieben.
Das einzige Zeichen für den Krieg war die Wolke aus Staub, die von Ost nach West zog. Sie schaute durch die Fenster, versuchte, sich ins Innere der Häuser zu stehlen, und während sie sich gleichzeitig verdichtete und ausbreitete, verwandelte sie den Zug aus Menschen in geisterhafte Erscheinungen.
Auf der Straße waren keine Leute mehr.
Da waren nur noch Gerüchte, die Lasten trugen.
Zu Hause erzählte Papa Max alles, was sich ereignet hatte. »Da draußen ist Nebel und Asche - ich glaube, sie haben uns zu früh wieder herausgelassen.« Er schaute zu Rosa. »Soll ich hinausgehen? Um nachzusehen, ob sie da, wo die Bomben gefallen sind, Hilfe brauchen?«
Rosa zeigte sich unbeeindruckt. »Bist du narrisch«, sagte sie. »Du wirst an dem Staub ersticken. Nein, nein, Saukerl, du bleibst hier.« Ein Gedanke flog ihr zu. Sie schaute Hans nun ernsthaft an. Stolz war auf ihr Gesicht gemalt. »Bleib hier, und erzähl ihm von dem Mädel.« Ihre Stimme wurde lauter, aber nur ein bisschen. »Erzähl ihm von dem Buch.«
Max zeigte sich interessiert.
»Der Pfeifer«, erklärte Rosa. »Erstes Kapitel.« Sie erklärte ganz genau, was im Luftschutzraum geschehen war.
Liesel stand in einer Kellerecke. Max betrachtete sie und rieb sich mit der Hand über seinen Unterkiefer. Ich glaube, dies war der Moment, in dem er auf die Idee für das nächste Stück in seinem Skizzenbuch kam.
Die Worteschüttlerin.
Er stellte sich das Mädchen vor, wie sie im Keller gelesen hatte. Er sah, wie sie förmlich die Worte ausgeteilt hatte. Aber wie immer sah er auch Hitlers Schatten. Er hörte womöglich bereits seine Schritte, die sich der Himmelstraße und dem Keller näherten. Später.
Nach einer ausgedehnten Pause sah er so aus, als wollte er sprechen, aber Liesel kam ihm zuvor.
»Hast du heute Nacht den Himmel gesehen?«
»Nein.« Max deutete auf die Wand. Sie alle betrachteten die Worte und das Bild, das er vor über einem Jahr gemalt hatte - das Seil und die baumelnde Sonne. »Nur das da.« Von da an sprach niemand mehr etwas. Nur noch die Gedanken waren da.
Für Max, Hans und Rosa kann ich nicht sprechen, aber ich weiß, dass Liesel Meminger dachte, dass - wenn die Bomben auf der Himmelstraße landeten - Max nicht nur weniger Chancen zum Überleben hätte als alle anderen, sondern dass er auch vollkommen allein sterben würde.
frau holzingers angebot
Am nächsten Morgen begutachtete man den Schaden. Niemand war getötet worden, aber zwei Wohnhäuser waren zu Schutthaufen zerbombt worden. In der Mitte des Sportfelds der Hitlerjugend, auf dem Rudi seine Runden gelaufen hatte, prangte ein riesiges Loch, wie mit einem großen Löffel ausgeschabt. Die halbe Stadt stand darum herum und staunte. Die Leute schätzten die Tiefe, um sie mit den Luftschutzräumen zu vergleichen. Ein paar Jungen und Mädchen spuckten hinein.
Rudi stand neben Liesel.
»Sieht so aus, als müsste hier wieder einmal gedüngt werden.«
Die nächsten Wochen blieb Molching vor Luftangriffen verschont, und es kehrte wieder Normalität ein; jedenfalls beinahe. Allerdings waren zwei bedeutsame Ereignisse bereits unterwegs.
ZWEIERLEI IM OKTOBER
Die Hände von Frau Holzinger. Der Marsch der Juden.
Ihre Falten streckten sich vor Verleumdung. Ihre Stimme war mit einem harten Knüppel vergleichbar.
Es war ein Glück, dass sie Frau Holzinger vom Wohnzimmerfenster aus kommen sahen, denn ihre Knöchel auf der Haustür waren hart und entschlossen. Sie meinten es ernst.
Liesel vernahm die Worte, die sie befürchtet hatte.
»Geh, und mach auf«, sagte Mama, und Liesel, die wusste, was gut für sie war, tat wie befohlen.
»Ist deine Mama zu Hause?«, wollte Frau Holzinger wissen. Errichtet aus fünfzig Jahre altem Drahtgeflecht, so stand sie auf der Eingangstreppe, schaute sich ständig um und ließ ihre Augen über die Straße huschen. »Ist deine Mutter, diese Kuh, nun da oder nicht?«
Liesel drehte sich um und rief nach Rosa.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - FÜNFTER EINTRAG
Gelegenheit, geeigneter Augenblick, günstige Umstände für die Ausführung von etwas, eines Plans, Vorhabens. Synonyme: Chance, Möglichkeit.
Rosa stand schon hinter ihr. »Was willst du denn hier? Willst du jetzt auch noch auf meinen Küchenboden spucken?«
Frau Holzinger ließ sich nicht im Mindesten beirren. »Begrüßt du so jeden, der an deine Tür klopft? Was für ein G'sindel!«
Liesel schaute zu. Unglücklicherweise stand sie genau zwischen den beiden Frauen. Rosa zog sie aus dem Weg. »Also, sagst du mir jetzt, was du willst, oder nicht?«
Frau Holzinger schaute wieder auf die Straße und sagte dann zu Rosa: »Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Mama verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ach, tatsächlich?«
»Nein, nicht dir.« Sie ließ Rosa mit Verachtung in der Stimme links liegen und schaute Liesel an. »Dir.«
»Warum wolltest du dann mich sprechen?«
»Na, ich brauche doch wenigstens deine Erlaubnis.«
Oh, Maria, Heilige Muttergottes, dachte Liesel. Das hat mir noch gefehlt. Was zum Donner kann sie nur von mir wollen?
»Das Buch, das du im Luftschutzraum gelesen hast, hat mir gefallen.«
Nein. Das kriegst du nicht.
Liesel war zu allem entschlossen.
»Ja?«
»Ich habe eigentlich gehofft, dass ich den Rest beim nächsten Mal im Keller zu hören bekäme, aber es sieht so aus, als würde man uns in Ruhe lassen.« Sie rollte mit den Schultern und reckte den Draht in ihrem Rücken. »Also möchte ich, dass du zu mir kommst und mir vorliest.«
»Du hast vielleicht Nerven, Holzinger.« Rosa überlegte noch, ob sie wütend werden sollte oder nicht. »Wenn du glaubst, dass ...«
»Dann spucke ich auch nicht mehr gegen eure Tür«, unterbrach Frau Holzinger sie. »Und ich gebe euch meine Kaffee-Rationen.«
Rosa beschloss, nicht wütend zu werden. »Und auch etwas Mehl?«
»Was - bist du unter die Juden gegangen? Nur den Kaffee. Du kannst ihn ja gegen Mehl eintauschen.«
Es war entschieden.
Ohne das Mädchen.
»Also gut, dann ist es abgemacht.«
»Mama?«
»Ruhe, Saumensch. Geh, und hol das Buch.« Mama wandte sich wieder zu Frau Holzinger. »An welchen Tagen passt es denn?«
»Montags und freitags, vier Uhr nachmittags. Und heute, gleich jetzt.«
Liesel folgte den soldatischen Schritten zu Frau Holzingers Haus nebenan, das ein Spiegelbild der Hubermann'sehen Behausung war. Vielleicht etwas größer.
Sie setzte sich an den Küchentisch, und Frau Holzinger nahm ihr gegenüber Platz. »Lies«, sagte sie.
»Kapitel zwei?«
»Nein, Kapitel acht. Natürlich Kapitel zwei! Jetzt fang schon an, bevor ich dich rauswerfe.« »Ja, Frau Holzinger.«
»Und hör auf mit >Ja, Frau Holzinger<. Mach endlich das Buch auf. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Du lieber Gott, dachte Liesel. Das ist meine Strafe für das Stehlen. Jetzt hat sie mich schließlich doch noch ereilt.
Sie las eine Dreiviertelstunde lang, und als das Kapitel beendet war, schob sich eine Tüte mit Kaffee auf den Tisch.
»Danke«, sagte die Frau. »Es ist eine gute Geschichte.« Sie drehte sich zum Herd um und setzte Kartoffeln auf. Ohne sich umzublicken, sagte sie: »Bist du immer noch da?«
Liesel verstand dies als Aufforderung, sich zu entfernen. »Danke schön, Frau Holzinger.« An der Tür sah sie die gerahmten Fotos von zwei jungen Männern in Uniform und warf ein »Heil Hitler« hinterher, wobei sie den Arm in Richtung Küche hob.
»Ja.« Frau Holzinger war stolz und furchtsam. Zwei Söhne in Russland. »Heil Hitler.« Sie brachte das Wasser zum Kochen und raffte sich sogar auf, Liesel ein paar Schritte in Richtung Tür zu begleiten. »Bis morgen?«
Der nächste Tag war ein Freitag. »Ja, Frau Holzinger. Bis morgen.«
Liesel rechnete später aus, dass sie noch vier Mal zu Frau Holzinger ging und ihr vorlas, bis die Juden durch Molching getrieben wurden.
Sie gingen nach Dachau, um sich zu konzentrieren.
Das macht zwei Wochen, schrieb sie später im Keller. Zwei Wochen, um die Welt zu verändern, und vierzehn Tage, um sie zu ruinieren.
der lange marsch nach dachau
Manche Leute behaupten, dass der Lastwagen eine Panne hatte, aber ich kann euch versichern, dass das nicht stimmt. Ich war dabei.
In Wirklichkeit war es ein Meereshimmel mit weißer Wolkengischt.
Und in Wirklichkeit gab es auch mehr als ein Fahrzeug. Drei Lastwagen haben nicht alle gleichzeitig eine Panne.
Als die Soldaten anhielten, um Essen und Zigaretten miteinander zu teilen und die Gepäckstücke der Juden zu durchwühlen, brach einer der Gefangenen halb verhungert und krank zusammen. Ich habe keine Ahnung, woher der Transport kam, aber es waren noch gut sechs Kilometer bis Molching und noch viel mehr Schritte bis zum Konzentrationslager in Dachau.
Ich kletterte durch die Windschutzscheibe des Lastwagens, fand den verstorbenen Mann und sprang hinten wieder heraus. Seine Seele war hager. Sein Bart war verknotet und verworren.
Meine Füße landeten geräuschvoll auf dem Kies, aber weder die Soldaten noch die Gefangenen hörten einen Laut. Doch sie alle konnten mich riechen.
Mein Gedächtnis sagt mir, dass es hinten in dem Lastwagen vor Wünschen nur so wimmelte. Innere Stimmen riefen mir zu.
Warum er und nicht ich?
Gott sei Dank, dass ich es nicht bin!
Die Soldaten andererseits waren mit einer anderen Frage beschäftigt. Der kommandierende Offizier trat seine Zigarette aus und fragte die anderen mit rauchgeschwängerter Stimme: »Wann waren diese Ratten das letzte Mal an der frischen Luft?«
Sein Leutnant würgte ein Husten ab. »Sie hätten es mal wieder nötig.«
»Na, wie wäre es? Wir haben doch Zeit, oder nicht?«
»Wir haben immer Zeit, Herr Kommandant.«
»Und es ist herrliches Wetter für eine Parade, findet ihr nicht auch?«
»Stimmt, Herr Kommandant.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Liesel spielte Fußball auf der Himmelstraße, als sie der Lärm erreichte. Zwei Jungen rangelten im Mittelfeld um den Ballbesitz. Dann hörte alles auf. Sogar Tommi Müller konnte es hören. »Was ist denn das?«, fragte er, im Tor stehend.
Alle wandten sich in die Richtung, aus der sich das Geräusch von schlurfenden Füßen und militärischen Stimmen näherte.
»Ist das eine Herde Rinder?«, wunderte sich Rudi. »Das kann doch nicht sein. So hört sich das nicht an, oder?«
Langsam gingen die Kinder auf das Geräusch zu, wie magisch davon angezogen. Sie kamen bei Frau Lindners Laden vorbei. Von Zeit zu Zeit erhoben sich die Stimmen zu Gebrüll.
In einer Wohnung im Obergeschoss eines Hauses an der Ecke zur Münchener Straße stand eine alte Dame am Fenster und verkündete mit unheilschwangerer Stimme den Ursprung des Aufruhrs.
Hoch oben am Fenster sah ihr Gesicht aus wie eine weiße Fahne, mit feuchten Augen und offenem Mund. Ihre Stimme wollte sich das Leben nehmen, schien mit einem Klappern vor Liesels Füßen zu landen.
Sie hatte graue Haare.
Ihre Augen waren dunkelblau. »Die Juden«, sagte sie. »Die Juden.«
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - SECHSTER EINTRAG
Leid: a) tiefer seelischer Schmerz als Folge erfahrenen Unglücks. Synonyme: Gram, Jammer, Kummer, Pein, Qual, Schmerz, Unglück, b) Unrecht, Böses, das jemandem zugefügt wird. Synonyme: Unglück, Unrecht.
Noch mehr Menschen tauchten auf der Straße auf, über die die Ansammlung von Juden und anderen Verurteilten bereits geschoben wurde. Die Vernichtungslager mochten ein Geheimnis sein, aber manchmal wurde den Menschen der Ruhm der Konzentrationslager wie Dachau vor Augen geführt.
In weiter Ferne, auf der anderen Seite, erblickte Liesel einen Mann mit einem Karren voller Farbeimer. Unbehaglich strich er sich mit der Hand durchs Haar.
»Dahinten«, sagte sie zu Rudi und streckte die Hand aus. »Mein Papa.«
Beide überquerten die Straße, und Hans Hubermann machte zuerst Anstalten, sie wegzuschicken. »Liesel«, sage er. »Vielleicht solltest du...«
Aber er merkte, dass das Mädchen zum Bleiben entschlossen war, und vielleicht war dies etwas, was sie sehen musste. In der leichten Herbstbrise stellte er sich neben sie. Er sagte nichts.
Sie standen auf der Münchener Straße und schauten. Andere kamen zu ihnen und schoben sich vor sie.
Sie sahen zu, wie die Juden die Straße entlangkamen, wie eine Palette aus Farben. So hat sie die Bücherdiebin zwar nicht beschrieben, aber glaubt mir, genau das waren sie, denn viele von ihnen würden sterben. Sie würden mich begrüßen als ihren letzten wahren Freund, mit Knochen aus Rauch und Seelen, die hinter ihnen baumelten.
Als sie angekommen waren, pochten ihre Füße auf der Straße. Ihre Augen waren riesig groß in ihren ausgezehrten Schädeln. Und der Dreck. Der Dreck war an ihnen festgebacken. Ihre Beine taumelten; ihre Körper wurden von Soldatenhänden gestoßen - ein paar ziellose, erzwungene Laufschritte, dann fielen sie wieder in ihr unterernährtes Schlurfen.
Hans sah sie über die Köpfe des versammelten Publikums an. Ich bin mir sicher, dass seine Augen silbern und angespannt waren. Liesel schaute durch die Lücken oder über die Schultern hinweg.
Die leidenden Gesichter der entleerten Männer und Frauen reckten sich ihnen entgegen, flehten: nicht um Hilfe - das hatten sie hinter sich gelassen -, sondern um eine Erklärung. Um irgendetwas, das diese Verwirrung begreifbar machen konnte.
Ihre Füße hoben sich kaum von der Erde.
Davidssterne waren an ihre Kleidung geheftet, und die Qual hing an ihnen wie ein Etikett. »Vergesst euer Leid nicht...« In einigen Fällen wurden sie davon überwuchert wie von Weinranken.
Auch die Soldaten passierten die Zuschauer, befahlen den Gefangenen, sich zu beeilen und mit dem Jammern aufzuhören. Einige der Soldaten waren noch fast Jungen. Der Führer leuchtete in ihren Augen.
Während sie all das betrachtete, gab es für Liesel keinen Zweifel daran, dass dies die ärmsten Seelen der Welt waren. Das ist es, was sie über dieses Erlebnis schrieb. Ihre verhärmten Gesichter waren vor Elend in die Länge gestreckt. Hunger nagte an ihnen, und sie schleppten sich vorwärts, wobei etliche die Augen zu Boden gerichtet hatten, um nicht die Menschen ansehen zu müssen, die die Straße flankierten. Nur wenige sahen flehend jene an, die gekommen waren, um ihre Erniedrigung, dieses Vorspiel ihres Todes, mit anzusehen. Andere baten darum, dass jemand, irgendjemand, vortrete und sie in die Arme nehme.
Niemand tat es.
Egal ob sie diese Parade mit Stolz betrachteten, mit zitternden Herzen oder voller Scham, niemand trat vor und tat etwas. Noch nicht.
Von Zeit zu Zeit fiel der Blick eines Mannes oder einer Frau - nein, sie waren keine Männer und Frauen, sie waren Juden - auf Liesels Gesicht in der Menge. Sie begegneten ihr voller Niederlage, und die Bücherdiebin konnte den Blick in diesem langen, unüberwindbaren Moment nur erwidern, bis sie vorbeigegangen waren. Liesel konnte nur hoffen, dass sie in ihren Augen ihre tiefe Trauer erkennen konnten, dass sie wussten, wie wahrhaftig und dauerhaft diese Trauer war.
Ich habe einen von euch bei mir im Keller!, wollte sie sagen. Wir haben zusammen einen Schneemann gebaut! Ich habe ihm dreizehn Geschenke gebracht, als er krank war!
Doch Liesel sagte nichts dergleichen.
Was hätte es genutzt?
Sie verstand, dass sie für diese Menschen vollkommen wertlos war. Sie konnten nicht gerettet werden, und in wenigen Minuten sollte sie erleben, was mit jenen geschah, die versuchten, ihnen zu helfen.
In einer kleinen Lücke in der Prozession ging ein Mann, der älter war als die anderen. Er trug einen Bart und zerrissene Kleidung.
Seine Augen hatten die Farbe von Todesqualen, und so wenig Gewicht er auch zu schleppen hatte, so war er doch zu schwer für seine Beine.
Mehrmals fiel er hin.
Die Seite seines Gesichts wurde flach auf den Asphalt gepresst.
Jedes Mal stand ein Soldat über ihm. »Steh auf!«, schrie er hinab.
Der Mann erhob sich auf die Knie und kämpfte sich hoch. Er ging weiter.
Jedes Mal, wenn er wieder zu seiner Reihe aufgeschlossen war, verlor er schon bald wieder an Fahrt und fiel ein weiteres Mal nieder. Hinter ihm kamen noch mehr - eine ganze Wagenladung voll -, und sie drohten ihn niederzutrampeln.
Der Schmerz in seinen Armen, als sie versuchten, seinen Körper hochzustemmen, war unerträglich. Sie gaben noch ein Mal unter ihm nach, ehe er sich aufrichten konnte und ein weiteres Häuflein Schritte unternahm.
Er war tot.
Der Mann war tot.
Gebt ihm noch fünf Minuten, und er würde in einen deutschen Rinnstein fallen und sterben. Sie würden es zulassen, und sie würden dabei zusehen.
Dann, ein Mensch. Hans Hubermann.
Es geschah so schnell.
Die Hand, die ihre so fest gehalten hatte, löste sich, als der Mann sich zu ihnen kämpfte. Sie fühlte ihre Handfläche auf die Hüfte klatschen.
Papa griff in seinen Karren und holte etwas heraus. Er bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer auf die Straße.
Der Jude stand vor ihm und erwartete eine weitere Handvoll Spott, aber er und alle anderen auch sahen, dass Hans Hubermann die Hand ausstreckte und ihm ein Stück Brot darbot. Ein Wunder.
Das Brot wurde von einer Hand zur anderen gereicht, und dann sank der Jude nieder. Er fiel auf die Knie und umklammerte Papas Schienbeine. Er vergrub das Gesicht zwischen ihnen und dankte ihm.
Liesel schaute zu.
Mit Tränen in den Augen sah sie, wie der Mann weiter nach unten rutschte und Papa dabei zurückschob, um nun in seine Fußgelenke zu weinen.
Andere Juden gingen vorbei; manche schauten auf dieses kleine, vergebliche Wunder. Sie strömten vorbei wie menschliches Wasser. An diesem Tag würden ein paar den Ozean erreichen. Eine weiße Krone erwartete sie dort.
Ein Soldat watete durch die Menschen und hatte schon bald den Ort des Vergehens erreicht. Er betrachtete den knienden Mann und Papa und schaute dann die Menge an. Nach einer kurzen Überlegung nahm er die Peitsche von seinem Gürtel und fing an.
Der Jude wurde sechs Mal gepeitscht. Auf den Rücken, auf den Kopf und auf die Beine. »Du Abschaum! Du Schwein!« Blut rann ihm aus dem Ohr.
Dann war Papa an der Reihe.
Eine Hand hielt Liesel fest, und als sie voller Schrecken neben sich blickte, stand da Rudi Steiner und schluckte, während vor ihnen auf der Straße Hans Hubermann ausgepeitscht wurde. Das Geräusch verursachte ihr Übelkeit, und sie hatte Angst, dass auf dem Körper ihres Papas Risse aufplatzen würden. Er bekam vier Hiebe, dann ging auch er zu Boden.
Als der ältere Jude ein letztes Mal aufstand und sich weiterschleppte, schaute er noch einmal kurz zurück. Er warf einen letzten, traurigen Blick auf den Mann, der jetzt selbst auf der Straße lag, auf dessen Rücken vier Feuerlinien brannten, dessen Knie sich schmerzhaft in den Asphalt bohrten. Aber wenigstens würde der alte Mann sterben wie ein Mensch. Oder zumindest mit dem Gedanken, dass er ein Mensch war.
Was ich darüber denke?
Ich bin mir nicht sicher, ob das gut war.
Als Liesel und Rudi sich zu Hans durchgekämpft hatten und ihm auf die Beine halfen, waren sie in Stimmen gebadet. In Worte und Sonnenlicht. So blieb es Liesel im Gedächtnis. Das Licht funkelte auf der Straße, und die Worte brachen sich wie Wellen an ihrem Rücken. Erst als die drei weggehen wollten, bemerkten sie das Stück Brot, das verschmäht auf der Straße lag.
Rudi wollte es aufheben, aber ein vorbeigehender Jude riss es ihm aus der Hand, und zwei andere balgten sich mit ihm darum, während sie ihren Weg nach Dachau fortsetzten.
Da liefen silbrige Augen über.
Ein Karren wurde umgeworfen, und Farbe floss auf die Straße. Man nannte ihn einen Judenfreund.
Andere schwiegen und halfen, ihn in Sicherheit zu bringen.
Hans Hubermann hatte sich vorgebeugt und die Arme ausgestreckt. Mit den Händen stützte er sich an eine Hauswand. Er war mit einem Mal überwältigt von dem, was gerade geschehen war.
Ein Bild tauchte auf, schnell und glühend.
Himmelstraße 33 - der Keller.
Panik verfing sich zwischen seinen rasselnden Atemzügen. Jetzt werden sie kommen. Jetzt werden sie kommen. O Herr Jesus, o Herr Jesus.
Er schaute das Mädchen an und schloss die Augen.
»Bist du verletzt, Papa?«
Als Antwort kam eine Gegenfrage.
»Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Fest presste er die Augenlider zu und öffnete sie wieder. Sein Arbeitskittel war zerknittert. Überall an seinen Händen waren Farbe und Blut. Und Brotkrumen. Aber ganz anders als das Brot des Sommers. »O mein Gott, Liesel, was habe ich getan?«
Ja.
Ich kann es nicht leugnen.
Was hatte Papa getan?
friede
Kurz nach elf Uhr in derselben Nacht ging Max Vandenburg durch die Himmelstraße, mit einem Koffer voller warmer Kleider und Lebensmittel.
Deutsche Luft hing in seinen Lungen.
Die gelben Sterne glühten, als würden sie brennen.
Als er Frau Lindners Eckladen erreichte, blickte er sich ein letztes Mal zur Nummer 33 um. Er konnte die Gestalt nicht sehen, die hinter dem Küchenfenster stand, aber sie sah ihn. Sie winkte, und er winkte nicht zurück.
Liesel fühlte noch seine Lippen auf ihrer Stirn. Sie roch noch seinen Abschiedsatem.
»Ich habe etwas für dich dagelassen«, sagte er, »aber du wirst es erst bekommen, wenn du bereit dafür bist.«
Er ging.
»Max?«
Er kam nicht zurück.
Er war aus ihrem Zimmer gegangen und hatte leise die Tür geschlossen. Im Flur murmelte es. Er war weg.
Als sie in die Küche kam, standen Mama und Papa mit krummen Körpern und eingefrorenen Gesichtern. So standen sie schon dreißig Sekunden der Ewigkeit da.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - SIEBTER EINTRAG
Stille: Zustand, bei dem kein Laut zu hören ist. Synonyme: Friede, Ruhe, Schweigen.
Wie vollkommen. Friede.
Irgendwo in der Nähe von München lief ein deutscher Jude durch die Dunkelheit. Vier Tage später war er mit Hans Hubermann verabredet (falls man diesen nicht abholte). Als Treffpunkt war eine Stelle an der Amper ausgemacht worden, dort wo eine zerbrochene Brücke zwischen Fluss und Bäumen lehnte.
Er würde dorthin gehen, aber er würde nur ein paar Minuten bleiben.
Alles, was Papa vier Tage später dort vorfand, war ein Zettel unter einem Stein, am Fuß eines Baums. Er war nicht adressiert und enthielt lediglich einen einzigen Satz.
DIE LETZTEN WORTE VON MAX VANDENBURG
Ihr habt genug getan.
Noch mehr als früher war die Himmelstraße 33 nun ein Ort der Stille, und es blieb nicht unbemerkt, dass das Duden Bedeutungswörterbuch sich gründlich irrte, was die Definition des Wortes und besonders die verwandten Wörter betraf.
Stille mochte zwar Schweigen sein, aber keine Ruhe und ganz sicher kein Friede.
der idiot und die mantelmänner
In der Nacht nach dem Marsch der Juden saß der Idiot in der Küche, trank bittere Schlucke von Frau Holzingers Kaffee und sehnte sich nach einer Zigarette. Er wartete auf die Gestapo, die Soldaten, die Polizei - auf irgendjemanden, der ihn abholen würde, so wie er es zu verdienen glaubte. Rosa befahl ihm, zu Bett zu kommen. Das Mädchen lungerte im Türrahmen herum. Er schickte sie beide weg und verbrachte die Stunden bis zum Morgen mit dem Kopf in den Händen. Wartend.
Niemand kam.
Jede Zeitspanne brachte die Erwartung der Klopfgeräusche und der drohenden Worte mit sich.
Aber sie kamen nicht.
Das einzige Geräusch machte er selbst.
»Was habe ich getan?«, fragte er wieder, flüsternd.
»Lieber Gott, was gäbe ich nicht für eine Zigarette«, antwortete er sich selbst. Er war völlig erledigt.
Liesel hörte die sich wiederholenden Sätze, mehrere Male, und es kostete sie viel Überwindung, im Türrahmen stehen zu bleiben. Sie hätte ihn so gern getröstet, aber sie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so am Boden zerstört war. In dieser Nacht gab es keinen Trost. Max war weg, und Hans Hubermann trug die Verantwortung dafür.
Die Küchenschränke hatten die Form von Schuld, und in seinen Handflächen klebte ölig die Erinnerung an das, was er getan hatte. Sie müssen ja schwitzig sein, dachte Liesel, wenn meine eigenen schon bis zu den Handgelenken nass sind.
Zurück in ihrem Zimmer betete sie.
Hände, Knie, Unterarme gegen die Matratze gelehnt.
»Bitte, Gott, lass Max überleben. Bitte, Gott, bitte...«
Ihre leidenden Knie.
Ihre schmerzenden Füße.
Mit dem ersten Licht des Tages wachte sie auf und ging wieder in die Küche. Papa schlief mit dem Kopf auf der Tischplatte. In einem Mundwinkel hatte sich etwas Speichel angesammelt. Der Geruch nach Kaffee war überwältigend, und das Bild von Hans Hubermanns dummer Freundlichkeit hing immer noch in der Luft. Es war wie eine Zahl oder eine Adresse. Wenn man sie ein paar Mal wiederholt, bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf.
Ihr erster Versuch, ihn zu wecken, blieb ungespürt, aber als sie ein zweites Mal an seiner Schulter rüttelte, schoss sein Kopf erschrocken in die Höhe.
»Sind sie da?«
»Nein, Papa, ich bin's nur.«
Er trank den abgestandenen Kaffee aus. Sein Adamsapfel hob und senkte sich. »Sie hätten schon längst hier sein sollen. Warum sind sie noch nicht da, Liesel?«
Es war eine Beleidigung.
Sie hätten kommen und das Haus auf den Kopf stellen sollen, hätten nach Beweisen für seine Judenfreundlichkeit oder seine verräterischen Absichten suchen sollen, aber es sah ganz so aus, als wäre Max völlig umsonst gegangen. Er könnte jetzt schlafend im Keller liegen oder an seinem Skizzenbuch arbeiten.
»Du konntest nicht wissen, dass sie nicht kommen würden, Papa.«
»Ich hätte wissen müssen, dass ich dem Mann kein Brot geben durfte. Ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Papa, du hast nichts falsch gemacht.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Er stand auf und ging zur Küchentür hinaus, ließ sie einen Spalt offen. Zu allem Überfluss war es ein herrlicher Morgen.
Nachdem vier Tage vergangen waren, ging Papa an der Amper entlang. Er ging eine lange Strecke. Als er zurückkam, brachte er einen kleinen Zettel mit und legte ihn auf den Küchentisch.
Eine weitere Woche verging, und immer noch wartete Hans Hubermann auf seine Bestrafung. Die Striemen auf seinem Rücken vernarbten, und er verbrachte viel Zeit damit, durch Molching zu laufen. Frau Lindner spuckte ihm vor die Füße. Frau Holzinger hielt ihr Versprechen und spuckte die Tür der Hubermanns nicht mehr an. Frau Lindner war ein würdiger Ersatz. »Ich wusste es«, verhöhnte ihn die Frau, »Sie dreckiger Judenfreund.«
Unbeteiligt ging er weiter. Oft fand Liesel ihn an der Amper, auf der Brücke. Seine Arme lagen auf dem Geländer, und er beugte seinen Oberkörper darüber hinweg. Kinder auf Fahrrädern sausten an ihm vorbei, oder sie rannten mit lauten Stimmen über das Holz. Nichts von alledem berührte ihn auch nur im Mindesten.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - ACHTER EINTRAG
Trauer, seelischer Schmerz über ein Unglück oder einen Verlust. Synonyme: Schwermut, Wehmut.
»Siehst du ihn?«, fragte er Liesel eines Nachmittags, als sie neben ihm stand und sich ebenfalls über das Geländer beugte. »Da unten im Wasser.«
Der Fluss strömte nicht besonders schnell. In den langsam rollenden Wellen sah Liesel die Kontur von Max Vandenburgs Gesicht, sah sein fedriges Haar und den Rest von ihm. »Er hat in unserem Keller gegen den Führer geboxt.«
»Jesus, Maria und Josef.« Papas Hände krampften sich um das Geländer. »Ich bin so ein Idiot.«
Nein, Papa.
Du bist nur ein Mensch.
Die Worte fielen ihr über ein Jahr später ein, als sie im Keller schrieb. Sie wünschte, sie hätte sie damals schon gehabt.
»Ich bin dumm«, sagte Hans Hubermann zu seiner Pflegetochter. »Und ich bin freundlich. Was mich zum größten Idioten der ganzen Welt macht. Die Sache ist die: Ich will, dass sie mich holen kommen. Alles ist besser als diese Warterei.«
Hans Hubermann brauchte eine Rechtfertigung. Er musste Gewissheit haben, dass Max Vandenburg sein Haus aus gutem Grund verlassen hatte.
Endlich, nach drei Wochen des Wartens, glaubte er seinen Moment gekommen.
Es war spät.
Liesel kehrte von Frau Holzinger zurück, als sie zwei Männer in langen schwarzen Mänteln sah. Sie rannte ins Haus.
»Papa! Papa!« Sie hätte beinahe den Küchentisch umgeworfen. »Papa, sie sind hier!«
Mama kam zuerst. »Was soll dieses Geschrei, Saumensch? Wer ist hier?«
»Die Gestapo.«
»Hansi!«
Er war schon da, und er ging vor das Haus, um sie zu begrüßen. Liesel wollte mitkommen, aber Rosa hielt sie zurück, und die beiden schauten durchs Fenster zu.
Papa stand abmarschbereit am Tor. Er war ganz zappelig.
Mama packte Liesel am Arm.
Die Männer gingen vorbei.
Papa schaute erschrocken zum Fenster, wo Liesel und Rosa Hubermann standen. Dann ging er zum Tor hinaus. Er rief ihnen nach: »He! Hier bin ich! Sie suchen doch mich! Ich wohne hier!«
Die Mantelmänner blieben einen Moment lang stehen und schauten in ihren Notizbüchern nach. »Nein, nein«, sagten sie zu Hans. Ihre Stimmen waren tief und wuchtig. »Sie sind ein bisschen zu alt für unsere Zwecke.«
Sie gingen weiter, aber nicht sehr weit. Vor Haus Nummer 35 blieben sie kurz stehen und traten dann durch das Tor.
»Frau Steiner?«, fragten sie, als ihnen die Tür geöffnet wurde.
»Ja?«
»Wir möchten gerne mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit sprechen.«
Die Mantelmänner standen wie bekleidete Steinsäulen auf der Schwelle zu Steiners kleinem Häuschen.
Aus irgendeinem Grund fragten sie nach dem Jungen. Die Mantelmänner waren wegen Rudi gekommen.
TEIL 8
DIE WORTESCHÜTTLERIN
Es wirken mit:
Dominos und Dunkelheit - die Überlegung, wie Rudi nackt aussieht - Strafe - die Frau eines Mannes, der sein Versprechen hält - ein Sammler - die Brotesser - eine Kerze in den Bäumen - ein verstecktes Skizzenbuch - und die Anzugsammlung des Anarchisten
dominos und dunkelheit
Mit den Worten von Rudis jüngster Schwester gesprochen: Da saßen zwei Ungeheuer in der Küche. Ihre Stimmen kneteten systematisch die Tür, auf deren anderer Seite drei der Steiner-Kinder Domino spielten. Die anderen drei saßen ahnungslos im Schlafzimmer und hörten Radio. Rudi hoffte, dass das alles nichts mit der Sache zu tun hatte, die letzte Woche in der Schule passiert war. Es war etwas, das er Liesel nicht hatte erzählen wollen und worüber er auch zu Hause nicht sprach.
EIN GRAUER NACHMITTAG IN EINEM KLEINEN SCHULBÜRO *9
Drei Jungen standen in einer Reihe. Ihre Akten und ihre Körper wurden gründlich gemustert.
Nach dem vierten Dominospiel stellte Rudi die Steine in Reihen auf, erschuf Muster, die sich quer durchs Wohnzimmer zogen. Wie immer ließ er hier und da ein paar Lücken frei, für den Fall, dass eines seiner Geschwister seinen vorwitzigen Finger dazwischensteckte, wie es gewöhnlich geschah.
»Darf ich sie umwerfen, Rudi?«
»Nein.«
»Und ich?«
»Nein. Wir machen es zusammen.«
Er baute drei getrennte Reihen, die alle zu dem Turm aus Dominosteinen in der Mitte führten. Zusammen konnten sie dann zuschauen, wie alles, was sie so sorgfältig aufgerichtet hatten, zusammenbrach, und alle würden lächeln angesichts der Schönheit dieser Zerstörung.
Die Stimmen in der Küche wurden jetzt lauter. Eine fuhr über die andere, um sich Gehör zu verschaffen. Sätze kämpften um Aufmerksamkeit, bis eine Person, die bislang geschwiegen hatte, sich dazwischenschob.
»Nein«, sagte sie. Und noch einmal: »Nein.« Und obwohl die anderen mit dem Streit fortfuhren, wurden sie erneut von derselben Stimme zum Schweigen gebracht. »Bitte«, flehte Barbara Steiner sie an. »Nicht mein Junge.«
»Dürfen wir eine Kerze anzünden, Rudi?«
So hatte es ihr Vater oft mit ihnen gemacht. Er schaltete das Licht aus, und im Kerzenschein schauten sie zu, wie die Dominosteine umfielen. Das verlieh dem Ereignis eine gewisse Erhabenheit.
Rudis Beine schmerzten ihn ohnehin. »Ich gehe ein Streichholz holen.«
Der Lichtschalter befand sich neben der Tür.
Leise ging er mit der Streichholzschachtel in der einen und der Kerze in der anderen Hand darauf zu.
Von der anderen Seite der Tür erklommen die Stimmen der drei Männer und der Frau die Scharniere. »Die besten Noten der Klasse«, sagte eines der Ungeheuer. Eine solche Tiefe und Trockenheit. »Von seinen sportlichen Leistungen gar nicht zu reden.« Verdammt nochmal, warum musste er auch die ganzen Rennen beim Sportfest gewinnen?
Deutscher.
Verdammt sollte dieser Deutscher sein. Aber dann begriff er.
Das war nicht Franz Deutschers Schuld, sondern seine eigene. Er hatte seinem einstigen Quälgeist beweisen wollen, wozu er fähig war, aber er hatte es auch allen anderen beweisen wollen. Und jetzt waren die anderen in der Küche.
Er zündete die Kerze an und schaltete das Licht aus.
»Fertig?«
»Aber ich weiß doch, wie es da zugeht.« Das war die unverwechselbare, hölzerne Stimme seines Vaters.
»Mach schon, Rudi, beeil dich.«
»Ja, aber verstehen Sie doch, Herr Steiner, dies alles dient einem höheren Zweck. Denken Sie nur einmal an die Möglichkeiten, die sich Ihrem Sohn eröffnen. Das ist ein wirkliches Privileg.«
»Rudi, die Kerze tropft schon.«
Er scheuchte sie weg und wartete wieder auf Alex Steiner. Er kam.
»Privileg? Zum Beispiel barfuß durch den Schnee rennen? Oder von einem Zehn-Meter-Sprungbrett in einen Meter tiefes Wasser springen?«
Rudis Ohr lag nun fest an der Tür. Kerzenwachs schmolz auf seine Hand.
»Gerüchte.« Die trockene, dürre Stimme, tief und sachlich, hielt eine Antwort auf alles bereit. »Unsere Schule ist eine der besten, die es je gab. Nein, sie ist die beste. Wir formen eine deutsche Elite, im Namen des Führers...«
Rudi konnte nicht länger zuhören.
Er kratzte sich das Kerzenwachs von der Hand und zog sich von dem Splitter aus Licht zurück, der durch einen Spalt in der Tür fiel. Als er sich hinsetzte, ging die Flamme aus. Er hatte sich zu heftig bewegt. Dunkelheit strömte herein. Das einzige Licht, das zur Verfügung stand, war eine weiße, rechteckige Schablone in Form der Küchentür.
Er strich ein weiteres Streichholz an und entzündete die Kerze erneut. Der süße Duft von Feuer und Kohle.
Rudi und seine Schwestern tippten ihre Dominosteine an und schauten zu, wie sie kippten, bis der Turm in der Mitte in sich zusammenfiel. Die Mädchen jubelten.
Kurt, der ältere Bruder, betrat den Raum.
»Sie sehen aus wie Leichen«, sagte er.
»Was?«
Rudi schaute hoch in das dunkle Gesicht, aber Kurt gab keine Antwort. Er hatte den Streit in der Küche bemerkt. »Was ist da drin los?«
Eins der Mädchen antwortete. Die Jüngste, Bettina. Sie war fünf. »Da sind zwei Ungeheuer«, sagte sie. »Sie sind wegen Rudi gekommen.«
Wieder einmal das Menschenkind. So viel schlauer.
Später, als die Mantelmänner gegangen waren, nahmen die beiden Jungen - der eine siebzehn, der andere vierzehn - all ihren Mut zusammen und gingen in die Küche.
Im Türrahmen blieben sie stehen. Das Licht plagte ihre Augen.
Kurt sprach. »Nehmen sie ihn mit?«
Die Unterarme der Mutter lagen flach auf dem Tisch. Ihre Handflächen wiesen nach oben. Alex Steiner hob den Kopf. Er war schwer.
Sein Ausdruck war scharf und klar umrissen, wie frisch gemeißelt.
Eine hölzerne Hand wischte die Splitter aus seinen Haaren, und er setzte mehrmals zum Sprechen an.
»Papa?«
Aber Rudi ging nicht zu seinem Vater.
Er setzte sich an den Küchentisch und nahm die himmelwärts gerichteten Hände seiner Mutter.
Alex und Barbara Steiner verrieten nicht, worüber in der Küche gesprochen wurde, während im Wohnzimmer die Dominosteine fielen wie Leichen. Wenn Rudi bloß noch ein paar Minuten länger an der Tür gelauscht hätte ...
In den folgenden Wochen redete er sich ein - oder besser gesagt: er flehte sich selbst an -, dass er, wenn er den Rest des Gesprächs an jenem Abend gehört hätte, viel früher in die Küche gegangen wäre. »Ich werde gehen«, hätte er gesagt. »Bitte, nehmen Sie mich mit. Ich bin bereit.«
Wenn er sich eingemischt hätte, hätte er alles verändern können.
DREI MÖGLICHKEITEN
1. Alex Steiner hätte nicht die gleiche Strafe ereilt wie Hans Hubermann.
2. Rudi hätte Molching verlassen und wäre in eine andere Schule gegangen.
3. Und vielleicht, nur vielleicht, hätte er überlebt.
Aber die Grausamkeit des Schicksals gestattete es Rudi Steiner nicht, im richtigen Moment die Küche zu betreten.
Er hatte sich seinen Schwestern und den Dominosteinen zugewandt. Er setzte sich.
Rudi Steiner ging nirgends hin.
die überlegung, wie rudi nackt aussieht
Da war eine Frau gewesen.
Sie hatte in der Ecke gestanden.
Sie hatte den dicksten Zopf, den er je gesehen hatte. Er seilte sich über ihren Rücken ab, und gelegentlich, wenn sie ihn über die Schulter nach vorne legte, hing er wie ein überfüttertes Tier zwischen ihren kolossalen Brüsten. Alles an ihr schien überdimensional. Ihre Lippen, ihre Beine. Ihre gepflasterten Zähne. Sie hatte eine große, unverblümte Stimme. Keine Zeit zu verlieren. »Komm«, befahl sie ihm. »Stell dich hier hin.«
Verglichen mit ihr, war der Arzt ein kahl werdendes Nagetier. Er war klein und behände und hastete in dem Büro mit scheinbar besessenen und doch gezielten Bewegungen herum. Und er war erkältet.
Es war schwer zu sagen, welcher der drei Jungen sich am zögerlichsten seiner Kleidung entledigte, als man es ihnen befahl. Der erste schaute von einem zum anderen, von dem ältlichen Lehrer zu der riesenhaften Krankenschwester und dann zu dem zwergenhaften Arzt.
Der in der Mitte blickte lediglich auf seine Füße, und der ganz links dankte allen Heiligen, dass er sich in einem Schulbüro und nicht in einer dunklen Gasse befand. Die Schwester, so fand Rudi, war ein wahrer Kinderschreck.
»Wer ist der Erste?«, wollte sie wissen.
Der beaufsichtigende Lehrer, Herr Heckenstaller, antwortete ihr. Er war mehr ein schwarzer Anzug als ein lebendiger Mann. Sein Gesicht bestand aus einem Schnurrbart. Er warf einen prüfenden Blick auf die Jungen und traf eine schnelle Entscheidung.
»Schwarz.«
Der unglückliche Jürgen Schwarz zog mit sichtlichem Unbehagen die Uniform aus. Seine Schuhe und seine Unterhosen behielt er an. Eine vergebliche Bitte hatte sich auf seinem Gesicht festgehakt.
»Und?«, sagte Herr Heckenstaller. »Die Schuhe?«
Er zog Schuhe und Socken aus.
»Die Unterhose auch«, sagte die Krankenschwester.
Sowohl Rudi als auch der andere Junge, Olaf Spiegel, hatten währenddessen angefangen, sich ebenfalls auszuziehen, aber sie waren noch weit von dem entwürdigenden Zustand entfernt, in dem sich Jürgen Schwarz befand. Der Junge zitterte. Er war ein Jahr jünger als die beiden anderen, aber größer. Als seine Unterhose fiel, stand er nur mit bitterer Scham bekleidet in dem kleinen, kalten Büro. Seine Selbstachtung schlotterte ihm um die Fußgelenke.
Die Krankenschwester betrachtete ihn eingehend. Ihre Arme waren vor ihrem niederschmetternden Busen verschränkt.
Heckenstaller wies die anderen beiden an, sich zu beeilen.
Der Arzt kratzte sich am Kopf und hustete. Seine Erkältung würde ihn noch umbringen.
Die drei nackten Jungen wurden, auf dem kalten Boden stehend, untersucht.
Sie bedeckten ihre Genitalien mit ihren Händen und zitterten wie Luft über heißem Asphalt.
Zwischen Husten und Niesen erteilte ihnen der Arzt Befehle. »Einatmen.« Schnief. »Ausatmen.« Keuch.
»Arme ausstrecken.« Hust. »Ich sagte: Arme ausstrecken.« Ein horrender Hustenschwall.
Wie Menschen nun einmal sind, so suchten auch die Jungen in dem jeweiligen Nachbarn nach irgendeinem Zeichen von Mitgefühl. Aber da war keines. Alle drei lösten ihre Hände von ihren Gliedern und streckten die Arme aus. Rudi hatte nicht das Gefühl, einer Herrenrasse anzugehören.
»Wir sind erfolgreich dabei«, erklärte die Krankenschwester dem Lehrer, »eine neue Zukunft zu erschaffen. Sie besteht aus einer neuen Klasse von physisch und geistig überlegenen Deutschen. Einer Offiziersklasse.«
Unglücklicherweise wurde ihre Predigt durch den Arzt unterbrochen, der sich niederkrümmte und mit Hingabe die von den Jungen abgelegten Kleidungsstücke anhustete. Tränen traten ihm in die Augen, und Rudi wunderte sich.
Eine neue Zukunft? Mit dem da?
Klugerweise behielt er seine Gedanken für sich.
Die Untersuchung war zu Ende, und er vollführte seinen ersten nackten Hitlergruß. Es war verrückt, aber er fühlte sich dabei nicht einmal unwohl.