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DIE NÄCHSTEN VIER WOCHEN ZÄHLTEN ZU DEN vergnüglichsten, die ich in Finch erlebt hatte. In den Schaufenstern der Geschäfte wurden bunte Plakate aufgehängt, die neugierig auf die zahlreichen Attraktionen der Kirmes machten. Ungewöhnliche Fahrzeuge rollten durch Finch, dazu angetan, dass Vorhänge zurückgezogen wurden, sich die Köpfe der Passanten nach ihnen drehten und aufgeregt getratscht wurde. Die Gerüchteküche des Ortes arbeitete auf Hochtouren. In Windeseile verbreitete sie die neuesten Nachrichten, nicht das übliche schale Gerede über Christine Peacocks letzte Ufo-Sichtung, sondern reizvolle kleine Informationshäppchen über den Fortgang der Arbeiten im Bishop’s Wood und die Kostüme, die Peggy Taxman angeblich für sich und Jasper von einem Theaterbedarfverleih in London bestellt hatte.

Niemand hätte es offen zugegeben, aber jeder war vom Kostümfieber angesteckt worden. Die Bibliothek auf Rädern konnte sich nicht retten vor Anfragen zu Büchern über Gewänder aus dem ausgehenden Mittelalter, und in den Stoffgeschäften von Upper Deeping verzeichnete man einen Ansturm auf Samt und Brokatstoffe. Sally Pynes Nähkurs am Dienstagmorgen war plötzlich so gut besucht, dass sie fünf weitere Termine ansetzen musste, um alle Teilnehmer unterzubringen. Die Dorfbewohnerinnen strömten in Scharen in die Teestube, um zu lernen, wie man Leder zusammennähte, Satin einfasste und Seide bestickte, und, natürlich, um einen Blick auf die Werke der restlichen Kursteilnehmerinnen zu erhaschen. Bissige Bemerkungen über den Farbsinn und die Stoffauswahl sickerten aus der Teestube und sorgten zusätzlich dafür, dass die Tratscherei kein Ende nahm.

Meine Nachbarinnen waren so sehr damit beschäftigt, Wamse, ausladende Baretts und spitzenbesetzte Mieder zu nähen, dass fast alle die Kunstausstellung links liegen ließen, die am ersten Juni-Wochenende stattfand. Mit dem Ergebnis, dass nur drei Bilder eingereicht wurden, und die waren derart missraten, dass sie in früheren Ausstellungen sicher kaum Beachtung gefunden hätten. Aber da sie keine Konkurrenz hatten, ergatterten sie den ersten, zweiten und dritten Platz. In Ermangelung einer Auswahl war die Beurteilung relativ einfach, und Peggys Verkündung des Juryurteils verlief gänzlich unspektakulär.

Auch das Sommerfest litt unter Mangel an Interesse. Zwar ließ sich am Mittsommernachtstag die übliche Menge Dorfbewohner blicken, um selbstgebrautes Bier zu trinken, traditionelle Spiele zu spielen, der Blasmusikkappelle zuzuhören und der Aufführung der Moriskentänzer auf dem Dorfanger beizuwohnen, aber die Menschen waren nur halb bei der Sache, und ihren glasigen Blicken und eingefrorenen Lächeln konnte man ansehen, dass sie in Gedanken woanders waren.

Obwohl die ersten beiden sommerlichen Ereignisse ziemliche Flops waren, erfuhren die örtlichen Geschäfte im Juni einen bescheidenen, aber messbaren Umsatzanstieg. Mit Sägemehl bestäubte Bauarbeiter kamen zwei Mal täglich vom Kirmesgelände im Bishop’s Wood in den Pub der Peacocks und machten regelmäßig einen Abstecher zum Gemüseladen. Mr Barlow wurde von ihnen beauftragt, alte Maschinenteile zu reparieren, und sie sorgten dafür, dass in Peggys Kaufhaus die Kasse klingelte.

Gerüchte kursierten auch über die Art der Gebäude, die im Bishop’s Wood errichtet wurden. Einige Dorfbewohner beteuerten, dass bei der Kirmes ein dreigeschossiges Wasserschloss zu sehen sein würde, andere behaupteten, die Hauptattraktion würde ein gigantischer feuerspuckender Drache sein. Da ich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Fivefold Farm wohnte, hätte ich die ideale Voraussetzung gehabt, den ein oder anderen Blick auf die Bauarbeiten zu erhaschen und herauszufinden, was an dem Klatsch dran war, widerstand jedoch der Versuchung. Ich wollte mir die Spannung nicht verderben.

Die Unternehmer von Finch kümmerte die Kirmes nicht, solange sie ihre Kassen füllte. Mit Calvin Malvern waren sie sehr zufrieden, hatte er doch einen Veranstaltungsort in der Nähe ihres Dorfes ausgesucht. Sie erwarteten, dass ihre Einnahmen noch steigen würden, wenn die König-Wilfred-Kirmes erst einmal ihre Pforten öffnete.

Am meisten indes profitierte Sally Pyne von dem bevorstehenden Ereignis. Ihre Schneiderkünste waren so gefragt, dass sie die Öffnungszeiten ihrer Teestube drastisch einschränken musste. Obwohl ich, zumindest teilweise, schuld daran war, bedauerte ich diesen Umstand zutiefst. Ich war nicht sicher, ob es den anderen auch so ging, jedenfalls hatte ich in meinem Kostümrausch ein kleines, aber wichtiges Detail vergessen: dass ich überhaupt nicht nähen konnte. Ein kurzer Versuch, mit Schere und Nadel zu hantieren, machte mir meine Ungeschicklichkeit schmerzhaft bewusst, und ich meldete mich schleunigst für einen Nähkurs bei Sally an, nur um zu entdecken, dass ich keinerlei Talent für die Hobbyschneiderei hatte.

Mein Versuch, für die Jungen ein Pagenkostüm zu nähen, geriet zu einem solchen Fiasko, dass ich die angefangenen Teile stillschweigend entsorgte und Sally beauftragte, die Kostüme zu nähen. Sie war bereit, auch mein Kostüm zu nähen, doch da sie unter Zeitdruck stand, musste ich bei meinen Vorstellungen ziemliche Abstriche machen. Statt einer hennintragenden Herzogin oder einem säbelrasselnden Piraten würde ich die Kirmes als gewöhnliche Landfrau besuchen.

Sally stellte unsere Kostüme in gerade mal fünf Tagen fertig, kam jedoch nicht dazu, Bills Kostüm in Angriff zu nehmen. Zwar hatte sie angeboten, eine bescheidene, die Beine verhüllende Mönchskutte für ihn zu nähen, aber mein Mann erlaubte ihr nicht einmal, seine Maße zu nehmen.

Bill hatte offensichtlich ein Gen geerbt, das ihn immun gegen das Kostümfieber machte. Die Vorstellung, in eine fremde Rolle zu schlüpfen, war für ihn weder romantisch noch amüsant. Er war der Meinung, dass es einfach nur Blödsinn war, und wollte rein gar nichts damit zu tun haben. Ich ließ keine weibliche Überzeugungstaktik unversucht, doch er verweigerte sich hartnäckig der Idee, Kleidung zu tragen, die nicht genau der entsprach, die er bereits besaß.

Ein Tag bevor die Kirmes eröffnet wurde, entschloss ich mich zu einem letzten, verzweifelten Anlauf. Nachdem ich früh aufgestanden war, um die Jungen auf Anscombe Manor zu ihrer Reitstunde abzusetzen, überzeugte ich Bill, den Morgen zu Hause statt im Büro zu verbringen, indem ich ihn mit einem üppigen Brunch köderte, das ich auf dem Teakholztisch unter dem Apfelbaum im hinteren Teil des Gartens vorbereitet hatte. Das Wetter war großartig, und der Garten war wohltuend frei von den Geräuschen spielender Jungen. Kurz und gut, die geeignete Bühne, um eine weitere Offensive zu starten.

Bill genoss meine Eggs Benedict – pochierte Eier auf halbierten Muffins mit Bacon und Sauce hollandaise –, geräucherten Lachs und den buttrigen Teekuchen, ehe er sich in seinen Sessel zurücklehnte, Stanley ermunterte, es sich auf seinem Schoß bequem zu machen, und die Zeitung aufschlug. Während er die morgendlichen Schlagzeilen überflog, schenkte ich ihm Tee nach und atmete tief ein. Ich wollte nicht allzu eifrig erscheinen.

»Bill?«, sagte ich betont beiläufig.

»Nein«, sagte er, ohne von der Zeitung aufzuschauen. »Ein für alle Mal nein.«

»Aber …«

Mit einem geradezu drohenden Blick brachte er mich zum Schweigen. Stanley, der Ärger witterte, sprang von seinem Schoß auf die Erde und trottete ins Cottage.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Lori«, sagte Bill und legte die Zeitung zur Seite. »Ich werde mit dir zur Kirmes gehen. Wenn du willst, werde ich ein ganzes Wochenende mit dir dort verbringen. Aber ich werde mich nicht als Gutsherr, Ritter, Klosterbruder, Scharfrichter, Hexenmeister, Pirat, verrückter Mönch, bescheidener Holzfäller, oder was immer sonst deine reiche Fantasie sich ausdenken mag, verkleiden. Niemals. Punkt. Ende der Diskussion. Finito

»Das heißt also nein, oder wie?«, fragte ich nach.

»Das heißt nein«, bestätigte Bill und nippte zwei Mal an seinem Tee.

Geschlagen sank ich auf meinem Stuhl zurück und wischte ein paar Krümel vom Tisch. Währenddessen rief ich mir eine Zeichnung in Erinnerung, die Rob am Abend zuvor angefertigt hatte – von einem Ritter zu Ross mit einer übergroßen Lanze in der Hand und einem flammenden Schwert in der anderen. Rob zufolge war es ein Selbstporträt, und die Erinnerung daran verlieh mir ein neues Gefühl der Entschlossenheit. Ich würde es nicht zulassen, dass Bill die Zwillinge enttäuschte.

»Alle, die wir kennen, werden in einem mittelalterlichen Gewand erscheinen. Was werden die Zwillinge denken, wenn du in Baseballkappe, Poloshirt, Khakishorts und Turnschuhen zur Kirmes kommst?«

»Will und Rob werden denken, dass ich wie ihr Vater aussehe«, erwiderte Bill ungerührt.

»Aber alle anderen werden denken, dass du …«

»Lori«, unterbrach mich Bill. »Ich habe während meines ersten Jahrs auf der Highschool aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen, was andere Leute denken. Wenn unsere Nachbarn und Freunde gern Federkappen und Strumpfhosen zur Kirmes tragen, so ist das ihr gutes Recht. Ich werde nicht ausgerechnet jetzt anfangen, mir über ihr Gerede den Kopf zu zerbrechen.«

»Ewig Gestriger«, sagte ich missmutig. »Alter Kauz.«

»Du hast Spielverderber und Miesmacher vergessen. Soll ich ein Synonym-Wörterbuch holen?«

»Ich brauche kein Wörterbuch«, erwiderte ich, doch ehe ich meinen umfangreichen Wortschatz unter Beweis stellen konnte, läutete die Türglocke.

»Ich mach auf«, sagte Bill strahlend und war schon auf dem Weg zum Cottage.

Kurz darauf kam er zurück, mit Horace Malvern im Schlepptau. Der korpulente Farmer trug, aus mir unbekannten Gründen, keine Schuhe.

»Mr Malvern«, sagte ich, indem ich mich bemühte, nicht auf seine roten Wollsocken zu starren. »Wie nett, dass Sie uns einen Besuch abstatten.«

»Ich habe meine Gummistiefel im Flur gelassen«, erklärte er. »Wollte den Fußboden nicht dreckig machen.«

»Wie rücksichtsvoll«, sagte ich.

Bill bot ihm einen Stuhl an, ehe er wieder seinen Platz einnahm.

Mr Malvern hängte seine Tweedkappe an die Rückenlehne seines Stuhls, ehe er sich zu uns an den Tisch setzte. Sein verwittertes Gesicht war beinahe ebenso rot wie seine Socken, als hätte er es zuvor gerieben. Äußerst vorsichtig nahm er die Tasse Tee entgegen, die ich ihm anbot, als fürchtete er, mit seinen mächtigen Händen die Porzellantasse zu zerdrücken.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. »Ich wollte eigentlich schon kurz nach der Maiversammlung vorbeischauen, aber über der Heuernte und all den anderen Arbeiten habe ich die Zeit vergessen.«

»Sie sind immer willkommen bei uns«, sagte Bill.

»Bin ich das?« Der Farmer hob eine struppige Augenbraue und stellte die Tasse sorgsam auf die Untertasse. »Ich dachte, dass ich das vielleicht nicht mehr wäre nach Calvins großer Ankündigung. Schließlich wohnen Sie am nächsten zum Wald. Hoffe, dass der Lärm Sie nachts nicht vom Schlafen abgehalten hat.«

»Nein, bestimmt nicht«, versicherte ich ihm.

»Was für ein Lärm?«, fragte Bill liebenswürdig.

Das war keine bloße Diplomatie. Bis auf ein entferntes Hämmern und gelegentliches Heulen einer Kreissäge hatten Bill und ich nichts von den Aufbauarbeiten im Bishop’s Wood mitbekommen.

»Nun, dann ist es ja gut.« Mr Malvern nickte zufrieden. »Sie müssen sich auch keine Sorgen machen wegen der Darsteller. Ihr Camp liegt östlich vom Wald, deshalb sollten Sie von ihnen gar nichts hören und sehen. Falls doch, lassen Sie es mich einfach wissen, und ich zieh ihnen die Ohren lang.«

»Wir werden uns notfalls melden«, versprach ich, »aber ich bin sicher, dass es nicht nötig sein wird.«

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Bill. »Wird die Kirmes Ihren Betrieb nicht beeinträchtigen?«

»Mein Land ist groß«, erwiderte Mr Malvern selbstgefällig. »Calvin kann gern eine Ecke davon nutzen.«

»Er hat Glück, einen so großzügigen Onkel zu haben«, sagte ich. »Ist Calvin Ihr einziger Neffe?«

Statt meine Frage direkt zu beantworten, stützte Mr Malvern seine knochigen Unterarme auf den Tisch und stellte eine Gegenfrage: »Sie wissen nicht viel über Cal, nicht wahr?«

»Nein«, sagte ich. »Bill hat ihn noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.«

»Ich habe während der Maiversammlung zu Hause auf Will und Rob aufgepasst«, erklärte Bill, »aber Lori hat Calvins Auftritt in allen Einzelheiten geschildert.«

»Das glaube ich Ihnen gern. Und was das für ein Auftritt war.« Mr Malvern schürzte die Lippen. »Das Erste, was Sie über Cal wissen müssen: Seine Eltern wurden bei einem Autounfall getötet, als er neun Jahre alt war.«

»Das tut mir leid«, sagte ich, und Bill schnalzte bedauernd mit der Zunge.

»So ist das Leben«, sagte Mr Malvern. »Einige sterben vor ihrer Zeit, und andere leben umso länger. Hat keinen Sinn, nach dem Grund zu fragen.« Mr Malvern nickte feierlich, ehe er hinzufügte: »Nach dem Tod seiner Eltern ist Cal bei mir und meiner Frau aufgewachsen, aber eine große Hilfe war er nicht auf der Farm. Er lebte in den Tag hinein. Wenn ich ihn bat, das Vieh zum Melken von der Weide zu holen, was meinen Sie, was dann passierte? Die Leute erzählten mir, dass meine Kühe den Verkehr auf der Oxford Road lahmgelegt hatten. Er hat ein gutes Herz, unser Cal, aber zu einem Farmer wurde er nicht geboren. Mit dem Kopf war er immer woanders.«

»Mochte er die Schule?«, fragte ich.

»Er mochte die Theateraufführungen in der Schule. Ein großartiger Schüler war er nicht gerade, aber auf der Bühne war er in seinem Element. Kaum hatte er die Schule beendet, schloss er sich einer Theaterkompanie in Oxford an, deswegen sind Sie ihm bisher auch noch nie begegnet. Etwa sechs Monate ehe Sie hier einzogen, ist er nach Oxford gegangen.«

»Sie müssen ihn vermisst haben«, sagte ich.

»Ja, das habe ich, aber ich war froh, dass er etwas gefunden hatte, das ihm mehr entsprach als das Farmerdasein. Meistens arbeitete er hinter der Bühne, sorgte für die Beleuchtung oder gestaltete die Kulissen. Er schien diese Arbeit zu lieben, doch als er einundzwanzig wurde, verließ er die Truppe.«

»War er der Schauspielerei überdrüssig geworden?«, fragte Bill.

»Diese Frage hätten Sie nicht gestellt, wenn Sie ihn auf der Maiversammlung erlebt hätten«, sagte Mr Malvern mit einem schiefen Lächeln. »Nein, Cal hat die Theatergruppe verlassen, weil er sein Erbe antrat. Mein Bruder hatte ihm eine ordentliche Summe hinterlassen, und als er an das Geld ran konnte, hat er seine Zelte abgebrochen, und ab ging’s nach Amerika.«

»Gott im Himmel«, sagte ich überrascht. »Warum ist er nach Amerika gegangen?«

»Er wollte bei einem Mittelalterfestival auftreten. Hat offensichtlich im Internet davon erfahren. In den Staaten scheinen diese Feste verbreitet zu sein, sie dauern oft ein ganzes Jahr – im Sommer finden sie oben im Norden und im Winter im Süden statt. Jedes Festival hat sogar eine eigene Website, mit Fotos von Menschen mit Kronen auf dem Kopf, die Reden halten, und von Schwertkämpfen und so ’nem Kram. Cal hat die Bilder gesehen und beschlossen, dass ein ›Renaissance-Festival‹ oder ›Ren-Fest‹ – so nennt man das in den Staaten – genau das Richtige für ihn ist.«

»Nun«, sagte Bill ausweichend, »wenigstens hatte er ein klares Ziel vor Augen, als er nach Amerika ging.«

»Meine Frau und ich dachten, er sei verrückt geworden«, sagte Mr Malvern unbeeindruckt. »Wir erwarteten, dass er mit eingezogenem Schwanz zurückkehrt, sobald das Geld meines Bruders weg war.« Der Farmer gluckste leise und schüttelte den Kopf. »Doch da hatten wir uns gehörig in ihm getäuscht. Er hat alles richtig gemacht. Das erste Jahr ist er von einem Ren-Fest zum nächsten gereist, bis er den Bogen raus und genügend Kontakte geknüpft hatte. Aus allen möglichen Ecken der Staaten hat er uns Ansichtskarten geschickt.« Mr Malvern lächelte versonnen. »Die folgenden fünf Sommer verbrachte er bei einem Ren-Fest in Wisconsin. Er fing ganz unten an, briet zuerst Hähnchenschenkel an einem Stand, doch dann hat er sich hochgearbeitet bis zu einer Hauptrolle als Stadtschreier.«

»Ist er mit der Truppe im Winter auch in den Süden gezogen?«, fragte ich.

»Ja, das ist er«, sagte Mr Malvern. »Wir bekamen Ansichtskarten aus Texas, Kalifornien, Florida, Arizona – von überall her, wo es warm ist. Egal wo er auch hinkam, hatte er offensichtlich Erfolg. Fest steht jedenfalls, am Ende seiner sechs Jahre in Amerika hatte Cal genug Geld beisammen, um seinen großen Plan zu finanzieren. Und dieser Plan war, ein Ren-Fest nach England zu bringen.«

»In England geben sich historische Festivals die Klinke in die Hand«, sagte ich. »Warum wollte er ausgerechnet aus den Staaten noch ein weiteres importieren?«

»Das Gleiche haben meine bessere Hälfte und ich ihn gefragt«, sagte Mr Malvern. »Er erklärte uns, dass die Engländer so …« Er verzog das Gesicht, als versuchte er sich an die genauen Worte seines Neffen zu erinnern. »Die Engländer sind besessen vom sogenannten Reenactment – von der genauen Wiedergabe historischer Ereignisse und Epochen. Cal sind historische Details ja piepegal – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck. Er kümmert sich nicht darum, ob die Leute als Kobolde kommen oder als Wikinger, die Hauptsache ist, sie haben ihren Spaß. Wie er neulich bei der Versammlung sagte, auf seiner Kirmes geht es um Unterhaltung, nicht um historische Fakten. Und darin unterscheidet sie sich von den meisten englischen Festspielen.«

»Ich finde es eine brillante Idee.« Ich schielte verstohlen zu Bill, ehe ich fragte: »Werden Sie im Kostüm erscheinen, Mr Malvern?«

»Ich werde als Patrizier kommen, was immer so ein Patrizier damals trug.« Mr Malvern zuckte gelassen die Schultern. »Cal hat das Kostüm für mich anfertigen lassen. Da kann ich ja nicht kneifen.«

Ich lächelte. »Scheint, als könnten Sie Calvin kaum etwas abschlagen.«

»Ich habe nun mal eine Schwäche für den Jungen, das kann ich nicht leugnen. Etwas an seinem Blick erinnert mich an meinen Bruder. Hin und wieder sehe ich es aufblitzen. Und er hat ein gutes Herz.«

»Er bringt jedenfalls einen frischen Wind hierher«, bemerkte ich. »Ich denke, die König-Wilfred-Kirmes ist das Beste, was Finch passiert ist, seit Kit Smith nach Anscombe Manor zurückgekehrt ist. Und mit dieser Meinung bin ich nicht allein, Mr Malvern. Jeder findet die Idee gut.«

»Solange Sie beide die Sache gut finden, bin ich zufrieden«, sagte der Farmer. »Wenn Sie auch nur ein Wort dagegen gesagt hätten, hätte ich die Sache im Handumdrehen beendet« – er schnalzte mit den Fingern –, »aber solange Sie sich nicht gestört fühlen, lass ich alles laufen wie geplant.«

Ich sah ihn überrascht von der Seite an. Obwohl ich seine Rücksichtnahme schätzte, machte mich seine offensichtliche Bereitschaft stutzig, der Kirmes notfalls noch am Vorabend der Eröffnung ein Ende zu bereiten. Es schien beinahe, als wäre er zum Cottage gekommen, um eine Entschuldigung zu finden, die Sache abzublasen. Während er seinen Tee austrank, erinnerte ich mich an meinen ersten Eindruck von ihm bei der Maiversammlung. Damals hatte ich gespürt, dass zwischen ihm und seinem Neffen etwas nicht stimmte. Ich fragte mich, ob ich mit meinem Gefühl richtig lag.

»Verzeihen Sie meine Neugier, Mr Malvern«, sagte ich, »aber ist alles in Ordnung zwischen Ihnen und Calvin? Als sich die Dorfbewohner bei der Versammlung gegen ihn zusammenrotteten, haben Sie eine Weile gezögert, bis Sie ihm beisprangen.«

»Zwischen Cal und mir ist alles in Butter«, sagte Mr Malvern. »Wenn ich mich bei der Versammlung nicht gleich für ihn starkgemacht habe, dann deshalb, weil ich mich ein bisschen genierte für die Art und Weise, wie Cal seine Ankündigung inszenierte. Ich steh nicht so gern im Rampenlicht wie er.« Er zögerte, ehe er fortfuhr: »Aber ich will nicht leugnen, dass ich mir ein bisschen Sorgen mache wegen dieser Kirmes.«

»Warum?«, fragte ich.

Mr Malvern rieb sich den Nacken und blickte stirnrunzelnd auf den Tisch, seufzte dann und sagte langsam: »Wie ich Ihnen sagte, war Cal nie ein guter Schüler. Wegen Mathe wäre er beinahe hängen geblieben. In Oxford kam er nie mit seinem Budget zurecht, und oft genug musste er sich bei mir Geld borgen, um über die Runden zu kommen. Mit Zahlen stand er eigentlich immer auf Kriegsfuß.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Bill und nickte. »Es ist schwer, ein Geschäft zu leiten, wenn man keinen Sinn für Zahlen hat.«

»Wenn Sie mich fragen, ist es so gut wie unmöglich«, sagte Mr Malvern. »Wie hat er es geschafft, genug Geld zurückzulegen, um die Kirmes zu finanzieren? Niemand kann aus seiner Haut heraus, auch nicht wenn er ein paar Jahre in Übersee war.«

»Und was ist mit seinem Erbe?«, fragte ich.

»Wenn Sie mich fragen, hat er einen Großteil des Geldes durchgebracht, während er in den Staaten lebte«, sagte Mr Malvern. »Nun muss er all die Genehmigungen und Bautrupps und das Baumaterial und die Löhne der Darsteller und weiß der Teufel was noch bezahlen. Seit er zurückgekehrt ist, wirft er mit Geld um sich, als gehörte ihm eine Bank.« Mr Malvern trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich würde gern mehr über seine finanzielle Situation erfahren. Ich verstehe es nicht, und was ich nicht verstehe, beunruhigt mich.«

»Ich würde mir nicht allzu viele Sorgen machen«, sagte ich. »Ich bin sicher, die Kirmes wird ein großer Erfolg und Calvin wird jeden Penny zurückbekommen, den er hineingesteckt hat. Ich kann es nicht erwarten, bis sie ihre Pforten öffnet.«

»Ich auch nicht«, sagte Bill. »Und Will und Rob wollen unbedingt die Ritter zu Ross sehen. Ich glaube, dass die Kirmes viele Familien anziehen wird.«

»Das wird sie auch müssen.« Mr Malvern stand auf, und Bill und ich taten es ihm gleich. »Zeit für mich zu gehen. Sie haben bestimmt auch was zu tun.«

»Es ist uns immer ein Vergnügen, Sie zu sehen«, sagte Bill.

»Kommen Sie bald mal wieder«, fügte ich hinzu.

»Danke, auch für den Tee.« Mr Malvern setzte sich seine Kappe auf, schüttelte Bill die Hand, wandte sich an mich und tippte sich an die Kappe. »Sie müssen mich nicht hinausbegleiten, ich finde schon raus.«

»Was für ein netter Mann«, sinnierte ich laut, nachdem Mr Malvern gegangen war. »Glaubst du, er hat Grund, sich über Calvins Geschäfte Sorgen zu machen?«

»Keine Ahnung. Wie auch immer, ich werde mir den Spaß auf der Kirmes dadurch nicht verderben lassen.«

»Ich auch nicht. Essen, trinken und fröhlich sein, das ist mein Motto für diesen Sommer.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr und machte Anstalten, den Tisch abzuräumen. »Zeit, mich um den Haushalt zu kümmern, außerdem muss ich demnächst die Zwillinge abholen.«

»Entspann dich«, sagte Bill. »Ich benötige ohnehin ein paar Unterlagen aus dem Büro. Auf dem Rückweg nehme ich die Jungen mit.«

»Du bist ein Prinz.«

»Ich bin ein Vater«, korrigierte mich Bill. Er gab mir rasch einen Kuss und ging ins Cottage. Kurz darauf hörte ich, wie der Range Rover rückwärts aus unserer Kieselsteinausfahrt fuhr. Der Wagen war mit Kindersitzen ausgestattet, und deshalb benutzen wir ihn immer, wenn die Zwillinge mitfuhren.

Da ich mich nun nicht mehr beeilen musste, setzte ich mich wieder an den Tisch und schenkte mir eine weitere Tasse Tee ein, in der Hoffnung, Ordnung in meine Gedanken bringen zu können, während ich über alles brütete, was Mr Malvern uns erzählt hatte. Ich hatte gerade einen großen Schluck genommen, als eine Stimme vom Zaunübertritt an der hohen Hecke ertönte, die den südlichen Rand des Gartens umgab.

»Hallo, Nachbarin! Was dagegen, wenn ich kurz reinkomme?«

Ehe ich den Tee hinunterschlucken konnte, segelte kopfüber ein junger Mann in zerrissener Jeans, einem gebatikten T-Shirt und schwarzen Stiefeln über den Zauntritt und landete auf den Knien in der Sandkiste der Zwillinge.

»Jinks der Hofnarr«, verkündete er. »Zu Ihren Diensten.«