9

Auf der Fahrt in den Nürnberger Westen überlegte sie, welche Fragen sie ihrem Zeugen stellten könnte. Hoffentlich war er ihr gegenüber offen, sodass sich ihr Abendeinsatz auch lohnte. Doch, doch, sie war sich sicher: Diese Vernehmung würde sich lohnen. Schon allein deswegen, weil ihr der Zeuge derzeit am vielversprechendsten erschien.

In der zu dieser späten Stunde menschenleeren Willstätterstraße stellte sie den Wagen ab. Augenblicklich trat ein überschlanker kleiner Mann hinter dem Tor des Auslieferungslagers auf den schmalen Gehweg und winkte ihr mit seiner Taschenlampe von Weitem zu. Froh, dass er sie schon erwartet hatte, stellte sie sich vor und zog den Ausweis aus der Jackentasche.

Doch Siegfried Ruckdäschel winkte ab. »Ich glaube es Ihnen auch so. Sie sind doch Frau Steiner?«

Sie nickte. Er öffnete das Tor und ließ sie eintreten. Der weitläufige Hof wirkte durch seine Leere noch größer.

»Hier können wir uns ungestört unterhalten. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir dabei ein paar Schritte gehen?«

»Nein, überhaupt nicht. Es ist prima, dass das so schnell geklappt hat. Ihr Chef hat Ihnen sicher schon den Grund meines Besuchs gesagt?«

»Nicht genau. Nur dass Sie mit mir sprechen wollen wegen eines Mordfalls. Und dass unsere Dienstmütze dabei eine Rolle spielt.« Er tippte auf seine dunkelblaue Baseballkappe, auf der die drei Großbuchstaben SDF eingestickt waren. Darunter stand wesentlich kleiner: »Sicherheits-Dienste Franken«.

»Ja, das ist richtig. Sie leben nicht mehr mit Ihrer Frau zusammen?«

Erstaunt blickte er zu ihr. »Was hat denn das mit dem Mord zu tun?«

»Bitte, Herr Ruckdäschel, beantworten Sie meine Fragen. Desto schneller haben wir beide es hinter uns.«

»Ja, Melly und ich sind geschieden. Schon seit«, er dachte nach, »sechzehn Jahren.«

»Und wenn ich fragen darf: Warum haben Sie sich von ihr getrennt?«

»Nicht ich habe mich von ihr getrennt, sondern sie sich von mir. Kennen Sie meine Exfrau?«

Sie nickte.

»Hübsch, gell? Aber auch sehr anspruchsvoll. Wenn die früher zum Shoppen ging, und die ist oft zum Shoppen gegangen, war gleich ein halber Monatslohn weg. Und ich hab früher gut verdient, besser als jetzt im Objekt- und Werkschutz. Irgendwann hab ich ihr einen Riegel vorgeschoben. Sie hat dann bloß noch ein Taschengeld von mir bekommen. Das war ihr aber zu wenig. Da hat sie sich anderweitig was gesucht. Und bei ihrem Aussehen auch gefunden.«

»Und dann haben Sie sich scheiden lassen?«

»Ja, eine Zeit lang hab ich noch zugesehen, wie sie mir immer neue Hörner aufsetzt. Aber irgendwann war auch Schluss.«

Paula ignorierte diese durchaus konfliktträchtige Information und fragte stattdessen: »Hat Ihre Exfrau denn kein eigenes Geld verdient?«

»Da kennen Sie Melitta aber schlecht. Früher, vor unserer Ehe schon. Die war nämlich der Meinung, wenn sie schon heiratet, dann soll der Mann gefälligst das Geld heimbringen.«

»Aha. Und welchen Beruf hat Ihre Ex gelernt?«

»Die war gelernte Krankenschwester.«

Das ergab einen Sinn, dachte Paula. Da weiß man, wo man zustechen muss, um jemanden für immer schachmatt zu setzen. Dennoch fragte sie: »Ist Frau Ruckdäschel Jägerin, hat sie einen Jagdschein?«

»Naa, gewiss net«, Siegfried Ruckdäschel schien diese Frage zu belustigen, »da kann man ja keine Absatzschuhe anziehen oder ein Seidenkostüm.«

»Dann hatte sie Ihres Wissens auch kein Jagdmesser, zwanzig Zentimeter lang und beidseitig geschliffen?«

»Meines Wissens nicht.«

Sie hatten jetzt das riesige Gelände erst zur Hälfte umrundet. Ruckdäschel sah auf die Uhr. »Nach meinem Plan muss ich demnächst mal in die Halle rein zum Kontrollieren. Dauert es noch lang?«

»Nein. Ich habe nur noch zwei Fragen. Kennen Sie eigentlich den Vater von Frau Ruckdäschel?«

»Nie gesehen, nie was von ihm gehört.«

»Und jetzt die letzte Frage, dann sind Sie von mir erlöst. Haben Sie Ihrer Exfrau irgendwann einmal eine dieser Baseballkappen Ihres Arbeitgebers geschenkt oder gegeben?«

»Nein. Wir haben ja keinen Kontakt mehr. Und die würde so was Popeliges auch nie anziehen.«

»Aber Ihrer Tochter vielleicht?«

»Ja, der schon. Einen ganzen Packen. Für den Buben. Kinder mögen ja so was. Denen ist das wurscht, was da draufsteht. Hauptsache, sie können auch so eine Mütze wie der Opa tragen. Der kommt sich doch dann gleich ganz wichtig vor.«

»Aber ist das nicht Teil Ihrer Arbeitskleidung, durften Sie die Mützen überhaupt weitergeben?«

»Freilich. Unser Chef sagt immer, das ist unbezahlte Werbung, kostet uns keinen Pfennig. Da sollen wir ganz freizügig sein.«

Siegfried Ruckdäschel schenkte die Mütze also seinem Enkel, der Enkel gab sie an seine Mutter weiter, die wiederum an ihre Mutter – und von da aus eröffnete sich ein Seitenarm zu deren Halbschwester Elvira.

Sie waren wieder bei dem Eisentor angelangt. Paula dankte ihrem Zeugen herzlich und wünschte ihm noch eine ruhige Nacht ohne Vorkommnisse. Dann fuhr sie heim.

Für diesen Außendienst und vor allem für die stundenlange vermaledeite Warterei dieses ausgedehnten Arbeitstages hatte sie sich, fand sie, eine kleine Belohnung verdient. So stieg sie im Vestnertorgraben erst in den Keller hinab, um sich dort die letzte Flasche Scheurebe aus dem Würzburger Weingut Juliusspital von 2009 zu holen. Das Abendessen entfiel heute, als Ersatz dafür diente ein ausgiebiges Abendtrinken in der Gesellschaft der sehr aromatischen und gottlob gar nicht süßen Scheurebe aus Würzburg.

Verwundert wachte sie am nächsten Morgen nach einem tiefen und erfrischenden Schlaf auf: Sie fühlte sich putzmunter, sogar ein wenig beschwingt. Und das trotz ihres ausgiebigen Weinkonsums der vergangenen Nacht. Nach einem kurzen Frühstück eilte sie an ihren Arbeitsplatz.

Auf der Treppe wurde sie von Kriminaldirektor Winfried Bauerreiß angesprochen.

»Gut, dass ich Sie treffe, Frau Steiner. Ich wollte Sie schon seit Längerem etwas fragen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Mitarbeiter, Oberkommissar Bartels, häufig, sehr häufig sogar, krankgeschrieben ist. Und dass sich das oft wochenlang hinzieht.«

Als sie nicht darauf reagierte, ihn nur bestürzt anblickte, sagte er noch: »Muss ich mir Sorgen machen um den Bestand und die Effizienz Ihrer Kommission?«

»Nein, das müssen Sie ganz und gar nicht, Herr Kriminaldirektor.«

Für einen Moment hatte sie die Fassung angesichts dieses frühmorgendlichen Anschlags aus dem Hinterhalt verloren, doch jetzt hatte sie sich wieder in der Gewalt und schoss zurück.

»Weder um das eine noch um das andere. Herr Bartels ist immer noch einer der besten Kommissare hier im Haus. Wenn nicht der beste. Da spielt es fast keine Rolle, ob er mal einen Tag fehlt oder nicht, wie das bedauerlicherweise in den letzten Monaten hin und wieder der Fall war. Nicht nur für mich ist er un-ver-zicht-bar«, intonierte sie das Adjektiv silbenweise, »sondern für uns alle. Auch, wenn ich das so sagen darf, Herr Kriminaldirektor, für Sie, der Sie doch fähige Leute so schätzen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Bei unseren laufenden Ermittlungen war es Herr Bartels, der die entscheidende Spur aufgetan hat. Sein Einsatz ist nicht nur beträchtlich, sondern unermüdlich. Trotz seiner … äh … Angina Pectoris, die ihn manchmal zwingt, der Arbeit fernzubleiben. Und niemand bedauert das mehr, das können Sie mir glauben, als Herr Bartels selbst.«

Sie fand, das musste als Erklärung für Heinrichs Krankfeierei hier zwischen Tür und Angel reichen. Und Bauerreiß schien sich auch damit zufriedenzugeben.

»Das wusste ich ja nicht, dass Bartels Angina Pectoris hat. Das kann verdammt unangenehm werden, ich weiß das aus eigener Erfahrung.« In seiner Stimme klang jetzt sogar ein Fünkchen Sorge und Mitgefühl für den Mitarbeiter mit. »Na, dann wollen wir alle hier hoffen, dass er sich davon nicht in die Knie zwingen lässt.«

Als sie den Treppenabsatz zur ersten Etage bereits erreicht hatte, rief ihr Bauerreiß noch leutselig nach: »Und sagen Sie Bartels meinen Dank für sein ungebrochenes Engagement, Frau Steiner.«

Sie wusste, ab sofort würde Heinrich nicht mehr nur unter ihrem persönlichen Schutz stehen, sondern auch unter dem des Kriminaldirektors. Denn so eine gemeinsame Krankheit verband ungemein, fast so sehr wie das Rauchen derselben Zigarettenmarke.

In ihrem Büro angekommen, informierte sie Heinrich augenblicklich über sein neues, mit dem heutigen Tag offizielles Leiden wie auch über Bauerreiß’ Dank für sein »ungebrochenes Engagement«.

»Du weißt aber schon, Paula, dass es zwei Arten von Angina Pectoris gibt, eine in Ruhe und eine unter Belastung, und dass bei der in Ruhe eine hohe Infarktgefahr für den Patienten besteht. Welche habe ich denn nun?«

»Natürlich die unter Belastung!«, antwortete sie lauter als beabsichtigt. »Sonst entfernen sie dich ja sofort aus dem aktiven Dienst. Und ich kann schauen, wo ich bleibe.«

»Wie bist du denn da so schnell draufgekommen?«

»Das war die einzige Krankheit, die mir in dem Moment eingefallen ist und die in dem Zusammenhang auch was hergibt. Weil ich wusste, dass Bauerreiß ebenfalls Angina Pectoris hat. Also, du kennst dich aus?«

Dann unterrichtete sie Heinrich und Eva Brunner über die negativen Ergebnisse der Speichelproben und über ihre abendliche Vernehmung.

»So wie sich das anhört, sind die Webers für dich damit aus dem Rennen«, merkte Heinrich dazu an. »Du scheinst dir ja jetzt mehr von dieser Halbschwester zu versprechen.«

»Ja, das tue ich. Denn erstens ist sie gelernte Krankenschwester und kennt sich daher mit der menschlichen Anatomie aus. Und das zweite Indiz ist die Baseballkappe, auf die sie Zugriff hatte. Oder siehst du das anders?«

»Sie ist keine Jägerin. Sie hatte keinen Brillantring im Ohr, als ihr sie besucht habt. Das hast du mir selbst erzählt. Von einem Nicker auch weit und breit keine Spur. Findest du da die Indizienlage nicht etwas dürftig, Frau Hauptkommissarin?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Finde ich nicht. Und darum werden wir sie uns jetzt gleich noch mal vorknöpfen. Wir alle drei.«

»Ja, wenn du dir so viel davon versprichst, da wäre es doch besser, ich besorge uns vorher noch einen Durchsuchungsbeschluss.«

»Hm, ich weiß nicht. So hoch wiederum will ich es auch nicht aufhängen.«

Sie dachte einen kurzen Moment nach und ergänzte dann: »Außerdem halte ich gerade für diese zweite Vernehmung eine andere Strategie für geeigneter. Ja, für wesentlich zielführender. So, ich gehe schon mal vor. Ich erwarte euch am Hinterausgang.«

Als kurz darauf die komplette Kommission 1 vor dem Spittlertorgraben stand, sagte Heinrich in süffisantem Ton: »Darf ich fragen, wie deine zielführende Vernehmungsstrategie aussieht? Damit ich mich innerlich schon darauf einstellen kann, sollten wir diese Melitta jetzt antreffen. Was ich übrigens bezweifle. Die wird auch nicht immer daheim sein und auf Besuch von der Polizei warten.«

»Die schaut so aus, dass wir ihr ein paar Fragen stellen. Dann sehen wir schon weiter, wie sie darauf reagiert. Da müssen wir eben flexibel sein.«

»Aha, flexibel«, wiederholte Heinrich. »Weißt du, wonach das für mich klingt, Paula? Stark nach Verletzung der Dienstvorschriften. Nur nebenbei, für meine Angina Pectoris wäre so etwas das pure Gift, Stress ist für mich ganz schlecht. Der Bauerreiß wird dir das sicher bestätigen können.«

Wieder sprang die Haustür auf, kurz nachdem sie geläutet hatte. Melitta Ruckdäschel trug wie bei ihrem ersten Treffen den blauen Nicki-Hausanzug, aber ein viel kräftigeres Make-up und vor allem – einen Brillantstecker im linken Ohr. Beim Anblick dieses Schmuckstücks, das selbst hier in dem trüben Hausflur wie eine ganze Glühwürmchen-Kolonie funkelte und glitzerte, hatte Paula die nahezu vollständige Gewissheit, dass vor ihnen die Messermörderin von Elvira Platzer stand. Und dennoch – fehlte ihr dafür nicht die Leidenschaft, die eine solche Tat erst möglich macht?

Sie verzichtete darauf, diesen Gedanken fortzuspinnen, und zwang sich zu Besonnenheit. Nachdem sie und Heinrich nebeneinander auf dem Zweiersofa mit dem schwarzen Lederbezug Platz genommen hatten, eröffnete sie die Partie. In den vergangenen wenigen Sekunden hatte sie sich hierfür eine Überrumpelungstaktik zurechtgelegt, die die hübsche Blondine möglichst schnell schachmatt setzen sollte. Ein klassisches Gambit war also Paulas Eröffnungszug.

»Sie werden sich vielleicht wundern, dass wir schon wieder zu Ihnen kommen, aber wir haben in der Wohnung Ihrer Halbschwester ein«, hier machte sie eine bedeutungsvolle Pause, »Testament gefunden, das Sie im Fall des Ablebens von Frau Platzer begünstigt. Sie sind darin als Haupterbin vorgesehen.«

Währenddessen beobachtete sie Melitta Ruckdäschel ganz genau. Diese schlug zuerst die Augen nieder und deutete dann mit einem leichten Kopfnicken an, dass sie sich erst jetzt einen Reim auf diesen überraschenden Besuch machen könne. Aus den Augenwinkeln nahm Paula bei Heinrich ebenfalls ein Kopfnicken wahr als Zeichen dafür, dass er ihre »zielführende Strategie« soeben verstanden hatte. Und auch als Zeichen dafür, dass sie sich auf ihn in puncto flexibles Reaktionsvermögen verlassen könne. Nur Eva Brunner, die mit durchgedrücktem Rücken vor der Schrankwand stand, schien mit diesem taktischen Manöver nichts anfangen zu können – sie sah ihre Chefin mit einem fragenden Blick an.

Heinrich stand auf und sagte: »Das ist mir jetzt ein wenig peinlich, Frau Ruckdäschel. Aber dürfte ich Sie bitten, kurz Ihre Toilette …?«

Spätestens jetzt wäre eine ausgeklügelte Parade fällig gewesen. Doch Melitta Ruckdäschel schien die Gefahr, in der sich ihr König befand, nicht zu registrieren. »Aber natürlich«, erwiderte sie. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es langgeht.« Was für eine dilettantische Spielerin!

Nachdem Heinrich und Frau Ruckdäschel in der Diele verschwunden waren, überlegte Paula angestrengt, wo in dieser kleinen überschaubaren Wohnung sich ihr Anscheinsbeweis versteckt hielt. In der Diele schon mal nicht, das hatte sie mit einem Blick gesehen. Küche, Toilette und das Wohnzimmer kamen dafür auch nicht in Frage, da war sie sich sicher. Blieb nur das Schlafzimmer. Oder der überdachte Balkon, der sich direkt vor dem Wohnzimmer auf dessen ganzer Länge erstreckte. Sie stand auf und trat an die Balkontür.

In dem Augenblick kehrte Melitta Ruckdäschel zu ihnen zurück.

»Sie haben hier ja eine ganz zauberhafte Aussicht«, sagte Paula, »auf all die Bäume und Sträucher. Ein richtig grünes Fenster. Ich habe auch eine Wohnung in der Innenstadt, direkt an der Burg, aber leider keinen Balkon. Manchmal bedaure ich das, so wie heute, wo ich Ihren sehe. Das ist schon was ganz anderes, wenn man zumindest die Balkontür mal aufmachen kann. Das gibt der Wohnung gleich wesentlich mehr Raum und Weite. Nicht wahr?«

Doch ihrer Gastgeberin schien nicht der Sinn nach einer gepflegten innenarchitektonischen Konversation zu stehen, denn sie bemerkte daraufhin lediglich: »Haben Sie denn schon eine heiße Spur zu Elviras Mörder?«

»Leider nein. Gar nichts«, antwortete Paula bedauernd.

»Dann haben ihre Verwandten also ein Alibi? Haben Sie das schon überprüft?«

Das war frech und plump von der Ohrstecker-Trägerin. Verlangte geradezu nach einer kleinen Abmahnung, nach einem zusätzlichen En-passant-Schlag. »Ja, natürlich. Das war das Erste, was wir gemacht haben. Ein felsenfestes Alibi. Momentan haben wir zwar keine heiße, aber eine sehr vielversprechende Spur. In Form einer dunkelblauen Baseballkappe.«

Heinrich gesellte sich wieder zu ihnen. Erneuter Angriff, diesmal mit der Königin selbst.

»Sie rauchen nicht, oder?«

»Nein, warum …?«

»Weil ich jetzt sehr, sehr gerne eine Zigarette rauchen würde. Meinen Sie, ich könnte dafür Ihren Balkon kurz missbrauchen?«

»Aber natürlich. Elvira hat sich, wenn sie bei mir war, auch zum Rauchen auf den Balkon gestellt. Aber Sie können gerne doch auch hier …«

»Nein, ich weiß, wie widerlich für Nichtraucher dieser Gestank ist. Beziehungsweise, ich kann es mir vorstellen. Ich verschwinde dann mal kurz. Herr Bartels, wenn Sie bitte weitermachen würden?«

»Ja, Frau Steiner.«

Bevor sie die Balkontür von außen schloss, hörte sie noch, wie Heinrich das Abfragen erwartbarer Statements fortsetzte. Routiniert und überzeugend.

Sie stellte sich an das äußerste rechte Ende der Loggia, neben den leeren Aschenbecher, der auf einem kreisrunden hellgrauen Metalltischchen stand, zündete sich eine HB an und sah sich um. Schnell fand sie, wonach sie auf der Suche war. Die Ankle Boots standen genau unter dem Metalltischchen. Sie ging in die Hocke. Jetzt konnte sie sogar den Schlitz, wo der Nietbolzen fehlte, erkennen. Sie drückte die eben erst angezündete Zigarette aus und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

»Jetzt haben wir Sie aber lang genug aufgehalten. Oder haben Sie noch Fragen, Herr Bartels?«

An der Wohnungstür verabschiedete sie sich von Frau Ruckdäschel. Und überlegte dabei noch, ob diese so viel Selbstbeherrschung besaß, dass sie sich die momentan einzige Frage von Interesse verkneifen würde. Nein, so diszipliniert war sie nicht.

»Weil Sie anfangs sagten, Frau Steiner, Sie haben ein Testament gefunden, wonach ich die Haupterbin bin. Wissen Sie auch, wie viel mir Elvira hinterlassen hat? Und ist da auch ihre Wohnung dabei?« Melitta Ruckdäschel tat ihr Bestes, um nur mäßiges Interesse bei diesen Fragen mitschwingen zu lassen. Dass sie sich selbst damit endgültig schachmatt setzte, merkte sie nicht.

»Oh, Ihre erste Frage kann ich Ihnen im Moment leider nicht beantworten. Wir stehen ja erst am Anfang der Ermittlungen. Zu Ihrer zweiten Frage: Ich glaube schon, dass das Haupterbe die Eigentumswohnung von Frau Platzer einschließt.«

Schweigend stiegen sie die Treppe hinab. Erst als sie mit ihren beiden Mitarbeitern wieder vor dem Spittlertorgraben stand, sagte Paula: »So, und jetzt muss alles ganz rasch gehen. Bist du auf dem Klo fündig geworden, Heinrich?«

»Ja. Da.« Er langte in die Innentasche seines Jacketts und zog einen kleinen Plastikbeutel heraus. »Diese Haare steckten in einem Kamm. Und ich habe alle mitgenommen. Das reicht locker für einen Abgleich.«

»Gut, wirklich sehr gut. Damit gehst du jetzt zur Gerichtsme…«

»Kann das nicht die Eva für mich übernehmen?«, fiel Heinrich ihr ins Wort. »Ich würde jetzt lieber etwas anderes machen. Nämlich die Konten von der Ruckdäschel überprüfen. Ich bin mir sicher, die sind für uns genauso interessant.«

»Konten? Wofür? Ich habe diese Stiefel mit der fehlenden Niete auf dem Balkon gesehen. Wir haben, was wir brauchen.«

»Trotzdem«, beharrte Heinrich.

»Ich gehe gern zu Dr. Müdsam, Frau Steiner«, erklärte die Anwärterin. »Das ist ja gleich hier in der Nähe.«

»Okay, dann machen wir das so. Du schaust, ob du in puncto Finanzen was herausbekommst, und Sie, Frau Brunner, gehen in die Tetzelgasse. Und sagen Sie Dr. Müdsam, dass der DNA-Abgleich höchste Priorität hat.«

Nachdem Eva Brunner sich von ihnen getrennt hatte, gingen Paula und Heinrich gemeinsam zurück zum Jakobsplatz. Ohne dabei ein einziges Wort zu wechseln.

Erst als sie den Hinterhof des Präsidiums überquerten, sagte sie zu ihm: »Du und dein neues Hobby, die Kontenauswertung. Das wird langsam auch zur Manie. Lass dich doch ins Dezernat 2 versetzen, da kannst du den ganzen Tag Konten überprüfen. Was wir jetzt dringend brauchen, ist was ganz anderes. Darum werde ich mich kümmern. Und sobald wir grünes Licht aus der Tetzelgasse haben, legen wir los.«

Eine halbe Stunde später hatte sie den Haftbefehl sowie einen Hausdurchsuchungsbeschluss für die dringend des Mordes an Elvira Platzer Verdächtige Melitta Ruckdäschel. Als sie mit den beiden Dokumenten in der Hand ihr Büro betrat, wurde sie von einem lauten Jubelschrei empfangen.

»Ha, Paula! Das wirst du nicht glauben, was ich in der kurzen Zeit alles herausgefunden habe. Zum Ersten, die Ruckdäschel ist hoch verschuldet. Extrem hoch! Zum Zweiten, ihr gehört zwar die Wohnung in der Waltherstraße, aber«, er sah sie an und erhob den rechten Zeigefinger, »ihr droht die Zwangsversteigerung eben dieser Wohnung. Schon seit Längerem. Sie kommt ihren Verbindlichkeiten noch weniger nach als die Weber-Schwestern. Du, die hat anscheinend auch keine Arbeit. Sagte mir die Frau von der Bank. Aber von Hartz IV lebt sie auch nicht. Da geht nichts ein, nur ständig was weg.«

»Aber von irgendwas muss sie ja leben.«

»Ja, schon. Manchmal wird ihr eine größere Summe überwiesen, aber in unregelmäßigen Abständen. Nichts, was die Bank überzeugen könnte. Davon lebt sie wohl eine Zeit lang. Dann, wenn das Geld aufgebraucht ist, macht sie wieder Schulden.«

»Und von wem kommen diese unregelmäßigen Überweisungen?«

»Das habe ich jetzt nicht gefragt. Auf jeden Fall brauchst du dich über mich nicht mehr lustig zu machen. Bloß weil ich meine Pflichten so ernst nehme wie keiner hier in dieser Kommission.«

Auch abzüglich dieses Eigenlobs gab es gute Gründe, seinen Schlussfolgerungen nachzugehen. Dennoch entgegnete sie nur: »Es wäre schön, wenn du auch eine andere Pflicht, eine weitaus einfachere, gelegentlich so ernst nehmen würdest. Nämlich die der Anwesenheit.«

Daraufhin wechselte Heinrich rasch das Thema. »Dann können wir sie ja verhaften lassen. Oder willst du auf das Ergebnis von der Gerichtsmedizin warten?«

»Ja«, lautete die knappe Antwort.

»Und warum?«

»Weil ich mir keine solche Geschichte wie die mit den Speichelproben der Webers mehr leisten will.«

Am späten Nachmittag hatten sie die amtliche Bestätigung schwarz auf weiß: Die DNA der Haare war mit der auf der Stachelniete identisch. Jeder Zweifel ausgeschlossen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag machte sie sich also auf den Weg in die Rosenau. Diesmal ohne Heinrich, der darauf bestand, für heute Schluss zu machen.

»Ich brauche jetzt dringend meinen Feierabend, einfach mal eine Zeit lang Ruhe. Außerdem müssen wir da ja nicht immer in voller Mannschaftsstärke aufkreuzen.«

Sie wollte ihm erst widersprechen, ließ ihn dann aber ziehen. Schließlich hatte sie ja Eva Brunner, die sich freute, sie in die Waltherstraße begleiten zu können. Und zwei Kollegen von der Inspektion 1 plus Klaus Dennerlein von der Spurensicherung. Auch für den Fall, dass das Jagdmesser oder der Schlüssel von Elvira Platzers Wohnung noch irgendwo in der Wohnung war. Was sie nicht glaubte.

Als sie in der Waltherstraße vorfuhren, dämmerte es bereits. Wieder sprang die Haustür kurz nach dem ersten Klingeln auf. Oben erwartete sie eine nun ausgehfeine Melitta Ruckdäschel. Tailliertes rotes Wollkostüm, rote Pumps, dezentes Parfüm.

Während Dennerlein auf den Balkon eilte und die zwei Polizisten in der Diele stehen blieben, ging Paula ins Wohnzimmer und las der Tatverdächtigen den Haftbefehl vor. Langsam, Punkt für Punkt. Dann setzte sie sich auf das Ledersofa und bat die Ruckdäschel, auch »noch kurz Platz zu nehmen«. Mechanisch kam diese der Bitte nach und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.

»Warum?«, fragte Paula.

Keine Antwort. Nur dieser angstverzerrte Blick in dem nun fahlen, kalkigen Gesicht.

»Warum haben Sie Frau Platzer erstochen? War es wegen des Geldes? Weil sie so viel hatte und Sie so wenig?«

Nach einer langen Weile schüttelte Melitta Ruckdäschel den Kopf, erst zaghaft, dann ein zweites Mal entschiedener und mit Nachdruck.

»Nein. Ich war das nicht. Ich bringe doch nicht meine eigene Schwester um. Die einzige, die ich habe. Mein eigen Fleisch und Blut sozusagen. Ich hab ja sonst nur noch meine Tochter und meinen Enkel.«

»Doch, Sie haben Ihre Schwester, Ihr eigen Fleisch und Blut, umgebracht. Und zwar aus einem ganz banalen Motiv heraus, dem der Habgier. Sie brauchten Geld, und Frau Platzer hat es Ihnen nicht gegeben. Nur deswegen.«

Paula hatte sich schon erhoben und war bereits an der Balkontür angelangt, da hörte sie hinter sich Melitta Ruckdäschel sagen:

»Nein, das ist nicht wahr. Nicht deswegen, nicht nur«, betonte sie, »deswegen. Elvira war meine Schwester, hören Sie? Meine Schwester. Da hilft man doch, wenn es nötig ist. Unter Geschwistern. Und bei mir war es und ist es nötig. Sie wusste doch ganz genau, wie es mir geht. Wie ich finanziell dastehe. Dass die Bank meine Wohnung hier versteigern will und mir auch kein Geld mehr leiht. Und dann hätte ich gar nichts mehr gehabt, gar nichts, wenn es so weit gekommen wäre. Auf der Straße wäre ich gestanden. Ohne alles. Und für sie wäre es so leicht gewesen, mir zu helfen. Sie hatte doch so viel Geld. Aber sie wollte einfach nicht. ›Das schadet dir gar nicht, wenn du dich mal einschränken musst‹, hat sie zu mir gesagt. Sie hätte sich in ihrem Leben auch oft genug einschränken müssen. Das hat mir doch nicht geholfen. In meiner Situation.«

»Also haben Sie als letzten Ausweg nur diesen Mord gesehen und den Plan geschmiedet …«

»Nein, geplant habe ich es nicht. Das müssen Sie mir glauben. Ich wollte einfach nur mit ihr reden, noch einmal in Ruhe mit ihr reden an diesem Montagabend. Von Schwester zu Schwester, von Mensch zu Mensch sozusagen. Aber die wollte mich erst gar nicht in ihre Wohnung lassen. Ich bin aber trotzdem rein. Und dann habe ich halt …«

»… zugestochen«, ergänzte Paula. »Mit einem Jagdmesser, das Sie von daheim mitgebracht hatten. Für alle Fälle, sollte es mit der Unterhaltung von Mensch zu Mensch nicht so recht klappen. Woher haben Sie eigentlich dieses Messer? Sie sind ja keine Jägerin.«

»Das war das einzige Geschenk, das mir Elvira die ganze Zeit über gemacht hat. Das einzige. Und selbst dafür hatte sie keinen Cent ausgegeben. Das hatte ihr Mann ihr überlassen, damals, als die beiden sich getrennt haben. Der war ja Jäger.«

Dann sagte Melitta Ruckdäschel kein Wort mehr. Widerstandslos ließ sie sich von den Polizisten festnehmen und abführen.

Paula ging in das kleine Schlafzimmer nebenan und sah sich dort lange um. Schließlich trat sie auf den Balkon.

»Klaus, da hinten stehen die Schuhe. Ach, du hast sie schon eingetütet. Ob die Baseballkappe, die Schlüssel und das Messer noch in der Wohnung sind, kann ich dir leider nicht sagen. Die Ruckdäschel hat auf meine Fragen dazu nicht mehr geantwortet.«

»Wenn noch etwas da ist, werde ich es finden. Ich hab Klaus Zwo schon angerufen. Er wird in der nächsten halben Stunde da sein. Morgen früh kriegst du Bescheid, ob wir fündig geworden sind.«

Als sie bereits an der Wohnungstür angekommen war, machte sie abrupt halt, ging ins Schlafzimmer zurück und rief Eva Brunner zu sich. Mit der rechten Hand zeigte sie auf die kleine Fotogalerie, die auf einem Regalbrett neben einer Sammlung von winzigen Parfümprobefläschchen stand.

»Schauen Sie sich diese Bilder, besonders die zwei hier, gut an.«

An der Ecke Spittlertorgraben/Mohrengasse, direkt vor dem Turm der Sinne, verabschiedete sie sich von ihrer Mitarbeiterin, nachdem sie sie gebeten hatte, morgen in Uniform zu erscheinen.

Weitere zehn Minuten später, und sie stand in ihrer trockenblumen- und parfümprobenfläschchenfreien Diele. Sie behielt die Jacke an und setzte sich, einem unwiderstehlichen Drang folgend, an den Küchentisch. Sie blickte zwar aus dem Fenster, vor dem sich die nun angestrahlte Burganlage eindrucksvoll erhob, sah aber nur Elvira Platzer und Melitta Ruckdäschel in dem mit Obstkisten vollgepackten Flur in der Eichendorffstraße. Die eine stumm, abweisend und überheblich, die andere verzweifelt bettelnd mit dem Messer in der Jackentasche.

In dem Moment spürte sie geradezu die provozierende Herzenskälte der Altenpflegerin und wie sich der Jähzorn ihrer Schwester Bahn brach, das Diagramm dieser unendlichen Wut zeichnete. Sie hörte den hässlichen Satz »Das schadet dir gar nicht, wenn du dich mal einschränken musst«. Und sie erkannte, noch immer wie blind aus dem Fenster starrend, die Tragik, die dem Leben der Elvira Platzer schon vor ihrer Geburt eingeschrieben war. Schließlich riss sie sich aus diesen trüben Gedanken und stand auf.

Als sie die Jacke an den Garderobenhaken hängte, hatte sie das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Nach einer Weile fiel es ihr ein, was dieses wichtige Etwas war. Sie hatte heute entgegen aller Gewohnheit auf den obligaten Gang in den Keller verzichtet. Und dabei würde es auch bleiben, beschloss sie und lobte sich sogleich für ihre enorme Selbstbeherrschung. Schließlich wartete im Kühlschrank noch der Rest der Würzburger Scheurebe auf sie.

Sie stellte sich an den Herd, setzte einen Topf Salzwasser auf, gab dann die Spaghettini hinein, rieb den Parmesan und nahm immer wieder einen kleinen Schluck aus dem Weinglas. Und als sie sich Stunden später satt und ziemlich nüchtern in ihr noch ungemachtes Bett legte, fühlte sie sich nicht nur rechtschaffen müde, sondern war mit sich und ihrem Leben im Reinen.