20

DA BILL DIE Akten, die er fürs Wochenende mit nach Hause gebracht hatte, nicht eines Blickes gewürdigt hatte, machte er sich am Montagmorgen früher als üblich auf den Weg ins Büro. Die Zwillinge und ich frühstückten ohne ihn, ehe wir in den Range Rover kletterten und nach Anscombe Manor fuhren. Ich ließ sie beim Reitstall aussteigen, wo sie bei Kit Smith Reitunterricht hatten. Als ich den Wagen wendete, eilte Emma Harris, einen Pappkarton unter dem Arm, aus dem Herrenhaus und rief nach mir. Ich hielt an und ließ die Scheibe herunter.

Sie kam zur Fahrertür und atmete erst einmal tief durch, ehe sie sagte: »Wenn du nach Finch fährst, würdest du mich mitnehmen? Ich habe den Pferdeanhänger noch nicht abgehängt und würde nur ungern damit ins Dorf fahren.«

»Rein mit dir.«

Sie ging um den Wagen herum und kletterte auf den Beifahrersitz. Ich wartete, bis sie den Karton auf den Schoß gestellt und den Gurt angelegt hatte, ehe ich den Wagen langsam die lange, kurvenreiche Zufahrtsstraße hinunterrollen ließ, die zu unserer kleinen Landstraße führte.

»Was ist in dem Karton?«, fragte ich.

»Brombeermarmelade.«

Meine beste Freundin gehörte zu den deprimierenden Menschen, die nicht nur gut in allem sind, was sie tun, sondern auch noch die Zeit finden zu tun, worin sie gut sind. Wie ich war auch Emma eine in England lebende Amerikanerin, aber im Gegensatz zu mir war sie Computerprogrammiererin, leitete einen Reitstall, kümmerte sich um einen riesigen Garten, half ihrem Mann in seinem Gebäuderestaurierungsbetrieb und machte neben vielen anderen Dingen auch noch das Obst aus ihrem Garten ein.

»Wen beschenkst du damit?«, wollte ich wissen.

»Miranda Morrow. Ich will mich bei ihr bedanken, weil sie die zerstörten Blumenbeete neu bepflanzt hat. Ich bin gespannt, was sie Neues gepflanzt hat. Ich fürchte zwar, dass ihre Pflanzen nicht unbedingt legal sind, aber schön sind sie bestimmt.«

Emma brauchte keine weiteren Erklärungen hinzuzufügen. Jeder in Finch wusste, dass in dem dschungelartigen Garten, der Mirandas Cottage umgab, unglaublich viele verschiedene und zum Teil höchst ungewöhnliche Pflanzen wuchsen. Niemanden kümmerte es, denn es gab keinen Bewohner, der nicht schon einmal irgendwann von ihren Kräutertees, Umschlägen oder Massageölen profitiert hatte. Tante Dimity hätte Emmas nachbarschaftliche Geste jedenfalls gutgeheißen.

»Was für ein Zufall«, sagte ich. »Ich bin ebenfalls auf dem Weg zum Briar Cottage. Ich werde möglicherweise einige von Mirandas Kräuterwickeln brauchen, bevor die Woche zu Ende ist.« Ich erzählte Emma von meinem Wrestlingkampf mit Sir Jacques und meiner Sorge um Bills Gesundheit und Wohlbefinden, sollte er Vergeltung üben wollen.

»Wenn Bill dem Lüsternen Jack einen Kinnhaken verpasst, will ich auch dabei sein, um ihn anzufeuern«, sagte Emma energisch. »Jack hat mich ebenfalls angemacht. Besonders anziehend fand er meine Reitgerte, bis ich ihm damit übers Gesicht gefahren bin.«

»Du liebe Güte. Ist irgendeine Frau vor ihm sicher?«

»Wenn ich Horace Malvern wäre, würde ich meine Kühe vor ihm verstecken.«

Wir lachten herzlich. Als wir am Haus der Pym-Schwestern vorbeifuhren, fragte ich Emma, ob sie wisse, wann die beiden aus dem Urlaub zurückkämen.

»Nächste Woche. Ich glaube, Ruth und Louise werden die König-Wilfred-Kirmes mögen.«

»Sie werden entzückt sein«, stimmte ich ihr zu. »Ich sehe sie schon vor mir, ganz in Samt und Gold gewandet.«

Schweigend riefen wir uns das Bild der liebenswürdigen und absolut identischen Zwillingsschwestern vor unser geistiges Auge, gehüllt in die prächtigsten mittelalterlichen Gewänder, die Sally Pyne zu nähen imstande war.

»Calvin wird nicht umhinkommen, sie zu fragen, ob sie zu seinem Hofstaat gehören wollen«, sagte ich. »Ruth und Louise sind die geborenen Aristokratinnen.«

»Königinnen durch und durch«, sagte Emma.

Wir fuhren über die Buckelbrücke, und ich empfand ein Gefühl der Erleichterung, als ich sah, dass das Kaufhausfenster erneuert worden war und das Dorf wieder so adrett wie immer wirkte. Meine zweite Reaktion war etwas vielschichtiger.

»Was um Himmels willen …«, murmelte ich.

Eine groß gewachsene Gestalt stand in der Mitte des Dorfangers. Der Mann war so dürr, dass sich jeder Muskel und jede Sehne unter seiner Haut abzuzeichnen schien, als wäre er eine wandelnde Anatomiepuppe. Sein graues Haar fiel ihm über die Schultern, und sein grauer Bart reichte ihm bis zu den Schlüsselbeinen. Er trug eine Silberkette mit einem Halbmondanhänger um den Hals.

»Ich … glaube«, sagte Emma langsam, »das ist ein Zauberer, der … Tai-Chi macht.«

»Ich glaube, du hast recht.« Ich nickte bedächtig. »Der violette Spitzhut verrät ihn.«

»Vermutlich fühlt er sich in Kleidern zu sehr eingeengt«, bemerkte Emma. »Oder aber ein anderer, böser Zauberer hat sie verschwinden lassen.«

»Das würde erklären, warum er nur eine Unterhose trägt«, sagte ich gleichmütig.

»Und einen Hut«, sagte Emma. »Vergiss den Hut nicht.«

»Er wohnt in Sally Pynes Gästezimmer«, ließ ich Emma wissen.

»Wie aufregend für Sally.«

Als wir an ihm vorbeifuhren, machten wir uns nicht die Mühe, unser Kichern zu unterdrücken. Jeder, der in Unterhose Tai-Chi auf einem Dorfanger praktizierte, musste Kichern in Kauf nehmen. Etwas weiter hinten, in der Nähe des Kriegsdenkmals, waren zwei Jongleure dabei, einen Apfel, zwei Bananen und drei Honigmelonen zwischen sich hin und her zu wirbeln. Und noch etwas weiter weg verhielt sich eine weitere einsame Gestalt ziemlich merkwürdig.

»Ob er einen Anfall hat?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Emma. »Das ist der Pantomime.«

»Ach ja. Er wohnt bei Grant und Charles. Was mimt er denn im Moment?«

»Er führt einen imaginären Hund spazieren«, sagte Emma.

»Es muss ein großer Hund sein. Er hat eben so fest gezogen, dass sein Herrchen fast umgefallen wäre.«

Grog, der Basset der Peacocks, beobachtete das Ganze von seinem gewohnten Platz an der Eingangstür des Pubs aus. Die ruckartigen und abgehackten Bewegungen des Pantomimen faszinierten ihn offensichtlich, wohingegen er sich von dem imaginären Hund nicht bedroht zu fühlen schien. Nach einigen Sekunden legte er den Kopf auf seine Pfoten und döste ein. Das Pubschild hing, wie ich mit Befriedigung bemerkte, wieder gerade an einer neuen Kette, und niemand schaukelte daran.

George Wetherhead und Mr Barlow saßen auf der Bank in der Nähe des Kriegsdenkmals und teilten sich eine Tüte Kartoffelchips, während sie den Jongleuren zusahen. Buster, Mr Barlows Cairn-Terrier, half den beiden Artisten, ihre Konzentration zu trainieren, indem er zwischen ihnen hin und her sprang und sie gelegentlich in die Zehen zwickte. Im Vorüberfahren winkten wir unseren Nachbarn zu, und sie winkten zurück.

»Ich bin froh, dass Mr Wetherhead wieder auf dem Damm ist«, sagte ich.

»Lilian Bunting hat gestern ungefähr eine Stunde gebraucht, um ihn zu überzeugen, dass es vollkommen ungefährlich ist, zur Abendandacht zu kommen«, sagte Emma. »Sie musste ihn von seinem Haus zur Kirche begleiten und nach der Andacht wieder zurück.«

»Eine Banktherapie scheint genau das Richtige für ihn zu sein. Es gibt nichts Besseres als frische Luft und eine Tüte Kartoffelchips, um seine Nerven zu beruhigen.«

Ich stellte den Rover am Bordstein in der Nähe des Briar Cottage ab. Miranda Morrow begrüßte uns an der Haustür, nahm mit Entzücken Emmas Geschenk entgegen und versicherte mir, dass sie genug Pflanzen im Garten habe, um in kürzester Zeit alle möglichen Kräuterwickel herzustellen.

»Sie wirken am besten, wenn die Kräuter ganz frisch sind«, riet sie mir. »Aber ich kann dir jederzeit vorbeibringen, was du benötigst, Tag oder Nacht. Ein Anruf genügt.«

»Ich glaube nicht, dass eine Nachtlieferung notwendig sein wird.«

»Egal wann, Tag oder Nacht«, versicherte Miranda mir. »Wenn Bill dem Lüsternen Jack die Nase bricht, werde ich ihn sein Leben lang kostenlos mit Kräuterwickeln versorgen.«

»Das hört sich an, als wärst du auch kein Fan des Lüsternen Jack«, sagte ich.

»Mit gutem Grund, kann ich mir denken«, sagte Emma.

»Er hat ein schlechtes Karma«, erklärte Miranda, »und er hat versucht, es mit mir zu teilen.«

»Willkommen im Club«, sagte Emma.

Miranda warf ihr rotblondes Haar zurück. »Wenn Bill ihm obendrein den Kiefer bricht, lege ich noch eins drauf: ein Jahr lang kostenlose Massagen für euch beide.«

»Bill wird mindestens ein Jahr lang Massagen brauchen, wenn er gegen den Lüsternen Jack antritt«, sagte ich. »Mein Mann ist ein Liebhaber, aber kein Kämpfer.«

»Liebhaber geben die besten Kämpfer ab«, sagte Miranda. »Hast du das noch nicht bemerkt?«

Als wir durch den wild wuchernden Vordergarten zurück zum Auto gingen, schüttelte Emma verwirrt den Kopf. »Man würde nicht meinen, dass Miranda Pazifistin ist.«

»Der Lüsterne Jack würde jede friedliebende Frau zu einer rasenden Axtmörderin machen«, sagte ich vergnügt. »Das ist auch eine Begabung.«

Wir schlenderten zum Kriegsdenkmal, um die neu bepflanzten Beete zu bewundern. Zu unserer Überraschung sahen sie fast genauso aus wie die alten, die randalierende Tagesausflügler verwüstet hatten. Statt der Komposition ihre eigene kreative Note – und seltene Kräuter – hinzuzufügen, war Miranda Emmas ursprünglichem Konzept gefolgt und hatte eine patriotische Mischung aus roten Geranien, blauen Petunien und weißen Lobelien gepflanzt.

»Vielleicht will sie auf Nummer sicher gehen, eingedenk der von Mr Malvern initiierten Polizeikontrollen«, sagte ich.

»Hoffen wir, dass die Constables nicht auf die Idee kommen, eine Gartentour durchs Dorf zu machen.«

Nachdem die Jongleure sich im Gras ausgestreckt hatten, um sich ein wenig zu erholen, standen Mr Barlow und Mr Wetherhead von ihrer Bank auf und kamen zu uns herübergeschlendert. Buster beschnüffelte die neuen Blumen, während die beiden Männer uns informierten, dass die Touristeninvasion am Vortag von einem Achtung gebietenden Constable in Schach gehalten worden sei.

»An die zwei Meter groß, wenn’s reicht, und ein Bulle von einem Mann«, sagte Mr Barlow. »Constable Huntzicker musste seine Stimme kein bisschen erheben, als er die Leute anwies, ihren Abfall mit nach Hause zu nehmen oder ihn in die Abfalleimer zu werfen. Sie haben fast von selbst gespurt.«

»Die Sciaparelli-Jungen haben wieder Türsteher beim Pub gespielt«, sagte Mr Wetherhead und strich die paar wenigen Haarsträhnen glatt, die seinen fast kahlen Schädel bedeckten. »Aber sie hatten kaum etwas zu tun. Constable Huntzicker hatte alles im Griff.«

»Sie haben gestern Abend im Pub was verpasst«, informierte uns Mr Barlow. »Das Lokal platzte fast aus allen Nähten vor Kirmesleuten. Dick und Chris kamen mit den Essensbestellungen kaum mehr nach. Für ihr Geschäft war’s gut, aber die Kirmesleute hatten mal wieder Pech.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.

»Beim Festbankett des Königs gab es eine Lebensmittelvergiftung«, sagte Mr Wetherhead wichtigtuerisch. »König Wilfred wurde ins Krankenhaus gebracht.«

Ich atmete erschrocken ein und drehte mich abrupt zu ihm um. »Wie geht es ihm?«

»Er ist wieder wohlauf«, sagte Mr Barlow zu mir gewandt. »Sie haben ihm den Magen ausgepumpt und ihn heute Morgen zu seinem Wohnmobil zurückgeschickt.«

»Ist sonst noch jemand erkrankt?«, fragte ich erregt.

»Drei Höflinge und Sir James der Siegreiche hatten nach dem Essen Bauchschmerzen«, erklärte Mr Wetherhead, »aber es ging ihnen nicht so schlecht wie dem armen Calvin.«

»Daraufhin beschloss der Rest des Königshofs, das Abendessen in den Pub zu verlegen«, ergänzte Mr Barlow. »Was für ein Theater! Sie haben gesungen und getanzt und Anekdoten zum Besten gegeben, bis der Pub schloss. Diese Leute kennen Lieder, die ich noch nie im Leben gehört habe – sie klingen, als stammten sie aus den Zeiten Königin Elisabeths I. Wär ’ne tolle Sache, wenn sie heute wieder in den Pub kämen.«

Ich warf einen beunruhigten Blick in Richtung Bishop’s Wood. Für mich war klar, dass die angebliche Lebensmittelvergiftung nichts anderes als ein weiterer Mordanschlag auf Calvins Leben war. Während meine Nachbarn fortfuhren, über den ausgelassenen Abend im Pub zu plaudern, überlegte ich, ob ich die Neuigkeiten mit Mr Malverns Privatdetektiv teilen sollte. Es war durchaus möglich, dass Bill, als er ihm meine Geschichte darlegte, unwissentlich das ein oder andere Detail ausgelassen hatte, das möglicherweise eine entscheidende Rolle spielte. Wenn der Detektiv die Dinge nicht aus erster Hand erfuhr, würde es ihm vielleicht nicht gelingen, bis zum nächsten Wochenende den Übeltäter zu identifizieren und damit König Wilfreds Leben zu retten.

Der Gedanke hielt mich noch immer gefangen, als Lilian und Theodore Bunting aus dem Pfarrhaus zum Kriegsdenkmal herüberkamen und sich zu uns gesellten. Der Pfarrer hatte sich offensichtlich ebenfalls von der Gottesprüfung des Wochenendes erholt. Er sah aus, als wäre der Weltuntergang das Letzte, woran er im Moment dachte.

»Einen schönen guten Morgen Ihnen allen«, sagte er. »Ich hoffe, die Jongleure haben ihr Training noch nicht beendet. Ich hatte mich darauf gefreut, ihnen zuzuschauen.«

»Teddy liebt Jongleure, so wie ich Magier liebe«, erklärte Lilian.

»Weiß übrigens jemand, wer den Cottage-Wettbewerb gewonnen hat?«, fragte Emma.

»Wi-ir!«, rief Grant Tavistock. Er und sein Spitz Goya kamen vom Crabtree Cottage zum Kriegsdenkmal herbeigeeilt. »Charles und ich haben gewonnen. Als neu Zugezogene hatten wir nicht damit gerechnet, überhaupt im Rennen zu sein, aber offensichtlich haben unsere Begonien uns den entscheidenden Vorsprung verschafft.«

»Gibst du immer noch mit unseren Begonien an?«, rief Charles, der mit Matisse, seinem netten Malteser, über die Straße kam.

»Immer noch?«, sagte Grant verdattert. »Wir haben gestern erst den Preis gewonnen, Charles. Hättest du das Kleingedruckte gelesen, wüsstest du, dass wir uns das Recht erwirkt haben, eine Woche lang anzugeben.«

»Ich versäume es immer, das Kleingedruckte zu lesen«, sagte Charles. »Dann fahr ruhig fort mit deiner Angeberei!«

Er und Grant ließen ihre Hunde von der Leine, damit sie mit Buster spielen konnten. Grog, der den Spaß auch nicht versäumen wollte, kam vom Pub herübergetrottet, um mit seinen Freunden herumzutollen. Sally Pyne, die zweifelsohne ebenfalls nichts verpassen wollte, trat aus ihrer Teestube und gesellte sich zu uns. Kurz darauf folgten Christine und Dick Peacock dem Beispiel ihres Hundes und verließen den Pub, um unsere Runde zu vervollständigen.

»Habt ihr schon gehört?«, fragte Charles aufgeregt. »König Wilfred hat angeboten, die Hundeschau auf der Kirmes abzuhalten.«

»Das hat inzwischen jeder gehört«, sagte Sally. »Und deswegen habe ich bereits ein Dutzend Bestellungen für mittelalterliche Hundekostüme.«

Die Hundebesitzer in der Runde erröteten simultan und vermieden es, einander anzusehen. Ich wandte mich zu Emma, die einen in die Jahre gekommenen schwarzen Labrador-Retriever besaß, und hob die Augenbrauen.

»Mich brauchst du nicht anzuschauen«, sagte sie. »Hamlet ist zu reif für Schönheitswettbewerbe.«

»Ich wünschte, Peggy würde von ihrem hohen Ross herunterkommen und Calvins Angebot annehmen«, brummte Sally. »Wenn wir unsere Veranstaltungen nicht auf der Kirmes abhalten, werden die diesen Sommer völlig ins Wasser fallen. Peggy hat bereits den Flohmarkt abgesagt.«

»Warum?«, wollte Emma wissen.

»Aus Mangel an Interesse«, erklärte Lilian. »Von Seiten Peggys, um genau zu sein.«

»Das stimmt«, sagte Sally. »Wenn sie auf der Kirmes ist, kann sie sich nicht um den Flohmarkt kümmern, und ihren Stand wird sie gewiss nicht aufgeben. Der ist eine wahre Goldgrube.«

»Gott sei Dank wird Calvins großzügige Spende für das Kirchendach die Ausfälle vom Flohmarkt wohl mehr als wettmachen«, meinte Lilian. »Gestern Abend hat Sir Peregrine bereits den ersten Scheck vorbeigebracht. Er nannte ihn den ›Zehnt‹.«

Die Neuigkeiten flogen so schnell hin und her, dass eine unerfahrene Klatschbase einen Kassettenrekorder gebraucht hätte, um alles aufzunehmen. Durch die Nachricht von Calvins Vergiftung war ich so abgelenkt, dass ich höllisch aufpassen musste, den Faden nicht zu verlieren.

»Ich war gestern freudig überrascht, so viele von Ihnen in der Kirche zu sehen«, sagte der Pfarrer. »Nur in der Morgenmesse hielt sich der Andrang in Grenzen, aber die Frühmesse und die Abendandacht waren, um im Fachjargon zu bleiben, so gut wie ausverkauft. Ich hoffe, dieser Trend wird den ganzen Sommer über anhalten.«

»Unsere Jongleure werden nächsten Sonntag auch dabei sein«, meldete sich Christine Peacock zu Wort. »Sie haben mir gesagt, dass sie Kostümstücke so lieben.«

»Wie … ökumenisch von ihnen«, stammelte der Pfarrer.

»Also, auf unseren Zauberer würde ich nicht wetten«, sagte Dick.

»Ich beneide Sie um Ihren Zauberer«, sagte Lilian und blickte den Wirt mit glänzenden Augen an. »Merlot der Prächtige hat am Samstag Schals aus meinen Ohren gezogen. Ich habe keine Ahnung, wie der Trick funktioniert, aber es hat großen Spaß gemacht. Ist es wahr, dass er heute Nachmittag eine Stegreifvorstellung auf dem Dorfanger gibt?«

»Falls er bis dahin wach ist«, murmelte Christine.

Sie warf den beiden Jongleuren einen verstohlenen Blick zu, woraufhin unsere Gruppe sofort enger zusammenrückte. Dieses schon oft praktizierte Manöver kam immer dann zum Einsatz, wenn ein Sprecher oder eine Sprecherin die Stimme senken musste, um besonders heikle Neuigkeiten mitzuteilen.

»Sie nennen ihn nicht umsonst Merlot«, sagte Christine leise. »Er ist in der Lage, Wein verschwinden zu lassen.«

Ein verständnisvolles »Ah« ging durch die Reihe.

»Als ich gestern Nachmittag sein Zimmer sauber gemacht habe, fand ich zwölf leere Flaschen. Zwölf leere Flaschen! Er hat erst zwei Nächte dort verbracht!«

»Der arme Mann«, sagte Lilian traurig. »Er hat am Sonntag ein wenig zerbrechlich gewirkt. Wann immer der Stadtschreier die Uhrzeit verkündete, stöhnte er.«

»Es ist ein Wunder, dass er nicht von der Bühne stürzte«, sagte Christine und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und diese Jongleure … die Geräusche, die die ganze Nacht aus ihrem Zimmer drangen …« Sie schnalzte mit der Zunge.

Die geschlossenen Reihen wurden mit einem Mal noch enger. Fast konnte ich sehen, wie sich das Ohr meines Nachbarn spitzte.

»Was für … Geräusche?«, fragte Sally vorsichtig.

»Ständig machte es Rums und Bums und Bäng – es hörte sich an, als würden sie die ganze Nacht irgendwelche Sachen durchs Zimmer schmeißen.«

»Übung macht den Meister«, sagte der Pfarrer.

»Und sorgt auch für zerbrochene Lampen«, gab Dick zurück, »und für ärgerlichen Lärm. Von nun an können sie verflixt noch mal draußen trainieren.«

Christine wandte sich an Charles und Grant. »Wie geht es mit eurem Pantomimen? Ihr merkt wahrscheinlich nicht einmal, dass er da ist.«

Unsere neuesten Nachbarn tauschten betretene Blicke.

»Das ist das Problem«, sagte Grant mit verzweifeltem Unterton. »Wir wissen nie, wo er gerade ist. Gestern wäre ich beinahe im Wohnzimmer über ihn gestolpert. Er mimte einen sterbenden Schwan. Glaube ich. Es könnte aber ebenso gut eine Katze gewesen sein, die ein Haarknäuel heraushustet.«

»Er mimt einfach alles«, fuhr Charles fort. »Ich habe zwanzig Minuten gebraucht, um herauszufinden, dass er Bovril für seinen Toast wollte. Wie, um Himmels willen, hätte ich seine artistische Interpretation für Fleischextrakt entziffern sollen? Schließlich musste ich ihn bitten, es aufzuschreiben.«

»Ich will mir gar nicht ausmalen, was er macht, wenn das Klopapier aus ist«, sagte Grant, sich schüttelnd.

Die meisten von uns konnten sich ein Lachen nicht verkneifen, das rasch wieder unterdrückt wurde. Grant und Charles schienen tatsächlich sehr bekümmert, und man wollte ihre Gefühle nicht verletzen.

»Hört sich an, als hätte ich diesmal Glück gehabt«, sagte Sally zufrieden. »Magus Silveroak ist ein bezaubernder Gast.«

Der Rest von uns drehte sich wie ein Mann zu dem unterbekleideten Zauberer um. Ich wusste nicht, ob es den anderen genauso erging, aber in meinem Kopf überschlugen sich die wildesten Gedanken.

»Er hat ein so nettes Benehmen«, fuhr Sally fort. »Und wie ordentlich er ist! Ich habe noch nicht einmal eine Socke in seinem Zimmer aufheben müssen.«

Mir brannte es auf der Zunge, sie zu fragen, ob er überhaupt eine Socke besaß, aber ich hielt den Mund. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Sally es nicht gut aufnehmen würde, sollte irgendjemand einen Witz über ihren Zauberer riskieren.

»Tja«, sagte Mr Barlow und unterbrach die nachdenkliche Stille, die sich über die Runde herabgesenkt hatte, »ich muss los. Der Garten der Pyms gießt sich nicht von allein.«

»Mr Barlow«, sagte Emma, »wenn Sie in diese Richtung fahren, könnten Sie mich nach Hause mitnehmen?« Sie wandte sich an mich. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich dich allein mit deinen Einkäufen lasse, nicht wahr? Ich würde gern zum Stall zurück.«

»Kein Problem.«

»Für mich auch nicht«, sagte Mr Barlow.

Mr Wetherhead und die Buntings schlenderten zur Bank, um den Jongleuren zuzuschauen, die wieder begonnen hatten, Früchte hin und her fliegen zu lassen. Sally Pyne eilte auf die andere Seite der Straße, um ihre Teestube aufzuschließen, Charles und Grant kehrten mit Goya und Matisse ins Crabtree Cottage zurück, und Grog führte die Peacocks zum Pub zurück.

Mr Barlow rief Buster bei Fuß und ging in die Hocke, um dem Terrier die Ohren zu kraulen.

»Unter uns gesagt« – er sah mich und Emma an –, »wüsste ich, wie die Peacocks das Alkoholproblem ihres Zauberers lösen könnten.«

»Wie denn?«, fragte ich.

»Eine Flasche von Dicks selbst gekelterten Wein in sein Zimmer stellen. Ein Schluck davon, und er wird für den Rest seines Lebens zum Abstinenzler.«

Er richtete sich wieder auf und schüttete sich aus vor Lachen, das von Buster mit einem Bellen beantwortet wurde, dann begleiteten er und sein Hund Emma zu seinem Wagen. Nachdem sie gegangen waren, eilte ich zur Wysteria Lodge, um mit Bill zu sprechen.

Ich traf ihn an seinem von Papierstapeln übersäten Schreibtisch, während er auf einen von drei Computerbildschirmen starrte. Hinter seiner reizend romantischen Fassade war Wysteria Lodge ein Hort höchst innovativer Technologie.

»Hast du schon gehört …«, begann ich.

»Von der Lebensmittelvergiftung?«, sagte Bill. »Ich habe gerade mit Horace telefoniert. Der Privatdetektiv kümmert sich darum.«

»Gut.« Ich wandte mich zum Gehen.

»Lori? Denkst du an unsere Abmachung?«

»Ich gehe zum Emporium, um Milch einzukaufen«, sagte ich entrüstet. »Jedenfalls begebe ich mich nicht in die Nähe des Bishop’s Wood oder der Fivefold Farm oder der Kirmes oder des Camps.«

»Wollte mich nur vergewissern«, sagte Bill heiter und wandte sich wieder seinem Computer zu.

Während ich sein Büro verließ, dachte ich über das Für und Wider eines Ehemannes nach, der Gedanken lesen konnte.