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NACH ACHT ANGENEHMEN, aber vorhersehbaren Sommern in Folge würde in Finch endlich etwas Unerwartetes geschehen. Ich konnte es nicht abwarten, Bill davon zu erzählen. Wäre ich in meinem verlässlichen Range Rover zur Maiversammlung gefahren, hätte ich all meine Geschwindigkeitsrekorde gebrochen, um zum Cottage zurückzukehren.

Doch unglücklicherweise war ich in dem rostigen alten Morris Mini unterwegs, den Bill und ich für kinderfreie Fahrten ins Dorf benutzten, und war gezwungen, ruhig und gesetzt über die Buckelbrücke und die gewundene, von Hecken gesäumte Straße zu unserem Cottage zu tuckern. Währenddessen sprühte mein Geist vor Ideen rund um Säbel, Kreolen und rosenfarbene Wimpel.

Es war fast zehn Uhr abends, als ich in unsere Kieselsteineinfahrt bog, also gute zwei Stunden nach der Schlafensgehzeit unserer Zwillinge, nicht jedoch der meines Mannes. Während ich den Mini zwischen meinem Rover und seinem Mercedes parkte, hoffte ich inbrünstig, dass Bill auf mich gewartet hatte. Sekunden später sprintete ich bereits über die Platten des Gehwegs, ohne den frühen Rosenblüten Beachtung zu schenken, die an den Spalieren der Vordertür aufgeblüht waren, oder dem süßen Frühlingsduft des späten Flieders.

Als ich die Diele betrat, hob ich meine Kopie des Dienstplans hoch und rief: »Heil dem guten König Wilfred!«

In dieser Pose blieb ich stehen, doch als Bill noch immer nicht aus dem Wohnzimmer auftauchte, um zu fragen, was um Himmels willen ich da mache, warf ich den Plan auf das Telefontischchen, hängte meine Tasche an den Garderobenständer und machte mich auf die Suche nach ihm.

Ich fand ihn oben, im Bett, mit Stanley, unserem schwarzen Kater, der zu seinen Füßen zusammengerollt lag. Als ich das elterliche Schlafzimmer betrat, öffnete Stanley eines seiner löwenzahngelben Augen, schloss es aber rasch wieder. Mich mochte er ganz gern, aber meinen Gatten betete er an, und er wäre damit zufrieden gewesen, den Rest seines Lebens zu Bills Füßen verbringen zu können.

Bill schlief so tief, dass er sich nicht rührte, als ich mich zu ihm hinabbeugte, um ihn auf die Wange zu küssen, und als ich absichtlich ein paar Mal mit dem Knie gegen das Bett stieß, rollte er sich einfach auf die andere Seite und schmiegte das Gesicht ins Kopfkissen. Ich ließ einen enttäuschten Seufzer vernehmen, doch auch der vermochte Bill nicht aufzuwecken. Auf Zehenspitzen verließ ich das Schlafzimmer.

Ich ging den Flur entlang zum Zimmer der Zwillinge, die ebenso tief schliefen wie ihr Vater. Als ich ihre beiden identisch aussehenden Gesichter betrachtete, stellte ich mir vor, wie ihre braunen Augen strahlen würden, wenn ich ihnen am nächsten Morgen von den Ritterturnieren erzählte. Lächelnd zog ich die Bettdecken straff um ihre Körper, küsste sie auf die zerzausten Köpfe und ging ins Erdgeschoss hinunter. Meine Männer waren mir sehr lieb, aber ich war noch nicht bereit, mich zu ihnen ins Land der Träume zu gesellen. Es drängte mich, jemandem von der Kirmes zu erzählen.

Emma, meine beste Freundin, war nicht zu der Maiversammlung gekommen, weil sie bei einem kranken Pferd wachte. Aber es war zu spät, um sie anzurufen. Genau genommen war es zu spät, um irgendeinen meiner Freunde, die allesamt Frühaufsteher waren, anzurufen. Also begab ich mich ins Arbeitszimmer, wo ich, wie ich wusste, jemanden antreffen würde, der immer hellwach war.

Dort war es still und friedlich. Kein Luftzug bewegte den Efeu draußen vor dem Sprossenfenster, unter dem der alte Eichenschreibtisch stand. Nachdem ich die Tür leise hinter mir zugemacht hatte, knipste ich die Lampe auf dem Kaminsims an, entzündete im Kamin ein Feuer und verbeugte mich tief vor Reginald, der von seinem Stammplatz im Bücherregal zu mir herabsah.

Reginald war ein pudrigrosa Flanellhase. Er hatte schwarze Knopfaugen, wunderschöne handgestickte Barthaare und einen verblassten, ehemals purpurroten Flecken auf seiner Schnauze, die Erinnerung an einen Tag in meiner Kindheit, als ich ihn von meinem Traubensaft kosten ließ. So weit ich zurückdenken konnte, war Reginald immer an meiner Seite gewesen, und als mein ältester Freund verdiente er einen Ehrenplatz im Cottage. Zwar verbeugte ich mich normalerweise nicht vor ihm, aber es wäre undenkbar gewesen, das Arbeitszimmer zu betreten, ohne ihn zu begrüßen; und an diesem Abend war ich noch ganz in dem Traum gefangen, den Calvin Malvern für uns gesponnen hatte.

»Seid gegrüßt, Sir Reginald«, sagte ich, während ich mich wieder aufrichtete. »Wie geht es Euch an diesem wunderschönen Maiabend? Erinnert Ihr Euch Eurer ritterlichen Taten, während Ihr auf Eurem … Regalbrett sitzt?«, beendete ich dürftig meine kleine Ansprache und grinste. »Ich bin noch nicht ganz firm im Fachjargon, Reg, aber ich habe noch einen Monat, um zu üben. Ihr werdet beeindruckt sein!«

Reginalds schwarze Knopfaugen glitzerten, und ich meinte, ein vages Verständnis darin aufblitzen zu sehen, als hielte er mich für ein wenig verrückt, wäre aber gewillt, die weitere Entwicklung abzuwarten. Ich zwickte ihn zärtlich in die rosa Ohren, nahm ein blaues in Leder gebundenes Buch von einem Regalbrett in der Nähe und ließ mich in einen der großen Armlehnensessel gegenüber dem Kamin sinken. Während das Feuer in angenehm mittelalterlicher Manier knisterte und knackte, wiegte ich das blaue Notizbuch im Arm und dachte an das erste Mal, als ich es aufgeschlagen hatte.

Das Buch hatte einst der besten Freundin meiner verstorbenen Mutter gehört, einer Engländerin namens Dimity Westwood. Die beiden Frauen hatten einander während des Zweiten Weltkriegs in London kennen gelernt, als sie ihrem jeweiligen Land dienten. Ihre Freundschaft hatte auch nach dem Krieg Bestand gehabt, nachdem meine Mutter in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war.

Persönlich waren die beiden Freundinnen einander nicht wieder begegnet, aber sie sorgten für einen regen Luftbriefverkehr, indem sie beständig Briefe austauschten, in denen sie einander ihren Alltag beschrieben. Nach dem jähen Tod meines Vaters wurde das Briefeschreiben für meine Mutter zu einem Refugium, zu ihrem ganz persönlichen Hort der Ruhe und des Friedens, an dem sie den bisweilen entmutigenden Anforderungen an eine alleinerziehende und Vollzeit arbeitende Mutter für eine Weile entkommen konnte. Meine Mutter erzählte niemandem von dieser Zuflucht, nicht einmal ihrer Tochter. Als Kind kannte ich Dimity Westwood nur als Tante Dimity, die Heldin in einer Serie von Gutenachtgeschichten, die meine Mutter für mich erfunden hatte.

Erst als Tante Dimity und meine Mutter gestorben waren, erfuhr ich von der Frau namens Dimity Westwood, die es wirklich gegeben hatte. Nämlich als Dimity mir ein komfortables Erbe hinterließ, ein honigfarbenes Cottage in den Cotswolds, die einzigartigen Briefe, die sie und meine Mutter ausgetauscht hatten, und ein ganz spezielles Buch – eine Art Tagebuch mit dunkelblauem Ledereinband.

Wann immer ich das Buch aufschlug, erschien Tante Dimitys Handschrift, eine altmodische, gestochen scharfe Schrift, wie man sie in der Schule in Finch zu einer Zeit gelehrt hatte, als ein Holzofen im Salon die heutige Zentralheizung ersetzte. Als ihre Handschrift zum ersten Mal über die leeren Seiten floss, fiel ich beinahe in Ohnmacht vor Schrecken, aber ihre freundlichen Worte beruhigten mich, und bald begann ich, mich auf sie als eine beständige Quelle der Weisheit und der Hilfe zu verlassen. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, den Graben zwischen dem irdischen und dem ätherischen Dasein zu überbrücken, aber eines wusste ich ganz sicher: Tante Dimity war mir eine ebenso gute Freundin, wie sie es meiner Mutter gewesen war. Ich wollte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.

Gewärmt von der Erinnerung – und dem knackenden Kaminfeuer –, legte ich das Buch in den Schoß, schlug es auf und sagte: »Dimity? Bist du da? Ich muss dir erstaunliche Neuigkeiten berichten!«

Die vertrauten Worte in königsblauer Tinte kringelten sich über die leere Seite. Wie Du weißt, meine Liebe, bin ich immer erpicht auf erstaunliche Neuigkeiten. Aber sage nichts, lass mich raten. Hat Peggy Taxman vergessen, Dich für die Hundeschau einzuteilen?

»Das Glück möchte ich gern mal haben«, sagte ich und rollte die Augen. »Nein, Dimity, es ist tausend Mal erstaunlicher, als von Peggy in Sachen Drecksarbeit übergangen zu werden.«

Meine Güte. Sind Außerirdische auf dem Dorfanger gelandet?

»Ganz heiß«, sagte ich, »noch besser als Außerirdische.« Unfähig, meine Nachricht noch länger hinauszuzögern, platzte ich heraus: »Die König-Wilfred-Kirmes kommt nach Finch!«

Wie aufregend! Die blaue Handschrift hielt kurz inne, ehe sie sich weiter über die Seite zog. Und wer ist, wenn ich fragen darf, König Wilfred? Und warum hält er eine Kirmes in Finch ab?

»König Wilfred ist Calvin Malvern. Und es heißt deshalb Kirmes und nicht Jahrmarkt, weil es sich altmodisch anhören soll. Und die Kirmes wird nicht direkt in Finch, sondern in der Nähe, im Bishop’s Wood stattfinden.«

Warte einen Moment, Lori. Hast Du Calvin Malvern gesagt? Sprichst Du von Horace Malverns Neffen?

»Genau von dem.«

Ich kannte Calvin Malvern als kleinen Jungen. Ich hätte schwören können, dass er einem alten Farmergeschlecht entstammt. Wann und wie ist er zu königlichem Blut gekommen?

»Ich glaube nicht, dass auch nur ein Tropfen blaues Blut in seinen Adern fließt. So weit ich sagen kann, ist Calvin der selbsternannte König eines Fantasie-Königreichs.«

Natürlich, ich verstehe. Calvin hat schon immer erfundene Geschichten der Wirklichkeit vorgezogen. Sein Onkel hoffte, dass es sich ändern würde, wenn er erwachsen wäre, aber das ist offensichtlich nicht der Fall.

»Offensichtlich nicht«, stimmte ich ihr lachend zu. »Er ist heute Abend bei der Versammlung als eine Art Heinrich VIII. erschienen, mit einem purzelbaumschlagenden Hofnarren und zwei Herolden im Schlepptau. Du hättest Peggys Gesicht sehen sollen, als die Herolde in ihre Trompeten bliesen.«

Was für ein kostbarer Moment.

»Ich werde es nie vergessen. Ich zweifle, dass Peggy je wieder auf einer Versammlung nach ›weiteren Anliegen‹ fragen wird.« Während ich die Ereignisse des Abends zusammenfasste und an geeigneter Stelle ausschmückte, musste ich lächeln. Mein Bericht endete mit: »Ich glaube, die Kirmes wird eine Art mittelalterlicher Themenpark.«

Ich würde allzu gern eine mittelalterliche Achterbahn sehen. Nicht unbedingt mit ihr fahren, aber sehen, das ja.

»Ich glaube nicht, dass es Fahrbetriebe geben wird«, erklärte ich ihr. »Nur interessante Darbietungen, interessante Speisen, interessante Dinge zu kaufen …«

Das hört sich alles sehr … interessant an.

Ich nickte fröhlich. »Ist das nicht wunderbar? Will und Rob werden aus dem Häuschen sein, wenn ich ihnen von den Ritterturnieren erzähle. Du weißt ja, wie pferdenärrisch sie sind, und alles was mit Rittern zu tun hat, lieben sie. Ich werde Kostüme für sie nähen, Dimity. Habe ich dir erzählt, dass Calvin alle ermuntert hat, kostümiert zu erscheinen?«

Das hast Du. Mehrmals sogar.

»Die Zwillinge werde ich als mittelalterliche Pagen verkleiden.« Einen Moment blickte ich verträumt ins Feuer, dann runzelte ich die Stirn und blickte fragend auf die aufgeschlagene Seite des Buchs. »Pagen waren doch die Jungen, die den Rittern halfen, sich für den bevorstehenden Kampf zu rüsten, nicht wahr? Oder verwechsle ich die jetzt mit Knappen?«

Ich glaube, Knappen waren ausgewachsene junge Männer. Rob und Will werden zwei herrliche Pagen abgeben. Sie werden äußerst glaubwürdig sein, weil sie wissen, wie man Pferde striegelt, aufzäumt und sattelt. Wirst Du für Bill ebenfalls ein Kostüm nähen?

»Das bezweifle ich.« Mein Lächeln wurde ein wenig dünner. »Bill ist nicht der Typ, der sich gern verkleidet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich eine Strumpfhose anzieht, was ein Jammer ist, denn er hat wohlgeformte Beine.«

Vielleicht könnte er als Ordensbruder gehen.

»Wie Bruder Tuck bei Robin Hood?«, sagte ich, und meine Miene hellte sich wieder auf.

Wie ein großer, gut gebauter Bruder Tuck. Wenn er als Mönch ginge, müsste er keine Strumpfhosen tragen, denn die lange Kutte würde seine Beine verbergen. Wenn Bill als Mönch geht, kannst Du Dich ja als Nonne verkleiden.

»Als Nonne?«, sagte ich verdutzt.

Nonnen genossen im mittelalterlichen England hohes Ansehen, Lori. Oft stammten sie aus guten Familien und waren hochintelligente Frauen, die große Macht ausübten.

»Aber sie trugen … Ordenstracht … nicht wahr?«, sagte ich und verzog in einem Anflug von Widerwillen das Gesicht. »Düstere, einfache, langweilige Ordenstrachten. Ich dachte eigentlich eher an etwas Farbenprächtigeres. Beispielsweise einen Wimpel. Weißt du zufälligerweise, was ein Wimpel ist?«

Nonnen haben Wimpel getragen, Lori, Brusttücher, aber die waren nicht gerade farbenprächtig. Die Art von Wimpel, die Dir vorschwebt, ist wahrscheinlich ein hoher, kegelförmiger Hut, an dessen Spitze eine lange Stoffbahn befestigt ist. Aber diese Kopfbedeckung heißt streng genommen nicht Wimpel, sondern Hennin.

»Genau daran habe ich gedacht«, stimmte ich Dimity zu. »Calvin sprach von Wimpel, die adlige Damen trugen, aber da scheint er sich zu irren. Ich sehe mich jedenfalls eher als Hofdame, du nicht auch?«

Lady Lori? Das hat etwas.

»Eine Piratenbraut wäre auch cool«, sagte ich. »Ich wollte schon immer mit den Säbeln rasseln.«

Piratin Lori klingt gewiss auch nicht schlecht.

»Piratin Lori«, murmelte ich beglückt. »Es macht bestimmt Spaß, mit dem Säbel zu fuchteln und zu rufen: ›Avast, Freunde!‹«

Ich würde Dir wärmstens empfehlen, den Säbel in der Scheide zu lassen, es sei denn Du willst den Sport des Ohrabschneidens zum Repertoire der mittelalterlichen Spiele hinzufügen.

»Spielverderber!«, gab ich zurück und legte die Füße auf die Ottomane. »Ich bin mir nicht sicher, als was ich gehen will, Dimity, aber darüber zu grübeln ist bereits Teil des eigentlichen Spaßes. Wer weiß? Vielleicht werde ich eine adlige Dame und einen Piraten und eine Zigeunerin geben.« Ich schauderte vor Aufregung. »Ich kann den Eröffnungstag nicht erwarten.«

Scheint so, als ob Du Dich maßlos auf die König-Wilfred-Kirmes freuen würdest, meine Liebe.

»Na ja«, sagte ich nüchtern, »es ist doch mal was anderes, nicht wahr?«

Und das brauchst Du zurzeit, was anderes?

»Das käme mir nicht ungelegen«, sagte ich und fügte schnell hinzu: »Aber nicht nur mir, Dimity. Die restlichen Dorfbewohner waren wie elektrisiert von Calvins Ankündigung. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Bombenstimmung dort herrschte, nachdem er wieder weg war. Wenn du mich fragst, ist jeder ein bisschen gelangweilt vom üblichen Sommerprogramm.«

Ich meine jedoch zu spüren, dass Du mehr als gelangweilt bist.

Ich kaute auf der Unterlippe und sah zu Reginald hoch. Keinesfalls wollte ich undankbar erscheinen für die vielen segensreichen Dinge in meinem Leben, aber mit Ehrlichkeit fuhr man bei Dimity eigentlich immer am besten, also erzählte ich ihr, was los war.

»Ich bin froh, dass sich diesen Sommer etwas Neues in Finch tun wird. Etwas, was wir nicht kennen. Etwas, was nicht von Peggy Taxman geplant wurde. Seit Annelieses Hochzeit hat es nichts Aufregendes mehr gegeben, auf das ich mich freuen konnte.«

Anneliese hat erst vor neun Tagen geheiratet, Lori. Du hattest doch noch gar keine Zeit, um Dich zu langweilen.

»Ich hatte acht Jahre Zeit, um mich zu langweilen«, sagte ich. »Acht Sommer jedenfalls.«

Du hattest sieben Sommer, um genau zu sein. Den letzten Sommer hast Du in Colorado verbracht.

»Ja, okay. Und dort war es wirklich großartig. Jedenfalls habe ich das Polieren der Teekessel und das Abfalleimerausleeren beim Sommerfest nicht im Geringsten vermisst.«

Ich dachte, Du magst Tradition.

»Das tue ich auch, aber man kann auch zu viel von einer guten Sache haben.« Ich stöhnte ungeduldig. »Nie ändert sich etwas in Finch. Seit fast einem Jahrzehnt höre ich dieselben Leute über dieselben Dinge reden. Es ist wie in einer Tretmühle.«

Darf ich Dich daran erinnern, dass im September eine weitere Hochzeit stattfinden wird? Du hast sie sogar als die Märchenhochzeit des Jahrhunderts bezeichnet. Du kannst mir nicht erzählen, dass Du Dich nicht auf Kits und Nells Hochzeit freust.

Kit Smith und Nell Harris waren das schönste Paar, das ich je gesehen hatte. Kit war Stallmeister auf dem nahe gelegenen Gut Anscombe Manor und Nell die Stieftochter meiner Freundin Emma, der Anscombe Manor gehörte. Auch wenn ich nicht ganz unschuldig daran war, dass Kit Nell einen Heiratsantrag machte, war es mit meiner Karriere als Kupplerin steil bergab gegangen, nachdem er endlich den Schritt getan hatte.

»Es gibt nichts, worauf ich mich mehr freue als auf die Hochzeit von Kit und Nell«, erwiderte ich. »Aber bis September ist es noch lange hin, und ich werde nicht im gleichen Maße in die Hochzeitsvorbereitungen involviert sein wie bei Anneliese.« Ich stützte das Kinn in die Hand und fuhr niedergeschlagen fort: »Lass es uns offen aussprechen, Dimity, Kit und Nell brauchen meine Hilfe nicht. Sie sind so makellos, dass sie ebenso gut in einer Telefonzelle heiraten könnten, in Sackleinen und Flipflops, und es wäre dennoch die Märchenhochzeit des Jahrhunderts. Übrigens glaube ich, dass Nell die Sache schon seit ihrem zwölften Lebensjahr bis ins letzte Detail geplant hat, und es gibt rein gar nichts, was ich beisteuern könnte. Sie werden problemlos ohne mich auskommen.«

Für die Kirmes hingegen wird Dein reges Händchen gebraucht werden.

»Genau. Und das Beste daran: Dort werde ich ein reiches Betätigungsfeld für meine Fantasie finden. Wenn ich auf der Kirmes einem Vampir begegne …«

Gab es im Mittelalter Vampire?

»Vampire sind zeitlos. Außerdem ist Calvin nicht so pingelig, was die historische Detailtreue betrifft.«

Aha. Entschuldige, wenn ich Dich unterbrochen habe. Was wolltest Du vorhin sagen?

»Ich sagte, dass die Kirmes mir guttun wird. Wenn ich einem Vampir begegne, werde ich nicht gleich den Kopf verlieren und ihn beschuldigen, dass er meine Söhne verfolgt. Stattdessen werde ich sein Kostüm bewundern und mich zusammen mit den anderen amüsieren und es dabei belassen. Mit anderen Worten, ich werde mich wie jeder normale Mensch verhalten.«

Willst Du das wirklich, Lori? Dich wie ein normaler Mensch verhalten?

»Ich möchte einfach aufhören, mich zum Narren zu machen«, sagte ich, wenig überzeugt. »Ich möchte aufhören, Geister zu sehen. Ich will aufhören, Pläne auszuhecken, herumzuschleichen und mich wie eine durchgeknallte Zwölfjährige zu benehmen. Ich möchte mit beiden Füßen auf der Erde stehen, einen klaren Kopf behalten und vernünftig sein.«

Wie Emma Harris?

»Emma ist mein absolutes Vorbild«, verkündete ich. »Wenn ich erwachsen bin, will ich genau wie sie sein.«

Eine etwas merkwürdige Äußerung für eine Frau Mitte dreißig, aber ich verstehe, was Du meinst.

»Ich weiß, ich darf mich nicht beklagen«, sagte ich ernst und starrte das Buch an, »ich liebe mein Leben, das kannst du mir glauben, aber wenn ich keine Möglichkeit habe, es ein wenig aufzurütteln, werde ich verrückt. Ich weigere mich, in weitere lächerliche, rätselhafte Verwicklungen oder Abenteuer hineingezogen zu werden, und deshalb werde ich das Beste aus der König-Wilfred-Kirmes machen und hinterher …«

Versuche nicht zu weit im Voraus zu planen, meine Liebe. Das macht Dich nur schwindelig.

Als ich das Wort »schwindelig« zu Ende gelesen hatte, wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich kurz vor dem Hyperventilieren war. Deshalb legte ich den Kopf an die Nackenlehne, atmete ein paar Mal tief ein, ehe ich wieder auf die Worte sah, die Dimity inzwischen ins Notizbuch geschrieben hatte.

Ich glaube, Du hast eine hervorragende Möglichkeit gefunden, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, Lori. Das mittelalterliche Kostümfest wird Dir einen ganzen Sommer lang die Gelegenheit geben, die besten Seiten Deiner Fantasie auszuleben, und gleichzeitig verschafft es Dir die dringend benötigte Pause von der ermüdenden Routine des Dorflebens. Es war eine äußerst kluge Idee von Calvin Malvern, die König-Wilfred-Kirmes in Finch zu veranstalten. Ich hoffe, dass Bill aufgeschlossen genug sein wird, ebenfalls bei dem Ereignis mit von der Partie zu sein.

»Ich werde mein Bestes tun, um ihn zu überzeugen«, sagte ich.

Da bin ich mir sicher. Die Uhr auf dem Kaminsims schlägt Mitternacht, Lori. Es ist Zeit, dass Du ins Bett gehst. Ich freue mich, weitere erstaunliche Neuigkeiten von Dir zu hören, wann immer Dir danach ist, sie mit mir zu teilen. Gute Nacht, meine Liebe.

»Gute Nacht, Dimity.«

Ich wartete, bis die schnörkelige Handschrift auf der Seite verblasst war, schlug dann das Notizbuch zu und legte es wieder auf seinen Platz im Regal. Nachdem ich die Glut aufgehäuft hatte, knipste ich die Kaminlampe aus und sagte Reginald gute Nacht. Beim Verlassen des Arbeitszimmers stellte ich mir meinen rosa Hasen mit einer Miniaturkrone und in einem kleinen hermelinbesetzten Umhang vor.

»Reginalds Kostüm ist ein Kinderspiel«, murmelte ich. »Bill ist eine viel härtere Nuss, die es zu knacken gilt.«

Doch als ich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer trat, nahm der Schlachtplan in meinen Gedanken bereits konkrete Formen an.