12.
Intuitiv spürte Peter, dass der Mann am Nebentisch ein Russe war. Der etwa 50-jährige, mürrisch dreinblickende Weiße mit dem breiten Kinn trug zivile Kleidung, saß aber mit drei äthiopischen Soldaten im Hotelrestaurant zusammen. Die Rangabzeichen der Äthiopier ließen vermuten, dass es hochrangige Offiziere waren. Die Stimmung unter den Männern schien nicht sonderlich gut zu sein. Alle starrten schweigend auf ihre Teller.
Jahzara erhob sich. »Ich muss mal auf mein Zimmer. Bitte esst weiter.«
Peter nutzte die unerwartete Gelegenheit, um ungestört mit Jahzaras Vater sprechen zu können. »Ich wusste gar nicht, dass es in Äthiopien noch russische Militärberater gibt.«
Seyoum hielt beim Essen inne, blickte kurz zum Nachbartisch und sagte leise: »Peter, da du dich meines Wissens in Äthiopien, nein, ich meinte natürlich in Eritrea, recht gut auskennst und schon mal mit einigen, nennen wir sie mal Gesinnungsgenossen, hier warst, solltest du wissen, dass es zwischen dem äthiopischen Volk und Moskau seit jeher ideologische Gemeinsamkeiten gab – und immer noch gibt!«
Peter schluckte betroffen. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Äthiopier wussten offensichtlich über seinen Aufenthalt bei der eritreischen Befreiungsfront Bescheid. Wahrscheinlich hatte Jahzaras Vater Kontakte zum äthiopischen Geheimdienst genutzt, um Erkundigungen über ihn einzuziehen. Vielleicht war das der Grund für Jahzaras Distanziertheit. Er versuchte, durch Ehrlichkeit einer kontroversen Diskussion auszuweichen.
»Ich habe damals für ein linksliberales Blatt geschrieben, deswegen war ich in Eritrea. Was ich damals dachte und schrieb, dazu stehe ich auch heute noch.« Peter schaute Seyoum direkt in die Augen. Er rechnete mit einem Eklat.
Aber Seyoum reagierte anders als erwartet. »Keine Sorge, Peter. Ich kreide dir das von damals nicht an. Ich habe mich nur ein wenig über dich kundig gemacht, weil ich gerne weiß, zu welchen Menschen ich uneingeschränktes Vertrauen haben kann und zu wem nicht. Wissen ist Macht. Und Wissen erspart dir unangenehme Überraschungen. Tut mir aufrichtig leid, Peter, dass ich in deinem Leben herumgeschnüffelt habe. Aber es geht um die Sicherheit meiner Tochter – um ihr Leben! Dennoch unterstütze ich Jahzara und dich bei dieser Sache, an der ihr jetzt dran seid, denn wie schon im 15. Jahrhundert, so ist auch heute noch Äthiopien nur ein Spielball der Großmächte.«
Peter war ebenso erleichtert wie sprachlos. Die Befürchtung, seine Vergangenheit könnte zum Zerwürfnis mit Jahzara führen, hatte sich in kürzester Zeit zerschlagen. Er mochte diesen klugen, charismatischen Mann irgendwie.
Seyoum schaute sich kurz zu den Militärs am Nebentisch um und sprach dann weiter: »Nein, Peter, das ist kein russischer Militärberater. Das ist ein russischer Entwicklungshilfeexperte – formell jedenfalls. So nennt sich das heutzutage. Früher haben sie uns Panzer geschickt; heute schicken sie uns Landwirtschaftsexperten – wahrscheinlich im Rang eines Generals! Du siehst, alle wollen sie uns helfen. Ganz uneigennützig natürlich!«
Peter musste grinsen. Der Sarkasmus in Seyoums Worten war nicht zu überhören. Aber eine Sache brannte Peter noch auf der Zunge. »Weiß Jahzara von meiner Eritreareise?«
Seyoum lächelte. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben.
»Nein, keine Angst. Sie weiß nichts. Und sie muss es auch nicht wissen. Aber du solltest berücksichtigen, Peter, dass Jahzara eine extrem stolze, sehr nationalbewusste junge Äthiopierin ist. So jung, wie du es damals in Eritrea warst. Sie sieht das mit den Unabhängigkeitsbestrebungen Eritreas anders als ich. Es gibt da eine Sache, die du wissen solltest. Aber ich bitte dich, Peter, und zwar in aller Eindringlichkeit, sprich nicht mit Jahzara darüber!«
Peter sah, wie schwer es Seyoum fiel, die richtigen Worte zu finden. Der Mann mit den grauen Haaren wirkte eigentümlich verunsichert. Er hüstelte mehrmals.
»Jahzaras Zwillingsbruder war Offizier in der äthiopischen Armee und kämpfte gegen Eritrea. Er fiel in einer dieser absurden Offensiven, in denen sozialistische Brüder gegen sozialistische Brüder kämpften. Ein Teil von Jahzara ist mit ihrem Bruder gestorben. Bei eineiigen Zwillingen ist das manchmal so. Sie sind in ihren Seelen vereint. Für immer und ewig. Sie liebte ihren Bruder über alles. Als er starb, starb auch in ihr etwas. Und sie hat daraufhin auch ihre Zukunft als Frau verloren. Aus Gram und Schmerz wollte sie sich damals das Leben nehmen. Es misslang. Den Versuch hat sie dennoch teuer bezahlt. Sie hatte schwere innere Verletzungen. Sie wird niemals in ihrem Leben Kinder haben können. Darunter leidet sie sehr. Sie meidet Männer. Für sie ist es eine grauenhafte Vorstellung, dass ein Mann, den sie liebt, sie verlassen könnte, weil sie keine Kinder mehr bekommen kann. Sie sieht sich nur als halbe Frau. Als eine weibliche Hülle, deren Inhalt nutzlos ist. Und weil sie mit diesem Trauma nicht fertig wurde, hat sie sich eine eigene Realität geschaffen. Sie macht Eritrea für alles verantwortlich. Hätte Eritrea nicht um Unabhängigkeit gekämpft, ihr Bruder würde noch leben. Deswegen hasst sie die Menschen in Eritrea. So einfach ist das für sie.«
Peter versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Tiefes Mitgefühl überlagerte sein Denken. Plötzlich erinnerte er sich daran, wie Jahzara in dem Lokal in Lissabon so seltsam darüber gesprochen hatte, dass es auch damals schon, zu Zeiten von Kaiserin Eleni, als Makel galt, wenn keine Nachfahren existierten. Er atmete tief durch. Damit hatte Jahzara sich selbst gemeint! Seyoum schien zu spüren, dass ihm tausend Fragen auf der Zunge lagen. »Ich weiß, dass du Jahzara sehr magst und sie auch begehrst. Jeder normale Mann würde eine solch attraktive Frau begehren.«
Peter fühlte sich ertappt. Sah Seyoum ihm etwa an, wie sehr er Jahzara begehrte? Seine Gedanken überschlugen sich. »Wenn ich das richtig sehe, dann hat Jahzara noch nie…«
»Nein, Peter, sie hat noch nie mit einem Mann geschlafen. Noch nie! Sie will es nicht und sie kann es nicht. Sie hat panische Angst davor, dass das Leben sie mit grausamen Tatsachen konfrontiert.«
Peter schluckte. Er rang nach Worten. »Ein Mann, einer, der sie wirklich liebt, könnte damit klarkommen und ihr helfen, oder nicht?« Erst während des Sprechens wurde er sich bewusst, dass er sich noch nie über solche Dinge Gedanken gemacht hatte. Würde er mit einer solchen Situation wirklich umgehen können? Damit, dass er wahrscheinlich nie mit einer körperlich so begehrenswerten Frau schlafen könnte? Vielleicht würden ja Liebe, Vertrauen, Nähe und Einfühlsamkeit ihr Trauma langsam auflösen? Vielleicht brauchte sie einen Menschen, der mit ihr darüber sprach?
Peter merkte, wie ihn die theoretische Auseinandersetzung mit diesem Thema völlig überforderte. Er verdrängte seine Gedanken, suchte nach pragmatischen Ansätzen. »Aber es gibt heute Methoden, Kinder zu bekommen ohne…«
Seyoum schaute ihm in die Augen.
Zum ersten Mal, seit er ihn kennen gelernt hatte, spürte Peter, dass Jahzaras Vater ihn mochte. Sie waren Freunde geworden, ohne sich näher zu kennen.
»Nein, Peter, diesen Weg gibt es nicht! Meine Prinzessin hat sich in den Glauben geflüchtet. Sie brauchte den Glauben an Gott, um überleben zu können. Sie würde nichts in ihrem Leben tun, was nicht gottgegeben ist. Für sie wäre eine künstliche Befruchtung, das ist es ja wohl, was du andeuten wolltest, undenkbar. Als Ersatz hat sie sich zu diesem Studium entschlossen. Daraus erklärt sich auch ihr manchmal völlig überzogenes Interesse an den Geschehnissen damals mit den Portugiesen. Sie arbeitet wie eine Irre, verdrängt Realitäten und nährt ihre Kraft für die Zukunft aus der Vergangenheit. Sie ist fast fanatisch. Das ist Jahzaras Weg. Ich hingegen habe nach dem Tod meines Sohnes meinen Dienst bei der äthiopischen Regierung an den Nagel gehängt. Ich konnte nicht mehr damit leben, dass mein Sohn, mein einziger Sohn, für die absurde Idee von einem äthiopischen Sozialismus von sozialistischen Freiheitskämpfern erschossen wurde. Ich will mit Politik möglichst wenig zu tun haben. So, jetzt weißt du all das, Peter! Aber versprich mir, dass du es vertraulich behandelst. Jahzara mag dich sehr, aber sie hasst Eritrea. Sie braucht diesen Hass, um mit dem Verlust ihres Bruders und ihrer Weiblichkeit fertig zu werden. Es wäre bedauerlich, wenn eure Freundschaft an deiner und ihrer Vergangenheit zu Bruch gehen würde. Sie hat grenzenloses Vertrauen zu dir, Peter. Ich übrigens auch. So, und jetzt vergessen wir die Vergangenheit. Da kommt unsere Prinzessin wieder.«
Jahzara kam mit forschem Schritt die Treppe hinunter. Kaum hatte sie sich gesetzt, wandte sie sich an ihrem Vater und überreichte ihm ein Kuvert. »Das wurde vor einer halben Stunde an der Rezeption für dich hinterlegt.«
Seyoum öffnete den Umschlag und überflog die Zeilen. Ohne aufzuschauen, flüsterte er: »Sagt euch der Name Pater Benedikt von der Abtei Dormitio in Jerusalem was?«
Peters Puls raste plötzlich.
Jahzara hatte offensichtlich die gleichen Gedanken wie er. Sie starrte ihn fassungslos an.
Peter antwortete hektisch. »Ja! Dieser Mann hat vor langer Zeit aus unerklärlichen Gründen die Genehmigung bekommen, Einsicht in das Sion-Dossier zu nehmen. Pauline hat uns das erzählt. Warum?«
Jahzaras Blicke wechselten unruhig zwischen Peter und ihrem Vater hin und her. Peter sah die Angst in ihren Augen. Seyoum schien darauf bedacht, keine Ängste zu schüren. »Das ist der Mann, der heute Vormittag von einer Eliteeinheit festgenommen wurde. Er liegt im Krankenhaus. Er hat Glück gehabt und ist nicht sehr schwer verletzt. Nur ein Schulterschuss. Das ist die gute Nachricht!«
Jahzara schien kurz davor zu sein, hysterisch zu werden. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie atmete sehr schnell. Peter versuchte, ihre Hand zu nehmen, doch sie entzog sich seinem Griff.
Seyoum resümierte weiter: »Nun ja, das war die gute Nachricht. Er lebt! Er war nämlich unschuldig. Eine tragische Verwechslung. Eine Verkettung unglücklicher Umstände…«
Jahzara konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie zischte ihren Vater flehend an: »Jetzt sag schon, was die schlechte Nachricht ist! Sag es, bitte!«
»Die schlechte Nachricht ist: Der Mann, den die Polizisten eigentlich festnehmen wollten, war bis heute Morgen in dem Zimmer direkt neben Pater Benedikt untergebracht. Es war ein Araber. Als Priester verkleidet! Er hat heute Morgen das Hotel verlassen. Nach ihm wird gefahndet. Der Pater aus Jerusalem wurde nur angeschossen, weil die Leute an der Rezeption die Zimmernummern versehentlich vertauscht hatten. Beide hatten sich als Priester eingetragen.«
Seyoum griff nach Jahzaras Hand. Sie zitterte und stierte gedankenversunken auf den Tisch.
Peter suchte nach Erklärungen. Wieso war dieser Pater aus Jerusalem hier? Und warum dann auch noch der Mörder von Charles, der wahrscheinlich identisch war mit dem Araber auf dem Vaporetto in Venedig. Hatte er hier auf sie gewartet? Jahzara unterbrach seine Gedanken. Kaum hörbar flüsterte sie: »Mein Laptop! Die Schweine haben meinen Laptop angezapft! Der Mann, der in meinem Haus in Lissabon angeschossen wurde, war in meiner Wohnung und hat den Laptop manipuliert! Nur so konnten sie wissen, dass wir hierherfliegen. Die Mails an dich, Vater! Die Mails haben uns verraten. Ein Killer hat hier auf uns gewartet! Ich halte das nicht mehr aus! Ich sterbe bald vor Angst.«
Seyoum gelang es kaum, seine Tochter zu beruhigen. Aufgewühlt und vorsichtig zugleich schaute er sich um. Der Russe nebenan schielte zu ihnen herüber. Die äthiopischen Offiziere taten so, als interessiere sie Jahzaras Schluchzen nicht. Seyoum überflog nochmals den Brief, der ihm offensichtlich von einem Vertrauten bei der ortsansässigen Polizei geschickt worden war.
»Da… da ist noch was«, stotterte er ein wenig. »Die Information kann man so oder so interpretieren. Versuchen wir es mal mit vorsichtigem Zweckoptimismus. Vor zwei Stunden wurde in einer Schlucht zwei Stunden von Bahir Dar entfernt in Fahrtrichtung Debre Markos ein völlig ausgebranntes Taxi gefunden. Der Fahrer war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Aber um seinen Hals fand man Reste eines Rosenkranzes. Er trug ein Priestergewand. Zudem konnten Rückstände eines ägyptischen Passes sichergestellt werden. Er scheint so, als habe der Araber ein Taxi geraubt und den Fahrer umgebracht. So wie es aussieht, ist er dann aber auf der Flucht verunglückt und verbrannt. Es gibt, so gesehen, zwei Möglichkeiten. Wenn es sich bei der Leiche in dem Fahrzeug um den Araber handelt, hat sich euer Problem von selbst erledigt. Wenn nicht, wenn es sich bei dem Toten um den Taxifahrer handelt, dann ist klar, dass der falsche Priester auf der Flucht ist. Der will mit Sicherheit auf dem Landweg nach Addis. Wie auch immer, er ist tot oder auf der Flucht! Die Gefahr ist vorbei. Also, Prinzessin, auch wenn ich verstehe, dass du mit den Nerven fix und fertig bist, Angst brauchst du jetzt nicht mehr zu haben. Da ist niemand mehr hier, der euch auflauert. Ihr könnt weitermachen! Morgen fahrt ihr zu den zwei Klöstern. Ich habe über Freunde einige Treffen arrangiert. Vielleicht ist ja auch dieser mysteriöse Pater aus Jerusalem bald vernehmungsfähig. Ich möchte doch zu gerne wissen, was der hier zu suchen hatte. Fahrt ihr jetzt erst mal zu den Klöstern.«
Kriminaloberrat Wilhelm Schumacher, Leiter der beim deutschen Bundeskriminalamt für islamistische Gewalttäter zuständigen Abteilung für Staatsschutz, überflog den Bericht seines Mitarbeiters. Er runzelte die Stirn und sah zu Hauptkommissar Gert Fröbig auf.
»Was wissen wir eigentlich über diese Gruppierung, diesen Al-Sakina-Orden? Klingt, mit Verlaub gesagt, ziemlich mysteriös, was Sie da geschrieben haben. Ich bin mir nicht mal sicher, ob diese Angelegenheit überhaupt in den Zuständigkeitsbereich des BKA fällt. Für mich liest sich das eher wie die Vorbereitung zu einer Entführung. Dann wären die Kollegen von den lokalen Dienststellen zuständig. Oder das Bayerische Landeskriminalamt. Wenn es aber, wie Sie hier andeuten, einen terroristischen Hintergrund gäbe, wäre es angebracht, das Bayerische Landesamt und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz zu informieren.«
Gert Fröbig hatte keine andere Reaktion seines Vorgesetzten erwartet. Sein Bericht war tatsächlich ziemlich vage formuliert. Aber die informelle Quelle, ein sehr vertrauenswürdiger arabischer Informant, hatte höchst brisante Hintergrundinformationen geliefert, die er in seinem offiziellen Bericht nicht hatte erwähnen wollen. Entsprechend selbstbewusst antwortete er: »Ich habe mich nur an die Dienstanweisung gehalten. Und die besagt, dass wir Informationen von V-Männern unter dem Aspekt des Quellenschutzes nicht in offiziellen Berichten, sondern nur in Form vertraulicher Vermerke für die Handakte niederschreiben sollen. Solche Informationen spielen hier eine bedeutende Rolle. Zumal sie von einer Quelle eines befreundeten arabischen Dienstes kommt: aus Ägypten. Aber ich denke, die Sache ist so brisant, dass Sie darüber Bescheid wissen sollten.«
Der Abteilungsleiter nickte. »Und diese Gruppierung Al Sakina? Was sind das für Leute? Lassen die sich zuordnen? Schiiten, Sunniten, Wahhabiten – al-Qaida? Was wollen die? Wer soll da entführt werden?«
Hauptkommissar Fröbig kannte die Ungeduld seines Chefs. Dessen Nähe zu politischen Entscheidungsträgern und zum Koordinator der Geheimdienste im Bundeskanzleramt hatte aus dem einst so erfolgreichen Kriminalbeamten der Abteilung Organisierte Kriminalität einen nur noch unter Opportunitätsprinzipien denkenden Schreibtischkriminalisten werden lassen. Gert Fröbig versuchte, überzeugend zu argumentieren: »Wir wissen, dass sich Al Sakina so genannter Racheengel, also Auftragsmörder, bedient, um ihre Ziele zu erreichen. Einer dieser Racheengel nennt sich unter anderem Sahib al Saif – Statthalter des Schwertes. Er hat seine blutigen Spuren in Venedig hinterlassen. Zwei Mönche wurden ermordet. Wir stehen in Kontakt mit dem zuständigen Commissario Toscanelli. Der ist sich sicher, dass die ominöse Entführung, die uns der Informant gemeldet hat, etwas mit den Geschehnissen der letzten Wochen zu tun. Da läuft ein großes Ding ab, Chef! Was es ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass dabei ein deutscher Staatsbürger namens Peter Föllmer eine Rolle spielt. Föllmer tauchte in Venedig als Zeuge auf. Und jetzt ist er in Äthiopien. Diesen Föllmer haben wir im NADlS-System. Beim BND und beim Bundesamt für Verfassungsschutz gibt es ebenfalls brisante Erkenntnisse über ihn. Der Mann war als Redakteur eines linken Szenenblattes mal sehr nahe am Kader der Roten-Armee-Fraktion dran. Und er hatte Kontakte zu anderen europäischen Linksterroristen. In Eritrea hielt er sich zusammen mit Topleuten der baskischen ETA in militärischen Ausbildungslagern marxistisch-leninistischer Freiheitskämpfer der EPLF auf. Das ist zwar alles schon länger her. Ich persönlich glaube aber nicht, dass es Zufall ist, dass Föllmer zur selben Zeit wie der Racheengel von Al Sakina in Äthiopien ist. Vielmehr vermute ich, dass diese ominöse Entführung in einem kausalen Zusammenhang mit islamistisch-terroristischen Aktivitäten und mit diesem Racheengel steht. Daher würde ich es für angebracht halten, wenn Sie BND und Verfassungsschutz um Amtshilfe ersuchen würden. Vielleicht erfahren wir über deren Kontakte im Ausland, wer da aus welchem Grund von Al Sakina entführt werden soll.«
Commissario Toscanelli wollte soeben zusammen mit Pietro das Büro verlassen, als über Interpol Lyon eine Nachricht aus Äthiopien kam. Er überflog die Zeilen des Innenministeriums aus Addis Abeba, nickte zufrieden und gab den Bericht dann seinem Kollegen.
Pietro las laut vor: »… in aller gebotenen Freundlichkeit dürfen wir uns nachträglich für Ihre Informationen über den vermutlichen Aufenthalt eines mutmaßlichen Mörders in Äthiopien bedanken. Nach dem Einsatz einer äthiopischen Sondereinheit in einem Hotel in Bahir Dar war es dem Tatverdächtigen zunächst gelungen, mit einem entwendeten Taxi Richtung Addis Abeba zu fliehen. Das Fahrzeug kam jedoch südlich von Bahir Dar von der Straße ab, stürzte in eine Schlucht und brannte völlig aus. Der Tatverdächtige, der sich als Priester verkleidet hatte, kam zu Tode. Erste Untersuchungen haben ergeben, dass es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um den in Ihrer Mitteilung erwähnten Sahib al Saif handelte. Über weitere Ermittlungsergebnisse werden wir Sie unaufgefordert informieren.«
Commissario Toscanelli blickte seinen Assistenten fragend an. »Damit hat sich die Sache wohl erledigt, oder?«
Pietro überlegte nur kurz. »Hm, das war auch mein erster Gedanke. Aber wenn ich es mir genau überlege, würde ich den Kollegen in Addis Abeba doch lieber antworten, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem Täuschungsmanöver aufgesessen sind. Dafür verwette ich ein Monatsgehalt!«
Commissario Toscanelli machte aus seiner Überraschung keinen Hehl. »Pietro, bei aller Wertschätzung für Ihren kriminalistischen Spürsinn. Aber was, bitte, bringt Sie auf die Idee, dass der Unfall nur ein Täuschungsmanöver war?«
»Intuition, Commissario! Ich bin eben der geborene Zielfahnder, ein perfekter Profiler. Diese Kakerlake, Chef, ist zwar bislang, wenn ich das richtig sehe, nicht sonderlich erfolgreich gewesen, aber er ist beharrlich. Wahrscheinlich, weil ihm seine Auftraggeber im Nacken sitzen. Der steht unter Erfolgszwang! Und er ist clever. Erinnern Sie sich noch? Als er von Venedig über Verona nach Deutschland flog, um letztendlich nach Äthiopien zu reisen? Wissen Sie noch, was ich damals sagte?«
»Nein, nicht wirklich. Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte, wer kommt schon auf die Idee, dass jemand, der nach Süden will, Richtung Norden flieht.«
Commissario Toscanelli griff nach der Meldung aus Äthiopien und überflog die Zeilen. »Sie meinen diesen Satz: ›Das Fahrzeug kam jedoch südlich von Bahir Dar von der Straße ab‹?«
Der Commissario schaute auf. Aber Pietro war bereits zum Schreibtisch gegangen und fuhr den Computer hoch. Nach wenigen Minuten murmelte er triumphierend: »Ein Hoch auf Google-Earth! Kommen Sie her, Commissario! Schauen Sie mal, das hier ist eine Landkarte von Äthiopien.«
Commissario Toscanelli ging um den Schreibtisch herum und blickte auf den Bildschirm. Der Cursor zeigte auf einen Fleck nahe einem See.
»Hier liegt die Stadt Bahir Dar, am Tanasee«, referierte Pietro. »Laut Bericht fuhr der Mörder südwärts in Richtung Addis Abeba, was sinnvoll ist, denn von dort gehen die internationalen Flüge ab. Irgendwo zwischen Bahir Dar und Debre Markos, also irgendwo auf dieser Straße hier im Süden, kam es zu dem vermeintlichen Unfall. Aber, schauen Sie mal…«
Pietro beugte sich näher zum Bildschirm und zoomte eine Ausschnittsvergrößerung heran. »In der nächsten südlich gelegenen Stadt, also in Debre Markos, gibt es gar keinen Flughafen. Bis Addis Abeba sind es viele hundert Kilometer. Also viel zu risikoreich für einen Flüchtenden, der möglichst schnell aus dem Land will. Nördlich von Bahir Dar dagegen zeigt diese Karte zwei größere Städte mit einem Zeichen für einen Flughafen an – sehen Sie, hier? Das ist Gonder. Und ziemlich weit vom Tanasee entfernt liegt die etwas kleinere Stadt Aksum.«
Der Commissario starrte auf den Bildschirm. »Sie meinen also – «
»Ich meine nicht nur, Chef. Ich bin mir absolut sicher! Dieser Typ hat die Äthiopier reingelegt. Wer immer das auch war in dem ausgebrannten Taxi, es war nicht der Killer. Ich wette, der Typ sitzt jetzt irgendwo in Gonder oder in Aksum und lacht sich ins Fäustchen. Entweder wartet er mit einem anderen Pass und womöglich mit verändertem Aussehen auf das nächste Flugzeug. Oder der will gar nicht aus dem Land raus, will nur den Eindruck erwecken, dass er geflohen ist. Der hat einen Auftrag! So skrupellos, wie der Typ Menschen umbringt, zieht der seine Aufträge auch durch. Ich denke, Commissario, wir sollten den Kollegen in Äthiopien den Tipp geben, ihr Augenmerk auf Gonder oder auf Aksum zu richten.«
»Alles gut und schön, Pietro. Könnte sein, dass Sie Recht haben. Die Frage ist nur, nach was beziehungsweise nach wem die äthiopischen Kollegen da suchen sollen. Keiner weiß, wie der Täter inzwischen aussieht. Nichts wissen wir – «
Pietro unterbrach ihn. »Doch, wir wissen etwas! Dieser Killer hält sich stets da auf, wo Föllmer und seine äthiopische Begleiterin sind. Der will was von denen!«
Commissario Toscanelli signalisierte Pietro durch einen nach oben ausgestreckten Daumen, dass er dessen Kombinationsgabe für grandios hielt. »Perfekt! Wirklich genial! Die Äthiopier müssen sich nur an Föllmer und seine Freundin halten, sie unauffällig observieren und beschützen. Früher oder später wird der Killer auftauchen. Das Dumme daran ist, Pietro, leider war es bislang immer so, dass dieser Racheengel uns stets ein paar Schritte voraus war. Der mordet – und wir folgen wie Bluthunde seiner Fährte. Wir sind ihm von Venedig nach Afrika gefolgt, und ich fürchte, die Blutspur ist noch nicht zu Ende.«
Sahib al Saif, Statthalter des Schwertes und Racheengel des Al-Sakina-Ordens, war sich im Klaren darüber, dass er nur eine sehr kleine Chance hatte, aus dieser verfahrenen Situation lebend herauszukommen. Ein Fluch lag über diesem Auftrag! Er schob seinen Schleier etwas beiseite und spuckte verächtlich auf den Boden. Verflucht sei Shaitani! Der Teufel pfuschte ihm ständig ins Handwerk. Gog und Magog schienen sich gegen ihn verschwört zu haben. Seine Chancen standen schlecht. Aber das war es nicht wirklich, was ihn ängstigte. Vielmehr kreisten seine Gedanken um die Tatsache, dass er hier, in diesem Land der Ungläubigen, fern seiner Heimat, seiner Familie und Freunde sterben würde. Eine Furcht erregende Vorstellung. Viele Fragen malträtierten ihn. Würde der Allbarmherzige zu würdigen wissen, dass er für den rechten Glauben gemordet hatte? Würde er zum Schahid, zum Märtyrer, werden, wenn er sich selbst richtete, bevor die äthiopische Polizei ihn erwischen würde? Er hatte längst beschlossen, dass er das tun würde. Er würde sich nicht foltern lassen. Die letzte Kugel würde er für sich selbst aufsparen. Doch genau darin lag das Problem.
Nach eigener Einschätzung hatte er stets ein rechtschaffenes Leben geführt. Zwei Mal schon war er beim Haddsch in Mekka an der Kaaba gewesen. Ja, er war ein gottesfürchtiger Mann. Wie stand es doch geschrieben? »Wer durch die Hände der ungläubigen Feinde des Islams… oder auf dem Schlachtfeld des Dschihads tot aufgefunden wurde, wird ein Schahid.« Ja, er war bereit, den Tod eines Märtyrers sterben. Damit wäre sein Weg ins Paradies gesichert. Aber ginge das, wenn er sich selbst richtete? Verzieh Allah Selbstmord? Oder würde er in der Hölle schmoren?
Sahib al Saif war verzweifelt. Vorsichtig schaute er sich um. Niemand beobachtete ihn. Langsam wandte er sein Gesicht gen Osten, nach Mekka, und murmelte kaum hörbar vor sich hin: »O Allah, vergib unseren Lebenden und Toten, den Anwesenden und Abwesenden, unseren Jungen und Alten, den Männern und Frauen. O Allah, wen du am Leben hältst, lass ihn im Islam leben. Und wen du sterben lässt, lass ihn im echten Glauben sterben. Allahu-Akbar, Gott ist größer.«
Der Statthalter des Schwertes atmete tief durch. Er schwitzte extrem unter dem braunen Sackleinenumhang. Der Kopfschleier erschwerte ihm das Atmen. Das grobe Tuch des Bettlers stank erbärmlich nach Urin und scheuerte an seinem nackten Oberkörper. Bis nach Gonder war er gekommen. Wie er Addis Abeba erreichen sollte, war ihm schleierhaft. Er schaute sich abermals um. Die Sonne stand noch ziemlich hoch. Nur wenige Menschen befanden sich in der Nähe der Christenkirche. Bedacht darauf, wie ein gebrechlicher, alter Mann zu wirken, schleppte er sich zur Außenmauer. Er hockte sich mit dem Rücken zur Wand und umwickelte mit den schmuddeligen Tüchern seine Hände. Der Verkleidung war perfekt. Jeder würde ihn für einen der vielen Bettler in der Stadt halten. Seine umwickelten Hände und die Tücher um seine Füße würden alle vermuten lassen, er sei ein Aussätziger. So einer wie der arme Teufel, den er erschlagen hatte, um ihm seine stinkenden Bettlerklamotten abzunehmen.
Sahib al Saif atmete ein wenig erleichtert durch. Wären nicht der Durst und dieser grauenhafte Geruch, der an diesen Bettlerfetzen haftete, es ginge ihm gar nicht so schlecht für einen Mann, der noch vor wenigen Stunden um Haaresbreite den Kugeln von Scharfschützen entkommen war. Die Pistole drückte unter dem Umhang gegen seine Rippen. Das kalte Metall verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit. Ja, bis hierhin war es gut gegangen. Allah hatte ihn in seinem grenzenlosen Wohlwollen geleitet. Und Glück hatte er auch gehabt!
Genau in dem Moment, in dem er mit dem Taxi wieder zurück zum Hotel Tana gekommen war, hatte er die Detonation gehört. Schüsse waren gefallen. Was wirklich geschehen war, konnte er nur ahnen. Wahrscheinlich hatte die Polizei sein leeres Zimmer gestürmt. Sie hatten ihn also irgendwie aufgespürt, waren ihm dicht auf den Fersen. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, die Polizei zu narren. Dafür hatte er diesen Taxifahrer umbringen und den Fettwanst an seiner Stelle und mit seinem Pass verbrennen müssen. Diese niedrige Kreatur von Bettler hatte auch dran glauben müssen. War nicht schade um die beiden. Ein, zwei Tage Vorsprung würde ihm das sicherlich bringen.
Wenigstens gab es in Gonder einen Flughafen und damit zumindest eine theoretische Chance, früher oder später mit falschen Papieren nach Addis Abeba zu gelangen. Vielleicht musste er vorher noch nach Aksum. Aus dem Mailverkehr zwischen Jahzara und ihrem Vater wusste er, dass in Aksum ein Treffen stattfinden würde. Übermorgen! Bis dahin musste er unentdeckt bleiben. Er war optimistisch. Kein Polizist würde einen stinkenden, bis auf einen schmalen Sehschlitz verhüllten Aussätzigen kontrollieren. Schon gar nicht vor einer Kirche! Überleben würde er also. Was er genau tun würde, wusste er noch nicht. Doch er hatte eins entschieden: Die verschollene Karawane im Land der Finsternis würde er nicht so einfach vergessen. Von Gog und Magog würde er sich auch nicht abhalten lassen! Hier ging es nicht nur um irrsinnig viel Geld! Wenn er diesen Auftrag zu Ende führen würde, wäre auch sein Weg als Märtyrer ins Paradies sichergestellt.
Die Fahrt mit dem kleinen Boot zum Kloster Bete Kebran Gabriel dauerte knapp eine Dreiviertelstunde. Kurz bevor sie die kleine Insel erreichten, sprang Jahzara plötzlich auf und deutete aufgeregt in Richtung einer Schilfbank nahe dem Ufer.
»Da, schau mal, Nilpferde mit einem Jungtier!«
Peter registrierte ihr fast kindliches Lächeln. Jahzaras Augen glänzten, und ihre Haare flatterten im Fahrtwind des marode wirkenden Bootes, das sich mühsam durch die Wellen des Tanasees kämpfte. Er freute sich, dass sich Jahzara wieder beruhigt hatte. Der gestrige Abend war geprägt gewesen von endlosen Diskussionen zwischen ihr, ihrem Vater und ihm, ob sie ihre Recherche weiterführen oder die Reise aus Sicherheitsgründen abbrechen sollten. Jahzara war in einer sehr depressiven Stimmung gewesen. Mehrmals hatte sie angedeutet, dass es vielleicht eine höhere Macht gebe, die verhindern wollte, dass die Wahrheit und die Geschehnisse von damals ans Licht der Öffentlichkeit kämen. Letztendlich war es dann Seyoums Hinweis auf die zwei Polizisten in Zivil, die sie begleiten würden, gewesen, der Jahzara zum Umdenken bewegt hatte.
Nun schien sie wie ausgewechselt. Enthusiastisch wechselte sie in einer Sprache, die Peter nie zuvor gehört hatte, mit dem jungen Mann am Steuer des Outborders ein paar Worte. Der junge Afrikaner, dessen rotes T-Shirt ein Portrait der Reggae-Legende Bob Marley schmückte, lächelte und steuerte auf die Flusspferde zu.
Jahzara war völlig aus dem Häuschen. »Sieh mal, das Kleine, ist es nicht süß! Diese winzigen Ohrchen, die kleinen Äuglein und die rosarote Schnute! Und da! Die Mutter! Wow! Sie hat ein Maul so groß wie ein Scheunentor. Und diese Zähne. Länger als dein Zeigefinger.«
Zum ersten Mal, seit er Jahzara kennen gelernt hatte, hatte Peter das Gefühl, dass in dieser Frau zwei Seelen schlummerten. Sie konnte unglaublich abweisend und extrem rational sein. Bei ihrem kurzen Ausflug am Morgen zu den Wasserfällen des Blauen Nils hatte sie sich allerdings schon einmal von einer ganz anderen Seite gezeigt. Mit großen, überglücklichen Augen hatte sie die tosenden Wassermassen bestaunt und war in lautes Jauchzen ausgebrochen, als ein Adler über den Fluten mit seinem lauten Ruf kreiste. Auch für ihn war dieser Abstecher zu den Nilquellen ein unvergessliches Erlebnis gewesen.
Der Nil hatte in der Entdeckungsgeschichte seit jeher eine mystische Rolle gespielt. Was für die Hochkulturen Ägyptens Aorta allen Seins gewesen war, die fruchtbaren, weil schlammhaltigen Wassermassen der »Mutter aller Flüsse«, sie hatten auch die alten Griechen und Römer beschäftigt. »Caput Nili quaerere«, die Quelle des Nils suchen, war zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden, die Unmögliches umschrieb. Dieser Strom war schon immer eines der großen Rätsel Afrikas gewesen. Die Herrscher der Kaiserreiche von Aksum und Lalibela hatten den moslemischen Herrschern in Kairo sogar damit gedroht, den Nil umzuleiten, Ägypten faktisch auszutrocknen. Die ägyptische Regierung verstieg sich noch bis zum Jahre 2004 in die Drohung, man werde jedes nicht mit ihnen abgesprochene Nilwasserprojekt als Kriegserklärung betrachten. Ja, in diesem Strom einten sich unzählige Legenden und fantastische Mythen. Die Suche nach den Quellen eines der längsten Flüsse der Welt hatte wagemutige Forscher und Abenteurer aus aller Welt nach Afrika geführt. Viele waren bei dem Versuch umgekommen, seine Geheimnisse zu ergründen.
Peter ging all das seit dem Besuch der Wasserfälle des Blauen Nils nicht mehr aus dem Kopf. Hier, am Tanasee, lagen noch andere Geheimnisse verborgen. Nicht weit von den Wasserfällen des Blauen Nils war wahrscheinlich vor mehr als 600 Jahren eine geheimnisvolle Karawane aufgebrochen und dann irgendwo im Meer der Finsternis verschollen. Was immer damals auch passiert war, die Erklärungen für diese Geschehnisse lagen am Tanasee verborgen.
Allerdings beschäftigte Peter noch ein ganz anderes Geheimnis: Jahzara. Laszive Fantasien keimten erneut in ihm auf. Diese Frau verwirrte ihn in all ihrer Widersprüchlichkeit. Sie war ganz einfach anders als alle Frauen, die er je kennen gelernt hatte. Eine Äthiopierin mit einer europäischen Mutter. Sie beherrschte die Spielregeln des Abendlandes, war aber in ihrem Denken tief in Afrika verwurzelt. Auch wenn er bemüht war, sie zu verstehen, es gelang ihm nur selten. Dass er von ihrem Vater diese tragischen Zusammenhänge mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder erfahren hatte, erfüllte ihn mit Stolz, weil es ihm zeigte, dass Seyoum ihm vertraute. Aber was sollte er mit seinem Wissen anfangen? Er konnte nicht mit Jahzara darüber reden – das hatte er Seyoum versprochen. In seinem Verhalten ihr gegenüber konnte er es nicht berücksichtigen, ohne sie hellhörig werden zu lassen. Zu gerne hätte er sie in diesem Moment, in dem sie so herrlich unbefangen und glücklich die fünf Flusspferde bewunderte, in die Arme genommen. Doch das durfte er nicht!
Als das Boot langsam auf die kleine Klosterinsel zusteuerte, wusste Peter, dass zwischen ihm und Jahzara wahrscheinlich immer eine unüberbrückbare Kluft existieren würde. Sie lag in ihr begründet. Und nur sie konnte daran etwas ändern. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Jahzara hatte nach dem Tod ihres Bruders Barrieren errichtet, hatte sich abgekapselt, ihre eigene Realität als Schutzschild kreiert. War es ihm nach dem Tod seiner Frau nicht ebenso ergangen? Erst Yvonne hatte ihn nach Jahren der Trauer ins Leben zurückgeholt. Und er hatte Yvonne immer ein wenig abgewiesen, sie auf Distanz gehalten, weil er es als Verrat an seiner Liebe zu Nicole empfand. Ja, die Parallelen waren erschreckend. Und was half ihm diese Erkenntnis?
Die Insel war kleiner, als er sich das vorgestellt hatte. Mächtige Bäume und urwaldähnliches Gestrüpp ließen den Eindruck entstehen, als gäbe es keinerlei menschliche Behausungen. Nur oben auf dem Hügel schimmerte ein Metalldach durch die Baumwipfel. Niemand erwartete sie an dem schlichten Anlegesteg. Seyoum griff nach seinem Rucksack und ging zum Bug, um das Tau am Steg festzuzurren. Jahzara machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Demonstrativ schaute sie in eine andere Richtung. Aufmunternd versuchte Peter, sie zu necken: »Na, du traust dich wohl nicht in ein Kloster, hm? Hast wohl Angst, dass sie dich hierbehalten werden?«
Jahzara starrte ihn völlig emotionslos an.
Peter zuckte innerlich zusammen. Eben noch hatte sie sich wie ein Kind gefreut. Und nun dieser Blick, dieser kalte, starre, irgendwie traurige Blick!
»Nur Männern ist der Zutritt auf diese Klosterinsel gestattet. Frauen sind hier unerwünscht. Auch, wenn sie noch nicht zur Frau geworden sind.«
Jahzara blickte an ihm vorbei auf den Tanasee. Peter ahnte, dass sie Tränen unterdrückte. Kaum hörbar flüsterte sie gegen die auffrischende Mittagsbrise: »Weibliche Tiere sind übrigens auf dieser Klosterinsel auch verboten. Diese kleine Welt hier draußen ist männlich. Hier gibt es nur Gott und ein paar weise Mönche.«