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IN WENIGER ALS fünfzehn Minuten hatte ich mein bäuerliches Kostüm angezogen – ab jetzt meine Verkleidung –, aber ich brauchte weitere zwanzig Minuten, um den Mut aufzubringen, es außerhalb des Cottages zu tragen. Die weichen Lederschuhe waren eine große Verbesserung im Vergleich zu den Sandalen, die ich tags zuvor getragen hatte, die Wulsthaube war wunderbar, und die fließenden Röcke gewährten eine große Bewegungsfreiheit, nur das tief ausgeschnittene, figurbetonte Mieder ließ mich innehalten. Jedes Mal, wenn ich einatmete, wünschte ich, ich könnte mich mit einem Schal bedecken.
Ich rief mir in Erinnerung, dass auf der Kirmes genügend Dekolletés zu sehen waren, sodass meines gar nicht weiter auffallen würde. Außerdem hatte sich Bill jedes Recht verwirkt, einen Einwand gegen meinen Aufzug zu erheben. Wenn mein cooler mittelalterlicher Geck von einem Mann Anstalten machen sollte, sich über die allzu große Freizügigkeit seiner Frau in puncto Kleidung zu beschweren, würde ich kurzerhand auf seine eng anliegende Strumpfhose zu sprechen kommen.
Dermaßen in meinem Vorhaben bestärkt, befestigte ich das Messer von Harold le Rouge an meinem Ledergürtel, steckte ein paar nützliche Kleinigkeiten in den Gürtelbeutel, an den Sally Pyne ebenfalls gedacht hatte, und trat ins Sonnenlicht hinaus. Das Wetter war so schön, dass ich fürchtete, abermals in einen Stau zu geraten. Kurzerhand beschloss ich, den Mini stehen zu lassen und zu Fuß zum Bishop’s Wood hinüberzugehen. Wenn ich quer über Mr Malverns Weiden ging, würde ich weniger als eine Stunde benötigen. Und wenn ich für den Heimweg zu müde war, konnte ich jederzeit bei einem meiner Nachbarn mitfahren. Ich war mir sicher, dass die meisten zur Kirmes kommen würden, und wenn auch nur aus dem einen Grund, König Wilfred ihre Dankbarkeit zu zeigen, dass er Finch in der Stunde seiner Not beigestanden hatte.
Ich schloss die Haustür ab, ging ums Haus herum zum hinteren Garten, raffte die Röcke hoch und kletterte über den Zaunübertritt. Wäre es früher am Morgen gewesen, hätte ich mir Sorgen machen müssen, Jinks zu stören oder in seine Privatsphäre einzudringen, aber ich war so spät dran, dass ich nicht damit rechnete, ihn zu Hause anzutreffen. Am späten Vormittag würde der königliche Hofnarr zweifelsohne bei der Arbeit sein und die Kirmesbesucher mit seinem Witz und seinen akrobatischen Einlagen unterhalten.
Als ich jenseits des Übertritts angekommen war, erlaubte ich mir, mich in aller Ruhe umzuschauen. Jinks’ Wohnmobil war klein und ziemlich rostig, doch die hellgelben Vorhänge an den Fenstern und der Gartenstuhl neben dem Wagen machten einen wohnlich-gemütlichen Eindruck. Ich hätte es wohl eher anstrengend gefunden, einen ganzen Sommer in so beengenden Verhältnissen zu verbringen, konnte mir aber vorstellen, dass Jinks es inzwischen gewohnt war. Würde er das Vagabundenleben nicht mögen, sinnierte ich weiter, hätte er sich schon vor langem eine andere Beschäftigung gesucht.
Mr Malverns Kuhherde hatte entlang der Hecke, die seih Grundstück von unserem trennte, einen bequemen Trampelpfad geschaffen, dem ich nur zu folgen brauchte. Mehrmals musste ich noch über ein Gatter klettern, bis ich den Kirmesparkplatz erreichte, der heillos überfüllt war.
Sein Anblick bereitete mich auf die lange Schlange vor dem Haupteingang im Torhaus vor. Doch ich verkürzte mir die Wartezeit sinnvoll. Mit den Augen untersuchte ich den Teil der Brüstung, dessen Einsturz am vorigen Tag beinahe den Tod des Königs verursacht hätte. Die Brüstung war wieder vollständig hergestellt worden. Nichts wies darauf hin, dass es sich um mehr als einen unglücklichen Zufall gehandelt hatte. Also nahm ich an, dass die Eröffnungszeremonie diesmal ohne Zwischenfall über die Bühne gegangen war. Der Saboteur hätte ernsthaften Verdacht erregt, hätte er zum zweiten Mal den gleichen Unfall inszeniert.
Als ich schließlich durch den Haupteingang trat, wurde ich sogleich von einem Menschenstrom ergriffen. Der Torhausplatz platzte förmlich aus allen Nähten von schnatternden Kirmesbesuchern, und die verschlungenen Gassen, die von ihm abgingen, schienen völlig verstopft zu sein. Falls, wie Tante Dimity vermutet hatte, der Saboteur beabsichtigt hatte, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und von einem Kirmesbesuch abzuhalten, waren seine Pläne gehörig durchkreuzt worden.
Als ich die Pudding Lane erreichte, waren die Verkäufer an den Speiseständen vollkommen damit beschäftigt, die Wünsche ihrer Kunden zu erfüllen, sodass ich die Aussichten auf eine kleine Plauderei mit einem der Standbesitzer ziemlich schlecht einschätzte. Ich tröstete mich mit einem Honigkuchen, beschloss, es später am Tag erneut zu versuchen, und machte mich auf die Suche nach der Gasse, in der ich tags zuvor die Madrigalsängerinnen gesehen hatte.
Ich hoffte, dass es dort noch immer einigermaßen ruhig zuging, wollte ich doch meine Bekanntschaft mit der Kristallkugelverkäuferin erneuern. Als ich sie nach der kleinen Mirabel ausgefragt hatte, war sie freundlich und redselig gewesen. Wenn nicht gerade Möchtegern-Wahrsager ihren Stand bestürmten, war sie gewiss gewillt, die Unterhaltung mit mir fortzusetzen.
Doch es war gar nicht so einfach, dorthin zu gelangen. Die Geräusche, das geschäftige Treiben und die unzähligen Zerstreuungen, die die Kirmes bot, machten es schier unmöglich, sich einen gezielten Weg durch das Labyrinth sich kreuzender Gassen zu bahnen. Ein Programmheft mit der praktischen Übersichtskarte wäre jetzt hilfreich gewesen, doch hatte ich das Programm des Vortags zu Hause gelassen und beschlossen, kein neues mitzunehmen, war es doch zu groß für meinen Gürtelbeutel.
Zunächst kam ich nur langsam voran, doch plötzlich wurde ich vollends am Weiterkommen gehindert, und zwar von einem Clown in Gestalt von Cyrano de Bergerac, der sich mir an der Kreuzung von Harmony Lane und Broad Street in den Weg stellte. Nachdem er mir eine langstielige rote Rose überreicht hatte, sank der extravagante Dandy vor mir auf ein Knie und sagte ein Gedicht auf, das meine Augen pries, während er den Blick fest auf meine Brust heftete. Er flirtete so schamlos mit mir, dass sich eine Traube von amüsierten Zuschauern um uns bildete, die offensichtlich glaubten, es handle sich um einen Sketch und ich sei ebenfalls eine Darstellerin. Als er zum Abschluss seine Lippen – und seine überdimensionale Nase – auf meine Hand presste, war ich zu der Überzeugung gelangt, dass meine Verkleidung Wirkung zeigte. Mit ein wenig Glück und der entsprechenden mittelalterlichen Pose würde ich bestimmt einen Blick hinter die Kulissen der Kirmes werfen können.
Ich suchte noch immer nach dem Kristallkugelstand, als Peggy Taxmans unverwechselbares Organ mir in den Ohren gellte.
»Wasser! Wasser! Eiskaltes Wasser! Stillt euren Durst. Hier!«
Ihre überlaute Stimme ließ mich innehalten. Ich warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und sah Peggy vor einem kleinen Stand keine zwanzig Schritte entfernt. Sie hatte mich in meiner Verkleidung nicht bemerkt, denn ihr Blick glitt über mich hinweg ohne den Hauch eines Erkennens. Erleichtert huschte ich hinter einen Baum, um vorsichtig hervorzuspähen und zu beobachten, wie sie ihre Waren feilbot.
»Kostbarer Balsam für eure Haut!«, brüllte sie und hielt eine Tube Sunblocker hoch. »Schützt eure Epidermis vor den unheilvollen Strahlen des Himmelskörpers!«
Peggys Stand war womöglich einer der populärsten auf der Kirmes, da sie ihn mit Artikeln bestückt hatte, die weniger dekorativ als nützlich waren. Man konnte zusehen, wie sich die Regale mit Gesichtsschutzschirmen, Sonnencreme, Lippenbalsam, Einmalkameras, Insektenspray, Papiertaschentüchern und Desinfektionstüchlein leerten; und das Mineralwasser wurde ihr förmlich aus den Händen gerissen.
Abgesehen davon, dass sie einige elementare Wünsche ihrer Kunden befriedigen konnte, bot sie ihnen obendrein eine denkwürdige Show. Ob sie es beabsichtigte oder nicht, jedenfalls war sie eine ausgezeichnete Unterhalterin. Eine mit einer eisernen Lunge ausgestattete Marktschreierin. Nachdem die Menschen ihre Einkäufe getätigt hatten, verweilten sie noch ein wenig in der Nähe des Standes. Doch nicht nur das Volumen ihrer Stimme hatte Unterhaltungswert, sondern auch ihre Erscheinung. Peggy füllte ihr gelb und blau gestreiftes Mieder zur Gänze aus, und doch wirkte sie keineswegs lächerlich, sondern im Gegenteil majestätisch. Ihre statuenhafte Erscheinung und ihre gebieterische Präsenz in Verbindung mit ihrem praktischen Sortiment sorgten für einen steten Kundenstrom an ihrem Stand.
»Ich frag mich, wie lange die Schnürbänder noch halten werden«, sagte eine ruhige Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und sah Sally Pyne hinter mir stehen und an mir vorbei in Peggys Richtung spähen.
»Sie sind aus Nylon, aber auch Nylon hat seine Grenzen«, fuhr sie fort. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete mich kritisch, wobei sie sich davon überzeugte, dass wir beide hinter dem Baum verborgen waren. »Du füllst dein Oberteil hübsch aus, Lori – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig.«
»Sally«, protestierte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Erzähl mit bloß nicht, dass du das nicht weißt«, sagte sie tadelnd. »Ich habe gesehen, wie der Typ mit der langen Nase sich an dich rangemacht hat.«
In der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit von meinen auffälligen Reizen abzulenken, musterte ich ihre Baumwollbluse, ihre Schlabbershorts und Turnschuhe und fragte sie: »Warum trägst du kein Kostüm?«
»Ich war zu sehr damit beschäftigt, Sachen für andere zu nähen, und hatte keine Zeit mehr, mich selbst einzukleiden. Im Übrigen fühl ich mich wohl, wie ich bin.« Sie schob die Hände in ihre Taschen und schaukelte auf den Absätzen. »Hast du schon von König Wilfreds Krone gehört?«
Mein Mund blieb offen stehen, als mich erdbebenartig die Erkenntnis überkam. Es war so schockierend offensichtlich, dass ich mich wie ein hoffnungsloser Schwachkopf fühlte, weil ich nicht früher darauf gekommen war. Die guten alten Einwohner von Finch waren veritable Bluthunde, wenn es darum ging, saftige Informationshappen zu erschnüffeln. Sie hatten eine hervorragende Beobachtungsgabe, waren aufmerksam, unerbittlich und stets begierig, mit anderen zu teilen, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Wozu brauchte ich Fremde auf der Kirmes zu befragen, um herauszufinden, was vor sich ging? Es reichte, wenn ich mit meinen Nachbarn plauderte.
»Nein.« Ich beugte mich näher zu Sally. »Ich habe nichts von König Wilfreds Krone gehört.«
Sally rückte noch näher zu mir und senkte die Stimme. »Er trägt heute eine andere. Es heißt, dass die spitze, die er gestern auf dem Kopf hatte, verloren gegangen ist.«
»Verloren gegangen?«, wiederholte ich in harmlosem Ton.
»Gestohlen«, sagte sie. »War ein stolzes Sümmchen wert, sagt man.«
»Du machst Witze. Für mich hat sie wie billiger Tand ausgesehen.«
»Die meisten der Juwelen waren Strasssteine«, bekräftigte Sally, »aber die Saphire und Diamanten waren echt. Er hat sie vom Verlobungsring seiner Mutter abnehmen und in die Krone einsetzen lassen, in Erinnerung an sie, sagen die Leute.«
»Armer Calvin.« Ich schüttelte traurig den Kopf. »Hat er Anzeige bei der Polizei erstattet?«
»Nein. Calvin will nicht, dass Polizisten in dem Camp herumschnüffeln. Ihnen könnte das eine oder andere, was sie dort sehen, nicht gefallen.« Sie zwinkerte. »Unkonventioneller Tabak und solche Sachen.«
Plötzlich stand Mr Barlow neben Sally. Er schien wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein, aber auch er achtete penibel darauf, dass der Baum Peggy Taxmans Sicht auf ihn verstellte. Wie Sally trug auch Mr Barlow normale Sommerkleidung. Doch offensichtlich war es ihnen auch ohne Verkleidung gelungen, Tratsch aufzuschnappen.
»Ich nehme an, du hast Lori von der Krone erzählt«, sagte er zu Sally.
»Ja, soeben.«
»Warten Sie nur, bis Sie von der Sache mit der Kanone erfahren«, sagte Mr Barlow.
»Das wollte ich gerade erzählen«, sagte Sally und runzelte irritiert die Stirn.
»Was ist denn mit der Kanone passiert?«, fragte ich.
»Jemand hat sich daran zu schaffen gemacht«, erklärte Mr Barlow. »Deshalb gab es heute Morgen keine Kanonensalve.«
»Sagen die Leute«, warf Sally ein.
»Du meine Güte«, sagte ich. »Was heißt, jemand hat sich daran zu schaffen gemacht?«
»Jemand hat am Rohr herumgefummelt«, sagte Mr Barlow. »Wenn sie losgegangen wär, hätte es die Kanoniere ins Jenseits befördert.«
»Ich habe was anderes gehört«, sagte Sally. »Ich habe gehört, dass jemand das Rohr mit Kanonenkugeln gefüllt und es gegen das Torhaus gerichtet hat.«
»Wie auch immer«, sagte Mr Barlow und bedachte Sally seinerseits mit einem Stirnrunzeln, »Horace Malvern ist der Kragen geplatzt. Er sagt, er will nicht, dass das verflixte Ding noch mal eingesetzt wird. Er will es von seinem Grundstück weghaben, bevor jemand verletzt wird.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte ich.
»Sie haben sie wohl zu ihrem Camp rübergeschafft«, sagte Mr Barlow und nickte vage in Richtung des Schaustellerlagers.
»Sie hätten sie gar nicht erst hierherbringen sollen«, meinte Sally. »Gefährliches Ding, so eine Kanone.«
»Nein, nicht wenn man sie richtig handhabt«, erklärte Mr Barlow.
In Befürchtung, sogleich Zeugin eines verbalen Finch’schen Tauziehens zu werden, beschloss ich, die beiden allein zu lassen.
»Tut mir leid«, sagte ich und reichte Sally die langstielige Rose. »Ich muss mich beeilen. Bin mit Bill und den Jungen beim Streichelzoo verabredet.«
»Schön, Sie gesehen zu haben, Lori«, sagte Mr Barlow.
»Wo wir es gar nicht gewohnt sind, so viel von dir zu sehen«, sagte Sally schelmisch.
Ihr Kichern begleitete mich, während ich, mit hochrotem Gesicht, in die nächstbeste Gasse flüchtete. Sallys anzüglicher Kommentar hatte mich daran erinnert, dass ein Plausch mit Nachbarn auch seine Schattenseiten haben konnte. Doch mein Schamgefühl war bereits wieder vergessen, als ich in der Ferne ein Glitzern sah – ein Sonnenstrahl, der sich auf einer Kristallkugel verfangen hatte. Ich eilte auf die Stelle zu, erkannte den Stand mit den Bronzedrachen und wusste, dass ich endlich die ruhige Gasse wiedergefunden hatte.
Die Kristallkugelverkäuferin war in ein lebhaftes Gespräch mit einer jungen Frau vertieft, die einen Turban trug, ein paillettenbesetztes Bolerojäckchen und eine Flaschengeist-Hose. Ich nahm an, dass die junge Frau eine potenzielle Kundin war, und hielt mich etwas im Hintergrund, um das Ende des Verkaufsgesprächs abzuwarten. Doch bald wurde meine Aufmerksamkeit von einem aufgeregten Geflüster erregt, das aus dem Durchgang zwischen zwei Ständen zu meiner Linken kam.
Augenblicklich war mein geübter Beobachtungsinstinkt hellwach. Ohne zu zögern huschte ich in die Nähe, um die Flüsternden zu belauschen. Im Bruchteil einer Sekunde wusste ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Edmond und Mirabel waren in ein hitziges Gespräch vertieft und machten sich nicht die Mühe, sich einer mittelalterlich anmutenden Mundart zu bedienen.
»Ist mir egal, ob du mich je wieder eines Blickes würdigst«, sagte Edmond. »Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst.«
»Ich werde nicht verletzt werden«, sagte Mirabel.
»Du weißt nicht, in was für eine Sache du da hineingerätst«, sagte Edmond. »Er hat einen gewissen Ruf …«
»Ein Mann wie er muss schließlich einen Ruf haben«, unterbrach Mirabel ihn. »Ich weigere mich ganz einfach, alle Geschichten zu glauben, die über ihn in Umlauf sind.«
»Jede einzelne davon ist wahr. Ich habe erlebt, wie er andere Mädchen auf die gleiche Weise ausgenutzt hat. Er sucht immer das jüngste und unerfahrenste Mitglied der Truppe aus.«
»Ich bin zwanzig Jahre alt, Edmond«, sagte Mirabel aufbrausend. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Ich weiß. Aber auf diesem Gebiet hast du noch keine Erfahrung. Man verfängt sich leicht im Reich der Fantasie.«
»Ich denke, dass ich sehr wohl zwischen Realität und Fantasie unterscheiden kann, vielen Dank«, sagte Mirabel ärgerlich.
»Wenn du das könntest, würde dir klar sein, dass er mit dir spielt. Für ihn ist es nur ein Spiel. Es ist nicht wirklich. Er verkörpert eine Rolle, und zu seiner Rolle gehört es, junge Mädchen zu umgarnen.«
»Mir gefällt es, umgarnt zu werden«, sagte Mirabel sorglos.
»Nicht wenn du dabei auf der Nase landest«, sagte Edmond sehr ernst. »Er wird dich benutzen und dich dann fallen lassen.«
»Du sprichst von seiner Vergangenheit. Ich weiß aber, dass er sich geändert hat.«
»Hat er dir das gesagt?« Edmond ließ ein verbittertes Stöhnen vernehmen. »Das ist doch die älteste Masche der Welt.«
»Dieses Mal meint er es ernst.«
»Du machst dir etwas vor. Bitte, Janet …«
»Ich bin nicht Janet«, sagte sie scharf, »ich bin Mirabel.«
»Du heißt Janet Watkins. Du bist in Nottingham geboren und aufgewachsen, und wenn der Sommer vorbei ist, gehst du dorthin zurück, weil es dein Zuhause ist, weil du dort hingehörst. Mirabel ist eine Rolle, die du spielst.«
»Weißt du, was dein Problem ist, Edmond?«, sagte Mirabel, und ihre Stimme erhob sich. »Du bist langweilig. Wir sind am romantischsten Ort der Welt, und du benimmst dich, als wäre es einfach nur ein Job wie jeder andere. Schau dich an, in deiner Jeans und deinem langweiligen Hemd. Du bist gewöhnlich. Du hast keine Fantasie. Du hast nicht einen Funken Poesie in deiner Seele. Du würdest mich nie über die Schulter werfen und mich in dein Schloss tragen. Allenfalls würdest du mich auffordern, in deiner Schubkarre Platz zu nehmen, und mich dann zu deinem Bungalow karren. Würdest du jetzt bitte deiner Arbeit nachgehen und aufhören, mir wie ein bemitleidenswerter Welpe hinterherzulaufen? Ich kann sehr wohl selbst auf mich aufpassen.«
Ich hörte ein Rauschen, als Mirabel ihre Röcke raffte, und drehte mich rasch zum nächstgelegenen Stand um. Während ich so tat, als würde ich eine Sammlung grotesker Wasserspeier betrachten, stürmte Mirabel an mir vorbei, um sich zu den anderen Madrigalsängerinnen zu gesellen, die vor den bronzenen Drachen standen. Einige aus der Gruppe machten Anstalten, sie zu trösten, doch die größte unter ihnen rief die Mädchen schnell zur Ordnung. Einen Moment später war die Gasse erfüllt von der Harmonie ihres exquisiten Gesangs.
Ich wollte gerade nachsehen, ob sich Edmond noch immer zwischen den beiden Buden aufhielt, als er in dem Durchgang auftauchte und einen hoffnungslosen Blick in Mirabels Richtung warf. Sie setzte einen Ton aus, blitzte ihn wütend an, um dann mit wütender Inbrunst weiterzusingen; diesmal legte ihr das größte Mädchen selbst eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Edmond beugte den Kopf und spannte den Kiefer an, als hätte er Schmerzen, ehe er auf dem Absatz kehrtmachte und geräuschlos zwischen den zwei Buden verschwand.
Ich folgte ihm. Wenn er vor diesem Streit mit Mirabel verzweifelt genug gewesen war, die Krone des Königs zu stehlen und sich an der Kanone zu schaffen zu machen, dann wollte ich mir gar nicht ausmalen, wozu er jetzt imstande sein würde. Entweder würde er sich an einen ungestörten Zufluchtsort zurückziehen, um seine Wunden zu lecken, oder wie ein verletzter Stier durchdrehen. Was immer er auch tun würde, wollte ich in der Nähe sein und es bezeugen.
Tante Dimity hatte mich ermahnt, mich nicht in Gefahr zu bringen, und ich war fest entschlossen, ihren Rat zu beherzigen. Edmond war ein strammer junger Bursche, während ich durch meine Röcke behindert wurde. Außerdem fürchtete ich, dass mein Mieder bei größerer Anstrengung bersten könnte. Ich hatte also nicht vor, mich ihm in den Weg zu stellen, sollte er beschließen, den König offen anzugreifen, noch würde ich mich auf ihn stürzen und ihn zu Boden ringen, um ihn an einem weiteren Sabotageakt zu hindern. Allerdings war ich durchaus bereit, einen Warnschrei auszustoßen, um einen physischen Angriff abzuwehren, oder auf andere Weise mein Bestes zu tun, um sein Vorhaben zu vereiteln.
Edmond schien zu sehr in sein Elend versunken zu sein, um die Frau zu bemerken, die hinter ihm von Bude zu Bude huschte. Was mich nicht weiter überraschte. Mirabel hatte ihn nicht nur zurückgewiesen, sie hatte seine guten Absichten mit Füßen getreten. Ihre letzten Sätze waren so vernichtend gewesen, dass jeder Mann, der so etwas zu hören bekam, am Boden zerstört sein musste. Wäre ich mir nicht so sicher gewesen, in Edmond den Hauptverdächtigen für den Anschlag auf den König gefunden zu haben, hätte er mir schrecklich leidgetan.
Der dunkelhaarige junge Handwerker ging mit gesenktem Kopf und dennoch zielstrebig weiter. Keine Sekunde hielt er inne, um seine Route zu überprüfen, oder um unschlüssig an einer Kreuzung stehen zu bleiben. Mehrmals kürzte er ab, indem er zwischen zwei Buden durchschlüpfte, und obwohl einige Standverkäufer und Darsteller ihm einen freundlichen Gruß zuwarfen, bedachte er keinen eines Blickes. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir gingen, bis wir das kleine Feld zwischen der Bogenschießanlage und der Farthing Stage erreichten. Als ich die Tänzer, Akrobaten, Fußsoldaten und Höflinge sah, die sich hinter den Herolden des Königs aufstellten, wurde mir klar, dass Edmond von seinem niederschmetternden Streit schnurstracks zu der Stelle gegangen war, an dem die Aufstellung für die königliche Prozession stattfand. Eine ungute Vorahnung beschlich mich.
Mein Herz raste, als er sich König Wilfred näherte, und mit bebendem Busen machte ich mich bereit, einen Schrei auszustoßen, der Peggy Taxman würdig gewesen wäre, doch zu dieser lebensrettenden Aktion sollte es nicht kommen. Statt sich nach vorn zu stürzen und einen Dolch in das lüsterne, verräterische Herz des Königs zu stoßen, bog Edmond kurz bevor er den König erreichte ab und steuerte auf einen Schuppen hinter der Bühne zu. Während die Herolde ihre Trompeten bliesen und den Umzug anführten, der sich in Richtung Broad Street in Bewegung setzte, zog Edmond seinen Schubkarren aus dem Schuppen, legte eine Schaufel und einen Sack Sägemehl hinein und wartete.
Das Gefühl der Ernüchterung schlug mit solcher Macht über mir zusammen, dass ich mich gegen einen Baum lehnen musste, bis es vorüber war. Edmond hatte sich nicht zum Ausgangspunkt der Prozession begeben, um seinen verhassten Nebenbuhler zu ermorden. Er war hergekommen, um die Werkzeuge zu holen, die er brauchte, um den Prozessionsweg von den Pferdeäpfeln zu säubern. Ich wünschte König Wilfred nichts Böses, und doch war ich in Erwartung der kommenden Tragödie so angespannt gewesen, dass ich beinahe enttäuscht war, als sie ausblieb.
Ernüchtert ging ich zur Broad Street, um Will, Rob, Alison, Billy und Emma zuzuwinken. Ich hielt mich lang genug in Edmonds Nähe auf, um sicherzugehen, dass er nichts anderes tat als seinen Job. Erst dann machte ich mich auf den langen Weg quer über das Kirmesgelände zur Shire Stage.
Ich wollte nicht zu spät zu meiner Verabredung mit Jinks kommen. Zwar diente mein Treffen mit dem Hofnarren des Königs vor allem meinem Vorhaben, ihm auf den Zahn zu fühlen – über die Brüstung, die Quintana, die Kanone, die abhandengekommene Krone und manches mehr –, aber ich hatte auch das dringende Bedürfnis, mal wieder herzhaft zu lachen.