Weiche Semmeln
Als Elke mit Manfred am anderen Morgen den Frühstücksraum betrat, brachen die Gespräche der übrigen Gäste ab. Die Kölnerinnickte in die Runde und wollte an einem gedeckten Tisch am Fenster Platz nehmen.
»Den nicht!«, bremste die Serviererin im Dirndl sie aus. Gleichzeitig wies sie auf eine fensterlose Ecke, die zu allem Überfluss noch durch eine Holzverkleidung verdeckt war. »Der Tisch am Fenster ist für Dauergäste reserviert«, erklärte sie und schob zwei Stühle zurecht.
»Ja sicher, wir hatten ja nur eine Nacht«, gab Elke zu und sahauf Manfred, der sich setzte. »Wir wollen ja auch niemandem etwaswegnehmen, nicht wahr?«
»Tee, Kaffee?« Die Servierkraft spulte die Frühstücksroutine ab, ohne weiter auf die Tischvergabe einzugehen. Obwohl die Holzverkleidung einen freien Blick zu den anderen Gästen verhinderte und beide sich eigentlich hätten ungestört fühlen können, war das Gegenteil der Fall.
Schon beim Betreten des Raums hatte Elke ein Gefühl übermannt, als wäre sie splitternackt auf dem Marktplatz einer Provinzstadt erschienen. Während sie wortlos ihre Brötchen aufschnitten, konnten sie den wieder einsetzenden Unterhaltungen folgen.
Die ausnahmslos grauhaarigen Gäste, wie zu erwarten teilweise aus Holland, waren allekeine Bergwanderer. Diesen Umstand machte aber in deren Augen die Tatsache wett, dass sie schon ihr halbes Leben in diese Pension am Königssee kamen, um im Flachland spazieren zu gehen. Die Berge seien, meinte eine Dame mitspitzer Stimme, ja von Weitem am schönsten. Zustimmendes Gemurmel. Die Dinge schienen ihren immer gleichen Ablauf zu haben. Dazu gehörte, dass man im Haus Riedeneiner länger blieb. Man sei ja schließlich, die Frau war eine Nuance lauter geworden, kein Stundenhotel. Ein Mann lachte auf, dann folgte Schweigen und das Geklapper von Kaffeegeschirr.
»Sag mal Manfred, haben wir tatsächlich das Jahr 2010? Ich fühl mich, als steckten wir tief in den Fünfzigern.«
»Dass es solche Reservate für retardierte Sommerfrischler noch gibt, ist schon ein Wunder«, er lachte hämisch. »Aber sicher kennen die sich«, er sagte das absichtlich laut, »auf dem Obersalzberg gut aus.« Das gerade wieder einsetzende Gemurmel der anderen Gäste erstarb erneut.
Elke sah Manfred überrascht an. Das waren Sätze, die sie von ihm so nicht erwartet hätte. Mit einem Gesichtsausdruck der Hochachtung prostete sie ihm mit der Kaffeetasse zu. »Nur gut, dass wir gestern schon bezahlt haben«, meinte sie. »Dann können wir den Laden hier gleich verlassen. Gepackt hab ich bereits.«
Manfreds selbstbewusste Sätze hatten ihren Ursprung in einer Liebesnacht, die noch in ihm nachklang. Denn wie es schien, war ihm die Wiederaufnahme seiner alten Beziehung geglückt. Nach dem Abendessen am See, auf dem Weg zurück in die Pension, war das anfängliche Unterhaken schnell einem engen Umschlingen gewichen. Elke fühlte wieder die alte Vertrautheit, und Manfred wollte endlich den Nachtisch, von dem Elke gesprochen hatte. Die kribbelnde Zuneigung nahm schnell, kaum zurück im Zimmer, griffige Ausmaße an. Nicht, dass beide direkt übereinander hergefallen wären, aber zielstrebig gingen sie das abendliche Hauptprogramm an. Das gegenseitige Entkleiden geschah geübt und zeitsparend. Elke musste einmal auflachen, einfach so, während Manfred glücklich brummte.
Als beide auf das Bett gefallen waren, warfen sie wie auf Stichwort die Oberbetten zu Boden. Die dicken Daunenkissen störten nur. Doch kaum hatten sie begonnen, sich genießerisch aufeinander einzulassen und dünner Schweiß ihre Körper überzog, war es um ihn geschehen. Er bäumte sich fluchend auf und fiel Sekunden später stöhnend in sich zusammen. Bei aller Frische des erotischen Nahkampfes waren gerade Manfreds Erwartungen so nicht erfüllt worden. Er hatte sich das Zusammensein leidenschaftlicher und irgendwie ausdauernder vorgestellt. Elke hatte nur bedauernd aufgeseufzt. Das unerwartet frühzeitige Ende warjedenfalls nicht ihre Schuld gewesen und bis dahin hatten ihr seine Bemühungen gefallen. Tröstend hatte sie seinen nassen Nacken gekrault, und er war noch lange auf ihr liegengeblieben.
Trotz des unrühmlichen Endes ihres Liebesspieles und der anschließenden unruhigen Nacht auf schwankenden Matratzen, fühlten beide sich an diesem Morgen mit Energie geladen und hellwach.
Als Elke mit ihm den Frühstücksraum verließ, verebbten erneut die Gespräche der anderen. Sie sah von Tisch zu Tisch auf die kleinkarierten Hemden, die Kniebundhosen und die mit zu viel Haarspray hochgehaltenen Dauerwellen. Sie grinste und sprach noch in der Tür: »Irgendwie tun die Leute mir leid. Die müssen jetzt tagelang diese weichen Semmeln essen. Aber vielleicht ist das ja gut für ihre Zähne.« Manfreds lautes Auflachen verebbte im düsteren Gang. Sie hatte ihre Hand auf sein Schulterblatt gelegt und ließ sich führen.
Nach dem Zähneputzen, Elke machte das immer erst nach dem Frühstück und hielt das für die konsequentere Zahnpflege, verstaute sie den Waschbeutel im Rucksack. Beim Kramen im Gepäck stieß sie auf eine Videokassette.
»Die hab ich ganz vergessen«, meinte sie verblüfft und tastete nach ihrem Mobiltelefon. Mit einem Wink beschwichtigte sie Manfreds fragenden Blick und wählte eine Nummer. »Ja, Servus,Alois, genau, die Elke. Entschuldige die frühe Störung. Ich weiß, ichwerde zur Plage. Aber hattest du mir nicht angeboten, ein Abspielgerät zu besorgen? Sollte mit Cinch-Steckern laufen, ein Scart-Kabel hat bei dem Trümmer-Fernsehen hier keinen Zweck.« Sie lauschte der bummeligen Stimme Heustapels, der gerade seinen Sohn für den Kindergarten fertig machte. »Ja, ist gut, dannwarte ich. Etwas Herrenbesuch wird mir guttun.« Sie feixte mit ihrerMiene Manfred zu. »Ich hab ja bis zehn gebucht, bis dahin bist du sicher längst bei mir. Mach’s gut und bis gleich.«
Sie legte ihr Telefon weg. »Das Video muss ich noch sehn, bevor ich wieder aufsteige. Vielleicht kann der Kollege es danach direktzurückbringen.« Versonnen schaute sie zu Boden. »Ich beschäftige den Mann ganz schön.« Sie seufzte und blickte Manfred an. »Beschäftige ich dich denn auch?« Elke war aufgestanden.
Er legte seinen Arm um sie und küsste ihren Mund. Lang und zärtlich. »Du weißt, dass ich heim muss? Hab mir die Zeit irgendwie gestohlen, nur um dich zu treffen.«
»Das hast du ja jetzt. Gibt es irgendwelche Gedanken, die du mir mitteilen möchtest?« Sie betrachtete ihn ernst.
»Verhör mich bitte nicht, du kennst mich. Ich mache nicht vieleWorte.« Er starrte ausdruckslos vor sich hin. »Ich wünsch mir, dassalles so wie früher wird. Dass wir uns sehen und so weiter.«
»Inklusive der Gespräche, oder nur so weiter?« Spöttisch musterte sie den Mann, den sie für sich oft ihren Geliebten genannt hatte. Wieder kam er auf sie zu, umarmte sie erneut und strich ihr übers Haar.
»Das volle Programm, mit reden vorher und hinterher. Na sicher. Nimmst du mich noch?«
»Nun, das letzte Mal war ja etwas abrupt zu Ende, aber grundsätzlich fand ich das keinen schlechten Wiedereinstieg.« Sie griff sein Gepäck und öffnete die Zimmertür. »Komm gut heim. Wir telefonieren, wenn ich wieder in Köln bin.«
Manfreds Gesicht ließ erahnen, dass er wohl eine klarere Antwort erwartet hatte. Er nickte bloß und verließ das Zimmer. Ihre letzte Berührung waren ihre Hände, die sich im Halten des Gepäckgriffs ablösten.
»Ich komm nicht mit raus, den Vogelscheuchen auf den Balkonen mag ich kein Schauspiel bieten. Also, Tschöö.« Mit diesem rheinisch verballhornten Adieu schloss sie die Tür und entließ Manfred zu seinem Auto.
Sie wartete ab, bis das Knirschen des Kieses unter den drehenden Reifen nachgelassen hatte, dann ging sie vor die Haustür. Links stand eine solide Holzbank, auf der sie Platz nahm. Die Riedeneiner Maria, Elke hatte Spaß an der altertümlichen Verdrehung von Vor- und Nachnamen, war auf der Wiese beim Haus dabei, Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Nach einer Weile der stillen Beobachtung gesellte sie sich zu der alten Frau.
»Ich soll Sie von der Moni grüßen«, sprach sie in den Rücken der Kittelschürze. Die Riedeneinerin ließ ihre Hände sinken, legte ein Kleidungsstück in den Korb zurück und drehte sich langsam um.
»Die Moni? Aha. Soso.« Ein misstrauischer Blick tastete ihren Pensionsgast ab, dann nahm die Frau ihre Arbeit an der Wäschespinne wieder auf. »Wie geht’s ihr denn? Lang hab ich nix mehr gehört von ihr.«
»Gut, denke ich.« Elke sah auf den Horizont, dort wo Wälderund Gebirge den Himmel begrenzten. »Sie ist fleißig, und alle mögensie da oben auf der Hütte.«
Frau Riedeneiner nickte, ließ sich aber nicht stören. »Ja, arbeiten hat sie schon immer gekonnt. War ein braves Kind. Nur ihre Reise damals, also«, die sehnigen Arme, überzogen mit einer welken Haut, sanken langsam hinunter, »die hat kein gutes Ende genommen. Seitdem hatte sie Flausen im Kopf. Hier auf dem Hof wollte sie nicht mehr sein. Ja, wo gibt’s denn so was!« Nachdem sie das letzte Kleidungsstück in die Herbstluft gehängt hatte, griff Maria Riedeneiner den Wäschekorb und ging, ihren Gast dabei zur Seite schiebend, zurück ins Haus. »Gell, Sie räumen noch Ihr Zimmer?«, herrschte die Wirtin sie an.
Elke lächelte und spitzte die Lippen. »Ja, alles schon gepackt. Aber ich bekomm noch Besuch.« Den Blick, den die Alte ihr zuwarf, hätte sie liebend gerne festgehalten.
»So! Aha. Besuch. Sicher ein Mann, oder?« Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie weiter in den Hausflur hinein.
»Ja«, rief Elke ihr lachend hinterher, »wir sehen uns nur kurz einenFilm an.« Bestimmt würde von der Servierkraft bis zum letzten Gast jetzt das ganze Haus davon erfahren. Sie nahm an, dass der erwähnte Film im Laufe der nächsten Viertelstunde beim Weitertratschen zum Porno mutierte. Schön, dass sie noch etwas zur Fantasie dieser Leute beitragen konnte, freute sie sich höhnisch.