Molly
Ich sitze wie gelähmt im Wohnzimmer auf dem Fußboden, genau an derselben Stelle, wo Alastair und Tanya mich bei ihrer Ankunft vorgefunden haben. Ich weiß, dass ich sie angerufen und gebeten haben muss herzukommen, kann mich aber nicht daran erinnern. Alles ist so wirr, dass ich nicht einmal weiß, wie viel Uhr wir haben. Ich weiß nur, dass man mir bereits mindestens vier Tassen sehr heißen und sehr süßen Tee in die Hand gedrückt hat, wie Tanya beharrt, das Einzige, was man in einer Notlage trinken kann. Das und Brandy. Doch da wir keinen Brandy im Haus haben, wird der heiße, süße Tee genügen müssen.
Al und Tanya sind in Notlagen ein Segen. Korrektur: Al und Tanya sind in Notlagen meistens ein Segen. Manchmal scheitern sie auch katastrophal, so wie damals, als die Friteuse Feuer fing – sie haben beide Mist gebaut. Al hat Panik gekriegt und einen Topf Wasser in die Feuersbrunst geschüttet (eine sehr schlechte Idee), worauf Tanya ihm die Friteuse aus der Hand riss und zur Tür hinauslief, um sie in den Garten zu werfen (das Schlimmste, was man tun kann, weil die Luft die Flammen nur noch mehr anfachte). Doch wenn es um Leben oder Tod geht, sind sie unersetzlich. Wie an dem Tag, als ich noch mit David zusammen war und wir vier beschlossen, dass eine Wanderung ein wundervoller Zeitvertreib für einen sonnigen Sonntagnachmittag sei. Da ich schon nach zwanzig Minuten erschöpft war, schleppte David mir meinen Rucksack bis hinauf auf den Gipfel. Dann stolpert er, fiel hin und brach sich den Knöchel. Ich werde nie vergessen, wie toll Al und Tanya sich verhalten haben. Tanya verwandelte sich in eine Art Superkrankenschwester und bestand darauf, dass David sich nicht bewegte, während Al ein Minifläschchen Brandy aus seiner Innentasche zutage förderte und David den Inhalt in kleinen Schlucken einflößte, um seine Schmerzen zu lindern. Ich war niemandem eine Hilfe – gut, ich stand nur heulend im Weg herum –, aber das muss an der Höhenluft gelegen haben. Schließlich waren wir schon ziemlich weit gegangen. Ganz gleich, was auch der Grund war, war ich, als die Bergwacht kam, so hysterisch und paranoid, dass ich sicher war, man würde David das Bein amputieren müssen. Ich protestierte nicht einmal, als Al in seiner Begeisterung David eine Mund-zu-Mund-Beatmung verabreichen wollte.
Kurz huscht Davids Bild durch meine Gedanken, und ich schüttle den Kopf – ich kann doch nicht in Erinnerungen an meinen Ex-Freund schwelgen, wenn mich mein Mann gerade verlassen hat.
»Offenbar hat Charlie den Verstand verloren.« Alastairs sachliche Anmerkung reißt mich aus meinen Grübeleien. »Der ist ja total durchgeknallt.«
Er zieht an seiner Mentholzigarette, pustet den Rauch durch die Nase aus, hüstelt ein wenig und zieht noch einmal, um diesen Umstand zu tarnen. Er ist als Raucher eine absolute Niete, denn er sieht dabei genauso aus wie ein magerer Schuljunge, der hinter dem Fahrradschuppen den coolen Typen markiert. Nur dass er keinen Polyesterpulli mit Hochwasserhose trägt, sondern ein figurbetontes Strickoberteil von Prada. Auf seinem Haar mit den eingefärbten Strähnchen, das er sich alle drei Wochen von einem Top-Stylisten bei Toni and Guy »colorieren« lässt, sitzt eine Sonnenbrille von Gucci.
Unter gewöhnlichen Umständen würde ich es nicht dulden, dass Al im Haus raucht. Doch da ich zu sehr unter Schock stehe, um ihn daran zu hindern, qualmt er nach Herzenslust – das ist seine dritte Zigarette in knapp zwanzig Minuten. Ich bringe es nicht über mich, ihn zurechtzuweisen, außerdem habe ich sowieso Mühe, auch nur ein Wort von mir zu geben – ich fasse es nicht, dass Charlie mich nach nur zweiwöchiger Ehe verlassen hat. Das kann nicht sein. Sicher gibt es dafür eine harmlose Erklärung. Wenn mir nur eine einfallen würde.
»Alastair«, sagt Tanya und blickt ihn strafend an. »Musst du unbedingt rauchen? Es ist so fies.«
Tanya ist eine fanatische Nichtraucherin, seit sie das Aufklärungsvideo in der Schule gesehen hat – das, in dem eine Raucherlunge aufgeschnitten wird und der schwarze Brei herausquillt. Tanya, die in der ersten Reihe saß, musste sich mitten in der Filmvorführung übergeben und hat sich nie wieder davon erholt.
»Zigaretten sind ja grundsätzlich widerlich, aber Mentholzigaretten sind ganz besonders eklig.« Hustend rutscht sie auf dem Sofa von ihm weg.
»Sorry«, erwidert Al mit einem entschuldigenden Achselzucken. »Doch Rauchen ist wieder angesagt, also muss ich dabei sein. Außerdem sind Mentholzigaretten wirklich in – sie sind so retro.«
»Rauchen ist nicht angesagt.« Tanya zieht die Nase hoch. »Und falls ich wegen deines idiotischen Schickimicki-Getues Krebs kriege, bring ich dich um.«
»Hast du noch nicht von dem neuen Flirt-Trend gehört?« Alastair seufzt. »Wer nicht schon mal beim Rauchen vor der Kneipentür mit einem Wildfremden geflirtet hat, kann einpacken.« Wieder inhaliert er und versucht, einen Rauchring zu pusten. »Ich finde rauchen genauso doof wie du, aber ich muss üben, wenn ich will, dass was läuft. Was meinst du, sehe ich sexy genug aus?« Er lässt die Zigarette zwischen den Fingern baumeln und zieht einen lasziven Schmollmund.
»Rauchen ist nicht sexy.« Tanya schaut ihn strafend an. »Es ist widerwärtig.« Sie wendet sich von Al ab und mir zu, als glaube sie, sich vorhin verhört zu haben, und müsse jetzt gut aufpassen, damit ihr bloß kein Wort entgeht. »Also, Molly«, beginnt sie, »atme tief durch und erzähl uns, was passiert ist. Von Anfang an.«
Als ich Luft hole, spüre ich, wie meine Brust erschaudert. Ich werde keine Panikattacke kriegen. Ich muss Ruhe bewahren. Also nehme ich mir Zeit für ein paar lange, reinigende Atemzüge – das hilft sicher. Schließlich stand das in dem Ratgeberartikel, den Sie im letzten Monat gebracht hat. Und der stammte aus der Feder einer Frau, die wusste, wovon sie sprach: Die freie Autorin, die ich damit beauftragt hatte, war zehneinhalb Stunden in einer Kaufhaustoilette gefangen gewesen, weil der Wachdienst sie versehentlich über Nacht eingesperrt hatte. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre: die ganze Nacht in einer Kaufhaustoilette zu verbringen oder den Designeraccessoires auf der Verkaufsfläche so nah zu sein, ohne sie erreichen zu können. Butterweiche Lederhandtaschen mit baumelnden Vorhängeschlössern und Schließen, so groß, dass man sich beim Hochheben einen Hexenschuss holt. Oder handgearbeiteter Schmuck, Einzelstücke, die man in der Öffentlichkeit nur in Begleitung eines Leibwächters tragen kann. Solche Sachen eben.
Allerdings darf ich jetzt nicht an Handtaschen denken. Ich muss mich darauf konzentrieren, keinen Herzinfarkt zu erleiden. Gut, Herzinfarkte kommen bei Frauen Anfang dreißig verhältnismäßig selten vor, aber sie sind bestimmt kein Ding der Unmöglichkeit. Insbesondere wenn man, so wie ich, einen schweren Schock erlitten hat. Ich könnte jede Sekunde umkippen. Jedenfalls fühlt es sich an, als würde mir das Herz in der Brust zerspringen. Und mein Arm … ich habe stechende Schmerzen im linken Arm – ist das nicht eines der ersten Symptome eines Herzstillstands? Vielleicht sollte ich eine Anadin nehmen, das wirkt doch dagegen. Oder ist das gegen Thrombosen? Ich kann es mir einfach nicht merken.
Ich versuche, so langsam und regelmäßig wie möglich durchzuatmen. Ha, es geht mir schon viel besser. Nun brauche ich nichts weiter zu tun als weiterzuatmen. Das kann ja so schwer nicht sein. Schließlich mache ich das schon seit dreiunddreißig Jahren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Ein, aus, ein, aus, es ist wirklich nichts dabei. Ich gebe mir Mühe, nicht darauf zu achten, dass mein Herz klopft wie wild und dass sich mein Kopf anfühlt, als würde er gleich zerplatzen. Das Ganze ist so unwirklich. Charlie kann mich nicht verlassen haben – wir sind doch erst seit ein paar Wochen verheiratet. Wir sind Flitterwöchner, verdammt. Wir waren glücklich … oder?
»Molly?«, fordert Tanya mich sanft zum Weitersprechen auf. »Kannst du mir erzählen, was passiert ist?«
»Ich bin aufgewacht«, höre ich mich krächzen, »und da lag dieser Zettel neben mir.« Mit einer matten Geste weise ich auf den Brief, den Al meinen Fingern entwunden hat.
»Okay …« Nachdenklich beißt sich Tanya auf die Unterlippe. »Und Charlie hat vorher nichts zu dir gesagt? Zum Beispiel, dass er … äh … unglücklich ist?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Ich merke, wie ich wieder zu zittern anfange.
Es ist wirklich seltsam – so als schwebte ich über meinem Körper und sähe mich selbst am Boden sitzen. Von oben mache ich nicht den Eindruck einer verlassenen Ehefrau. Ich wirke völlig normal. Das hier geschieht nicht wirklich. Sicher ist es nichts als ein schrecklicher Albtraum, aus dem ich jeden Moment aufwachen werde. Ich habe so etwas nicht verdient. Ich bin ein guter Mensch, putze meine Zähne und bete jeden Tag. Zugegeben, das mit dem Beten stimmt nicht ganz, aber ich spende für wohltätige Zwecke und habe eine Patenfamilie in der Dritten Welt. Das muss doch zählen.
»Ich sage es euch«, beharrt Alastair. »Er ist durchgedreht. Vielleicht hat er ja einen Nervenzusammenbruch. Inzwischen gilt so was als ziemlich sexy. Auch Prominente haben so was.«
Er zieht noch einmal an seiner Zigarette und atmet elegant durch die Nase aus. Ich weiß, dass er in Gedanken so tut, als wäre er Rhett Butler in Vom Winde verweht. Er liebt diesen Film und schaut ihn sich mindestens einmal im Vierteljahr an. Danach spricht er eine Woche lang wie eine Südstaatenschönheit und überlegt, ob er mit einem Schnurrbart à la Clark Gable wohl attraktiver wäre.
»Zeig den Brief mal her«, meint Tanya in dem typischen Tonfall, den sie anschlägt, wenn sie beweisen will, dass sie ganz ruhig ist und alles im Griff hat. Mir wird davon noch mulmiger, weil das bedeutet, dass sie die Sache ernst nimmt.
Al reicht ihn ihr, und sie überfliegt ihn noch einmal.
»Nein, das ist nicht der Brief eines Durchgeknallten«, stellt sie schließlich fest. »Die Rechtschreibung ist zu gut. Außerdem wäre die Schrift kritzeliger, wenn er den Verstand verloren hätte – ihr wisst schon, abgehackt und irgendwie unheilverkündend.«
»Jaaaaa.« Alastair nickt. »Wie bei einem echten Spinner eben.«
»Genau«, erwidert Tanya.
Dann nimmt sie meine Hand. Ich spürte ihre weiche, perfekt gepflegte Haut an meiner schweißfeuchten Handfläche. Tanya cremt sich leidenschaftlich gerne ein und trägt immer eine Tube Handcreme mit sich herum. Ihrer Ansicht nach ist es lebenswichtig, die Creme auch in die Nagelhäute einzumassieren, da diese ein bedeutender Hinweis auf das Selbstwertgefühl eines Menschen sind. Ihre Nagelhäute sind glatt und durchsichtig. Mir wird allmählich blümerant. Das hier passiert wirklich. Es ist kein schrecklicher Albtraum, aus dem ich bald erwachen werde.
»Hat Charlie sich merkwürdig verhalten?«, fragt Tanya zögernd. »Du weißt schon, irgendwie anders als sonst?«
Als ich versuche, mich zu erinnern, verschwimmt alles in einem Nebel. Vielleicht liegt es an der Zeitverschiebung, dass sich mein Gehirn anfühlt wie mit Watte ausgestopft.
»Ich glaube nicht«, antworte ich mit einem Kopfschütteln. Aber was, wenn ich mich irre? Vielleicht hat er sich ja merkwürdig verhalten, ohne dass ich es mitgekriegt habe.
»War da überhaupt nichts Ungewöhnliches? Auch keine winzige Kleinigkeit?« Tanyas blaue Augen mustern forschend mein Gesicht. Sie hat wimpernverlängernde Mascara benutzt. Komisch, welche Dinge einem in einer Krisensituation auffallen.
»Vielleicht war er im Urlaub etwas stiller als sonst«, entgegne ich schließlich. »Aber wir waren dringend erholungsbedürftig. Die Hochzeit war so hektisch. Wir waren total erledigt.«
Ich bilde mir ein, dass Al und Tanya einen wissenden Blick wechseln, bin allerdings nicht sicher.
»Ja, die Hochzeit war tatsächlich ereignisreich, das muss ich dir lassen«, meint Tanya mit einem Lächeln.
Ich weiß genau, wovon sie spricht. Der Tag ist wirklich ziemlich turbulent verlaufen. Erst hat meine durchgedrehte Tante Nora auch den letzten Anwesenden, der es noch nicht bemerkt hatte, darauf hingewiesen, dass ich nicht David, meinen Ex, heiratete, sondern Charlie. Den Mann, mit dem ich eine Wirbelwindromanze gehabt und der mir schon nach wenigen Wochen einen Antrag gemacht hat. Das war ein bisschen peinlich. Dann hatte der Fotograf vergessen, den Akku seiner Digitalkamera aufzuladen, sodass wir den Großteil der offiziellen Hochzeitsfotos noch mal machen mussten. Es war vielleicht ein klitzekleiner Fehler von mir, den Fotografen von der Zeitschrift Mein Haustier zu nehmen. Doch das habe ich nur getan, weil der fest angestellte Fotograf von Sie gerade in Miami Urlaub machte. Woher sollte ich denn wissen, dass der Mann so unfähig war? Seine Mappe war recht ansprechend – auch wenn der Großteil der Bilder Katzen darstellte. Außerdem ging zu guter Letzt doch noch alles gut, und er brachte als Entschädigung für die Umstände sogar ein Foto von uns in Hiya! unter.
Und dann war da noch das Essen. Die Suppe war kalt – und dabei handelte es sich nicht um eine dieser modernen gekühlten Suppen, deren Zubereitung man manchmal in Kochsendungen zu sehen kriegt –, aber wer hätte einen Stromausfall in der Hotelküche vorhersehen können? Auch mit der Musik gab es Probleme, weil die Swingband ein bisschen zu spät kam. Anderthalb Stunden. Wirklich ein Pech, dass der Sänger sich auf dem Klo einer Autobahnraststätte den Schniedel im Reißverschluss eingeklemmt hatte und eilig in die Notaufnahme musste.
Also gut, es war nicht alles glattgegangen, aber es war trotzdem ein wunderschöner Tag. Ich weiß noch, wie Charlie mich ansah, als er mir das Jawort gab. Und ich erinnere mich gut an unseren ersten Kuss als Mann und Frau – ohne Zunge, sondern ganz keusch mit geschlossenen Lippen, wie wir es vorher abgesprochen hatten. Vor allen Freunden und Verwandten rumzuknutschen wie die Teenager wäre doch zu peinlich gewesen, obwohl Alastair versuchte, mir einzureden, selbst Promipaare würden nach der Trauung am Altar schmutzige Dinge treiben, weshalb wir knutschen sollten, als wäre es das letzte Mal, um die Veranstaltung ein bisschen aufzupeppen.
Ich habe noch jede Einzelheit vor mir, als wäre es gestern gewesen. Sie haben sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Gut, es ist ja nicht so, dass der Zahn der Zeit Gelegenheit gehabt hätte, an diesen Erinnerungen zu nagen. Schließlich sind wir gerade erst aus den Flitterwochen zurückgekommen. Wir haben noch nicht einmal die Reste des Hochzeitskuchens aufgegessen. Zugegeben, Rosinenkuchen ist nicht unbedingt mein Fall. Von den Sultaninen dreht es mir den Magen um – sie sind so schleimig. Manchmal glaube ich, ich hätte hart bleiben und auf die Schokocremetorte bestehen sollen, die ich wirklich wollte. Aber Alastair hat mich überzeugt, dass das ein Verstoß gegen die Traditionen gewesen wäre. Also habe ich nachgegeben. Traditionen sind nämlich sehr wichtig – insbesondere wenn es um den bedeutsamsten Tag im Leben geht.
»Habt ihr euch vielleicht gestritten?« Tanya streichelt sanft meine Hand, als sei ich wieder ein Kind und sie die große Schwester, die mir beim Aufstehen hilft, nachdem ich hingefallen bin und mir das Knie aufgeschlagen habe. Sie hat sich wirklich immer wunderbar um mich gekümmert, wenn ich mir wehgetan hatte. Gut, sie hat mir auch hin und wieder heimlich einen Knuff versetzt, damit sie anschließend Krankenschwester spielen konnte.
»Nein, haben wir nicht«, erwidere ich und umklammere fest ihre Hand. Als ich bemerke, wie sie zusammenzuckt, wird mir klar, dass sich meine Fingernägel in ihre Haut graben.
»Bist du sicher?« Al schaut mir in die Augen. Er zieht wieder einmal die Ich-kann-bis-auf-den-Grund-deiner-Seele- sehen-Show ab, die er so gut zu beherrschen glaubt. Seit er einen Abendkurs zum Thema übersinnliche Kräfte besucht hat, denkt er, dass er die »Gabe« besitzt. Angeblich hat er die Röhrenjeansmode vorausgesagt.
»Könnte es sein, dass du etwas verdrängst?«, erkundigt sich Tanya.
Ich überlege angestrengt. Habe ich vielleicht ein wichtiges Ereignis vergessen? Etwas so Ernstes wie seine Ankündigung, er wolle mich verlassen, wäre mir doch im Gedächtnis geblieben. So etwas wäre mir sicher nicht entgangen, oder? Das ist unmöglich.
»Dann gehen wir mal alles der Reihe nach durch«, meint sie beruhigend. »Worüber habt ihr zuletzt gestritten?«
Alastair hält mitten im Zug inne und mustert mich erwartungsvoll.
Ich zermartere mir das Hirn.
»Er wollte sich einen Dokumentarfilm über die Ozonschicht anschauen«, erwidere ich mit leiser Stimme. »Und ich EastEnders.«
Charlie ist ein echter Umweltfanatiker und redet ständig nur vom Energiesparen, Wiederverwenden und Recyceln. Ich bin, offen gestanden, nicht immer so umweltfreundlich, obwohl ich mir sogar eine dieser Taschen mit der Aufschrift »Ich bin keine Plastiktüte« gekauft habe. Ich gebe mir also Mühe. Gut, es ist nur eine nachgemachte, aber für die echte hätte ich stundenlang Schlange stehen müssen, und das Warten bei strömendem Regen und Eiseskälte erschien mir dann doch kein angenehmer Weg, einen Vormittag zu verbringen. Wenn ich ehrlich bin, war Recyceln noch nie so meine Stärke. Und seit ich Charlie kenne, muss ich auch nicht mehr so tun als ob, denn er hat die Angelegenheit in die Hand genommen: das Ausspülen der Marmeladengläser, die Expeditionen zum Glascontainer und was es sonst noch an langweiligen Dingen mehr gibt. Außerdem fallen bei uns nicht viele Marmeladengläser an. Ich kann es nicht leiden, wenn einem die Kernchen zwischen die Zähne geraten, sodass man sie, selbst mit Zahnseide, tagelang nicht mehr rauskriegt. Allerdings dafür umso mehr Flaschen, insbesondere, wenn Tanya und Alastair vorbeikommen. Dann können es ziemlich viele werden. Früher war es mir schrecklich unangenehm, zum Glascontainer zu gehen, weil ich so oft peinliche Erlebnisse hatte, während ich die vielen leeren Flaschen einwarf und alle mich anstarrten. Ich wusste immer genau, was sie dachten, nämlich dass ich eine hoffnungslose Alkoholikerin und für alle Fälle von Quartalssäufertum in diesem Land verantwortlich bin. Einmal habe ich einer alten Dame, die mich angewidert beobachtete, zu erklären versucht, dass ich nicht alle Flaschen allein ausgetrunken habe und dass Tanya und ich Al nach einem Streit mit seinem Freund Händchen halten mussten. Doch sie wandte sich ab, als wäre ich der letzte Abschaum, dessen bloße Gegenwart sie nicht ertragen könne. Deshalb war es wirklich praktisch, dass Charlie die Gesamtverantwortung für Umweltfragen übernommen hat. Er hat sogar versucht, mich zu umweltfreundlichem Spülmittel zu bekehren, aber ich habe mich geweigert, weil ich es mag, wie das aus dem Supermarkt schäumt und die Hände weich macht – so heißt es wenigstens in der Werbung, und warum sollten Werbeagenturen lügen? Vielleicht hätte ich trotzdem auf ihn hören sollen. Wenn ich bereit gewesen wäre, auf ein Ökoprodukt umzusteigen, hätte er mich möglicherweise nicht verlassen. Ob ich gleich losgehen und Öko-Spülmittel kaufen soll? Wen kümmert es schon, ob die Bratpfanne fettig bleibt oder die Gläser trübe sind? Ich würde es vermutlich nicht einmal bemerken. Außer ich hole mir von dem Dreck eine Lebensmittelvergiftung oder eine antibiotikaresistente Staphylokokkeninfektion. Andererseits kann ein bisschen Abspecken ja nicht schaden. Jedenfalls bin ich fest entschlossen, mich richtig ins Recyceln einzuarbeiten. Ich fange mit dem Komposthaufen an, von dem er immer redet. Das wird zwar eine stinkende und eklige Angelegenheit, aber ich werde es ertragen, wenn es uns nur wieder zusammenbringt, denn das ist alles, was zählt. Ich besorge mir Gummistiefel, ziehe einen Wollpulli an und tue so, als läge mir das Wohl dieses Planeten wirklich am Herzen. Ich lasse sogar die Finger vom Haarspray. Charlie hält mir immer Vorträge über Umweltgifte und die Ozonschicht. Bis jetzt habe ich ihm nie richtig zugehört, doch nun bin ich dazu bereit. Ich kann ja einfach einen Pferdeschwanz tragen, damit niemand merkt, wie fettig meine Haare sind. Wer braucht schon Haarspray? Gut, so weit gehe ich vielleicht nicht. Schließlich fängt mein Haar an, sich wild zu sträuben, wenn ich es nicht hin und wieder ordentlich einneble. Aber ansonsten werde ich für die grüne Sache kämpfen und ein Ökoengel sein. Die absolut umweltfreundliche Ehefrau.
Tanya starrt mich entgeistert an. Al verschluckt sich an seiner Zigarette und fängt an zu husten.
»Was? Was ist?«
Warum schauen die so?
Wieder wird ein Blick gewechselt.
»Äh … einen Streit, ob man sich einen Dokumentarfilm über die Ozonschicht anschauen soll, ist ja wohl kaum sehr … leidenschaftlich«, stellt Tanya fest.
»Ich kann doch auch nichts dafür, dass wir uns keine Brüllduelle liefern«, antworte ich. »Wir streiten wirklich nicht viel.«
»Dann solltest du es versuchen. Der Sex danach ist einfach toll«, wirft Al ein.
»Oh ja …« Tanyas Miene erhellt sich. »Letzte Woche hatten Connor und ich uns so richtig in den Haaren, weil wir uns nicht einigen konnten, wer das Spielzeug in der Cornflakesschachtel kriegt. Das Ende vom Lied war, dass wir auf dem Küchenfußboden übereinander hergefallen sind. Ein Traum.«
Ihr Blick wird ganz verklärt.
»Oh, wie scharf.« Alastair kichert und versetzt ihr einen Rippenstoß.
Als sie mein Gesicht sehen, beherrschen sie sich wieder.
»Entschuldige, Molly.« Tanya räuspert sich. »Und nachdem du den Zettel gefunden hattest, hast du ihn mobil angerufen …«
»Und nur seine Mailbox erreicht«, beende ich den Satz. Das haben wir bereits durchgekaut. Ich habe ihm Nachrichten hinterlassen und ihn gebeten, mich zurückzurufen und mir zu erklären, was das zu bedeuten hat. Doch bis jetzt keine Reaktion.
»Also hast du keine Ahnung, wann er weg ist?«
»Nein.« Es wird mir schlagartig bewusst.
»Er hätte demzufolge auch schon mitten in der Nacht verschwinden können«, meint Al. »Ihr wisst schon, im Schutze der Dunkelheit und so.«
»Das hier ist kein Spionagethriller, Alastair«, tadelt Tanya. »Wahrscheinlich ist er zum Abendessen zurück. Vielleicht hat er ja bloß Panik gekriegt und brauchte ein bisschen Abstand.«
Plötzlich sehe ich einen Hoffnungsschimmer. Womöglich gibt es ja doch keinen Grund zur Sorge. Es könnte ja auch nur eine winzige Ehekrise sein, etwas, das in den besten Familien vorkommt.
»Ich bin mir da nicht so sicher«, reißt Al mich aus meinen Träumereien. »Eigentlich solltet ihr beiden noch in den Flitterwochen sein. Das Gefühl hält normalerweise einige Monate an. Außer« – seine Augen fangen an zu strahlen, und er richtet sich auf –, »außer bei euch läuft es wie in einer Promi-Ehe.« Als er die Asche wegschnippt, verfehlt er die Untertasse, die als provisorischer Aschenbecher fungiert.
»Was soll das heißen?«, frage ich.
Ist das etwas Positives? Bedeutet es, dass alles gut ausgehen wird?
»Du weißt schon, man heiratet, nachdem man sich erst ein paar Wochen kennt, das habt ihr fast richtig hingekriegt. Dann kommt die Trennung und sechs Monate danach, manchmal auch früher, die Scheidung. Das ist total angesagt. Mit ein bisschen Glück kannst du die Ehe vielleicht auch annullieren lassen.«
Er drückt die Zigarette in der Untertasse aus.
Mir wird ganz flau. Scheidung? Wir können uns doch nicht scheiden lassen. Wir haben gerade erst geheiratet und nicht einmal die Hochzeitsgeschenke ausgepackt. Im Kühlschrank steht noch der Rest unserer dreistöckigen Torte, verdammt.
»Wir wollen realistisch sein«, fährt Al fort. »Alles ist so schnell passiert. Wie gut kennst du Charlie eigentlich? Es ist ja nicht wie bei dir und David, den du aus dem Effeff gekannt hast.«
Tanya schnappt nach Luft. Plötzlich ist es totenstill im Zimmer. So still, dass ich mich selbst schlucken hören kann. Und auch, wie die Luft in meinen Ohren rauscht. Mir wird eiskalt. Beinahe so kalt wie an dem Tag, als Charlie und ich im Central Park beim Eislaufen waren.
Es war ein wundervoller Urlaub – die Reise, auf der Charlie mir einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir waren erst seit vier Wochen zusammen, als er mich aus heiterem Himmel damit überfiel. Er hatte mich kurz vor Weihnachten zu drei Tagen in New York eingeladen. Als ich es erfuhr, wurde mir ganz schlecht vor Aufregung. Obwohl ich noch nie zuvor in New York gewesen war, war ich mir einfach sicher, dass es mir dort gefallen würde. Es würde ja so romantisch werden. Charlie und ich verstanden uns wunderbar, und nun würden wir zusammen den Big Apple besuchen. Wie Ross und Rachel in Friends würden wir kalorienarme Milchkaffees trinken und uns an einer Straßenecke ein Hotdog teilen. Übernachten würden wir in einem tollen Hotel in der Park Avenue. Wir würden mit einer Pferdekutsche durch den Central Park fahren und Bloomingdale’s leerkaufen. Natürlich war ich auch ein wenig nervös. Es war eine weite Reise mit jemandem, den ich kaum kannte. Das hieß, dass ich mein Geschäft im angrenzenden Bad würde verrichten müssen, während er im Schlafzimmer war. Das machte mir Angst. Was, wenn er mich pinkeln hörte? Das würde doch das Geheimnisvolle zerstören, das ich unbedingt bewahren wollte.
Andererseits freute ich mich riesig. Ich war urlaubsreif, und Charlie war nicht nur attraktiv und charmant, sondern besaß außerdem eine schwarze American-Express-Karte, die man nur bekommt, wenn man am Monatsende keine Probleme hat, seine Rechnungen zu bezahlen. In den vier Wochen, die ich nun mit ihm ging, hatte ich herausgefunden, dass er wirklich wusste, wie man eine Frau verwöhnt. Er war großzügig, scheute keine Kosten und schickte mir ständig gewaltige Blumensträuße ins Büro. Außerdem vergötterte er mich – offenbar hielt er mich wirklich für das Wunderbarste überhaupt. Dauernd sagte er mir, wie traumhaft und einzigartig ich sei, bis ich ihm nach einer Weile tatsächlich glaubte. Er beteuerte, er habe noch nie für jemanden so empfunden. Ich sei etwas Besonderes, und er liebe mich. Es war berauschend. Und deshalb überlegte ich nur eine halbe Sekunde lang, bevor ich ihm um den Hals fiel und Ja rief, als er mich fragte, ob ich mit ihm nach New York fliegen wolle. Ein zusätzlicher Vorteil einer Reise nach New York um diese Jahreszeit war, dass ich auf diese Weise am Todestag von Mum und Dad nicht im Lande sein würde, und das war sicher ein großes Glück. In Manhattan und in Begleitung eines hinreißenden Mannes würde ich das tragische Ereignis vielleicht vergessen. In einer fremden Stadt würde ich das Datum und die schmerzlichen Erinnerungen beiseiteschieben können.
Und beinahe klappte es auch. New York war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alles war perfekt. Sogar noch perfekter als perfekt. Insbesondere, als Charlie auf der Aussichtsplattform des Empire State Building auf ein Knie sank und mir aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag machte.
Zunächst war es ein Schock – schließlich kannten wir einander noch nicht so gut –, doch als ich länger darüber nachdachte, klang es logisch. Wenn man etwas weiß, weiß man es, richtig? Gut, vielleicht war ich bei unserer ersten Begegnung nicht ganz sicher gewesen, ob er der Richtige war. Es hatte nicht gleich gefunkt wie bei David, also das Gefühl, jemandem in die Augen zu schauen und zu wissen, dass man nach Hause gekommen ist. Aber wie oft passiert das? Einmal im Leben, wenn überhaupt. Und als ich David aus meinem Gedächtnis verbannte und mich ganz auf Charlie konzentrierte, wurde mir klar, dass er wunderbar zu mir passte. Er betete mich offenbar an und wollte mich nun für den Rest unseres Lebens umsorgen. Zugegeben, ich kannte weder seine Schuhgröße noch seinen zweiten Vornamen, doch dass er in der obersten Etage des Empire State Building um meine Hand anhielt – das war schließlich eine der Top Ten unter den Locations für einen Antrag. Vielleicht war das ja ein Zeichen und bedeutete, dass wir füreinander geschaffen waren. Nachdem ich ihn eine gefühlte Ewigkeit lang mit offenem Mund angestarrt hatte, nahm ich an, und er schleppte mich sofort zum Juwelier, um einen Ring zu kaufen. Nie hatte ich mir einen Verlobungsring mit einem Diamanten gewünscht, aber Charlie bestand darauf, dass es etwas ganz Besonderes sein müsse. Und so fand ich mich bei Tiffany’s wieder, wo ich in einem mit einem Vorhang abgetrennten Privatbereich Champagner schlürfte und gewaltige Klunker anprobierte, während ein Hungerhaken von Verkäuferin um mich herumscharwenzelte und Charlie strahlend zusah. In null Komma nichts hatte ich mich auf die Situation eingestellt (Unmengen von Champagner können diese Wirkung haben), und als er mir schließlich einen riesigen Solitaire ansteckte, war ich im siebten Himmel.
Aber jetzt hat er mich verlassen. Vielleicht hat Al ja recht, und ich kannte ihn überhaupt nicht.
»Molly? Alles in Ordnung?«
Tanya spricht noch mit mir. Als sie mir die Handfläche mit dem Daumen reibt, bemerke ich, dass ich an meinem dicken Verlobungssolitaire herumnestelte.
»Pass auf, keine Sorge. Es steckt sicher nichts Ernstes dahinter. Wir machen uns jetzt eine Tasse Tee und überlegen uns etwas. Entspann dich einfach.« Sie hilft mir vom Boden hoch und aufs Sofa und breitet mir eine Decke über die Knie.
Dann verschwindet sie mit Al in der Küche. Der Wasserkocher wird wieder eingeschaltet. Ich lehne mich zurück und versuche zu atmen. Wenn ich mich auf meine Atmung konzentriere, fühlt sich meine Brust vielleicht irgendwann nicht mehr so an, als würde sie von einem enormen Gewicht eingedrückt, das mir die Lunge zerquetscht.
Falls Tanya recht hat, kommt Charlie zurück, und wir können die Angelegenheit vergessen. Was aber, wenn sie sich irrt? Wenn er nicht zurückkommt? Wenn er für immer fort ist?