VIER
Am Montag nach dem Großen Wunder von St. Erconwald saß Athelstans Ordensoberer, Pater Anselm, mit den Mitgliedern des Generalkapitels in seinem Studierzimmer und fragte sich, ob ein Meuchelmörder in Blackfriars sein Unwesen treibe. Bruder Brunos Treppensturz in die Krypta und, merkwürdiger noch, Bruder Alcuins Verschwinden rückten dies in den Bereich des Möglichen - als gäbe es nicht schon genug Dinge, die den Verstand strapazierten und den Körper ermüdeten.
Er schaute seine Ordensbrüder an, die an dem langen Holztisch versammelt waren: den hakennasigen, scharfäugigen Großinquisitor William de Conches, den glattgesichtigen, knabenhaften, aber blitzgescheiten Theologen Henry von Manchester, Bruder Callixtus, den Bibliothekar mit den langen, tintenbefleckten Fingern, der vom angestrengten Lesen in Manuskripten und Büchern ganz schwache Augen hatte. Der magere, eckige Bibliothekar fühlte sich offenbar unwohl, denn er zappelte auf der Bank herum und trommelte mit den langen Fingern auf der Tischplatte, als wäre er eigentlich lieber woanders. Neben ihm saß Bruder Eugenius, kahlköpfig und mit einem Gesicht wie ein Posaunenengel; seine gedrungene, rundliche Gestalt, seine freundlichen Augen und sein lächelnder Mund ließen nicht vermuten, daß er einen furchterregenden Ruf genoß: Er war der Gehilfe des Großinquisitors, ein Fanatiker, der überall Häresie und Spalterei witterte. Außerdem saßen da noch die beiden Gegner des Bruders Henry, die Verteidiger des Glaubens, die seine theologische Abhandlung untersuchen und den Nachweis logischer Unrichtigkeit erbringen oder aber einwenden sollten, daß sie sich gegen die orthodoxen Lehren der Kirche richte. Gleichwohl waren diese Verteidiger des Glaubens liebenswerte Männer. Peter von Chingforde war stämmig und kräftig, und sein dunkles, bärtiges Gesicht lächelte immer. Er war bodenständig und hatte einen ziemlich unverblümten Humor, den er bei seinen subtilen und geschickten Befragungen nicht erkennen ließ. Neben ihm saß, rothaarig und blaß, der irische Dominikaner Niall von Harryngton.
Der Ire sah den Prior jetzt von der Seite an und summte eine Hymne, dabei trommelte er einen kleinen Wirbel auf die Tischplatte. Der Prior lächelte matt. Er wußte, daß Bruder Niall stets ungeduldig war und jetzt zur Tagesordnung zurückkehren wollte, aber es gab andere, dringlichere Angelegenheiten - nicht nur Brunos Tod und Alcuins Verschwinden, sondern allgemeine Klosterangelegenheiten, und insbesondere die nachdrücklichen Bitten des Subsakristans Bruder Roger. Der Prior seufzte. Er mußte dem Mann wirklich ein wenig Zeit gewähren; aber Roger, ein Laienbruder, der Jahre zuvor der Inquisition in die Hände gefallen war, als er in einer Gemeinde außerhalb von Paris diente, war gebrochen im Geiste, schwach an Verstand und voller Angst vor William de Conches und seinem tückischen Gehilfen Eugenius. Mit schmalen Augen musterte Anselm die beiden; sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, und er überlegte, ob er sie dem Generalkapitel in Rom melden sollte. Gewiß, der Psalmist sang: »Der Eifer für dein Haus verzehrt mich.« Aber der Enthusiasmus und der Eifer, mit denen dieses kostbare Paar jegliche Ketzerei verzehren wollten, würde womöglich jedermann mit verschlingen. Er blickte starr auf die Tischplatte. Bruder Henry saß mit gespreizten Händen da und wartete, daß die Debatte ihren Fortgang nähme. »Pater Prior«, sagte jetzt Bruder Niall, »wir haben eine Pause gemacht, haben die None gesungen, gegessen und getrunken. Sollten wir jetzt nicht fortfahren?«
Seine Frage löste vielstimmigen Beifall bei seinen Kollegen aus. Der Prior nickte und winkte Bruder Henry zu. Der junge Dominikaner lächelte und strich mit den Fingerspitzen über die Tischplatte.
»Pater Prior«, Bruder Henry sprach leise, aber sehr deutlich, »meine Grundthese ist folgende: Allzusehr betont man die Tatsache, daß Christus ein Mensch wurde, um uns von unseren Sünden zu erlösen.« Er hob eine Hand. »Wenn aber der ehrwürdige Aquinas recht hat mit seiner Studie über die göttliche Natur, so ist Gott das ›Summum Bonum‹, das Höchste Gute. Wie kann aber das Höchste Gute, die Göttliche Schönheit, sich durch die Sünde zum Handeln bewegen lassen? Überdies« - Bruder Henry sah jetzt William de Conches an -, »wenn Gott allmächtig ist, warum konnte Er uns dann nicht durch eine einfache Verfügung von der Sünde erlösen?«
Der Prior klopfte auf den Tisch. »Bruder Peter, Bruder Niall, was antwortet Ihr darauf?«
Bruder Peter gluckste und grinste ihn an. »Wir versuchen nicht, darauf zu antworten, denn Bruder Henry spricht die Wahrheit. Gott ist das Höchste Gute, die Göttliche Schönheit, und er ist allmächtig. Eine solche These fechten wir nicht an.«
Die beiden Inquisitoren reckten die Hälse wie Falken und warteten darauf, daß Bruder Henry fortfuhr. Der Prior war plötzlich sehr müde. »Wir können nicht fortfahren«, teilte er seinen verblüfften Kollegen mit.
»Wie meint Ihr das?« schnarrte William de Conches. »Pater Prior, wir haben uns hier versammelt, um über bestimmte Dinge zu debattieren und zu diskutieren. Hier geht es um die Reinheit der kirchlichen Lehre.«
»Nein, Bruder William«, fauchte der Prior. »Hier geht es um Leben und Tod. Bruder Bruno kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Manchmal fürchte ich, er könnte ermordet worden sein.«
Seine Sätze riefen Ausrufe der Überraschung hervor. »Und Ihr glaubt, Alcuin war der Täter und hat sein Heil in der Flucht gesucht?« erkundigte Eugenius sich seidenweich. »Nein. Alcuin ist kein Mörder. Ich habe Angst um ihn. Ihr bezichtigt ihn des Mordes und der Flucht, Eugenius. Woher wissen wir, daß er überhaupt noch lebt?«
»Das ist doch lächerlich!« erwiderte Eugenius schroff. »Weshalb sollte irgend jemand Bruno töten, und was bringt Euch auf den Gedanken, Alcuin sei tot?«
»Ich weiß es nicht, aber seit das Generalkapitel zusammengetreten ist, spüre ich eine Atmosphäre von Intrige und Boshaftigkeit, die diesem heiligen Gemäuer nicht entspricht.«
»Was schlagt Ihr also vor?« fragte Bruder Henry. »Ich habe Sir John Cranston, den Coroner der City, um seine Dienste gebeten.«
»Aber er ist ein Laie, ein Beamter der Krone! Er hat keine Autorität in diesem Kloster«, stellte William de Conches fest. »Er hat die Autorität des Königs.« Callixtus meldete sich in scharfem Ton zu Wort und schaute den Prior mit seinen müden Augen an. »Ich vermute, Pater, er wird nicht allein kommen.«
Jetzt strahlte der Prior vor Zufriedenheit. »Callixtus, du hast meine Gedanken gelesen. Nein, Sir John wird nicht allein kommen. Ich werde seinen Sekretär und Schreiber, Bruder Athelstan, ein Mitglied dieses Ordens und Gemeindepfarrer von St. Erconwald in Southwark, bitten, ihm behilflich zu sein.«
Callixtus lehnte sich zurück und kicherte trocken; William de Conches schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Athelstan ist in Ungnade!« rief er. »Er hat sein Gelübde gebrochen und ist aus dem Noviziat entflohen.«
»Gott hat Mitleid«, warf Bruder Henry ein. »Warum also sollten wir keines haben? Bruder Athelstan ist in der Kunst der Befragung ebenso geschickt und erfindungsreich wie Ihr. Ich stimme Pater Prior zu. Wir sind hier zusammengekommen, um über bestimmte Thesen zu debattieren, aber ich spüre noch etwas anderes hier, eine Bosheit und Feindseligkeit, die nichts mit Theologie oder Philosophie zu tun haben.«
»Ach, wirklich?« fragte Callixtus so sarkastisch, daß der Prior angesichts der offenkundigen Abneigung des alten Bibliothekars gegen den jungen Theologen zusammenzuckte. »Ja, wirklich!« gab Henry zurück.
Der Prior schaltete sich ein. »Dann wird diese Angelegenheit vertagt, bis Athelstan und Sir John Cranston eingetroffen sind.« Er erhob sich. »Bis dann, Brüder.« Er nickte, machte eine flüchtige Segensgeste, und die Sitzung war zu Ende.
Das Kapitel polterte hinaus; nur William de Conches und Eugenius blieben sitzen. Sie warteten, bis die Tür geschlossen war, bevor sie sich erbost dem Prior zuwandten. »Was soll das?« schnarrte William. »Wir haben nicht die Reise von Rom hierher gemacht, um mit den profanen Angelegenheiten eines Klosters unsere Zeit zu verschwenden.«
»Hier bin ich Pater Prior«, gab Anselm zurück, »der offizielle Hüter dieses Klosters. Ihr seid meine Gäste - Ihr werdet meinen Anweisungen folgen oder abreisen. Wenn Ihr das tut, werde ich allerdings meinem Pater Generalis in Rom darüber Bericht erstatten.«
»Dieser Athelstan«, begann Eugenius, »er arbeitet unter den Armen?« Er faltete die Hände. »Ist es wahr, was man sich erzählt, Pater Prior, daß er sich von gewissen radikalen Theologen hat anstecken lassen, denen zufolge alle Menschen gleich sind?« Er redete sich warm. »Ich beziehe mich dabei vor allem auf jene Agitatoren, die Kirche und Staat umstürzen wollen, weil sie ein irdisches Paradies anstreben.« Anselm funkelte den heuchlerischen Priester an, der so sehr daran gewöhnt war, andere im Netz der Ketzerei zu verstricken. Er biß sich auf die Lippe, dann beugte er sich vor. »Bruder Eugenius«, sagte er zuckersüß, »Ihr selbst führt ketzerische Reden. Tatsächlich leugnet Ihr die Schrift, denn hat nicht Christus, unser Herr, Seinen Jüngern gesagt, wir sollten nicht sein wie die Heiden, die sich gern zum Herrn über andere machen und es schätzen, wenn andere die Knie vor ihnen beugen?« Der Blick des Inquisitionsgehilfen wurde stechend, und die Debatte wäre vielleicht hitziger geworden, wäre sie nicht durch ein Klopfen an der Tür beendet worden. »Herein!« befahl Anselm.
Roger, der Subsakristan, trat ein; sein hageres Gesicht war voller Angst, und seine dicht beieinanderliegenden Augen blickten wachsam. Mit hochgezogenen Schultern kam er hereingeschlurft, warf einen Blick auf den Großinquisitor und wäre wieder hinausgehuscht, wenn Anselm ihn nicht fest beim Handgelenk gepackt hätte. »Bruder Roger, was gibt es?«
Der Subsakristan kratzte sich im schütteren Haar und blickte zur Seite. »Pater Prior«, murmelte er und rieb sich den Schädel. »Ich hatte Euch etwas zu erzählen. Etwas mit dreizehn, und daß es keine dreizehn hätten sein dürfen.« Mit bangem Blick sah er Anselm an. »Aber jetzt kann ich mich nicht mehr erinnern, Pater Prior. Es ist wichtig - aber ich kann mich nicht mehr erinnern!«
Anselm ließ das Handgelenk des Armen los. »Denk eine Weile nach«, sagte er, »und dann kommst du wieder.«
Der Subsakristan floh wie ein verängstigtes Karnickel. »Der Mann ist ein Idiot!« zischte der Großinquisitor. »Nein, Master William, er ist ein Kind Gottes, das vor Angst von Sinnen ist. Und Gott weiß: In diesem Kloster gibt es etwas Beängstigendes, Dunkles und Unheimliches.« Mit diesen Worten nickte Anselm den beiden zu und spazierte hinaus.
*
Prior Anselms Ahnungen erwiesen sich als zutreffend. Am selben Nachmittag, als die Vesper gesungen war und die Brüder sich entweder in ihre Zellen zurückgezogen hatten oder in der Kühle des vom Kreuzgang umspannten Gartens spazierengingen, kehrte Bruder Callixtus in die Bibliothek und das Scriptorium zurück.
Gegen die Vorschrift zündete er die hohen Kerzen wieder an, damit er seine Suche fortsetzen konnte. Callixtus war eines der belesensten Mitglieder des Dominikaner-Ordens und stolz auf sein wunderbares Gedächtnis. Er interessierte sich für die Debatte des Generalkapitels und wollte sich einen Namen machen. Er vergewisserte sich, daß die Tür des Scriptoriums geschlossen war, bevor er aufmerksam die Regale studierte, die bis zur Decke reichten. Sie enthielten lederne Bücher, in die die Abhandlungen und Schriften der Kirchenväter sorgfältig gebunden waren. Im Laufe des Tages hatte Callixtus die unteren Regale durchsucht, aber jetzt wollte er seine Arbeit vollenden; schließlich ging es darum, das Manuskript zu finden, in dem stand, was er brauchte. Callixtus hatte sich Alcuin gegenüber damit gebrüstet, daß er das könne; allerdings hatte er sich auf die Frage nach weiteren Einzelheiten nur an die lange, knochige Nase getippt. Er würde diesen Theologen zeigen, daß es nichts Neues gab unter der Sonne und daß die größten Gelehrten die Bücherliebhaber waren.
Callixtus zündete noch ein paar Kerzen an und starrte die Regale an, die turmhoch vor ihm aufragten. Er schob die lange Leiter an die gewünschte Stelle und kletterte vorsichtig hinauf, eine Kerze fest in der Hand. Er betrachtete die goldenen Lettern auf dem Rücken eines Buches, die ein früherer Bibliothekar darauf geprägt hatte:
Briefe, Bücher und Dokumente des Apostolischen Zeitalters. Callixtus grinste und schüttelte den Kopf. Aufmerksam studierte er die anderen. Da hörte er unter sich ein Geräusch. Erschrocken schaute er hinunter.
»Wer ist da?« rief er leise.
Gewiß würde keiner der Brüder hereinkommen, dachte er. Diejenigen, die im Scriptorium arbeiteten, waren jetzt müde; ihre Augen brannten, ihre Finger waren verkrampft, und sie würden nur allzugern die Abendsonne genießen. Callixtus setzte seine fieberhafte Suche fort. Er mußte diesen Band finden, bevor Athelstan kam. Nichts blieb hier lange geheim, und nach dem Abendbrot war der Klatsch wie ein Wildfeuer auf einem trockenen Stoppelfeld durch das Kloster gerast: Athelstan, das schwarze Schaf der Familie, kehrte in den Pferch zurück!
Callixtus hatte nichts gegen Athelstan. Soweit es einem Mann wie ihm möglich war, mochte, ja respektierte er den asketischen und doch humorvollen Gemeindepriester der Armen. Aber er wollte doch nicht, daß Athelstan den ganzen Ruhm einstrich.
Ein Buch fiel ihm ins Auge. Er hielt die Kerze fest und streckte die Hand aus, um danach zu greifen, als die Leiter plötzlich heftig umgedreht wurde. Der Bibliothekar rutschte ab, so erschrocken, daß er nicht einmal schrie, und fiel wie ein Stein auf den Steinboden des Scriptoriums. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Körper. Callixtus rang nach Luft, denn der Aufprall hatte ihm den Atem verschlagen; zum Glück war er auf den linken Arm gefallen und so von schlimmeren Verletzungen verschont geblieben. Wieder hörte er ein Geräusch, und trotz der Schmerzensschauer drehte er sich zu der dunklen Schattengestalt um, die sich über ihn beugte.
»Hilf mir!« stöhnte er.
»In die Ewigkeit!« war die gezischte Antwort. Callixtus öffnete den Mund. »Nein«, stöhnte er. »O nein, das wollte ich doch nicht!« Er versuchte davonzukriechen, doch da schlug ihm die verhüllte Gestalt einen schweren Messingleuchter an die Schläfe und brach Callixtus' Schädel wie eine Nuß, so daß Blut und Hirn herausrannen.
*
Am Tag nach dem »großen Wunder« begannen Athelstans Schwierigkeiten erst richtig. Die Neuigkeit von der Heilung verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den stinkenden Gassen von Southwark. Die Kranken und Lahmen strömten zur Kirche und wurden ekstatisch begrüßt von Watkin und Pike, die den Vorplatz von St. Erconwald in einen kleinen Markt verwandelt hatten.
»Die werden bald müde werden«, sagte Athelstan leise zu Bonaventura. Er stand vor seinem Haus und betrachtete die lange Reihe der hoffnungsvollen Pilger, die vor der Kirche Schlange standen, um einen Blick auf das Skelett zu werfen, vor dem großen Holzsarg eine Kerze anzuzünden und ein Gebet zu sprechen. Athelstan hatte beschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Arbeiter im Chor durften weitermachen, und er war sicher, daß Cranston mit neuen Erkenntnissen kommen würde, die den Fall ein für allemal klären würden.
Aber am frühen Nachmittag war Athelstans Optimismus verflogen. Von weiteren Heilungen wurde gemunkelt; ein Kind mit Warzen behauptete, sein ekelhaftes Leiden sei verschwunden. Ein saurer Magen war beruhigt, Lendenschmerzen verflogen, und eine lange Liste von Leiden verging, nachdem der Betroffene vor dem Sarg gebetet hatte. Master Bladdersniff und die anderen Büttel kamen, um sich zu beschweren, aber Athelstan konnte nur lautstark seinem Mißvergnügen über die Vorgänge Luft machen und erklären, ihm sei die Sache aus der Hand genommen. Dann schloß er sich in seinem Haus ein.
Die Nachricht von dem wunderbaren Fund in St. Erconwald lockte all die menschlichen Bussarde und Windvögel an, die sich in Southwark herumtrieben: die Fälscher, die »ehrbaren Männer«, die Kesselflicker und die Höker, die mit religiösen Gegenständen handelten. Sie sammelten sich wie Fliegen auf einem Misthaufen. Ein Gauner mit Augenklappe und einem angeblich lahmen Bein hinkte in die Kirche, und als er herauskam, warf er seine Krücke beiseite, behauptete, er sei geheilt, und wollte die Krücke als gesegneten Gegenstand verkaufen. Er stand vor Athelstans Haus und brüllte einer Schar von Zuschauern zu, für einen Shilling sei dieses heilige Holz, das ihn nach Jerusalem und zurück getragen habe, zu erwerben. Im Haus verzog Athelstan unangenehm berührt das Gesicht. Da erklang eine zweite, durchdringendere Stimme von der Kirche her.
»Ich bringe Ablässe aus Rom! Vom Stellvertreter Christi selbst in Avignon! Wenn ihr dieses Pergament kauft, das beschrieben wurde mit Tinte aus einem Faß, hergestellt aus dem Holz der Krippe unseres Jesuskindes, dann werden euch - gegen ein gewisses Entgelt - alle eure Sünden vergeben werden, und ihr werdet eintausend Tage und Nächte weniger im Fegefeuer schmoren.«
Athelstan saß da und stützte den Kopf auf beide Hände; jetzt konnte er es nicht mehr ertragen. Er entriegelte die Tür, riß sie auf und stapfte hinaus. Er packte die hölzerne Krücke des »ehrenwerten Mannes« und schlug sie ihm über den Rücken, daß es laut klatschte.
»Im Namen Gottes, verschwinde!« schrie er. »Kennst du nicht den Vers: ›Dies ist das Haus Gottes und das Tor zum Himmel‹? Und kein schäbiger Marktstand in der Cheapside!« Der Kerl stolperte, und seine Hand fuhr zum Messer an seinem Gürtel. Athelstan hielt die Krücke in beiden Händen und kam drohend näher.
»Nur zu, du kleiner Pißköttel!« schrie er und bediente sich unverbrämt des Cranstonschen Vokabulars. »Zieh deinen Dolch, und ich schlage dir deinen verdammten Schädel von den Schultern!« Wütend deutete der Priester auf die kleine Zuschauerschar. »Das hier sind ehrliche Menschen. Sie verdienen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts!« Der Kerl warf Athelstan einen vorwurfsvollen Blick zu und machte sich schnell davon. Schwer atmend lehnte der Priester sich auf die Krücke.
»Tut mir leid«, sagte er zu den erschrockenen Zuschauern. »Geht jetzt nach Hause. Kümmert euch um eure Frauen, eure Männer, eure Kinder. Behaltet euer Geld. Geht und liebet eure Nächsten, und ihr werdet Gott finden - nicht bei diesem peinlichen Mummenschanz der billigen Gaukelei!«
»Ein Ablaß!« schrie die durchdringende Stimme plötzlich. »Ein Ablaß für eure Sünden! Die Himmelspforte lockt!« Athelstan richtete sich auf und funkelte den Ablaßhändler an, der mit dem Rücken zu ihm auf der Kirchentreppe stand. Ohne nachzudenken, ging Athelstan hinüber und rammte dem Mann das Ende der Krücke so wütend ins Kreuz, daß der die Treppe hinunterstolperte und unten auf allen vieren landete. Dort drehte er sich um; sein gelbes Gesicht war eine Maske des Hasses, er bleckte schwarze Zähne, und seine Augen waren schmal vor Wut. Der Priester hockte sich oben an der Treppe nieder.
»Ich werde jetzt die Augen schließen«, sagte er leise, »und ein Ave Maria sprechen. Wenn ich bei den Worten ›Jetzt und in der Stunde unseres Todes‹ angekommen bin, werde ich die Augen wieder öffnen. Und wenn du dann noch hier bist, dann werde ich dich grün und blau prügeln und auf einen Misthaufen werfen.«
Athelstan war noch nicht bei »Heilige Maria« angekommen, als er mit einem halbgeöffneten Auge sah, daß der Ablaßhändler davonrannte wie ein Hase. Athelstan richtete sich auf und starrte Watkin und Pike an, die in der Kirchentür standen. »Wenn ihr so etwas noch einmal zulaßt«, sagte er leise, »dann mögt ihr weiterhin meine Pfarrkinder sein, aber meine Freunde seid ihr nicht mehr.«
Langsam kehrte er zu seinem Haus zurück, schloß die Tür und legte sich auf das Bett. »Wenn es einen Gott im Himmel gibt«, sagte er leise, »dann wird die Wahrheit doch sicher herauskommen, oder?«
*
Am nächsten Morgen war es um St. Erconwald ein bißchen stiller, nachdem Athelstan am Tag zuvor dermaßen aus der Haut gefahren war. Die Wahrheit kam nicht, wohl aber Cranston und der Pater Prior. Athelstan hatte soeben an seinem Behelfsaltar die Messe gelesen, sich davon überzeugt, daß die Arbeiter gut vorankamen, Philomel gefüttert war, und nahm zum Frühstück soeben seine letzte Schale Suppe und einen Becher verdünnten Wein zu sich, als Cranston an die Tür hämmerte und sofort hereingerauscht kam wie der Heilige Geist.
»Morgen, Mönch!« donnerte er, und hielt in der einen Hand seinen wunderbaren Weinschlauch. Unaufgefordert füllte er Athelstans Becher, nahm einen großzügigen Schluck, rülpste und bat den lächelnden Pater Prior einzutreten. Athelstan stand auf.
»Guten Morgen, Pater. Wollt Ihr Sir John und mir trotz der frühen Stunde bei einem Glas Wein Gesellschaft leisten?« Prior Anselm lächelte Cranston bewundernd an. »Warum nicht?« sagte er leise. »Wahrlich sagt ja der Psalmist, der Wein erfreut des Menschen Herz, und der heilige Paulus schreibt in seinem Brief an Timotheus: ›Trinke etwas Wein für den Magen.«‹
Cranston rülpste wieder und strahlte den Prior an. »Ist das wahr?« rief er. »Natürlich, Sir John.«
»In diesem Fall«, erklärte Cranston, »ist der heilige Paulus mein Lieblingsheiliger. Das muß ich Lady Maude erzählen. Der Brief an Unsere Liebe Frau?«
»Nein, Sir John«, sagte Athelstan. »Der Brief an Timotheus. Pater Prior, setzt Euch doch. Ihr, Sir John - einen Becher aus der Speisekammer?«
Sie ließen sich nieder; Cranston strahlte, und Pater Prior nippte behutsam an seinem Zinnbecher. Athelstan rieb sich das Gesicht.
»Du siehst müde aus, Mönch«, stellte Cranston fest. Athelstan deutete auf die Tür. »Ihr kennt den Grund, Sir John. Das verfluchte Skelett und, was noch schlimmer ist, die verfluchte Dummheit der Pfarrkinder: Sie sind so leichtgläubig, daß man ihnen Schwarz für Weiß verkaufen könnte, wenn man seine Worte nur mit dem richtigen Honig beträufelte.«
»Ja, davon habe ich gehört«, sagte der Pater Prior. Sir John rutschte auf seinem Schemel hin und her. »Ich tue ja, was ich kann!« beteuerte er. »Ich habe Schreiber, die in den Akten stöbern, und Büttel, die im Dreck von Whitechapel den Aufenthalt von Master Fitzwolfe herauszufinden suchen, aber bis jetzt - nichts.« Er trank aus seinem Weinschlauch. »Und die scharlachrote Kammer?« fragte er mit schmalen Augen.
»Nichts, Sir John, überhaupt nichts.«
»Die scharlachrote Kammer?« fragte der Prior.
Cranston lachte gezwungen. »Ein kleiner Scherz zwischen uns, Pater Prior. Ein Rätsel, das dieser gute Priester hier und
ich zu lösen versuchen.«
»Ich bin auch wegen eines Rätsels hier«, sagte der Prior und sah Athelstan an. »Sir John hat dir vielleicht schon erzählt, was sich in Blackfriars zugetragen hat. Jetzt ist noch Schlimmeres geschehen.« Er stellte seinen Becher hin. »Bruder Bruno ist auf geheimnisvolle Weise gestorben. Alcuin, der Sakristan, ist immer noch verschwunden. Roger, der Subsakristan … du erinnerst dich vielleicht an ihn, Bruder?« Athelstan nickte.
»Nun, er brabbelt Unsinn. Die Inquisitoren glauben, es ist Ketzerei im Spiel. Und jetzt…« Mit den Fingerspitzen schob er seinen Weinbecher hin und her. »Bruder Callixtus, der Bibliothekar, arbeitete gestern noch spät abends im Scriptorium - Gott weiß, warum. Er suchte etwas in den oberen Regalen. Nun, die Leiter rutschte weg, er stürzte ab und zerschmetterte sich das Hirn auf dem Steinboden.«
»Gott schenke ihm die ewige Ruhe«, murmelte Athelstan und bekreuzigte sich.
Er kannte alle Namen, die Pater Anselm genannt hatte, aber die Gesichter dieser Männer waren verschwommen und undeutlich. Einige hatte er vom Sehen gekannt, als er noch in Blackfriars gelebt hatte. Andere, wie Henry von Winchester und die beiden Inquisitoren, waren Gäste aus anderen Häusern. Athelstan stützte sich auf den Tisch und überlegte schnell. Wenn der Pater Prior eine Woche früher gekommen wäre, hätte er Athelstan in große Bestürzung versetzt, aber vielleicht wirkte Gott ja auf geheimnisvollen Wegen? Vielleicht wäre jetzt ein kurzer Aufenthalt fern von St. Erconwald das beste für ihn? Er schaute den Prior an.
»Was, glaubt Ihr, geht vor in Blackfriars?« Pater Prior starrte in seinen Becher. »Gott sei mein Zeuge«, flüsterte er. »Ich glaube, wir haben einen Sohn Kains in unserer Mitte, einen Mörder. Ich möchte, daß du und Sir John die Sache untersucht. Ich möchte, daß ihr sofort mitkommt.«
»Und St. Erconwald?« fragte Athelstan. Cranston beugte sich vor und tätschelte ihm die Hand. »Zerbrich dir nicht die Rübe deswegen, Pfaffe. Was da draußen vorgeht, könnte man als Landfriedensbruch bezeichnen. Ich schicke ein paar stämmige Wachtmeister mit einer Verfügung der Gemeindebehörden her, die die Kirche für jedermann schließen, mit Ausnahme der Arbeiter.« Athelstan nickte rasch. »Ja, ja«, meinte er, »das wäre am besten. Und nun, Pater Prior, erzählt mir genau, was in Blackfriars vorgeht.«
Er schloß die Augen und lauschte aufmerksam Pater Anselms Schilderung der Ereignisse der letzten Tage. »Also«, schloß Athelstan. »Wir haben eine Sitzung des Inneren Kapitels in Blackfriars, wo Henry von Winchester seine theologische Abhandlung gegen die Brüder Peter und Niall verteidigt, während unsere Freunde von der Inquisition dabeisitzen, um Ketzereien aufzuspüren.«
»Ja.«
»Und währenddessen sterben Bruder Bruno und Bruder Callixtus, Alcuin verschwindet, und Ihr scheint mir sehr besorgt über das Gebrabbel eines Schwachsinnigen zu sein.« Der Prior rieb sich die Augen. »Ich bin besorgt, weil Bruder Rogers Gebrabbel nach Alcuins Verschwinden begann. Weißt du, es heißt, Alcuin sei in die Kirche gegangen, um am Leichnam Bruder Brunos zu beten. Er verschloß die Tür hinter sich, weil er allein sein wollte. Das tat er oft. Bruder Roger klopfte an, aber weil niemand aufmachte, benutzte er einen zweiten Schlüssel, um hineinzukommen. Von Alcuin war keine Spur.« Der Prior verschränkte die Finger ineinander. »Aus irgendeinem Grund scheint Alcuins Verschwinden Bruder Rogers Verstand noch tiefer in die Finsternis gestoßen zu haben.« Er stand auf. »Du mußt kommen, Athelstan. Sir John wird sich um die Kirche kümmern. Ich ziehe es vor, dich zu bitten, aber wenn nötig, werde ich es dir als dein Ordensoberer auch befehlen.«
»Ich komme«, sagte Athelstan. Er stand auf und streckte sich. »Ein Urlaub von St. Erconwald wird wirklich erholsam sein. Pater Prior, geht nur zurück nach Blackfriars. Sir John und ich werden bald nachkommen. Ich möchte, daß Ihr die Mitglieder des Generalkapitels zusammenruft. Ich muß sie zusammen befragen.«
Pater Prior nickte, rückte den Gürtel seiner Kutte zurecht, und Athelstan sah ihm nach, wie er zu seinem Pferd ging, das bei der Kirchentreppe angebunden war. »Ach, Sir John?« Er drehte sich um. »Der Brief wegen Benedictas Ehemann. Er ist weg?«
»Wie ein abgeschossener Pfeil.«
»Gut.«
Athelstan ging hinaus auf den Vorhof und sah ein paar Kinder auf der Treppe spielen.
»Crim! Crim! Lauf so schnell du kannst zu Mistress Benedictas Haus und sag ihr, sie soll herkommen, bitte.« Er kehrte in die Küche zurück, wo Cranston sich schon wieder Wein nachschenkte. »Seht Euch vor, Sir John«, warnte er. »Ihr werdet Euren Verstand heute nachmittag noch brauchen.«
»Verflucht, ich brauche aber etwas zu trinken«, blaffte Cranston erbost. »Vor allem, wenn ich den Tag mit einer Meute miefiger Mönche verbringen soll.«
»Ordnungsliebende Ordensbrüder trifft es wohl eher«, erwiderte Athelstan scherzend.
Cranston rülpste.
»Lady Maude und den Kindern geht es gut?«
»Aye, aber ich werde in Blackfriars wohnen«, antwortete der Coroner. »Ich glaube, Lady Maude hat Wind bekommen von meiner blöden Wette. Du weißt ja, wie sie ist, Athelstan.« Cranston blies die Wangen auf. »Lady Maude meckert nicht, aber ich kann diese langen, traurigen Blicke nicht aushalten. Bruder« - er schaute Athelstan flehentlich an -, »das Problem muß gelöst werden.«
Athelstan wandte ihm den Rücken zu, damit Cranston nicht die Verzweiflung in seinem Gesicht sehen konnte. »Skelette, mysteriöse Todesfälle und ein Meuchelmörder im Kloster!« Athelstan schloß die Augen. »Oh, gütiger Gott, hilf uns!«
Er machte sich in der Küche zu schaffen, bis es an der Tür klopfte.
»Herein!« rief er.
Benedicta trat ein; ihr schönes Gesicht war jetzt ernst und besorgt. Sie nickte Cranston zu.
»Was ist passiert, Bruder? Warum schickt Ihr nach mir?« Athelstan führte sie zu einem Schemel und setzte sich dann neben sie.
»Benedicta, der Brief ist unterwegs, aber wir müssen auf Antwort warten. Ich muß die Pfarrei für eine Weile verlassen und nach Blackfriars gehen.« Sanft berührte er ihr Handgelenk. Cranston hustete verlegen und schaute weg. »Hör zu, Benedicta«, fuhr Athelstan fort. »Wenn ich fort bin, berufst du für heute abend eine Gemeinderatssitzung ein.« Er nahm seinen Schlüsselring vom Gürtel. »Ihr könnt euch hier treffen. Du mußt versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Kümmere dich um die Kirche. Beaufsichtige die Arbeiter; sie müßten in ein paar Tagen fertig sein. Füttere Bonaventura. Und, um Gottes willen, behalte Cecily im Auge.« Er grinste.
»Sie ist für Watkin und Pike noch wichtiger als dieses Skelett.«
Benedicta nahm die Schlüssel. »Seht Euch vor, Pater«, sagte sie leise. »Ihr werdet uns fehlen.« Und sie verschwand so lautlos, wie sie gekommen war.
»Ein braves Weib, das«, sagte Cranston spöttisch. »Ein wahrhaft gesundes Weib.« Taumelnd kam er auf die Beine, und sein mächtiger Wanst schwankte, während er seinen benebelten Verstand darauf konzentrierte, den Stopfen wieder in den Weinschlauch zu bringen. »Jetzt ein gutes Schläfchen«, brummte er, »und mir geht's wieder bestens.« Athelstan räumte eilig die Becher ab. Er wechselte die Kutte, wusch sich und holte seinen verschlissenen Sattel mit den Ledertaschen für Schreibtablett, Pergament, Federn und Tintenhorn herunter. Dann sattelte er den widerstrebenden Philomel, für den ein idealer Tag des Schlummerns zwischen den Mahlzeiten auf diese Weise abrupt zu Ende ging. Binnen einer Stunde führte Cranston, der abwechselnd schnarchend, rülpsend und furzend im Sattel saß, seinen »geliebten Schreiber«, wie er Athelstan nannte, hinunter zur London Bridge.