I
Aus dem Dunkel
1 James und Margaret Faraday
Im Sommer 1812 war Faraday einundzwanzig. Er war geküsst worden. London hatte er noch nie verlassen. Das Meer kannte er nur vom Hörensagen und von einem Ölgemälde, das im Hinterzimmer von Riebaus Buchbinderei hing, in der er es nach einem Jahr als Laufbursche bis zum Lehrling gebracht hatte.
Das Gemälde zeigte sechs oder sieben Segelschiffe auf einer um ein Pier tosenden Wassermasse, der ein Schiff, egal welcher Größe, sich nur hingeben konnte. Einmal, als er auf eine Anweisung wartete, hatte Faraday das Bild betrachtet und war mit den Augen an den gewaltigen Bewegungen von Himmel und Wasser entlanggefahren. Einer von Riebaus Kunden, der über dem Laden wohnende französische Maler Masquerier, kam dazu und meinte, das Bild sei nur eine Kopie.
»Ich habe das Original einmal gesehen. Im Atelier des Künstlers.« Es sei wirklich beeindruckend.
Faraday hatte überlegt.
»Hast du schon einmal von Turner gehört?«
Hatte Faraday nicht.
»Wirst du schon noch«, meinte Masquerier.
Faraday sah weiter das Bild an.
»Also, wichtig ist«, wiegelte Masquerier dann großartig ab, »dass es den Ort zeigt, an dem England sich täglich aufs Neue beweist.«
Faraday hatte nicht gefragt: Beweist? Er hatte den Mann nur fragend angesehen.
»Gegen seine vielen Feinde beweist«, sagte der, und er sagte es zufrieden.
Faraday wunderte sich über seine Zufriedenheit und war froh, hier zu sein und Männer wie ihn zu treffen und solche Dinge sagen zu hören. Er selbst hatte keine ihm bekannten persönlichen Feinde. Welche zu haben, war für ihn ein fremder Gedanke.
Mit dreizehn hatte er die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. Das war ein Alter, in dem fast alle anderen Kinder die leise Hoffnung, einmal Lesen und Schreiben zu können, aufgegeben hatten und sich sagten, dass mit Lesen und Schreiben das Leben sowieso nur noch komplizierter geworden wäre als ohne. Das fand Faraday, zu dem Lesen und Schreiben von alleine gekommen waren, gar nicht. Dass er überhaupt auf eine Schule gegangen war, hatte mit der 1788er Dürre zu tun.
Die Ehe seiner Eltern war im abgelegenen Westmorland geschlossen worden wie die Ehen ihrer Eltern und Großeltern und Urgroßeltern. Sie hofften auf Gelingen, ließen einen anderen Gedanken nicht zu. In Outhgill besaßen sie eine Schmiede. Im wenige Meilen nördlich gelegenen Kirkby Stephen schickten sie sonntags in der Gemeinschaft der Sandemanier Bitten gegen die Decke des kleinen Gebetshauses, von wo sie hoffentlich den Weg in den Himmel fanden.
»Und dort«, so Margaret: »Erhörung.«
Das ging so, bis sich nach einem schönen Frühjahr die Dürre auf das Land setzte wie ein großes, nie gesehenes Tier, das Wochen und Monate ausharrte. Sie nahm James und Margaret Faraday ihre zwei an englisches Gras gewöhnten Rinder und eine Handvoll Schafe. Ein Tier nach dem anderen magerte ab und wurde schwach, fiel auf den braunen, staubigen Boden vor dem Haus und erhob die Rippen unter der schon blank gescheuerten Haut nicht mehr. Die restlichen Tiere wurden vorzeitig geschlachtet. Heu für Kutschpferde gab es meilenweit nicht, und so kamen keine mehr. Was James und Margaret dachten, sagte er: »Das geht vorbei.«
Sie dachten, sie würden sich wieder hocharbeiten, wenn der Regen käme, und der käme doch, er musste ja kommen, wie er immer gekommen war.
»Wir dürfen in unseren Gebeten nicht nachlassen«, sagte James, und Margaret meinte nichts anderes.
Die Natur war dagegen. Sie hatte Gefallen daran, einen Superlativ auf den anderen folgen zu lassen. Nach der Dürre erlebte das Königreich einen schlimmeren Winter, als je einer überliefert worden war. Wenn James Faraday vor die Schmiede trat, um nach Kundschaft zu spähen, mischte sich der beißende Frost in seinen Bronchien zu den üblichen Schmerzen in Gelenken, Kopf und Muskeln. Er konnte nicht sagen, ob der Biss der Kälte in den Lungenspitzen eine willkommene Ablenkung war oder eine zusätzliche Belastung, während weder aus Bullgill im Norden noch aus Aisgill im Süden je ein Wagen kam oder auch nur ein einzelnes Pferd, das möglicherweise ein Eisen hätte erneuert haben müssen.
Erst im Frühling wurde es ein wenig besser. Sie kauften ein neues Rind, nur um die Hälfte von ihm bald wieder zu verkaufen. Das Geld brauchte James dringend für Roheisen, Holz und Kohle, um die Baracke, in der er auf Kundschaft wartete, »überhaupt Schmiede nennen zu können«.
Im Sommer darauf geschah etwas Merkwürdiges: Immer häufiger passierten Soldaten und solche, die es werden wollten, das wie hingeworfen wirkende Ensemble aus drei Häusern. Überrascht, dann einander mit fragenden Mienen ansehend, warteten Faradays, wenn die einzelnen oder in kleinen Gruppen reitenden Gestalten von Norden die Straße herunterkamen, die sich durch die ockerfarbenen und in vielen Grüntönen daliegenden Hügel Westmorlands zog wie immer. Wenn die Männer nach Süden weiterritten, sahen sie ihnen ratlos hinterher. Über Monate, in winzigen, zufälligen, einzelnen Häppchen erfuhren James und Margaret, dass der König in Frankreich die Flucht vor jenen Bürgern ergriffen hatte, die trotz Hunger noch genug Kraft hatten, bis zum berühmtesten Gefängnis in Paris zu laufen, um es zu stürmen. Frankreich war doch weit weg, dachten sie.
»Damit der Franzose nicht hierherkommt«, erklärte ein zukünftiger Soldat lässig Tabak schnupfend auf James Faradays Frage, wohin er wolle und wieso der Aufmarsch.
Und ein anderer, mit einem stolzen Blick, meinte von seinem Schwarzen herunter: »Damit die Engländer nicht auf dieselbe Idee kommen.«
Immer waren sie Richtung London unterwegs, wo angeblich bereits eine Million Menschen lebten. Bis zum Winter wussten James und Margaret, dass auch solche französische Bürger bei der Erstürmung des Gefängnisses dabei gewesen waren, die satt gegessen auf ihren Pferden gekommen waren, dass das Gefängnis Bastille hieß und dass die satten Bürger genauso viel Angst vor dem Hunger der anderen gehabt hatten wie vor dem Hunger selbst.
Anderthalb Jahre ebbte der Strom der Reiter nicht ab, und nicht jeder, der in dieser Zeit einen Schmied brauchte, bezahlte ihn auch.
Jeden Tag spürten James und Margaret, wie sich seit der Dürre alles verändert hatte. Wenn sie in der Nacht die Kinder beruhigte, träumte er von den verendeten Tieren, die ihre kalt gewordenen Beine in die Luft hielten, dazu zu grinsen schienen und spöttische Laute von sich gaben, weil ihnen nichts mehr eine Anstrengung war. Er träumte von der ausgekühlten Feuerstelle seiner Werkstatt, von vorbeireitenden Horden schwarz maskierter Reiter, die nicht einmal mehr anhielten und immer schwerer bewaffnet waren. Irgendwann nahmen sie, bevor er aufwachte, Margaret mit.
Aber morgens, wenn das Licht zuverlässig über den Hügel kam, konnte er nur wieder Schmied sein und sein eigener Bauer. Wenn es nicht reichte, war es aus, und das konnte passieren. Was sollten sie darüber reden?
»Die Kinder müssen in eine Schule«, war Margarets Meinung. Auf dem Markt hatte sie von der Wasserspülung gehört, mit der man in London die Häuser auszustatten begann, auch wenn sie daran nicht denken wollte, die zu erwähnen sie nicht in Betracht zog und an die sie vielleicht auch gar nicht glaubte. Das war es nicht.
»Ja«, sagte James mit der kratzenden, langsamen Stimme und zwischen den Worten Luft holend: »Vielleicht gibt es in London mehr Arbeit. Bis London sind es ein paar Tage Fahrt, die uns kostet, was wir haben. Was, wenn in London nicht mehr, sondern weniger Arbeit ist?«
James hatte die Armen in London einmal gesehen, auch wenn das lange her war. Arm sein in London war schlimmer als arm sein in Outhgill, wo es keiner merkte. In London konnte er sich auch kein Rind halten. Was er konnte, war abwarten. Aus Abwarten wurde Ausharren. Ausharren hatte er neben dem Beten und dem Schmieden und dem Abwarten jetzt auch gelernt.
Im Winter neunzig schob sich Margaret eines Morgens mit dem Rücken an die Brust ihres Mannes, um sich zu wärmen und Trost zu holen und zu geben. Sie machten das oft so. In der Umarmung bemerkte James, dass ihre Brust sich zum dritten Mal füllte. Später am Tag sah er es auch. Er fing ihren Blick auf, schaute auf ihre Brüste und fragte freundlich: »Ja?«
Sie bestätigte, Freude huschte dabei über ihr Gesicht, dann sah sie wieder sehr ernst aus. In den folgenden Tagen sprachen beide kaum miteinander.
Es war Margaret, die darauf drang: »Lass uns nicht warten, bis auch dieses Kind in der Postkutsche bezahlen muss.« Es würde schon jetzt jeder mühselig auf dem Markt in Kirkby ausgehandelte Knochen nach dem Abschaben so oft ausgekocht, »dass wir uns den Geschmack einbilden«.
Sie beteten, beratschlagten, lasen in der Bibel nach und fanden den Rat, den sie suchten. Sie zogen nach London. James fand Arbeit. Michael wurde ein Stadtkind.
Zuerst wohnten sie in Newington südlich der Themse in zwei Zimmern, und Michael ahnte nicht, dass die Stadt irgendwo aufhörte. Statt an den Fluss zu gehen, spielte er zwischen den Pferden im Innenhof ihres Blocks oder hörte sich Gespräche an, die sich um das Handwerk drehten und die Schwierigkeit, genug Geld zu verdienen.
Das verschwitzte, mit schwarzem Staub belegte und vom Schweiß verschmierte Gesicht seines Vaters stempelte Michaels Tage. Von der Tür der Schmiede aus beobachtete er manchmal die langsamen Bewegungen seines Vaters am Amboss, der weniger den schweren Hammer bewegte, als dass er von dem, was um ihn herum war, selber bewegt wurde: der Hitze, dem Krach, den Dämpfen und Gasen drinnen, der Kälte und Nässe draußen, dem Qualm der vielen Feuerstellen, die London unter einen Mantel aus Rauch legten, als benötigte es eine Zudecke. Man schmeckte den Qualm auf der Zunge, sah ihn schwarz beim Naseputzen und spürte ihn in den Lungen und im Hals kratzen. Von seinem Husten wurde James Faraday auch bewegt, von den Krämpfen in seinen Händen, die spätestens am Nachmittag einsetzten und manchmal auch schon am Morgen, wenn er den Tee trank.
Wenn er abends aus der Schmiede kam, hatte James Faraday den Blick immer schon auf den Boden gerichtet. Er hielt sich am Stuhl fest, wenn er die Schuhe und den Kittel auszog, er atmete auf eine Weise, die sich zwischen Stöhnen und Seufzen nicht entscheiden wollte, und an seinem Gesicht zerrten Schmerzen, vor denen Michael Respekt hatte, die ihm Angst machten und von denen er dennoch gern gewusst hätte, wie sie sich genau anfühlten und woher sie kamen.
Mit besorgten und über die Jahre immer skeptischeren Blicken beobachtete Margaret die stetig matteren, kraftloseren Bewegungen, mit denen sich ihr Mann am Waschbecken die Hände schrubbte. Wenn sein jüngster Sohn unbewusst in den Blick der Mutter einfiel, strich James ihm mit einer abgetrockneten Hand wortlos über den Kopf und hustete langsam dazu. Nachts, wenn nur Margaret es hörte, ließ er seine Kopfschmerzen in schwachen, seltsamen Lauten hinaus, ohne dass man es Klagen hätte nennen müssen. Mehr Härte gegen sich selbst forderte niemand von ihm.
Alle beteten und hungerten.
Hatten sie keinen Hunger, dann brauchte eines der mittlerweile vier Kinder eine Jacke oder Schuhe oder am besten eine dieser warmen Hosen aus russischen Daunen, die sie bei anderen bestaunten und selber nie bekamen.
Der Sandemanier James Boyd hatte in den Jacob’schen Stallungen auf der anderen Seite der Themse, noch hinter dem Parlament, eine gut gehende Schmiede und ein Eisenwerk und bot James Arbeit an. Also zogen sie um. In direkter Nachbarschaft war die spanische Kapelle. Sie nahmen sich vor, »die Katholiken einfach zu ignorieren.«
Man hoffte auf glückliche Fügungen, vor allem auf niedrige Preise durch eine günstige Ernte im nächsten Jahr. Und mit den Jahren hoffte man immer häufiger auf das Wegbleiben eines Mannes aus Frankreich, den alle Buonaparte nannten.
Michael war immer kleiner als Gleichaltrige. Er konnte sich nicht vorstellen, über Politik zu reden und so ein schweigsamer, leidensfähiger, starker, kranker Mann wie sein Vater zu sein. Den Hund der Nachbarn beobachtete Michael ausgiebig, wie der einfach nur froh war, wenn er sich mit irgendwem ein paar Minuten balgen konnte. Oder die junge Katze: Sie streunte im Hof und schien über die nächste Mahlzeit und ihren Schlaf hinweg nichts zu fragen und vielleicht doch alles zu wissen oder nichts wissen zu wollen von Buonaparte, vom Hunger, der morgen kam, oder von der Plackerei. Mit dem Mut eines Kindes, das nicht viel wissen muss, wusste Michael, wenn er mit einem Stock Bilder in den Sand des Hofes malte und mit dem Fuß wieder verwischte, dass nichts so bleiben konnte. Außer dieser Einsicht.
Dank Margarets Sturheit, die sie mit einem Lächeln garnierte, bekamen alle Kinder Schulplätze. Michael fiel mit einem Sprachfehler auf und mit einem um eine Nummer zu großen Kopf. Margaret sagte zu ihrem Mann: »Er hat eine unmenschliche Intuition.«
Der Sprachfehler betraf das r, das nicht rollen wollte, sondern rutschte, sodass sein Bruder Wobert Fawaday hieß. Eine Lehrerin gab Robert daher einen halben Penny und den Auftrag, einen Stock zu kaufen, mit dem er den Fehler aus seinem kleinen Bruder herausprügeln solle. Aber Robert hatte eine unverbildete Seele und warf den schlechten halben Penny auf dem Weg nach Hause über eine Mauer. Beim Abendbrot erzählte er den Vorfall in aller Ruhe, und aus der zweifellos sehr gut gemeinten Lebenshilfe wurde ein Schulwechsel der Brüder. Margaret Faraday hatte einen Gott, der ihr beistand, und dazu Prinzipien.
Mit Schreiben, Lesen und dem geringsten Denkbaren im Rechnen musste Michael auskommen. Er fand keinen Grund, sich zu beklagen, und würde auch sein Leben lang nach keinem suchen. Er ging arbeiten, als Laufbursche beim Buchbinder Riebau, dessen Laden nur eine gute Minute von der Schmiede entfernt in der Blandford Street lag.
»Riebau«, sagte James keuchend, »Riebau!«
Der Buchbinder war vor allem durch die Herausgabe der religiösen Traktate von Swedenborg und als Autor einer Denkschrift über Richard Brothers aufgefallen, der für seine Erleuchtungen berüchtigt war. Brothers hatte zum Beispiel verkündet, der Prinz der Hebräer zu sein und deshalb dem König nicht dienen zu können. Vielmehr gebühre ihm selbst die Krone! Seit Jahren saß er als politischer Irrer im Gefängnis.
»Riebau!«, sagte James empört und keuchend.
Margaret blieb warm und freundlich: »Er ist Buchbinder.«
Ein Jahr lang trug Michael die Zeitung des Tages von Abonnent zu Abonnent, die alle Zeitungssteuer sparen wollten oder mussten, und dieses Jahr mit den Zeitungen änderte alles. Es war nicht das Papier, das Michael liebte, und es waren nicht die Buchstaben oder die Druckerschwärze, die an den Fingern haften blieb und abends abgewaschen wurde. Er liebte nicht den Geruch der Zeitung oder ihr Rascheln oder wie man mit ihr dasaß oder mit ihr unter dem Arm ging oder gar das Geld, das die Leser Riebau zahlten, das die Zeitung an die Reporter zahlte oder das Riebau an ihn zahlte. Er liebte, was die Zeitung ihm zu geben vermochte: die Welt.
Michael las sie.
Jede Seite war wie Luftholen und an die Hand genommen werden. Jede Neuigkeit ein Versprechen, das eines Tages eingelöst werden konnte: auch ein Teil der Welt zu sein. Seit er Zeitungen austrug, brachte jeder Tag etwas aus der Zukunft, in der er selber einmal ankommen würde. Nelson zum Beispiel, wusste Michael bald, hatte mit vierzehn von einem Segelschiff aus das Packeis bei Spitzbergen gesehen. Später schlug er Frankreich am Nil und verpasste Buonaparte dabei nur um fünfzehn Minuten.
An seiner Victory, dem Schiff, mit dem er die französische Flotte im Mittelmeer zwang, sich zu stellen oder im Hafen zu bleiben, war zehn Jahre gebaut worden. Die Bordwände hatten eine Dicke von bis zu drei Fuß, und an Bord waren zweiundvierzigtausend Pfund Schießpulver, Dutzende Ochsen, Hunderte Schweine und tausend Hühner.
Besatzung: Achthundertfünfzig Mann.
Dazu kamen achtzehntausend Zitronen pro Ladung gegen den immer mitreisenden Skorbut. Zwei Jahre lang hatten sie, las Michael, keinen Fuß auf Land gesetzt. Die Victory war kein Schiff, sondern eine Maschine. Sie war, las er, ein Wunder, an dem Flauten, Handgriffe, Pflichterfüllung, Unterströmungen, Tagesabläufe und das Auspeitschen der Matrosen im Ganzen gemeinsam ihren Dienst taten, den Dienst an England.
Diese Maschine war ein Zeichen der neuen Zeit, wenn man der Zeitung glaubte, und sie behauptete auch, manche verstünden weder die Maschine noch die Zeit. Zu denen wollte er nicht gehören. Bevor sie zu den Franzosen überwechselten, hatten die Spanier zum Beispiel die Sache mit dem Skorbut und den Zitronen nicht geglaubt. Sie hatten die Engländer für ihre Zitronen ausgelacht. Riebau vermutete, »dass sie auf ihren schwimmenden Krankenhäusern noch immer nicht daran glauben, obwohl ihnen das Lachen unterm Wettsterben längst vergangen sein muss«.
Im Schlepptau der Franzosen waren sie jedenfalls keine brauchbaren Verbündeten, sondern, so amüsierten sich die Zeitungen, nur eine Belastung.
Nelson, las Michael, schlug die Dänen, weil er sich vor Kopenhagen den Anweisungen seines Kommandanten widersetzt hatte. Auch das war offenbar neu. Als Kommandant ließ er seinen Kapitänen in letzter Konsequenz freie Hand.
»Buonaparte«, hatte Nelson gesagt, »wird nicht satt zu kriegen sein.«
Aber auf See waren die Engländer im Vorteil, weil ihr Steinschlosszünder alle neunzig Sekunden feuern konnte, die Gegner mit den Zündschnüren nur alle fünf Minuten, und der englische Zündzeitpunkt fast genau bestimmbar war.
»Die Kontinentalen wissen nie«, erklärte Riebau, »wann ihr Schuss losgeht.«
Bei langsam aneinander vorbeidriftenden stummen hölzernen Ungeheuern voller Disziplin und in ihrem Blut schwimmenden, halb oder ganz zerrissenen Körpern war deshalb das Treffen eines Mastes, so das Bild, das Michael sich von den Franzosen machte, noch mehr reines Glück, als es unter böigem Wind, launischer Strömung, zitternden Händen, nassem Zündpulver und weichen Knien sowieso der Fall sein musste.
Nelson würde in Unterzahl sein, las er.
Wenn der Gegner endlich aus dem Hafen käme, wenn er sich endlich traute. Aber neben den englischen Zündungen würden auch die englischen Seeleute exakt und genau und bis zum Ende tun, was man von ihnen erwartete. Keine Angst würde sie zurückhalten, und das Leben im Unterdeck, dachte Michael, erleichterte es ihnen: Leben konnte man das nicht nennen.
Er nahm alles zur Kenntnis. Es war aufwendig, ja. Es war entbehrungsreich und aufopferungsvoll und ehrenwert. – Aber wozu war es gut?
Es konnte kein Ende von etwas sein und kein Ziel. Nicht mal als Zweck fand er es akzeptabel. Es war doch nur dieselbe Not, die er schon kannte. Zu wenig an allem Lebensnotwendigen, zu viel vom Unwissen, wie es weitergehen mochte, totale Auslieferung an den Zufall, Sterben.
Das Handwerk der Seemänner schien ihm trotzig zu sein. Heldenhafter als verhungern war es schon, wenn man für England fiel, dachte er, wenn er auf dem Weg nach Hause mit einem Stock auf den Boden schlug, bis er brach. Aber war es statt eines Ausweges nicht nur der Wunsch nach einem möglichst pompösen Ende? Ein Aufstehen gegen das Elend war es nicht.
Wieso, fragte er sich, machten so viele mit?
Und was war mit ihm los, dass er das ganz anders sah?
Er las die Zeitungen nicht mehr. Er wollte normal sein. Und natürlich las er bald wieder weiter, absichtslos, gelangweilt und weil er hoffte, dass ihm etwas ins Auge fiel. Dann las er wieder gezielter und schließlich auch wieder gierig, wie am Anfang, irgendwo musste es etwas geben, das er richtig finden konnte.
Er stieß auf Humphry Davy: Der war auf keinem Schiff. Humphry Davy hatte einen Vortrag über die Zukunft gehalten. Hier in London, in der Royal Institution. Er hatte die Erfindung der Batterie als Alarmglocke der Experimentatoren in ganz Europa bezeichnet.
Experimentatoren? Ein schönes, unheimliches Wort.
Genau 1800 habe Alessandro Volta die Batterie erfunden, und das sei kein Zufall. 1800 klang rund und trotzdem offen, und mit der Batterie würde man die Gesetze der Wissenschaft besser studieren können: »Die Gesetze der Elektrizität!« Michael mochte auch dieses Wort sehr gern und sagte es auf seinen Wegen vor sich hin. Im Ohr spritzte es, und er wusste nicht, was es war.
Davy, las Michael in den Wochen danach Stück für Stück, war der Mann, der mit Lachgas experimentiert hatte. Wenn man es einatmete, ließen Schmerzen nach. Humphry Davy wollte es in der Medizin einsetzen, und, nicht genug, die Royal Institution, bei der Humphry Davy Professor war, hatte sich zur Verbesserung der Situation der Armen gegründet. Ein Jahr vor dem Ende des letzten Jahrhunderts. Das genügte.
Wenn Michael abends zu Bett ging, war jetzt Davy bei ihm. Davy war bei ihm, wenn er bei seiner Mutter saß, und vor allem war Davy bei ihm, wenn er seinen Vater husten und keuchen hörte und wenn sie beteten. Immer war Humphry Davy da, der die Welt anhalten und wieder neu anschubsen wollte.
Dann hielt Davy noch einen Vortrag. Einen, der sich in London auch unter den Nichtlesern herumsprach. Die Times berichtete: Wilde und gefährliche Theorien von zu ambitionierten und irregeführten Leuten würden, hatte Davy gesagt, zeitweilig der Literatur Schande bereiten. Aber »echte Philosophie« könne niemals gering geschätzt werden! Der Keim der Verbesserung sei, mancherorts noch unbemerkt, in die Menschen gesät! Der Frühling und das Wachstum würden früher oder später kommen, und selbst wenn es noch dauerte, kommen würden sie.
»Betrachten wir die zukünftigen Hoffnungen der Menschheit«, hatte Davy gesagt, »so dürfen wir uns auf einen Zustand der Gesellschaft freuen, in dem die verschiedenen Klassen mehr zu ihrer gegenseitigen Unterstützung beitragen, als es bislang der Fall ist.«
Normalerweise las Michael im Laufen. Jetzt setzte er sich auf eine Mauer. Er sah sich um, vergewisserte sich, dass er nicht auffiel. Dann vergaß er seine Umgebung.
»Dieser Zustand kommt schnell«, hatte Davy gesagt.
Wissenschaftler und Handwerker würden sich täglich besser verstehen. Der Künstler, der früher noch gegen wissenschaftliche Prinzipien eingenommen gewesen sei, mache sich jetzt neue Prozesse zunutze, sobald sie die Arbeit erleichterten. Die ungleiche Verteilung von Eigentum und Arbeit, die Differenzen in Rang und Bedingung seien die Quellen der Energie eines zivilisierten Lebens, sogar der Grund für Veränderung und die Seele der Gesellschaft ...
»Wenn man bedenkt«, so Davy laut der Zeitung, »dass die Menschen in der Lage sind, aufgeklärter und glücklicher zu sein, dann kann man nur erwarten, dass die verschiedenen Teile der Gesellschaft vereint sein sollten mittels Wissen und nützlicher Kunst, als gleiche Kinder einer Bestimmung.«
Außerdem erwarte er, dass keine Energie nutzlos sei und keine Anstrengung mehr verschwendet!
War es möglich, fragte sich Michael, dass jemand so einfache Wahrheiten auch so einfach aussprach? Wieso sollte all das falsch sein und alles, was Nelson war und machte, was Buonaparte war und machte, richtig und folgerichtig? Dass, wie er kaum zu denken sich getraut hatte, falsch war, was Nelson und Buonaparte waren, das war also richtig. Oder konnte zumindest richtig sein, denn jemand, der ernst zu nehmen war, fand das auch.
Schließlich hatte Davy auch noch gesagt, man solle nicht zu weit nach vorne sehen und davon träumen, dass »Arbeit, Krankheit und gar der Tod ganz verschwinden«, aber durch Analogien einfacher Tatsachen ergebe sich bereits eine menschliche Entwicklung aus dem gegenwärtigen Zustand heraus, und, betrachte man einen vernünftigen Zeitraum, »so sieht man von einem schönen hellen Tag bereits den Sonnenaufgang!«
Michael nahm den Blick von der Zeitung. Er saß noch immer auf der Mauer, sie war kühl, wie er jetzt bemerkte. Die Luft war feucht, und er schmeckte den Rauch. Seine Arme und Beine waren warm. Alles, er und die Mauer und die Häuser um ihn herum, sah aus wie vorher, und doch nicht wie vorher.
Eine alte Frau wendete den Blick von ihm ab, als Michael sie bemerkte. Sie hatte beobachtet, wie er den Kopf in das Blatt senkte. Vielleicht fragte sie sich, ob er wirklich lesen könne, oder ob er nur so tat. Jetzt fühlte sie sich ertappt, lächelte, drehte sich um und setzte sich langsam in Bewegung. Einen Fuß vor sich herschiebend, denn zum Anheben reichte ihre Kraft offenbar nicht aus, obwohl das Schieben noch anstrengender sein musste. Der Stock in ihrer Hand vergrößerte ihr Zittern ins Sichtbare. Es sah aus, als ob sie all ihre Kraft aufbrachte, um mit dem Stockende auf einen Punkt zu zielen, bevor sie den Stock darauf absetzte und ihr kleines Körpergewicht auf ihn stützte, um den anderen Fuß hinter sich herzuziehen und ihr Gewicht darauf zu verlagern, bevor sie den Stock wieder anhob, um zitternd von Neuem zu beginnen.
Beim Lesen hatte Michael sie nicht bemerkt, und viel fehlte nicht, dass er ihr jetzt hinterhergelaufen wäre und ihr von Davy erzählt hätte.
Er faltete die Zeitung zusammen. Nach einem Blick auf seine im Schlamm stehenden Stiefel und einem in den Himmel rannte er los, an der Frau vorbei.
Er war Laufbursche. Morgens holte er die Zeitungen beim Druckhaus ab und lief den ganzen Tag mit ihnen durch die Stadt, das war nicht schlecht oder ungesund. Er bekam dafür ein wenig Geld, das er zu Hause abgab. Er hatte vom Lachgas gehört. Ein eigenartiges Wort für ein wohl eigenartiges Ding. Sein Vater gehörte zu den Armen, und er selbst gehörte auch dazu. Vielleicht gehörte er aber schon weniger dazu als sein Vater, immerhin las er Zeitungen. Wer machte das schon?
Egal. In den Augen seines rennenden Körpers tanzte London, Häuserzeilen flogen mit jedem Schritt und sprangen mit jedem Schritt auf, ohne zu zerbrechen. Er war leicht und schnell und beweglich. Einmal drehte er sich, um einem Zusammenstoß mit einem anderen Laufburschen auszuweichen, um seine Achse, die Zeitung an die Brust gedrückt, kam wieder auf, schnellte unter dem Ellbogen des anderen hindurch um die Ecke, die Beschimpfung, er solle aufpassen, im Rücken.
Alles hatte gerade erst angefangen.
In Londons Augen, dachte er, tanze ich.
Es würde sich herausfinden lassen, was genau Lachgas war. Wie genau es sein würde, es einzuatmen, und sogar, was es genau machte. Ob es seinem Vater helfen würde. Dann würde er, Faraday, wie sie ihn respektlos riefen, nicht mehr ohne das Wissen sein müssen, was Lachgas war, er würde mit dem Wissen sein. Vielleicht würde er sogar begreifen können, was Elektrizität war, die, so hatte er gelesen, tote Froschschenkel zum Zucken brachte. Er würde, wann immer er etwas Neues gelernt hatte, die Dinge anders ansehen können um sich herum. Sie würden weniger bedrohlich sein oder bedrohlicher, weil man lernte, wo welche Gefahren waren. Auch gut. Mit jeder Kleinigkeit, die er mehr wusste, die er mehr sah, die er verstand, würde aus dem Müssen das Können werden.
Im Laden fand er die Laufkundschaft Riebaus vor, wie immer. Sie war zahlreich, gut gelaunt. Sie war illuster. Sie diskutierte, ob Horatio Nelson die Witwe Lady Emma Hamilton heiraten dürfe.
»Er muss«, sagte ein Mann mit hellem Hut und weißen Koteletten, und die anderen lachten, während ein anderer vervollständigte, »sich erst einmal von Lady Nelson scheiden lassen.«
»Nur, dass sie sich niemals in einem Scheidungsgericht sehen lassen wird«, meinte ein dritter fröhlich.
Dann beugten sie sich über ein neues Buch, und Riebau entgingen nicht die wachen Augen seines Lehrlings, der auch dann nicht mitgelacht oder einen Kommentar abgegeben hätte, wenn er dazu drei Leben Zeit gehabt hätte. Ohne dass Margaret Faraday etwas hätte sagen müssen, ahnte Riebau, was in dem Jungen verborgen sein mochte, der auf seinen Wegen von Zeitungsleser zu Zeitungsleser gerne am Ufer der Themse sammelte, was immer ihm auffiel.
»Kannst Lehrling werden«, sagte Riebau, nachdem er seinen Laufburschen ins Hinterzimmer gebeten hatte und unter dem Bild des tosenden Wassers, auf dem England sich täglich gegen seine Feinde bewies, Platz genommen hatte.
Faraday atmete ein. Sieben Jahre Buchbinderei lagen vor ihm, der etwas wollte, als am 7. Oktober 1805 der Vertrag unterschrieben wurde. In Erwartung Faradays gewissenhafter Dienste, besagte der Vertrag, würde keine Ausbildungsgebühr gezahlt werden müssen.
2 Horatio Nelson
Mit den beiden anderen Lehrlingen stand Faraday im vorderen Raum von Riebaus Laden und hörte seinen Lehrherrn vor der Tür mit Kunden sprechen. Durch die mit Büchern teilweise zugestellte Fensterfront konnte Faraday sehen, wie sich die Hüte bewegten. Ihre Schatten fielen über die beiden Pressen auf den Boden und an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand noch auf die unteren Reihen der Bücherregale. Mit der Tiefe des Raumes wurden die Schatten unschärfer, wie Faraday bemerkte.
Schneiden, pressen oder gar nähen durfte der Lehrling noch nicht. Mit Bürste und Daumen stäubte er grünes und zinnoberrotes Pigment auf den Schnitt eines Buches, das er schon oft und in vielen Formaten und Farben bestäubt hatte: Die Verbesserung des Geistes von Isaac Watts. Darin ging es um Atome und das Leere, um das Unendliche, das Unteilbare, das ungleich zu Messende in der Geometrie, kurz: um die Unvollkommenheit der menschlichen Kenntnisse. Und um den Umgang damit.
Faraday hatte es gelesen, langsam, dann schneller noch einmal, mit den Fingern die nächste Seite an der Ecke rechts oben immer schon haltend. Wenn er so hinten im Laden saß und sich konzentrierte und alles um sich herum vergaß.
Liebevoll drehte er das Buch jetzt, um nach dem oberen Schnitt den unteren zu bestäuben. Er stieß die Borsten in die Schale mit Pigment, hauptsächlich Quecksilber- und Cadmiumsalze. Mit Farbe unter manchem Fingernagel ging er vor dem Tisch in die Knie, strich mit dem Daumen über die Borsten und sprühte so Pigmentstaub auf das über die Tischkante ragende Buch.
»Nicht zu viel«, sagte Riebau, der sich von seinem Kunden verabschiedet hatte, wieder hereingekommen war und seinem Lehrling über die Schulter sah. Faraday nahm das Buch und stieß den Lederrand senkrecht auf dem Tisch auf, damit der überschüssige Staub abfiel. Er wiederholte das mit dem auf dem Kopf stehenden Buch und mit der Längsseite. Als er mit einem Stück Papier aus dem Verschnitt den Pigmentstaub vom Tisch wieder in die Schale schob, kam der neue Laufbursche in den Laden gestürmt. Er hielt eine Zeitung in der Hand und hatte die Augen weit aufgerissen.
»Nelson«, sagte er atemlos, blieb stehen und hielt die London Gazette hoch.
Alle starrten ihn an.
»Nelson«, sagte er noch mal stotternd, mit großen Augen, und alle starrten ihn weiter an, denn er hatte die Nachricht, auf die alle warteten. Seit Nelson die kombinierte Flotte der Spanier und Franzosen über den Atlantik und zurück gejagt hatte, warteten London und der Rest des Landes auf Neuigkeiten. Die kontinentale Presse schrieb: Er sei ihr in einem Abstand von erst vier, dann immer noch zwei Wochen hinterhergesegelt, nachdem sie ihm aus dem belagerten Hafen von Toulon entwischt war – bei Nebel! Eine Demütigung war das gewesen, aber nicht nur eine Demütigung. Buonaparte wollte Nelson abhängen und die französische Flotte in den Kanal fahren lassen.
»Zweiundsiebzig Stunden Kontrolle« des Seeweges seiner Grande Armée würden zum Übersetzen seiner einhundertsechzigtausend Mann reichen, von denen kaum einer lesen und schreiben konnte und die stattdessen den Tod im Feuer des Gegners um der Auszahlung ihrer Familien willen in Kauf nahmen. Zur Ehre Frankreichs! Nur die hoffnungsvolleren jungen Männer der Landbevölkerung hackten, so schrieben die Zeitungen, sich die schwache Hand ab, um nicht eingezogen zu werden. Für die anderen waren an der Kanalküste Tausende Prähme gebaut worden, flache Boote, die große Menschenmengen schnell und mit verkraftbaren Verlusten übersetzen konnten. Zu Land war der Kaiser unschlagbar.
Der Kanal aber war auch ohne Nelson zu dicht mit englischen Schiffen bewacht. Villeneuve, der französische Oberkommandierende, ließ seine gut dreißig von Westen heransegelnden Schiffe abdrehen. Er hatte Angst. Gegen den kaiserlichen Befehl ließ er in Cadiz ankern, und Nelsons Flotte wartete hinterm Horizont. Villeneuve bewegte sich in seiner Falle nicht. Buonaparte tobte.
Der seit einem Gefecht vor Teneriffa einarmige und einäugige Nelson war deshalb zu seiner Geliebten nach London gekommen, hatte sich öffentlich bejubeln lassen, war zwei Wochen später wieder auf dem Weg nach Cadiz gewesen, im Gepäck nichts als die Erwartung seines ganzen Landes, den Gegner endlich zu zerstören.
»Östlich von Frankreich formiert sich der Rest von Europa in der Hoffnung, England wird geschlagen«, meinte Riebau einmal zu Faraday, mit dem er gewöhnlich nicht über Politik sprach, was seine Anspannung verriet, »und Frankreich wird dann, weil es seine Truppen hier hat, seitlich verwundbar.« Er glaube zwar nicht, dass Buonaparte so dumm sei: »Aber auszuschließen ist es nicht.« Und als Buonaparte seine so oder so dem Tod geweihten Soldaten schnaubend aus Boulogne abzog, hielten das in London alle für einen Trick: Die Angst wuchs noch.
Österreich, hatte Faraday noch am 22. Oktober gelesen, verfügte über sechsunddreißigtausend neue Rekruten. Böhmen und Mähren hatte sechzigtausend eingezogen, in Ungarn waren zweiundvierzigtausend Mann frisch und zusätzlich unter Waffen.
Aber nur eine Woche später hatte die Times geschrieben, Österreich sei schon am 19. vernichtet worden, in der kleinen Stadt Ulm. Siebzig- bis achtzigtausend Männer gefallen. Angeblich. Keiner wisse Genaues. Die Armee der Österreicher, hunderttausend Mann stark, hatte es am nächsten Morgen ganz entschieden geheißen, »existiert nicht mehr«.
In der Buchbinderei war nichts anders als sonst, als Faraday mit eingezogenem Kopf, langen Armen und schleifendem Schritt zur Arbeit kam. Riebau kaute ein kaum hörbares »Guten Morgen« heraus, die beiden anderen Jungen waren schon da und ließen nicht von ihrem Handwerk ab. Niemand wollte darüber sprechen. Im Laufe des Tages machte sich Faraday hart, arbeitete schneller, auf einem Gang genoss er den Regen auf der Stirn. Er lief sich die Wut aus dem Leib, war am Abend schneller mit allem fertig als sonst. Er hatte kaum mit jemandem gesprochen, nichts gegessen.
»Preußen zögert«, schrieben die Zeitungen am nächsten Morgen, sich mit fetten Lettern überbietend.
»Er wird wohl hierherkommen«, meinte am Abend Margaret: »früher oder später kommt er auch hierher.«
Als die Kerzen ein weiteres Mal gelöscht waren, war es Faraday eigenartig erschienen, ein Fenster im Zimmer zu haben, und er fand es nicht selbstverständlich, dass Glas im Fensterrahmen war, dass der Fensterflügel aufstand und dass Luft durch den Spalt wehte. Sie brachte die Geräusche der Stadt mit sich: ein heulender Hund, ein Betrunkener, seine schimpfende Frau, der Regen. Wie selbstverständlich war es noch, dass sein Bruder im anderen Bett lag und schlief?
Drei Tage vergingen so.
Dann hatten sie geschrieben, Nelson habe die kombinierte Flotte zerstört, es hieß: angeblich. Nichts war sicher. Noch gestern hatte es wieder geheißen, für nur fünfhundert tote Franzosen habe Buonaparte dreiundachtzigtausend Österreicher gefangen genommen. Dreiundachtzigtausend.
Aber jetzt – so wie der Laufbursche in Riebaus Tür stand, mit steifem Oberkörper, mit noch immer aufgerissenen Augen und noch immer heftig atmend, während alle anderen die Luft anhielten – war alles klar.
Endlich sagte er: »Nelson ist tot.«
Er wusste die letzten Dinge, die Kapitän Sykes berichtet hatte. Sykes war zeitgleich mit Leutnant Lapenotiere bei der Admiralität eingetroffen. Sie waren direkt von Trafalgar gekommen, einem Zipfel Europas draußen im Atlantik, vor dem Nelson die Franzosen und Spanier auf dem Weg ins Mittelmeer endlich hatte stellen können.
»Er hat unsere Flotte in zwei getrennten Linien auf die Franzosen zufahren lassen«, berichtete der Laufbursche atemlos. Ein Leser hatte es ihm beim Zurückgeben der Zeitung auf die Schnelle erklärt und ihn gemahnt, bloß diese Zeitung herumzutragen, so fix er es vermochte, und allen Nichtlesern zu erzählen, was er nun wusste: Auf dass er Gott und dem König gefalle!
»Mit dieser Formation seiner siebenundzwanzig Schiffe hat Nelson die Linie der dreiunddreißig gegnerischen durchtrennt«, berichtete er und machte dazu Bewegungen mit den Händen, die nicht zu seinen Erklärungen passten. Die Erklärungen waren besser.
Faraday las selbst in der Zeitung, die er dem Jungen abgenommen hatte, dass Nelson, wo Unterzahl war, auf kleinem Raum für kurze Zeit Überzahlen geschaffen hatte und damit genügend Zeit gewann, um sich die Schiffe nacheinander mit schneller Schussfolge vorzunehmen.
Und er hatte noch manchen kühnen, heroischen, die englische Seele beglückenden Satz gesagt. In den kommenden Tagen gelangten sie mit hundert Umständen in zahllosen Berichten und Gesprächen, die sich nur unwesentlich widersprachen, an Faradays Ohren. Mühelos setzte sich sein Vorstellungsvermögen in Gang. Teils geschah das, wenn er in der Werkstatt beschäftigt war und die mit Riebau redenden Kunden ihn nicht bemerkten. Teils las er die Neuigkeiten auch, wenn Riebau abends die ausgelesenen, zerfledderten und überholten Zeitungen vom Tag oder Vortag in die Ecke legte. Riebau ließ ihn spätabends im Hinterzimmer Versuche von Davy nachstellen, und manchmal durfte Faraday anschließend die alte Zeitung sogar mitnehmen. Er las sie dann nachts.
Kapitän Sykes, das teilte die Times am 7. Oktober, dem Tag nach der Ankunft der beiden Seemänner, pikiert mit, war gar nicht dabei gewesen. Er hatte Leutnant Lapenotiere bloß gesprochen, als der mit seinem bermudischen Schoner Pickle direkt vom Kampfplatz kam. Sykes wusste alles nur aus zweiter Hand. Die Presse und ganz London sortierten ihn sofort aus.
Den Erzählungen Lapenotieres und jenen über ihn hörte man allerorts atemlos zu. Auch im Vorraum Riebaus gab es kaum ein Gespräch, das sich nicht um ihn drehte. Faraday erfuhr, dass die Pickle das wendigste und zweitschnellste Schiff des Verbandes war. Zur Unterstützung dieser Eigenschaften war sie nur mäßig bewaffnet, und zuerst hatte sie Lieferdienste zu erledigen. Vor der Schlacht war sie zwischen dem marokkanischen Kap Spartel und Cadiz unterwegs gewesen, um Matrosen aufzulesen und zur Flotte zu bringen, Kranke abzuholen, Zitronen zu liefern.
An der Schlacht hatte Lapenotiere nicht teilgenommen, er hatte sie nur beobachtet. Nach dem Sieg fischte er hundertzwanzig oder hundertdreißig, schließlich und angeblich sogar hundertsechzig französische Seeleute aus dem kalten Wasser. Da sich seine Besatzung auf nur fünfunddreißig Mann belief, war das sehr riskant gewesen, sagten die einen, die anderen meinten: idiotisch, und die nächsten: heldenhaft. Angeblich hatten die Seeleute dabei aus der brennenden L’Achille eine unbekleidete Dame gerettet. Riebau lachte mit mehreren Herren darüber und war sicher, das sei »reine Dichtung«.
Kurz darauf hatte sie überall einen Namen und sehr viele Geschichten: Jeannette. Sie sollte die einzige Aufmunterung für die Seeleute gewesen sein. Riebau lachte, Faraday fühlte sich wie verlaufen.
Aber die Nachrichten rissen nicht ab. Am Tag nach der Schlacht war ein Sturm über den Schlachtplatz gekommen, manövrierunfähige Schiffe hatten sich von ihren Schwestern losgerissen oder waren aufgegeben worden. Faraday las: Als man sie am zweiten Tag wieder in den Schlepp genommen hatte, wurde Alarm gegeben, die geflüchteten Schiffe der Gegner kämen erneut aus dem Hafen. Vor Anker zu kämpfen war der logische Befehl, und Lapenotiere geriet hier, so wurde berichtet, immer ins Stocken und Schwitzen und zitterte. Ganz London wisse schon, wurde berichtet, dass man den Kriegshelden nicht darauf ansprechen sollte.
Der Alarm war zwar falsch gewesen. Dafür frischte der Sturm am dritten Tag wieder auf, und der für den toten Nelson kommandierende Collingwood hatte nun Befehl gegeben, die gekaperten französischen und spanischen Schiffe aufzugeben und sie in die Klippen treiben zu lassen. Entsetzen unter den Seeleuten, denn die Boote waren ihre untereinander aufzuteilende rechtmäßige Beute, ihr Kriegspreis! Mancher, der jetzt mittellos nach Hause hätte kommen müssen, statt seine Familie endlich von der Armut zu befreien, ging über Bord und nahm alles, was er an den Tagen zuvor gesehen hatte, mit in die Tiefe. Dabei wurde der Befehl, so zitierten die Berichte Lapenotiere, am Ende nur sehr unvollständig ausgeführt.
Am vierten Tag erst besserte sich das Wetter. Die Flotte konnte fünfzig oder sechzig Meilen auf den Atlantik hinaussegeln und befand sich endlich außer Gefahr.
Faraday hörte: Am fünften Tag wurde Lapenotiere mit dem Bericht nach London losgeschickt.
Die Gefangenen waren auf andere Schiffe verteilt worden. Danach brauchte die Pickle zwei Tage, um aus dem Golf von Cadiz herauszukommen. Am achten Tag nach der Schlacht, in London hatten alle weiterhin Angst, traf sie auf Sykes’ Nautilus, die vor der portugiesischen Küste in der Nähe von Sagres patrouillierte. Auch Sykes hatte keine Ahnung, was ein paar Seemeilen südlich vor bereits einer Woche geschehen war. Er ließ sich alles erklären und segelte davon, nur um mit seiner Nautilus am neunten Tag an der Seite der Pickle wieder aufzutauchen, was Lapenotiere verstand: Sykes lieferte ihm ein Rennen.
Lapenotiere ließ vier seiner sechs Kanonen über Bord werfen. Er ließ seine Männer tagelang bei voller Fahrt Wasser aus dem Vorpiek schöpfen, das über den Bug schwappte. Zwei krepierten an Erschöpfung und wurden über Bord geworfen.
Am dreizehnten Tag nach der Schlacht kamen die Scilly-Inseln in Sicht, am vierzehnten Tag tauchte backbords das Festland auf, und gegen Mittag ließ Lapenotiere sich an den Fischstrand von Falmouth rudern, wo er zur Umgehung von Zoll und Quarantäne durch ein Gebüsch kroch, die Landstraße entlang zum Ortsrand lief und eine Kutsche mietete, die ihn in anderthalb Tagen nach London brachte. Mitten in der Nacht und nur ein paar Schritte vor Sykes, der in Plymouth gelandet war, erreichte er den Windfang der Admiralität. Er ließ Lord Barham wecken. Später frühstückte er beim König, wo er nach dem hastig gegebenen Bericht beinahe am Tisch eingeschlafen wäre. Man gab ihm rechtzeitig ein Zimmer.
Die Freude über den Sieg erreichte Faraday nicht wie seine Umgebung. Es wurde Winter, bevor immer mehr Korrespondenten berichteten, Nelson habe sich vor der Schlacht von mehreren Kapitänen herzlich verabschiedet und jedem gesagt: »Wir sehen uns nicht mehr.«
Faraday widmete sich seiner Arbeit. Nelson war tot, Buonaparte lebte, was war daran so gut? Er beteiligte sich nicht an der Rätselei, was Nelson zu diesem Abschied bewogen haben mochte. Buonaparte zog mit seinen Hundert- oder Zweihunderttausend weiter plündernd durch Europa und redete von der Gleichheit. In ein paar Monaten würde er die russische Flotte kommandieren.
»Was liest du?«, wollte Faradays Lehrherr wissen, als einmal die Freunde gegangen waren, die alles erneut diskutiert hatten.
Ausdruckslos wie nie zuvor sah Faraday ihn an.
Riebau fragte ein zweites Mal, sodass Faraday Auskunft gab: Davy hatte über Landwirtschaft gesprochen. Dass nichts dringender benötigt würde in der Landwirtschaft als Experimente, hatte er gesagt. Wissenschaftliche Experimente, in denen Bedingungen genau und detailliert festgehalten würden. So exakt diese Kunst in ihren Methoden würde, so schnell würde sie an Bedeutung gewinnen. Man würde herausfinden, was ein Inch mehr oder weniger an Regen über die Saison ausmache und was der Unterschied von ein paar Graden der Durchschnittstemperatur.
Riebau zeigte Interesse, das Faraday für nicht echt hielt oder das er nicht wahrhaben wollte. Vielleicht wollte er sich auch nicht stören lassen von einem, der im selben Ton über Landwirtschaft redete, in dem er eben noch über Lady Hamilton oder über tote Soldaten gesprochen hatte.
»Was der Boden zur Ernte beiträgt«, sagte er artig, »will Davy herausfinden und noch, was die Neigung des bebauten Landes für die Ernte der einen oder anderen Nutzpflanze bedeutet.«
Riebau lächelte und schnupfte Tabak.
»Es gibt zwar Vorbehalte, hat Davy gesagt«, berichtete Faraday, da Riebau ihn weiter erwartungsvoll ansah und sein Lehrherr war, »gegen die Philosophen der Chemie. Es gibt auch vage Spekulationen. Vor allem wenn man Praxis und Erfahrung hat, lehnt man schnell alle Versuche ab, die Landwirtschaft mit chemischen Methoden und philosophischen Betrachtungen zu verbessern. Technische Ausdrücke wie Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff oder Stickstoff erwecken den Eindruck«, erzählte er Fahrt aufnehmend, »es ginge mehr um Worte als um Dinge.«
Riebau nickte, aber zu wohlwollend, fand Faraday, der sich nichts anmerken ließ: »Aber«, hatte Davy gesagt, »tatsächlich sieht man daran, wie notwendig die Etablierung akzeptierter Prinzipien der Chemie in der Landwirtschaft ist.« Wer immer über Landwirtschaft spreche, müsse sich auf diese Wissenschaft beziehen. Und natürlich, so Davy schließlich, wäre ein philosophischer Chemiker als Farmer vermutlich ein Ausfall: »Aber vermutlich wäre er doch wohl ein besserer Farmer als jemand, der genauso wenig Erfahrung in der Landwirtschaft hätte und auch nichts von der Chemie verstünde.«
Faraday nickte Riebau aus einem unklaren Impuls heraus zu, und der wiederholte die Geste, bevor er erfuhr, dass die Chemie, wann immer richtig angewendet, Vorteile ergeben würde. Dann stand Faraday auf, er fühlte in seinem Kopf das Blut zirkulieren oder stocken, er wusste es nicht. Mit einem Nicken verabschiedete er sich vom kaum reagierenden, verdutzten und vermutlich angetrunkenen Riebau und verließ die Buchbinderei.
Ein Luftzug fuhr Faraday draußen ins Gesicht. Er war kalt. Faraday ging nicht nach Hause, sondern auf vielen Umwegen zur Themse und kickte auf dem Weg mal einen Stein vor sich her, mal ein Stück Holz. Mal trat er aus Wut in die Luft. Dann sah er lange dem träge fließenden Wasser zu. Auf dem Rückweg traf er zufällig seinen älteren Bruder, der sich darüber sehr freute.
3 John Tatum
Bis zu seinem Tod hatte James Faraday den Kontakt zu seinen Kindern zu halten versucht, aber 1810 waren sie ihm nach eigenem Empfinden doch entglitten. Seinem Bruder Thomas schrieb er, schon lange keinen Tag mehr bei guter Gesundheit erlebt zu haben. Zwar fehle er selten ganz bei der Arbeit, könne aber auch kaum einmal einen Tag komplett durchstehen.
Ohne Schmerzen zu sein erwartete er nicht mehr. Nur der Glaube, dass alles seinen Sinn habe, war ihm geblieben.
Er wolle es deshalb, schrieb er, Ihm überlassen, Seiner bestimmenden Hand, welche das souveräne Recht habe zu tun, was Ihm gut und richtig erscheine in den Armeen des Himmels wie unter den Bewohnern der Erde.
Sie waren im Jahr vorher in die nahe gelegene Weymouth Street gezogen. Am letzten Tag war Margaret bei ihm gewesen und nur für den Moment, in dem er losließ, kurz nach draußen gegangen, um Teewasser aufzusetzen. Später kamen die Kinder, setzten sich und weinten. Michael Faraday war neunzehn und würde ab jetzt zu dem Gefühl des Zerbrechlichen das des Zerbrochenen gesellen. Er war entschlossen, es nicht in den Vordergrund geraten zu lassen. Er glaubte ebenfalls, dass alles einen Sinn habe.
Nach der Arbeit ging er fast täglich zu seinem Freund Benjamin Abbott, der eine ausgiebige Schulbildung genossen hatte und als Prokurist arbeitete. Sie kannten sich von den naturphilosophischen Vorträgen des Silberschmieds John Tatum in der Dorset Street. Auf Zetteln, die in den Straßen aufgehängt waren, und auf Plakaten in den Fenstern der Geschäfte in der Nachbarschaft des Salisbury Court, unten an der Fleet Street, nur ein paar Minuten von der Kapelle der Sandemanier in Paul’s Alley entfernt, hatte Faraday immer wieder von den Vorträgen gelesen. Es werde über Flüssigkeiten geredet, ließen die Ankündigungen ihn wissen, über Optik, Geologie, Mechanik, Chemie, über Astronomie und Meteorologie!
Diese Wörter arbeiteten in ihm, wenn er sie nicht sah, während der Arbeit, beim Nachhausegehen, auch beim Einschlafen. Verheißungen waren es, Versprechungen, Möglichkeiten des Übertritts. Deshalb traute er sich lange nicht. Beim Aufwachen, wenn er sich wiederfand, waren sie da: »Kommst du?«
Herzklopfen.
Verstimmung deswegen, Unterlegenheitsgefühle.
Unwillen gegen sich selbst.
»Na, komm schon.« Er? Doch nicht er. »Natürlich du.«
Ich?
... Es hörte nicht auf.
Wie sollte er kommen können? Es war kein Kommen, sondern ein Hingehen. Wenn er an den Ankündigungen vorbeiging, sahen sie ihn wie verbotene, immer zur Verfügung stehende Lustbarkeiten an. Sie würden nur durch Umarmung zu bannen sein. Dann durch Festhalten, durch mehr Umarmung und mehr Festhalten. Ein Zurück gab es nicht, das wusste er, schon bevor er jemals da gewesen war, gab es kein Zurück mehr.
Er hätte Mut gebraucht und Übermut, aber woher hätte er den nehmen sollen?
Was er dann hatte, war Glück. Eines Abends fragte Riebau: »Kennst du Tatum?«
»John Tatum?«
Kannte er, ja.
»Du warst schon da?«
Nein, war er nicht. Faraday sah zu Boden.
»Da solltest du einmal hingehen.«
Ja, hingehen, so einfach war das vielleicht. Nur, was er nicht sagen konnte: Er hatte kein Geld. Nicht dafür. Leistete er sich doch schon den Luxus der Ausbildung, statt Laufbursche zu bleiben und Geld nach Hause zu bringen: sieben Jahre lang. Nie, auch nicht wenn das Essen knapp war, hatten seine Geschwister oder seine Mutter eine Bemerkung dazu fallen lassen oder wären nur auf die Idee gekommen. Langsam ging Faraday an dem Tag nach Hause.
»Riebau empfiehlt Tatum«, sagte er beim Abendessen etwas tonlos, wie unkontrolliert, und schlürfte den zu heißen Tee, ohne ihn abkühlen zu lassen. Margaret stand auf, legte die Lichtschere weg, mit der sie hantiert hatte. Sie holte eine neue Kerze. Auch ohne Ausführung wusste sie, worum es ging. Sie war ja nicht blind.
Robert, der wie der Vater Schmied gelernt hatte und im Beruf arbeitete, verstand es nicht sofort: »Und?«
»Für nichts wird das nicht sein«, sagte Margaret freundlich, während sie das Hölzchen in die Säure tunkte und es entzündet an die neue Kerze hielt, bevor sie es mit einer schnellen Handbewegung in der Luft löschte.
Faraday schämte sich. Wie kam er bloß darauf, in so einen Vortrag gehen zu wollen? Er wollte abwiegeln, sich entschuldigen, er spürte, dass er rot geworden war, er verfluchte sich und fühlte Groll gegen Riebau in sich aufsteigen, der ihm dies hier eingebrockt hatte. Überhaupt alles mit der Wissenschaft. Riebau brachte ihn noch um den Verstand, wie alle um den Verstand gebracht waren in diesem Buchladen und an Größenwahn litten: das Schlimmste in den Augen des Herrn. Die Scham hing Faraday um den Hals. Weshalb sollte ausgerechnet er, Michael Faraday, der schon Buchbinder lernen durfte, statt sein Leben lang Laufbursche zu sein oder Schmied zu lernen und sich in einem beobachtbaren Tempo zu Tode zu arbeiten, unter Männern und Frauen von Rang in einen Vortrag über wissenschaftliche Erkenntnisse gehen? Das Allermeiste in Riebaus Laden war grober Unfug, manches davon gefährlich, aber jetzt war er selbst allem erlegen.
»Ich«, sagte er schnell, kam aber nicht weiter.
Robert fragte: »Wie viel?«
Es war eine Beleidigung, musste eine sein. Faraday brachte kein Wort über die Lippen. Er war zu weit gegangen.
Er solle es schon sagen, so Robert freundlich und mit Tempo, aber Faraday schämte sich weiter, sein Kopf hing tief über der Tischkante. Eine Passion neben Gott zu haben, wer durfte sich das leisten? Nicht das kleinste Recht dazu besaß er, ausgerechnet er.
»Jetzt sag.«
Robert war, wenn auch ungeduldig, freundlich. Etwas anderes als Freundlichkeit gab es in der Familie nicht. Deshalb war das kein Gradmesser. Faraday selbst würde jetzt sagen, dass er es nicht ernst gemeint habe, dass er nur von Riebaus Spinnereien berichten wollte.
»Ein Schilling«, sagte Robert: »oder?«
Woher auch immer er das wusste, es brauchte alle familiäre Intimität und seine ganze Leidenschaft, dass Faraday nickte. Er wollte ja dahin, dieser Wunsch glühte nicht einfach in ihm, er fraß ihn auf. Gab es einen Weg zur Erfüllung des Wunsches vor Gott?
War es Gott, der das wollte?
Robert reagierte nicht auf die Antwort. Kurz vor dem Schlafengehen aber, als sie allein waren, gab er seinem Bruder den Schilling. Die beiden umarmten sich lange, Faradays Schultern bebten. Er würde ihn zurückgeben, eines Tages. Alles würde er zurückgeben. Lange schlief er nicht ein, das Licht des Mondes zog im Lauf der Nacht einen hellen, vom Einfallswinkel verzogenen Abdruck des Fensterausschnittes über sein Bett.
Mit nur einigermaßen kontrollierter Erregung lief er am folgenden Montagabend durch die Straßen zum Haus von Tatum. Ängstlich betrat er den Flur: Natürlich würde man ihn belächeln.
Viele Frauen mit großen Hüten waren da.
Mit dem fünfzigsten Besucher, der kurz hinter Faraday anstand, wurde die Kasse geschlossen, denn mehr Personen hätten laut Gesetz eine »aufrührerische Versammlung« bedeutet. Auch freundliches oder energisches Bitten des einundfünfzigsten halfen nicht weiter, wie Faraday mit einem Ohr hörte, erleichtert, denn er hätte sich auch ohne einundfünfzigsten Besucher nicht gewundert, von einem Diener oder auch von Tatum höchstpersönlich wieder entfernt zu werden. Er hatte sich schon ohne den Schilling zurück auf der Straße gesehen, während andere Herrschaften Platz nahmen. Tatsächlich: Es musste etwas zu bedeuten haben, dass man ihn hier duldete.
»Sie kannten doch Levi?«, fragte eine Frau eine andere.
Die antwortete hektisch und unsicher: »Den Diamantenhändler? Wieso kannten?«
»Hat sich gestern, äh, vom Monument gestürzt.«
»Mein Gott.«
Die erste nickte.
»Hatte er denn ... gab es einen Grund?«
»Nicht bekannt. Um elf hat er noch Geschäfte gemacht, um zwölf ist er hinauf. Schon vorvorgestern war er dort und ist oben merkwürdig umhergelaufen. Er hätte fast einen Porter erschlagen, der ihm ausweichen musste.«
»Hören Sie auf«, bat die Frau, und schnell ging Faraday die Treppe hoch, wobei er die andere noch »acht Kinder« sagen hörte.
Der Vortrag fand im ersten Stock statt, und manche standen an den Fenstern. Andere saßen bereits. Männer sagten Dinge wie: »Cobbett sitzt im Gefängnis, weil er über das unrechtmäßige Auspeitschen der Soldaten geschrieben hat« und als Antwort darauf leise und unwirsch: »Nicht hier.«
War Cobbett nicht der Mann, der Masquerier als Spion Buonapartes bezeichnet hatte? Faraday wollte es lieber nicht wissen und setzte sich an den rechten Rand einer Stuhlreihe, indem er erst die Fingerspitzen, dann die Hand auf die Sitzfläche legte und sich anschließend mit umherschweifendem Blick niederließ. Er zog den Kopf ein, richtete seinen Blick auf das Papier, das er zum Mitschreiben zurechtlegte. Jedes Detail der Encyclopædia Britannica über Elektrizität, alle Erklärungen der Experimente aus Jane Marcets Konversationen zur Chemie lagen ihm wie kostbare Süßigkeiten auf der Zunge, die er hin und her wenden konnte, wie er wollte, sie hinterließen nur den Wunsch nach mehr.
Auf Tatums Tisch standen Gerätschaften und zwei Glasscheiben. Die Scheiben würden den Vortragenden vom Publikum trennen. An der Wand hingen einige Diagramme. Faraday konnte kaum erwarten zu erfahren, was sie darstellten, welche Größen sie miteinander in Verbindung bringen würden, um aus ihnen eine zu machen. Denn das waren sie, sobald ein Gesetz sie miteinander verband: ein Ding. Und hier war man auf dem Weg zum ganzen Gesetz, dem einen, wie der Herr es geschrieben hatte. Kein leichter Weg, der da lockte.
Zum Glück beobachtete ihn niemand. Abbott fiel ihm gleich auf, er saß nicht weit vor ihm, war ungefähr im selben Alter und schaute lebhaft um sich, mehr am Spektakel interessiert als Faraday.
»Wellesley«, sagte jemand, und alle drehten sich sofort zu ihm um, »wird auch Paris noch einnehmen.«
Jemand anderes antwortete brüsk: »Paris ist nicht Madrid, und Madrid muss er erst einmal bekommen. Eins nach dem anderen, würde ich empfehlen. Er zieht doch schon zwei Jahre planlos herum.«
»Er beschäftigt Buonaparte«, war die nicht weniger brüskierte Antwort, »Besseres kann er gar nicht tun.«
Ein Dritter: »Die Portugiesen werden kaum bis Paris mitgehen.«
»Die Portugiesen! Die braucht niemand. Die Portugiesen!«
Der Zweite wieder: »Paris ist vor allem viel näher.«
»Und die deutsche Legion, auf die ist Verlass?«
»Ach«, wusste der Erste ganz sicher, und der Dritte meinte skeptisch, dass ihm wohler wäre, der Spuk käme eines Tages zu einem Ende, was die anderen mit abwertenden Blicken beantworteten.
In dem Moment kam Tatum, ein kleiner, freundlicher Mann. Er hatte mitgehört, dachte Faraday, denn er begrüßte das Publikum mit lauter, selbstsicherer Stimme: »Schön, Sie hier zu treffen, in London, der größten und mächtigsten Stadt der Welt!«
Es wurde gelacht, einige applaudierten. Faraday war froh, nicht der Grund zu sein. Jetzt konnte er sich endlich dem Mitschreiben widmen und musste nicht tatenlos dasitzen.
Tatum sprach über Galvanismus und die Elektrizität von Froschschenkeln, wovon er zwei an eine Batterie anschloss, damit sie zuckten. Die Frau von Luigi Galvani habe das in ihrer Küche zufällig während der Zubereitung der Schenkel auf ihrem Küchentisch beobachtet, weil ihr Mann ausgerechnet direkt daneben einen Elektrisierapparat betrieb. Ohne irgendwie darauf zu achten, wohin die Funken flogen. Galvani, so Tatum, war sicher, dass Elektrizität zwischen Nerven und Muskeln erzeugt würde.
Sein Neffe Giovanni Aldini habe England bereist und in Newgate mit einer Batterie aus einhundertzwanzig Kupfer- und Zinkplatten Versuche an dem frisch exekutierten Mörder Forster unternommen, die wegen ihres Mutes legendär geworden waren. Als Aldini die Pole an dessen Ohren anschloss, habe sich ein Auge des Toten geöffnet und das Gesicht die schlimmsten Grimassen gezeigt. Schloss Aldini einen Pol an ein Ohr an, den anderen an den Mund, habe der Kiefer gebebt und seine Muskeln sich verkrampft, und alles habe sich noch fürchterlicher verdreht. Als Aldini schließlich einen Pol mit einem Ohr, den anderen mit dem, äh, Anus des Mörders verband, da habe der Leichnam die rechte Hand gehoben und eine Faust gemacht, während die Oberschenkel sich bewegt und schließlich die Beine im Ganzen gezuckt hätten.
»Diese Versuche sind«, sagte Tatum abschließend, »von einer Reihe von Professoren in Turin, Bologna und an der Salpêtrière in Paris bestätigt worden.«
Er machte eine lange Pause und sah sehr nachdenklich aus, bevor er hinzufügte, dass mancher das schon für Leben halte. Es würde aber von der Royal Human Society erst mal geprüft, wie bei Verrückung, Melancholie oder Gehirnschlägen die Elektrizität helfen könne und wie sich Ertrunkene oder Erstickte ins Leben zurückholen ließen, bei denen es lediglich an Lungentätigkeit fehle.
Die Rettung von vier jungen Männern, die in Woolwich ins Eis gebrochen waren, war jedenfalls nicht geglückt.
»Sie waren«, meinte Tatum, »wohl schon zu lange tot.«
Schließlich erzählte er, gerade Kunde aus Franken bekommen zu haben: »Das ist ein Landstrich in Deutschland, und zwar ein sehr interessanter Landstrich, kann ich Ihnen sagen!«
Es werde dort, erzählte er fröhlich, noch immer gegen den Wetterableiter opponiert: »Stellen Sie sich das vor: In einer fränkischen Gemeinde haben Bürger die Installation nachts von der Kirche gerissen!«
Im Auditorium wurde es lebhaft.
»Es sei, so sagen sie«, fuhr Tatum mit spitzer Stimme fort, »Gottes Wille, wenn der Blitz zur gerechten Strafe der Sünder einschlage!«
Es wurde unruhig. Nachbarn redeten miteinander. Faraday wünschte, es würde aufhören.
»Die Ableitung sei Lästerung«, sagte Tatum selbstsicher.
»Sehen Sie«, er hielt jetzt ein Heft hoch, ein schlecht gebundenes Buch, »ich habe eine Schrift aus Deutschland zugesandt bekommen, die uns hierüber berichtet.«
Er schrieb an die Tafel hinter ihm: Deutschland, wobei er nach der ersten Silbe die Kreide abbrach und neu ansetzen musste. Dann referierte er die Geschichte des Wetterableiters nach der Schrift in wenigen Zügen: »Man muss das sehr ernst nehmen. Allgemein weiß man kaum noch, dass seit jeher nicht nur täglich Menschen im Gewitter erschlagen worden sind und Häuser abgebrannt.«
Tatum lief redend von der linken Seite des Raumes zur rechten und nahm den einen oder anderen ins Visier. Auch Faraday sah er kurz in die Augen, als er sagte: »Es sind auch immer wieder Kirchen in die Luft geflogen, wenn die Pfaffen das Schießpulver im Keller lagerten. 1769 gab es im italienischen Brescia Tote.«
Er kam jetzt hinter seinem Tisch hervor, stützte das Kinn auf die rechte Hand und den Ellbogen auf das Handgelenk des linken Armes vor dem Bauch, lehnte sich an den Tisch und sagte nachdenklich: »Dreitausend!«
Dabei freute er sich und steckte die Hände ineinander, während er sich dem Publikum näherte: »Dreitausend Tote. Aber als der Wetterableiter erfunden worden ist, hat es noch mehr als dreitausend Gegner gegeben!«
Er wolle nun etwas zeigen.
Er holte einen hölzernen, etwa sechzig Zentimeter hohen Hohlkörper hervor, den er als Turm bezeichnete. Er nässte ihn innen und außen mit Wasser, füllte einen Fingerbreit Weingeist hinein und legte einen Deckel lose auf das obere Ende. Dann öffnete er zwei Aussparungen, die er Fenster nannte, indem er jeweils eine Art Stopfen entfernte. Er kurbelte an seinem Elektrisiergerät und leitete einen Funken so auf den Turm, dass man den Funken durch den Raum fliegen sehen konnte.
Im Nu schrien die Frauen auf. Der Deckel war weggeflogen, der Turm stand in Flammen. Tatums Helfer, ein Junge, wie Faraday noch vor ein paar Jahren einer gewesen war und den er aus irgendwelchen Gründen gar nicht mochte, löschte den Brand mit einem Eimer Wasser. Der Turm dampfte, es roch nach verkohltem Holz, das Wasser lief durch die Gänge und sickerte zwischen den Dielen in den Fußboden.
Tatum grinste. Er öffnete alle Fenster und ließ den Jungen mit einem großen Stück groben Tuchs einen Wirbel in der Luft herstellen, damit sie sich schnell austauschte und man den Vortragenden wieder sehen konnte. Im Publikum war erhebliche Unruhe entstanden.
»Schauen Sie«, sagte Tatum und steigerte die Unruhe, indem er erneut Weingeist in den Holzturm goss und die Elektrisiermaschine wieder in Betrieb nahm. Zwei Frauen verließen eilig die Versammlung, die Männer waren bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Bevor Tatum erneut einen Funken zog, montierte der Junge einen Eisendraht an dem Turm, den er wenig über den Rand hinausragen ließ und unten mit einem Kabel verband. Das Kabel hängte er aus dem Fenster, und dann lief er nach unten, um das untere Ende mit einem Spatenstich in der nassen Erde zu verbuddeln.
Während Tatum weiter Ladung erzeugte und erklärte, was der Junge tat, konnte man aufstehen und sich mit einem Blick aus dem Fenster vergewissern, was unten geschah. Faraday tat das, obwohl er keine Überraschung erwartete, und setzte sich wieder. Tatum stand währenddessen zufrieden mit hinter dem Rücken ineinandergreifenden Händen an seinem Tisch.
»Aufgepasst«, rief er und ließ erneut den Blitz in den Turm schlagen. Der suchte sich nach einem Weg von einigen Fuß gut sichtbar selbsttätig den Draht und verschwand dann vollständig darin. Sonst passierte nichts. Im Raum ließ die Spannung nach.
Tatum grinste, als er erzählte, dass viele Menschen anfangs geglaubt hätten, der Wetterableiter würde den Blitz und sein Unglück überhaupt erst erzeugen.
»Andere haben behauptet: Ernten würden ohne Blitz ausfallen. Und manche haben gesagt: Erdbeben würden ausgelöst.«
Er kam jetzt nah an die erste Stuhlreihe heran: »Es ist nichts davon in den letzten Jahrzehnten bestätigt worden. Weder gab es mehr Blitzeinschläge noch weniger Erträge der Bauern.« Sein Blick wanderte nach hinten: »Und schon gar nicht irgendwelche Erdbeben. Die großen Beben waren immer woanders, nicht beim Blitz. Es gibt da keinen Zusammenhang.«
Der Junge räumte den Holzturm weg, Tatum wandte sich wieder seinem Tisch zu, ging jetzt hinter ihn: »Wie auch sollte der Blitz, dessen Geschwindigkeit wir gesehen haben, ein Erdbeben in einigen Wochen, Monaten oder Jahren auslösen? Das ist kindisch. Aber in Deutschland glaubt man hier und da, das Weglassen des Wettergebets und des Wetterläutens bringe Unglück über die Gemeinde, weil sie Gottes Wille auf unstatthafte Weise von sich ablenken wolle.«
Einige lachten.
»Lachen Sie nicht«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger, in seinem Blick, fand Faraday, blitzte Schalk auf. Die Kicherer verstummten augenblicklich. »Die vielen beim Wetterläuten erschlagenen Messner«, rief Tatum, »gute Männer und Frauen allesamt, die nur kraft ihres Mutes dem entgegentraten, was ihrer Gemeinde Schaden zufügte, sind Gegenbeweis genug. Was haben sie schon getan, dass ausgerechnet ihnen das Leben genommen wird?«
Schließlich, so führte er langsam aus und blickte von einem zum anderen, seien die Glocken nichts anderes als Wetterableiter, ein Metallkörper oben, ein nasses Seil unten, nichts als ein Kabel, mit dem man nach dem Blitz fische, als sage man: Komm her, nimm mich.
Er wolle dies beim nächsten Mal demonstrieren, aber schon jetzt sagen, und hier wurde er laut, und es klang zornig: »Gott gibt dem Menschen nicht die Einsicht, damit er sie unbenutzt lässt!«
Faraday hätte fast applaudiert, riss sich aber im letzten Augenblick zusammen. Man hörte nur den einen oder anderen Schuh über den Holzboden scharren, weil sich mancher aufsetzte.
»Im Gegenteil«, fuhr Tatum mit tiefer Stimme fort, »das Verständnis der Elektrizität des Wetters hat uns der Herr in die Hand gegeben, um die Herrlichkeit der Schöpfung erst recht zu erkennen!«
Der Applaus war nicht vollständig und er kam nicht schnell, sondern zögerlich, erst erstarb er sogar wieder, wurde dann erneut aufgenommen und verstärkte sich ein wenig, starb wieder. Faraday saß stumm auf seinem Stuhl.
Tatum ließ sich gar nicht beeindrucken: »Jeder Wetterableiter, der Leben schützt, ist der Wille des Herrn!«, rief er: »Gott selbst hat entschieden, die Menschen von der Tyrannei des Blitzes zu befreien, und ihnen das Werkzeug dafür in die Hand gegeben!«
Größerer Applaus, aber manche blieben stumm.
»Sich seinem Willen entgegenstellen, das soll tun, wer will! Aber wie der Herr den Menschen als Krone der Schöpfung schuf, so entwickelt er ihn fort.«
Hinter Faraday fragte eine Frau zu laut, wieso der Herr nicht einfach den Blitz abschaffen konnte. Sie wurde durch einen Zischlaut zum Schweigen gebracht.
»Wir haben zu danken«, sagte Tatum ernst und fügte in belustigtem Ton, geradezu bübisch und pointiert an, dass die »Baierische Regierung das nun verstanden hat. Sie hat das Wetterläuten«, er machte eine Pause, bevor er triumphierend schloss: »verboten«.
Abermals Applaus, größerer jetzt, dazu Gelächter.
»Mithilfe des Militärs setzt die Baierische Regierung das Verbot durch, es bewacht die Wetterableiter in aufsässigen Gemeinden. Nicht einmal Deutschland wird sich also wissenschaftlichen Erkenntnissen auf Dauer entziehen.«
Er erntete erneut Applaus, diesmal war er lang und laut und wirkte befreit. Einige standen auf. Tatum genoss das, und manches Gespräch ging in dem Lärm unter, wie Faraday feststellte und notierte. In seiner Reihe schüttelte ein Mann im Gespräch mit seiner Frau vehement den Kopf und wollte offensichtlich sofort gehen. Faraday hatte viele Skizzen gemacht, die er hektisch einsammelte.
Kaum zu Hause, formulierte er die Erklärungen minutiös nach, machte nach den Skizzen und mithilfe seiner Erinnerungen saubere und liebevolle Zeichnungen, die detaillierter waren als die von Tatum.
Faraday schlief wenig in dieser Zeit, war morgens immer gleich klar und frisch im Kopf und sprang tatendurstig aus dem Bett. Nach ein paar Wochen band er ein kleines Buch, das er mit einer Widmung Riebau schenkte.
»In der Kunst der Höflichkeit bin ich nicht geübt«, schrieb er dem Mann, dem er so viel verdankte, »weshalb ich meiner Verpflichtung nur auf einfache Art nachkommen kann.« Er wolle sich erlauben, seinen Dank für die vielen Zuwendungen auf diese Weise auszusprechen.
Faraday war nicht etwa Autor geworden. Sein Wunsch war, Gott und seinem Werk zu dienen, so gut es ihm gegeben sein würde. Er musste es verstehen und, wie ein jeder Priester, anderen mitteilen.
Keinen der Vorträge verpasste er jetzt mehr, während Buonaparte in Dresden Feste feierte, und dann geschah auch das Wunder: Nach einem Vortrag war Faraday an den Tisch getreten, um eine Versuchsanordnung zum Magnetismus aus der Nähe zu sehen und abzuzeichnen, und Tatum hatte ihn in ein Gespräch verwickelt, bevor Faraday das überhaupt richtig bemerkte.
Faradays Ohren schienen zu glühen, ihm war schwindlig, und er sah nur noch zwei Dimensionen, Höhe und Breite, als er begriff, dass er mit dem Silberschmied in der Mitte des Raumes stand und vom noch zum größeren Teil anwesenden Publikum interessiert beobachtet wurde. An die Reihenfolge der Argumente, wie das Gespräch überhaupt begonnen hatte, konnte er sich im Nachhinein nicht erinnern, aber er fand sich mitten in seiner Erklärung wieder, Elektrizität bestehe »doch eher aus zwei Flüssigkeiten, denn aus einer«.
Sein angesammeltes Wissen trudelte wie eine losgerissene Schiffsladung im Sturm durch sein Hirn. Zufällig lösten sich Einzelheiten. Sie rollten wütend aus ihm heraus. Hatte er gerade »zwei Flüssigkeiten« gesagt? Offenbar hatte er das gesagt und hoffentlich doch nicht. Tatum vertrat ja die Partei der einen Flüssigkeit. Aber schon ging es weiter, er sollte selbst einmal vortragen. Hatte er geträumt? Hatten seine Gedanken sich verhaspelt und waren hereinkommende und abgehende Informationen übereinandergestolpert, hatte er denken und sprechen und hören nicht mehr voneinander trennen können? Oder hatte der Silberschmied ihm wirklich mit sanfter Stimme in aller Einfachheit angeboten, »doch selbst einmal vorzutragen«?
Er hatte.
Faraday legte die Arme eng an den Körper, als er zusagte, stotternd und mit sich überschlagenden Bezeugungen seines Dankes, von denen er, den Faden immer spätestens nach vier, fünf Worten verlierend, keine zu Ende ausführte. Niemanden außer sich selbst nahm er noch wahr. Er fror, und das besserte sich erst im Regen des Heimwegs, als er sich marschierend wiederfand, in großem Tempo nach Hause eilend.
Natürlich machte er sich, ohne zu warten oder an Schlaf zu denken, an die akribische Ausarbeitung einer Rede, welche die Bigotterie und den Geist der Parteinahme unter Philosophen, Politikern und Enthusiasten anklagen sollte. Jetzt, jetzt, jetzt – jetzt war der Moment, sich zu behaupten! Bald! Oder?
Zu seinem Glück ging ihm noch vor dem Termin die Luft aus. Als er vor den Leuten stand, die ihn zumeist freundlich und erwartungsvoll ansahen, nachdem Tatum ihn als junges Talent vorgestellt hatte, das vor Euphorie berste, wischte er die dunklen Gedanken weg, oder sie brachen in sich zusammen, und er demonstrierte nur, wie ein Funke durch einen Stapel Papier schlug, er legte an seinen Körper Spannung an, um Muskelzuckungen zu provozieren. Zu diesen Demonstrationen stürzten Erklärungen in einem Tempo aus seinem Mund, dass er selbst kaum folgen konnte und erstaunt war, nach wenigen Minuten fertig zu sein. Er sah ratlos ins Publikum. Er überlegte kurz, ging aber nicht so weit, die Selbstexperimente eines Alessandro Volta zu wiederholen, der auch Strom in seine Ohren geleitet hatte und auf seine Zunge. Faraday berichtete nur davon. Eine Demonstration sei überflüssig, erklärte er ein wenig gelassener, man würde schließlich nicht sehen können, was passierte.
»Und nur«, fügte er zum Schluss mit einem unbeabsichtigten Schuss Garstigkeit an, »was man sehen oder anfassen kann, zählt.« Er wurde richtig laut und hob sogar den Finger: »Nur, was überprüfbar ist: nur die Fakten!«
Tatum griff sofort ein. Er dankte dem »jungen Mann« warmherzig.
Das Publikum lockerte sich. Tatum wartete mit neuesten Erkenntnissen aus der Elektrochemie auf. Faraday, der jetzt abgespannt auf seinem Platz saß, brauchte eine halbe Stunde, bis er sich wieder auf etwas konzentrieren konnte. Er bemerkte, dass er nur wusste, was im Artikel der Enzyklopädie stand. Mehr nicht. Das meiste von dem, was Tatum erzählte, war ihm fremd. Noch auf dem Heimweg machte er deshalb einen Umweg über Riebau, der mit seinen Freunden im Buchladen saß und trank und darüber debattierte, dass Buonaparte heirate, nun österreichisch heirate, da der Zar die Hand seiner Tochter verweigert hatte.
Faraday stellte fest, dass der Artikel der Enzyklopädie aus dem Jahr 1797 stammte. Sein Wissen war überholt. Hatte Tatum nicht auch sehr milde gelächelt? Faraday wusste nicht, ob er sich das einbildete.
Mit dem Schulterklopfer und munteren Worten Riebaus, auch mit dem in seiner Erinnerung schon verblassenden Zuspruch Tatums ging Faraday still nach Hause. Er verbrachte eine zerwühlte Nacht, in der er lange hin- und herrollte wie eine falsche Perle in der Schachtel, die er als Junge in der Hosentasche getragen hatte. Irgendwann kam der Schlaf. Am nächsten Morgen wachte er als jemand auf, der einen Anfang gemacht hatte. Es war ihm nicht gänzlich misslungen.
Er band Bücher. Man erzählte sich, Buonaparte sei in Flushing gesehen worden, von der holländischen Insel Cadsand kommend, und habe sich also zum ersten Mal dem Element anvertraut, das die Engländer seit seiner Flucht aus Ägypten dominierten. Die von englischen Geschossen im Vorjahr in der Hoffnung, bis Antwerpen und Paris marschieren zu können, zerstörten Hafenanlagen hatte er begutachtet. Man erinnerte sich noch lebhaft an die Proteste General Monnets bei Lord Chatham, aber auch an die hohen eigenen Verluste und den Rückzug. Von einem in der Nähe segelnden englischen Schiff habe man Buonaparte beobachten können, und die Reparaturen der Franzosen seien sicher bis zum Sommer, auf jeden Fall noch vor Jahresfrist abgeschlossen.
Buonapartes Urteilskraft blieb angeblich hinter seinen Ambitionen zurück während der zwei Jahre, in denen Faraday Tatums Vorträge besuchte und in denen Russland angeblich mit einer Stimme sprach: Alexander würde ermordet, hieß es, suchte er weiter Frieden.
Einer der Kunden und Freunde Riebaus, George Dance der Jüngere, hatte von Faradays Vortrag gehört. Dance der Ältere war Mitglied der Royal Institution. Der Jüngere wusste auch, dass Faraday seit sieben Jahren Unterricht in Sprechtechnik nahm, und Zeichenstunden bei Masquerier, dem Faraday die Schuhe putzte. Dance wusste, dass Faraday jeden Sonntag in den Gottesdienst der Sandemanier ging und seine Freunde bat, umstandslos seine Aussprache und Grammatik zu korrigieren, wo immer er Fehler machte.
In der für ihn typischen aufgekratzten Art zeigte Riebau an einem Winterabend Dance die Aufzeichnungen seines Lehrlings. Dance nahm das Buch langsam an sich, blätterte durch die Seiten und verweilte hier und da. Liebe war in diesen Seiten. Als er in Richtung des Lehrlings blickte, der sich an einem selbstgebauten Elektrisierer zu schaffen machte, hob Dance eine Augenbraue. Faraday merkte, dass sie über ihn sprachen und sah scheu zu ihnen hinüber. Alle anderen Angestellten und Lehrlinge waren längst zu Hause am Herdfeuer ihrer Familien, wo sie Suppe löffelten und, wie es üblich war, kaum das Nötige sprachen.
»Will er einmal in einen Vortrag von Humphry Davy gehen?«
Dance hatte das laut gefragt und Faraday dabei angesehen, aber der wusste nicht, ob er antworten sollte. Dieses Recht kam nur Riebau zu, der längst an die Stelle von James Faraday gerückt war. In Faradays wie eine Sonne aufsteigender Freude über die zum Greifen nahe Möglichkeit, Davy zu sehen, aalte sich die Angst, unverschämt zu sein. Tatum mochte diskutabel gewesen sein, ein Glücksfall, unverdient. Davy war definitiv zu viel. Faraday wurde rot, sein Mund war trocken, in den Magen wurde Bitteres geträufelt: Gleich würde jemand ein Nein sagen, würde lachen, weil es doch nicht ernst gemeint sein konnte. Die aufsteigende Wut darüber machte ihm noch mehr Angst. Sein Herzklopfen war von den beiden Männern, die ihn ansahen, trotz der Entfernung sicher zu hören. Wieder verschwand die dritte Dimension, er hätte nicht gut sagen können, wie weit die beiden von ihm weg waren, aber er war an diese Ausfälle schon gewöhnt. Fast fiel er nach vorne über. Wäre er aufgestanden, er hätte sich mit der flachen Hand an einer Wand festhalten müssen. Er starrte Dance und Riebau an und zitterte und wartete auf den kapitalen Fehler, den er jetzt machen würde.
»Aber sehr wohl«, hörte er seinen Lehrherrn aus der Ferne meinen, »möchte er das.«
Sie sahen ihn weiter an, erwartungsvoll.
Er glaubte, vorsichtig zu nicken.
»Gut«, sagte Dance, offenbar freundlich und ohne Herablassung.
Der Lehrling stand auf, wankte auf die beiden Männer zu und bedankte sich mit eisigem Blick. Riebau lächelte. Dance war irritiert, ging aber höflich über die kühle Bedankung weg. Faraday verabschiedete sich ebenso kalt.
Auf dem Weg nach Hause spülte frische Luft durch seinen Kopf, und die Straßen sahen anders aus als zuvor. Gelassener, abwartend, gutmütig schaukelten sie jetzt durch seine unsicheren Schritte. Die Menschen schienen ihn selbstverständlich zu grüßen. Er hätte gerne ein Geländer gehabt oder neben seiner Tasche noch irgendetwas anderes zum Anfassen. Mit überfließender Freude umarmte er seine Mutter und begann dabei erst zu bemerken, was los war.
4 Das Licht
»Davy wird nur noch vier Mal öffentlich sprechen«, erzählte Faraday seinem Freund Abbott, bei dem er am nächsten Sonntag nicht mehr als derselbe ankam. Abbott wusste schon, dass Davy geheiratet hatte, reich geheiratet und sich in Zukunft allein der Forschung und dem Reisen widmen wollte.
Vor Aufregung konnte Faraday kaum zuhören oder stillsitzen. Er lebte jetzt nicht mehr eingeschlossen im Moment, er fieberte auf einen kommenden hin.
Auf dem Rückweg fand er sich in einer Londoner Pfütze stehend wieder. Er habe über die Wärme nachgedacht, schrieb er noch am selben Abend an Abbott, welche die Tiere durch ihre Anstrengungen erzeugten, sei dann aber auf den Widerstand gestoßen, der bewegten Körpern von Flüssigkeiten entgegengebracht würde. Darüber hatten auch die Brüder Abbott gerade noch debattiert.
Dann, schrieb Faraday, habe er, mitten in den Überlegungen zu den Flüssigkeiten, seinen Körper vor »einem herzlichen, satten Gruß eines Abwasserrohrs in Acht nehmen müssen«.
Diese Wasserspülungen gaben ihm doch zu denken. Bis zur Blackfriars Bridge beschäftigte er sich deshalb mit Projektilen und Parabeln, und auf der Brücke fuhr der Wind in sein Gesicht. Die Neigung des Straßenpflasters war jetzt sein Thema, schiefe Ebenen, auf die der Wind traf und die Faraday hinauflief, bis er auf der anderen Seite der Brücke das tat, was man schlittern nannte! Und nun, natürlich – lieber Abbott! – stellte er Überlegungen über die Reibung an, zu denen er sofort, da er ja nun einmal das Thema im Kopf und in der Hand hatte, wenn nicht im Fuß, einige Experimente anstellte.
Geschwindigkeiten und Impulse fallender Körper kamen als Nächstes dran, sie trafen nicht nur seinen Geist, sondern auch Kopf, Ohren, Hände, Rücken und noch andere Körperteile, und obwohl er keine Apparatur dabeihatte, um genauere Messungen zu machen, war er sich doch sicher, dass es recht viele waren, so schnell wie sie seinen Mantel und andere Teile der Kleidung durchdrangen!
Das war in Holborn, und den Rest des Weges sah er nach oben, um keine Cirrus oder Cumulus, keine Stratus und schon gar keine Cirro-Cumulus oder Cirro-Stratus oder Nimbus zu verpassen, die über den Horizont kam.
Nur hoffte er jetzt – lieber Ben! –, den Freund nicht neidisch gemacht zu haben, denn so ein unangenehmes Gefühl wolle er in niemandes Brust wecken: »Ich habe ja auch nur den Gang genossen, und wäre er es nicht gewesen, der mich vom Vergnügen eurer Gesellschaft getrennt hat, so hätte ich diesen Gang selbst um des Wetters willen als gesegnet empfunden!«
Bis er am 29. Februar 1812 endlich in die kleine Albemarle Street biegen konnte, behielt er, den Kopf strikt in den Wolken, die Welt so in den Armen. Vor der Royal Institution sah er viele Männer mit hohen Hüten und junge Damen in hoch geschnürten Kleidern und mit Federn, Blumen oder Gebinden aus Stroh auf den Köpfen. Alle schienen sich zu kennen.
Ein Mann sagte zu einem anderen: »Barlow hat aber keinen großen Überblick.«
»Er hat vorzügliche Manieren«, antwortete jemand.
»Wells sagt jedenfalls, er würde die Welt nur von seinem Schreibtisch aus sehen und beurteilen.«
Ein dritter meinte, dass Lord Somers »ein echter Whig vom Land« sei: »Er macht nicht alles mit, was die selbsterklärten Whigs für Politik halten.«
»Dienen seine Söhne nicht in Spanien?« – Es war eine Frau, die das fragte, und jemand drehte sich zu dem Herrn mit den Whigs um, als Faraday um Entschuldigung bittend vorbeiging.
»Richtig«, hörte er noch sagen, musste dann vor den Stufen erneut warten. Zu viele Menschen, zu wenig Aufmerksamkeit für einen wie ihn.
Jene, die aus Kutschen stiegen, waren ausgesprochen vorsichtig, um möglichst wenig Straßendreck an Schuhe oder Kleider zu bekommen. Frauen hoben dezent, geziert und wichtig ihre Röcke mit einer Hand um wenige Zentimeter an, auch wenn sie direkt auf den Gehweg stiegen. An einen Wagen wurde vom Kutscher ein kleiner Holzsteg angelegt, dunkles, poliertes Hartholz mit einem Messingrand, das von der Stufe hinüberführte, obwohl ein normaler Schritt genügt hätte.
Man lächelte, grüßte vornehm, hob galant bekleidete Hände zum Kuss.
Faraday trug einen Frack, den er am kommenden Morgen, früh vor der Arbeit, wieder im Verleih abgeben würde. Der Hut war sein eigener, einen Stock hatte er sich gespart. Weil er beim Warten aus Verlegenheit auf die gegenüberliegende Straßenseite blickte und dann wieder zurück und aus weiterer Verlegenheit am Haus hoch, fiel ihm auf, dass die Reihe hoher, kräftiger und eng beieinanderstehender Säulen, mit denen die Front des Gebäudes versehen war, im Ungleichgewicht zur geringen Höhe des Hauses und vor allem zur geringen Breite der Straße stand. Die Fassade schien viel größer, als sie tatsächlich war, und das Missverhältnis war dasselbe wie jenes von Faradays Stand zu seinem Anliegen. Mit einer ihn bewegenden und ihm innewohnenden Kraft, die einen Ursprung haben musste, sagte er sich, dass er hier richtig war. Einmal im Gebäude, schritt er durch die Halle, und da niemand ihn ansprach, entspannte er sich.
Er war da.
An der Tür zum Vortragssaal sprang sein Gefühl in den Hals und mit dem Blick auf die steilen Ränge zwischen Hals und Brust hin und her: Er war wirklich da. Es gab diesen Saal, die Sitzbänke für das Publikum, den Tisch mit Utensilien. Es gab zwei dicke Kabel, die durch den Boden in den Keller geführt waren, wo eine Batterie aus zweitausend Plattenpaaren stand, wie jedermann wusste. Es gab Glasflaschen in den verschiedensten Größen und Formen.
Ganz in der Nähe musste auch Davy sein, der mit Lachgas Schmerzen linderte und neue Wahrnehmungen ermöglichte, der mit den großen Dichtern umging, Southey und Coleridge verehrten ihn. Er verstand Unsichtbares und machte es anderen verständlich. Er betörte Frauen wie Männer. Er hatte sich auf heute Abend vorbereitet, um ihnen allen etwas darzubieten, das neu sein würde und das fortan unter ihnen bleiben würde. Er hatte allen viel zu geben.
Und Faraday war hier. In London, seiner Stadt. Er war nur eine Meile von seinem Buchladen entfernt. Was sollte denn Zufall daran sein, dass ausgerechnet er jetzt hier war? Er wollte sich das nicht fragen, suchte sich einen Platz. Dann sah er auch George Dance, der bloß andeutend herübergrüßte, damit es erledigt war.
Davy kam, man muss sagen: Er rauschte herein.
Er sprach einfühlsam vom Sturm, der gestern in Plymouth nicht weniger als zwei Dutzend Personen auf vor Anker liegenden Schiffen verletzt oder das Leben gekostet hatte. Ein Seemann war im Hafen von Hamoaze auf dem Topmast der Salvador del Mundo gewesen, als er vom Blitz getötet wurde. Man gedachte der Toten.
Dann sprach Davy vom Licht. Er versandte Licht quer durch den Raum und spiegelte es. Standen mehrere Spiegel in bestimmten Winkeln zueinander, so verschwand das Licht auf dem Weg zwischen ihnen, statt sich immer weiter zu spiegeln.
»Rätselhaft«, sagte Davy, der umhersprang und Licht brach und über Wärme redete. Er spaltete Licht in einem Kristall in seine schönen Farben auf und warf sie an die Wand und strahlte. Er spaßte und war galant zu den Frauen, entschuldigte sich charmant bei den Männern dafür, zeigte, dass es einen Zusammenhang zwischen Licht und Wärme gab, denn eine schwarze Fläche wurde im Licht warm, eine weiße nicht, ein Spiegel schon gar nicht. Bei jeder abgegebenen Erklärung gab er selbst Wärme ab, ließ sich von der Plausibilität seiner Argumentationen begeistern und fragte gerne und oft: »Ist das nicht wunderbar?«
Schließlich sprach er über Sir Isaac Newton und seine Idee vom Licht: »Licht ist ein Strahl aus Teilchen.« Schließlich sei der Schatten scharfkantig, der Lichtstrahl also gerade wie Regen bei Windstille oder der Schuss aus dem Gewehr eines Scharfschützen. Alle dachten an den Franzosen, der Nelson getötet hatte, denn Scharfschützen hatte es vorher nicht gegeben. Davy fuhr unbeirrt und durchdringend damit fort, dass die Geschwindigkeit des Lichts nicht unendlich, sondern endlich sei, wie es nur für Körper gelte.
»Nur Huygens«, holte er dann mit sichtbarer Freude aus, »meinte schon immer etwas anderes.« Und man lebe nun in diesen Zeiten, in denen Widerspruch zu einer solchen Mode geworden sei, dass nicht mal Newton verschont bleibe: »Huygens hat jetzt viele neue Anhänger gefunden. Sie wenden zum Beispiel ein, dass besonders der gerade Strahl gegen Teilchen spreche, denn auf dem weiten Weg von der Sonne durch das Weltall und die Atmosphäre bis durchs Fenster hier auf diese Hand zu kommen, ohne an etwas zu stoßen«, Davy hatte die linke Hand erhoben, auf die er mit der rechten zeigte: »Das ist doch sehr unwahrscheinlich, oder?«
Er strahlte: »Vor allem, wenn sich jedes Lichtteilchen inmitten von vielen anderen parallel fliegenden Lichtteilchen befindet und die Kollision eines einzigen mit einem wie auch immer gearteten Gegenstand, einem Teilchen der Luft etwa oder einem anderen Lichtteilchen, sofort große Unordnung und mehr stiftet.«
So seien die Gegner Newtons der Meinung, die Lichtteilchen müssten sich schon durch Abermillionen von Kollisionen immer auch in den Bereich bewegen, in dem aber nun mal Schatten sei.
»Plötzlich muss man also erklären«, sagte er strahlend, »woher der Schatten kommt!«
Die Anhänger von Huygens hätten nun erklärt, dass sehr schnelle, sehr kurze Wellen bei einem Objekt, das viel größer sei als die Länge der Welle, nie in den Schatten einträten. »Und es stimmt«, sagte er, »die Wasserwellen einer Ente kommen um ein Dampfboot nicht herum, die Wellen eines anderen Dampfbootes schon.« Licht müsse also wohl eine Welle sein und kein Teilchen, das niemals ewig geradeaus fliegen könne.
Um Faraday herum wurde es unruhig.
»Nur«, strahlte Davy tatsächlich noch mehr: »Was wissen wir schon über das Lichtteilchen? Schnell ist es. Gut. Aber wie klein? Und wie leicht?« Und wie sehr der Nebel Streulicht erzeuge, wüssten doch die Londoner auch zu gut.
Er freute sich über das aufkommende Gelächter, dämpfte es aber mit einer waagerecht ausgestreckten Hand schnell und stellte wieder vollständige Ruhe her: »Und wie war das noch mal unter Wolken?« Er ging zum Fenster und sah in den verhangenen Himmel. »Unter Wolken kann ich nicht mal den Sonnenstand ausmachen.«
Gelächter.
Newtons Gegner hätten nun trotzdem unbeirrt festgestellt, wie viel dafür spräche, dass Licht aus Wellen gemacht sei, ähnlich wie man sie vom Schall in der Luft, Wasser oder Metall kenne. Tatsächlich, und jetzt wurde er ganz ruhig und ernst, gebe es schon das eine oder andere gut klingende Argument: »Ein Haar zum Beispiel, Ladies and Gentlemen, ein Haar können Sie mit bloßem Auge sehr gut sehen.«
Er ging in den Mittelgang, stieg ein, zwei Stufen hoch und graste das Publikum nach Blickkontakten ab: »Aber einen Schatten ... einen Schatten hat es nicht.« Er drehte und ging wieder hinunter und sagte sehr laut: »Was Sie auch anstellen mit Ihrer Lichtquelle, die natürlich nicht breiter sein darf als ein Haar, denn sonst leuchten Sie von links und rechts hinter das Haar«, er hatte sich wieder dem Publikum zugewandt: »Niemals bekommen Sie vom Haar einen geometrischen Schatten.«
Der erste Eindruck könne eben sehr täuschen, erklärte er langsam, ließ sich Zeit und setzte dann nach: »Hinter einem Haar sieht die Welt anders aus, sie ist nicht gerade.«
Er wolle beim nächsten Mal genauer zeigen, dass das dem Lichtteilchen gar nichts anhabe.
»Heute zeige ich Ihnen noch schnell etwas anderes, ebenfalls sehr, sehr Rätselhaftes, etwas sehr Einfaches und sehr, sehr Schönes.«
Er nahm einen durchsichtigen faustgroßen Quader, der unbeachtet auf dem Tisch gelegen hatte, und ließ ihn mit einem von ihm beschriebenen Zettel im Publikum herumgehen.
»Calcit«, erklärte er, »ein ganz besonderer Kristall.«
Auf dem Zettel stand LICHT, und man sah das Wort durch den Kristall doppelt: »Als ob es das Licht plötzlich zweimal geben könnte«, meinte er nun äußerst zufrieden: »Vielleicht ist es einmal ein Teilchen und einmal eine Welle, und sie mögen sich wie Katze und Hund? Aber nein, zwei Theorien können nicht gleichzeitig richtig sein«, begeisterte er sich und begeisterte damit das Publikum.
»Und Newton?«, fragte jemand unbeabsichtigt laut.
»Hat bislang noch immer Recht behalten«, sagte Davy sehr froh, und plötzlich hatte er sich verabschiedet und war weg.
War schon die Zeit um?
Faraday hatte alles mitgeschrieben, und was er nicht wissen konnte: Davy war das bereits an diesem Abend aufgefallen.
Auf der Treppe fragte ein Mann, was denn da schwinge bei der Lichtwelle, die Luft könne es nicht sein, schließlich gehe es auch durchs Vakuum.
»Wie?«
Das Licht, meine er.
»Der Äther«, antwortete sein Begleiter, und Faraday, weil er leicht war und schnell auf der Treppe, hörte nur noch die Gegenfrage: »Der ... was?«
Unten sagte einer, der sich gerade eine Zigarre anzündete, kopfschüttelnd und belustigt: »Also, das glaube ich ganz bestimmt nicht ...«
Seine Frau überlegte, ob Huygens Franzose sei.
Ihr Mann war amüsiert: »Niederländer!«
5 Henri de la Roche
Zu Hause und in der Buchbinderei fertigte Faraday wieder akribische Aufzeichnungen an. Riebau war bereits jetzt sicher, ein Genie ausgebildet zu haben, und schrieb einen Aufsatz über ihn und seine Entdeckung eines Genies. Er sagte jedem, der es wissen wollte, und auch allen anderen, dass man von diesem Jungen noch hören werde. In ein paar Jahren. Spätestens.
Das änderte nichts daran, dass die Lehrzeit ablief. Faraday musste sich eine Anstellung suchen. Als Tutor bewarb er sich an einer Schule, die Stelle war öffentlich angeboten worden. Er wurde aber abgewiesen, und im selben Brief an Abbott, in dem er anfangs vor Begeisterung platzte, dem ersten aller Briefe, schloss er mit »einem Anfall von Verärgerung«, denn er habe keine Fähigkeiten in Mechanik, wisse nichts von der Mathematik, noch weniger von der Messtechnik. Hätte er doch bloß diese statt nur die anderen Wissenschaften studiert! Dann hätte er jetzt vielleicht eine Stelle, hier in London, mit fünf-, sechs-, sieben- oder gar achthundert Pfund im Jahr: »Ach, ach das Nichtkönnen!« Schließlich, weil das »Papier alle, die Feder abgenutzt« war, wünschte er seinem Freund »einen guten Tag«.
Was er fand, war eine Stelle als Buchbinder bei einem weiteren französischen Emigranten, Henri de la Roche. Dort bekam Faraday anderthalb Guineas pro Woche, aber mit dem Experimentieren war es aus. Kein Hinterzimmer, keine Verheißungen, keine Substanzen mehr, die Faraday mischte und kochte und mit Batteriestrom zerlegte. Keine Batterien mehr. Kein Rennen ans Fenster, wozu ihn schon die kleinste Verunreinigung der Luft immer zwang. Dafür ab und zu ein Wutausbruch vom »sehr passionierten« De la Roche.
Wochenlang fügte Faraday Bücher aus Papierstapeln zusammen, er siedete lustlos Leim, schnitt Leder und bastelte Prägevorrichtungen, mit einem Einfallsreichtum, handwerklichen Geschick und einer Hingabe, dass sein neuer Herr in Bewunderung verfiel. Bald bot De la Roche ihm sein gesamtes Erbe an, wenn er nur bliebe: »Da ich kein Kind habe, sollst du, wenn du bei mir bleibst, alles haben, was ich habe, wenn ich nicht mehr da bin.« – Besitzend würde er sein, vermögend: Faraday, Sohn des Grobschmiedes James Faraday aus Outhgill. Ein Ladenbesitzer, ein Buchhändler.
Es war nicht, was er wollte. Und De la Roche ahnte nicht: Es war für Faraday sogar indiskutabel.
»Handel ist ein Laster«, ließ er Abbott im flackernden Licht einer Öllampe mit gedämpfter und doch drängender Stimme wissen, »etwas Selbstsüchtiges, während der Dienst an der Wissenschaft liebenswürdig und aufgeschlossen macht.«
Der Handel war ihm »zuwider«.
Statt das Angebot anzunehmen, das ihn aus der Misere befreit hätte wie keinen anderen seines Alters, schrieb er einen Brief an Joseph Banks, den Präsidenten der Royal Society. Gott weiß, wie er darauf kam.
Faraday bat um eine Anstellung in der Wissenschaft, »wie niedrig auch immer«, selbst wenn er nur fürs Waschen und Schrubben der Flaschen zuständig sein würde.
Banks hatte Thomas Cook finanziert, war mit ihm um die halbe Welt gesegelt. Er hatte eine weltbekannte Botaniksammlung aufgebaut. Als Präsident der ältesten Wissenschaftlichen Gesellschaft der Welt war er ein Nachfolger Sir Isaac Newtons. Was Faraday nicht wusste: Banks war ein Despot.
Statt sich zu sorgen, was er da gemacht hatte, ging Faraday mehrmals zum Strand hinüber und fragte den Pförtner des Somerset House, ob eine Antwort vorliege. Zweimal negativ. Was ihn nicht abhielt, nach wenigen Tagen erneut zu fragen. Der Pförtner, der ihn jetzt schon kannte, stand schon von seinem Stuhl auf, als er ihn näher kommen sah, sodass Faraday erschrak. Plötzlich hielt er einen Umschlag in der Hand, was ihn freute, sorglos riss er ihn unter den aufmerksamen Augen des Pförtners auf, um nervös den Zettel auseinanderzufalten, auf dem stand: »Ihr Brief bedarf keiner Antwort.«
Er sah dem Pförtner abermals in die Augen, und jetzt war es dieser, der erschrak. Faraday wandte sich ruckartig von ihm und seinem Blick ab und lief unter stoßenden Schritten, mit nach vorne gelegtem Oberkörper zwei oder drei Stunden durch London. – Die Royal Society? Nicht einmal dem Pförtner würde er in diesem Leben ein zweites Mal begegnen können.
Dann ging er nach Hause, ging schlafen, ging am nächsten Morgen zu Arbeit. Er räumte die Werkstatt auf, De la Roche wunderte sich über seine Wortkargheit. Nachts fertigte er die vierte Version der Abschrift an, die Davys Vorträge zusammenfasste, illustrierte und ausformulierte. Er brachte sie zu Abbott, der sie durchsehen sollte.
Während Abbott das tat, schrieb Faraday ihm: »Was ist das Längste und das Kürzeste in der Welt, das Schnellste und Langsamste, das Teilbarste und das Ausgedehnteste, das am wenigsten Geschätzte und das am meisten Bedauerte, ohne das nichts getan werden kann? Das alles Kleine verschlingt und allem Leben und Geist gibt, was groß ist? Es ist das, guter Abbott, dessen Entbehrung meine Antwort auf deinen wunderbaren Brief verzögert hat, es ist, was der Schöpfer als so wertvoll erachtet, dass er uns Sterblichen niemals zwei auch noch so kleine Portionen auf einmal gewährt, und was mir jetzt, im Moment, endlich einmal zur Verfügung steht: Es ist Zeit.«
Er schrieb an Riebau, denn nun wollte er niemand Geringeren als Humphry Davy sprechen. Riebau bestellte ihn ein, und in seinem Laden traf er George Dance, der schon zu einem vergangenen Leben zu gehören schien, jenem, das Faraday jetzt nicht mehr führte und vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, nie wieder führen würde. Ungerührt empfahl Dance, die Mitschriften Davy übergeben zu lassen.
Faraday band sie in schweres Leder, prägte goldene Buchstaben darauf. Zu Hause legte er sie auf den Tisch. Dann sah er sie sich lange an.
Er würde Buchbinder sein.
Das war sein Aufstieg. Es war mehr, als jeder erwartet hatte, mehr als irgendwer erwarten konnte. Warum sollte es noch mehr geben, für ihn? Er würde De la Roches Erbe werden. Er würde zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang Bücher binden, er würde Laufburschen einstellen und Lehrlinge, die heimlich rauchten und, sobald er wegsah, sich flache Witze erzählten und Papier stahlen, um Strichmännchen in sexuellen Stellungen zu zeichnen. Er würde im Hinterzimmer sein Geld zählen, hoffen, dass die Franzosen nicht kamen, und wenn im Vorraum jemand seinen Namen sagte, würde er unverzüglich aufstehen und freundlich sein. Er würde Kunden bedienen, ihnen Bücher empfehlen und die Zeitung lesen, denn er würde über Politik reden müssen. Er würde vor den Laden treten, und wenn eine Kutsche im Regen vorbeisprengte, würde er zurückweichen. Wenn er in den Laden käme, stünden da die Bücher und lagen und lehnten aneinander wie innige Freunde, die es mit ihm nicht gut gemeint hatten, die ihn nur einmal, als er jung war, auf den Arm genommen hatten, um den Rest seines Lebens darüber zu lachen. Er würde sie nicht mehr lieben können. Er wäre ein Hund.
»Im Moment bin ich«, schrieb er Abbott im Oktober, als ein verregneter Winter sich über den verregneten Sommer zu legen begann, »in einer so ernsthaften Stimmung, wie es nur irgendwie möglich sein kann.« Ohne Bedenken würde er »jedem Menschen die Wahrheit sagen, wenn sie auch noch so viel Abneigung erzeugte«.
Eigentlich sollte er in diesem Zustand nicht schreiben, meinte er, doch wisse er auch, dass der Freund sich die meiste Zeit mit ernsthaften Dingen beschäftige und alles Leichtfertige abweise.
»Umso dankbarer bin ich für den Platz, den ich in deiner Gedankenwelt einnehmen darf, wie es dein letzter Brief beim genauen Durchlesen zeigt, der auch die gute Meinung, die ich über dich habe, so erfreulich bestätigt.«
Tatsächlich habe er weniger Zeit als zuvor. Er sei sich sehr genau des schlechten Einflusses der Umstände bewusst, aber dankbar gegenüber wem immer Dankbarkeit dafür gebühre, dass er kein übermäßiger Genießer zufälliger Freuden sei, wie sie ihm als Menschen nahegelegt seien: »Ich meine die Gesundheit, die Sinneseindrücke oder verfügbare Zeit.«
Abbott solle ihn richtig verstehen: »Ich bin mir meiner Natur sehr bewusst«, schrieb er, ohne abzusetzen: »Sie ist böse, und ich fühle ihren starken Einfluss – ich weiß das –, aber ich finde, ich gleite ohnmächtig in einen Zustand von Göttlichkeit, und da solche Dinge nicht leichtgenommen werden dürfen, so will ich nicht fortfahren.«
Er werde, fuhr er stattdessen fort, einfach nur bestimmte Stunden aufsparen und sich keinen Vergnügungen hingeben, die dem eine schlechte Ehre erwiesen, dem er Ehre erweisen sollte. Er versuche zu sein, was die Welt gut nenne. Er erscheine moralisch und hoffe es zu sein, und doch betrachte er Moralität nur als einen »beklagenswert unzulänglichen Zustand«.
Froh sei er über die genauen Überlegungen seines Freundes zur Vorsicht bei neuen Bekanntschaften, und er habe keine Scheu zu sagen, dass »ich dich lange und genau geprüft habe, bevor die Zweifel in meiner Brust befriedigt waren, und ich nun glaube, dass sie alle zerstreut sind«.
Urteilsvermögen und guter Wille seien oft im Gegensatz, und zwar im starken Gegensatz zu Leidenschaft und Wünschen: »Dass wir niemals die ersteren für die letzteren aufgeben, ist der ernsthafte Wunsch deines Freundes.« Und was wirkliche Freundschaft ausmache, führte er dann aus: Sie sollte sich an den Regeln eines überlegenen Wesens orientieren.
Den Antwortbrief sollte er zusammen mit allen Briefen, die Abbott ihm je schrieb, vernichten. Die Aufzeichnungen zu Davy aber nahm er schließlich vom Tisch und brachte sie zur Royal Institution, wo er sie dem Pförtner übergab, der nichts von seinem Kollegen in der Royal Society wusste: Möge er sie, so bat er, bitte Professor Davy geben.
»Professor Davy.« Der Pförtner wollte sich nur vergewissern.
»Ja, Sir, bitte Professor Humphry Davy.«
»Natürlich.« Beide bedankten sich umständlich und sandten ihre freundlich gemeinten Gesten, ein gequältes Lächeln von Faraday, ein so wohlmeinendes wie irritiertes vom Pförtner, aneinander vorbei.
Das Frappierende war: Die Antwort brauchte nur einen Tag. Am 24. Dezember 1812 fuhr ein schwerer Wagen in der Weymouth Street vor und hielt an. Margaret Faraday sah wie viele ihrer Nachbarn aus dem Fenster, weil man am Geräusch erkannte, dass es keine normale Kutsche war. Diese hier war langsamer als gewohnt, sie quietschte nicht. Überall Messing. Der Kutscher arretierte die Bremse, sprang auf die Straße, vergewisserte sich noch einmal, dass dies die richtige Adresse war, indem er erneut und verwundert auf seinen Zettel sah und dann auf das Haus. Als er an der Tür stand und klopfen wollte, öffnete sie sich wie von allein, die Knöchel des Kutschers schwangen ins Leere, aus dem ein junges Gesicht auftauchte.
Faraday nahm den Brief nickend entgegen, der an P. Faraday adressiert war: »Ja«, er sei der Empfänger.
Der Kutscher empfahl sich.
Diesmal öffnete Faraday den Umschlag langsam und hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, denn ein Gefühl, das jetzt folgen konnte, war ihm schon bekannt.
»Mein Herr«, schrieb Professor Davy, der Held von ganz London, »ich bin weit davon entfernt, Ihr Vertrauen, das große Begeisterung, großes Erinnerungsvermögen und große Aufmerksamkeit beweist, zu missbilligen.«
Faraday beobachtete sich, wie er mit dem Briefbogen in der Hand ins Haus ging, einen Fuß traumwandlerisch voraus, wie er mit der Hand die Tür hinter sich schloss, wie er die Treppenstufen hochging, langsam, eine nach der anderen, ohne den Blick von den Zeilen zu nehmen. Mit der Hand am Treppenlauf entlangfahrend, las er: »Ich muss die Stadt verlassen und werde nicht vor Ende Januar zurückkehren: Dann treffe ich Sie gern, wann immer Sie es wünschen.«
In seinem Rücken blähte sich der Buchhandel wie eine Einbildung, in die der Wind fährt, denn der zweite Absatz lautete: »Es würde mich freuen, Ihnen zu Diensten sein zu können. Ich hoffe, es ist mir möglich.« Der Traum De la Roches war geplatzt.
Faraday kam in der Küche an, als er die Floskel las: »Ihr ergebener, bescheidener Diener, H. DAVY.«
Seine Mutter sah ihn fragend an, und Faraday gab ihr den Brief, den er in der Hand eines herunterhängenden Armes gehalten hatte, mit abwesendem Blick. Sie las ihn, lächelte, gab ihm den Brief zurück und wandte sich wieder ihrer Kochmaschine zu. Sie hatte es ja immer gewusst, und sie hatte es auch gemeint, wenn sie »mein Michael« sagte.
Sie aßen zu Abend, als ob nichts geschehen war.
6 Humphry Davy
Das zweite Mal kam der Kutscher früh im Februar. Buonaparte war am russischen Geist zerschellt. Die Grande Armée hatte eine Spur des Hungers, der Bakterien und blutigen Füße in Schnee, Eis und Matsch zwischen Moskau und der Memel gelegt, eine Straße aus Toten, die in Zigtausenden gezählt wurden. Jeder Zehnte hatte es zurück bis Paris geschafft. Täglich erschienen neue Berichte über die Niederlage des verkleidet in einer einzelnen Kutsche nach Paris geflohenen Kaisers und seine jetzt schwache Stellung.
Davy hatte in der Albemarle Street zwei Stühle an das große Fenster in der Vorhalle stellen lassen und gab sich unförmlich, aber kühl, als Faraday von einem Mann, den der Pförtner gerufen hatte, nach oben begleitet worden war. Davy trug eine Augenbinde, schon im Herbst hatte er sich ein Auge verletzt.
»Setzen Sie sich doch.«
Machte er.
»Sie haben viel Enthusiasmus, junger Mann.«
Ja. Na ja, das wusste er schon.
»Meinen Respekt habe ich Ihnen bereits bekundet.«
Zugegeben. Schadete denn eine Wiederholung unter vier Augen?
»Eine Stelle«, sagte er langsam und forschte in Faradays Gesicht, »da muss ich Ihnen sagen, so etwas gibt es gar nicht bei uns.«
Ach so.
»Mehr als meine Sympathie kann ich Ihnen deshalb gar nicht anbieten.«
Sympathie. Natürlich. Was hatte er sich auch gedacht? Eine Anstellung? Für ihn? Das musste eine Einbildung gewesen sein, da hatten wir es wieder. Irrige Vorstellungen, die ihn bei Riebau heimgesucht und verzogen hatten. Er würde natürlich auch ins Gefängnis kommen, wie Richard Brothers, wäre nicht alles hier nur seine Einbildung. Die Stühle zum Beispiel, das Fenster, London da draußen. Alles seine Einbildung. England gab es nicht. Er war auch nie Buchbinderlehrling gewesen oder hatte einen Vortrag besucht oder einen Brief bekommen von dem Herrn, der ihm gegenübersaß.
Davy lächelte: »In den nächsten Jahren wird sich das auch nicht ändern. Leider.«
»Natürlich«, sagte Faraday, und Davy fügte an, dass er wünschte, es ändern zu können, es stehe aber nicht in seiner Macht. Faraday hatte genickt, er hatte auch, wenn er sich recht daran erinnerte, noch einmal »Ja« gesagt und »Ich verstehe«.
Aber weshalb hatte Davy die mangelnde Macht bedauert? Wer wollte hier schon arbeiten? Davy lächelte, und Faraday hörte ihn schon fragen, ob er, Faraday, sich nicht vielleicht besser aus dem Staub machen wolle.
»Mein lieber, junger, ahnungsloser Freund«, hörte Faraday ihn schon sagen, und sah ihn so feindselig an, dass Davy sich das sparte. Er lächelte aber zufrieden.
Faraday war schockiert, was dieser Mann sich auf die Entdeckung des Chlors einbildete, auf den Beweis, dass es ein Element war. Oder auf die Entdeckung des Natriums seinetwegen oder die des Kaliums. Oder auf die von Calcium, Magnesium, Strontium oder Barium, oder vielleicht auf die Copley-Medaille, auf seinen frischen Ritterschlag, seine Professur, die er arroganterweise und leichtfertig zurückgegeben hatte, um die Institution zu verlassen, um zu reisen, um ein Genießer zu werden, statt sich der Institution und ihren hohen Aufgaben zu widmen. Oder womöglich auf seine Frau, die er ganz neu hatte, dachte Faraday, als er auf der Straße war und lief, Lady Jane Apreece, jetzt Davy, und die der farbigste Vogel in ganz London zu sein schien und sehr reich war und den Titel mitgebracht hatte, den er trug.
Faraday hatte das alles nicht nötig. Er würde es auch nie nötig haben. Oder war es doch nur sein Lächeln, auf das Davy sich so viel einbildete? Weil es kein Ende und also auch keinen Grund zu haben schien. Wieso lächelte dieser grobschlächtige Mann immer so?
Dass Faraday sich förmlich korrekt von Davy verabschiedet hatte, war reine englische Kunst. Davy lächelte, na schön, er war halt ein Lächler. So etwas gab es. Zum Glück hatte Faraday quasi gar nichts gesagt, er hatte keine Schwäche gezeigt.
Abends ging seine Mutter ihm aus dem Weg. Auch sein Bruder sprach nicht viel mit ihm. Am nächsten Morgen gab es gröbsten Streit mit De la Roche, weil Faraday einen Topf Pigment umstieß, und es fehlte nicht viel, dass der Buchbinder dem Buchhändler in gleicher Lautstärke geantwortet hätte. Dann wäre er seine Anstellung los gewesen.
Von der folgenden Woche an aber bestellte Davy seinen Jünger regelmäßig ein. Zum Briefeschreiben. Er selbst sah ja wegen der Verletzung schlecht und diktierte Faraday daher seine Korrespondenz. Wenn Faraday die Feder weggelegt hatte, dann suchte und korrigierte Davy die Fehler. Wenn er keine fand, was oft vorkam, schrieb er den Brief hier und da etwas um, wozu er die Zeilen von Faraday einfach durchstrich und in sehr schlechter Handschrift andere Worte oder Satzteile hinzufügte, ohne Hilfe zu benötigen. Einmal winkte er nach dem Durchlesen auch ab und knüllte das liebevoll beschriebene Papier einfach zusammen, um es in den Kamin zu werfen und Faraday, wenn auch nur sehr kurz, anzulächeln.
Es kam nicht wieder vor. Beim nächsten Mal wartete Davy, bis sein Schreiber unter zeitraubender Formulierung von Komplimenten, Danksagungen und Bezeugungen der Verehrung gegangen war, bevor er den misslungenen Brief verbrannte.
Bei De la Roche nahm Faraday sich für diese Stunden frei, unter Protesten des Buchhändlers, die bald die Grenze des Akzeptablen überschritten. De la Roche brüllte, wenn Faraday mit dem Versprechen ging, die liegen gebliebene Arbeit nachts zu erledigen. De la Roche brüllte, dass er sein Angestellter sei.
Hatte der Mann, der Buchhändler war, nichts vom großen Humphry Davy gehört? Dass der ein sich selbst schreibendes Buch war? Eines, das nie, niemals aus der Mode kommen würde? War es nicht die größte Ehre für einen Buchbinder, Hand anlegen zu dürfen, wie minimal und fehlerhaft auch immer?
Abbott hörte Gerüchte: Davy würde England verlassen. Er wolle in Paris die Goldmedaille annehmen, die ihm von Buonaparte vor dem Russlandfeldzug zugesprochen worden war, trotz des Krieges: »Oder gerade deswegen.« Dann wolle Davy angeblich reisen, Rom, Istanbul, ein paar Jahre seien veranschlagt. Istanbul war in Asien. Unsicher natürlich, ob er lebend zurückkäme, in Asien gab es jede Menge Krankheiten. Das war nicht London.
Das dritte Mal kam der Wagen Ende Februar in die Weymouth Street 18. Diesmal klopfte der Kutscher an der Tür, wieder war es abends, diesmal schon spät, und das Papier, das Faraday nun in der Hand hielt, bat um seinen Besuch in der Institution für den folgenden Morgen. Faraday gab sich ruhig.
Er erwachte früh. Es war noch dunkel und regnete. Er war nicht in seinem Bett, sondern vor einer Reihe dicker und für ihren Umfang nicht sehr hoher Säulen an das Rad eines Wagens gebunden worden, aufrecht stehend, die Handfesseln über dem Kopf befestigt, vor Publikum. Er war ausgepeitscht und, schlimmer noch, ausgelacht worden, er erinnerte sich daran. Er konnte die Füße bewegen, aber nicht weglaufen, zum Hinsetzen waren die Hände zu hoch angebunden, gerade stehen konnte er wegen der Achse in seinem Rücken nicht. Er hatte nichts als ein weißes Hemd an, das gerade über den Hintern reichte und seine Scham bedeckte, sie aber bei zu raschen Bewegungen oder einem Windstoß freigab oder wenn er versuchte, sich in das Seil zu hängen, um für einen Moment die Beine und den Rücken zu entlasten, die sich anfühlten, als habe jemand reinen Alkohol oder Säure hineingefüllt.
Das Publikum war gegangen und hatte ihn allein gelassen. Einer hatte sich beim Weggehen noch einmal halb umgedreht und gerufen, bis Montag werde man den Hochstapler nach Newgate schaffen, dann war, abgesehen vom Hall dieses Satzes in seinem Kopf, Ruhe gewesen. Jetzt schmeckte er den Regen, bis eine hohe Welle von Süden aus die Albemarle Street heraufkam und ihn mit dem Unrat wegspülte.
Das Wasser war nicht unangenehm, lauwarm, als er aufwachte, und im Strudel hatte sich der Knoten gelöst. Faraday rieb sich die Handfesseln, an denen keine Spuren waren. Der Geruch von nasser Erde hing im Zimmer. Der Versuch, sich mit der Nase zur Wand zu drehen und wieder einzuschlafen, misslang. Er war wach, als hätte er kalt geduscht.
Zwei Monate war es her, dass er Davy geschrieben und ihm seine Aufzeichnungen überlassen hatte.
Ohne seinen Bruder zu stören, stand er auf und ging in die Küche, wo er Tee kochte. Die Uhr war stehen geblieben. Er blätterte in einigen Büchern, konnte sich aber nicht konzentrieren, sodass er beschloss, trotz Regen einen Spaziergang zu machen.
Vier Stunden später war er Angestellter der Institution.
Davy, der zwar nicht mehr fest am Haus war, doch den Titel eines Honorarprofessors trug und als ehrenamtlicher Direktor des Labors und der Mineralischen Sammlung bestellt war, hatte ihn als Ersatz für den Laborhelfer Payne vorgeschlagen. Der hatte sich mit dem Instrumentenbauer gestritten und war dabei handgreiflich geworden. Man hatte Payne sowieso nicht gemocht, und als Nachfolger von Davys Bruder John hatte er nie gute Karten gehabt.
»Eine Prügelei wird nicht debattiert«, meinte Davy und sah Faraday lange ruhig an. Was Davy jetzt wieder wollte, fragte Faraday sich und versuchte, diesen Gedanken zu fressen. Davy mochte die Ungehaltenheit und noch mehr, dass Faraday nicht ahnte, wie sehr sie zu sehen war.
»Bleiben Sie bloß beim Buchbinderhandwerk«, sagte der Professor grinsend und ignorierte den verärgerten Blick seines Schülers: »Die Wissenschaft ist eine sehr raue Geliebte.«
Faraday brummte ein »Hm«, das zustimmend klingen sollte, aber lustlos war.
Das störte Davy überhaupt nicht: »Sie können sich ihr verschreiben, aber belohnen wird sie Sie kaum dafür.«
Mit feuerrotem Gesicht musste Faraday sich zusammenreißen: »Der Wissenschaftler«, brachte er hervor, »lernt dafür, die moralisch besseren Gefühle zu kultivieren.«
Davy konnte erstaunlicherweise noch sehr viel breiter lächeln, als er bis jetzt gezeigt hatte. Er platzte geradezu vor Freude: »Gut. Ich überlasse es Ihrer Erfahrung der kommenden Jahre, das zu beurteilen.«
Sehr freundlich, dachte Faraday und lehnte sich zurück, als sei alles, statt am Anfang, bereits vorbei. Davy hatte es geschafft: Der Spaziergang im Traum war vorbei. Alles war ihm egal. Er hätte genauso gut Schmied oder Kutscher sein können, lieber sogar, als sich hier herumkommandieren und sagen zu lassen, was er zu fühlen habe. Mit dem selbstsicheren, penetranten Lächeln hörte Davy aber keineswegs auf.
»Sie können Laborassistent werden«, sagte er langsam.
Faraday war im Moment, in dem er sein Ziel erreicht hatte, einer Empörung nahe, wie er sie kaum von sich kannte, und er wollte sie auch nicht kennen. Vielleicht würde Davy ihn nun in Ruhe lassen. Beim Blick aus dem Fenster hatte sich nichts verändert. London, die freigiebige Mutter, zeigte Gleichmut.
»Das musst du selbst wissen«, würde Margaret Faraday sagen, nicht ohne Stolz. Riebau würde sagen, es sei nur ein logischer Schritt getan worden, ein erster Schritt. Einige langsam gesprochene Sätze später stand Faraday auf, die beiden Männer verabschiedeten sich in eine gemeinsame Zukunft.
Vor dem Haus sah Faraday in den Himmel. Dann bog er gleich rechts herum, ohne auf die Straße zu sehen. An der T-Mündung ging er wieder rechts, in die Grafton, dann links und rechts in die Clifford, ohne Ziel, und erst sechs bis sieben Hausecken weiter hielt er kurz an und überlegte, wohin er musste.
De la Roche schwieg als Antwort auf die Neuigkeit, und Faraday hätte sich nicht gewundert, wenn er tätlich angegriffen worden wäre: Dass dieser junge Bursche sein Erbe zurückweisen würde! Der Ladeninhaber aber drehte sich nur weg und hieß Faraday mit einer Handbewegung, das Geschäft zu verlassen. Auf den ausstehenden Lohn verzichtete Faraday. Er hatte längst überall verlauten lassen, »dort nicht bleiben zu können«.
7 Die Royal Institution
Detailliert verhandelte Faraday seinen Vertrag. Das Gehalt betrug im Ergebnis fünfundzwanzig Schillinge die Woche, er bezog zwei Räume unterm Dach. Sie hatten nur auf ihn gewartet. Seine Aufgabe war mit »oberstem Flaschenspüler« sehr gut umrissen, sodass sich die moralische Überlegenheit noch in Grenzen hielt. Aber er war im Paradies. Er würde eigene Experimente machen dürfen, wenn das Labor frei war.
Am ersten März betrat er morgens das Labor im Keller der Institution. Vorsichtig ging er zwischen den Tischen umher, auf denen Schalen, Gläser und Tröge standen. Hier glänzte silbrig eine Pfütze Quecksilber, dort wuchsen Kristalle aus einer Säure die Wände ihres Behältnisses empor. Eine Art Pfeife befand sich auf einem der Tische, Nebel stand in ihrem senkrechten gläsernen, nach oben offenen Rohr. Nichts fasste er an. Es roch nach Wissen und nach Wollen und nach Können. Die Luft schmeckte gut auf der Zunge, vielfältig, und würde jeden Tag Neues bringen. Er würde sich in diesem Keller nicht enttäuschen.
Einige Tage lang half er John Powell einen Vortrag vorzubereiten, in dem es um Rotationsbewegungen ging. Powell redete viel über Flachs, dass man ihn wohl auch in England anbauen könne und dann Russland Konkurrenz mache, es sei bald egal, wer da regierte.
An Abbott schrieb Faraday, er habe mit Davy Zucker aus einem Stück Roter Beete isoliert, warum auch immer. Sie probierten den Sprengstoff aus Chlor und Stickstoff erneut aus, der Davy schon einmal verletzt hatte, und es gab »mehrere kleine Explosionen«. Eine kostete Faraday einen halben Fingernagel, mit den Augen hatte er Glück, denn er trug eine Glasmaske.
Als Nächstes führten sie Chlorstickstoff auf »trockenes gekochtes Quecksilber«, schütteten noch mehr Quecksilber dazu, ließen es über Nacht darauf stehen, und am Morgen war es verschwunden. Am Grund fand sich korrodiertes Quecksilber, darüber Stickstoff, und als sie das Ganze wiederholten, steckte doch eine Glasscherbe in Faradays Augenlid.
Im Mai begann er einen Brief aus seinem Paradies an Abbott so: »Der Mönch verzichtet auf alle Genüsse und sogar auf einfache Dinge, nach denen seine Natur ruft, um den Körper zu züchtigen, um sinnliche Gier und weltlichen Appetit zu kasteien. – Der Geizhals macht genau dasselbe, aus gleich starken, aber sonst seiner Lieblingspassion diametral entgegengesetzten Gründen, und lässt jede Annehmlichkeit des Lebens ungenutzt. Nur ich habe ohne Grund das vernachlässigt, was eine meiner größten Freuden ist und was ich mit größtem Anstand genießen darf – bis eben wie das Licht des elektrischen Blitzes der Gedanke an Abbott durch meine Seele schlug.«
Er hatte keinen eigentlichen Grund für seinen Brief. Nachdem er sich nach Abbotts verletztem rechten Daumen und Zeigefinger erkundigt hatte, nach der Feststellung, dass auch das nicht für das Ausbleiben von Abbotts Korrespondenz herhalten könne, fügte er mit einer Handschrift, deren Krakeligkeit dem Seegang der Gefühle in nichts nachstand, an: »Ich hatte früher mit einem Brief von dir gerechnet.«
Von seinen beiden Räumen konnte er zum Hotel Jacques hinübersehen, wo ein Fest stattfand und von wo die Musik herüberwehte. Er rannte bei jedem neuen Stück ans Fenster, um den Instrumenten zu lauschen, den Stimmen des Fagotts, der Violinen, der Klarinetten, Trompeten und dem Serpent. Er konnte nicht aufhören damit.
Anfang Juni berichtet er von gewaltigem, dumpfem Kopfschmerz. Er wolle ihn beiseitewischen mit einem Brief. Er habe schon lange ein Thema im Kopf, das nun förmlich »herausbreche« aus ihm. Es fällt das Wort Konfusion.
Er referiert über Vortragstechnik und Vortragsräume und hält frische Luft für eines der wichtigsten Elemente. Oft fühle er sich eingeengt zwischen den vielen Leuten und wünsche sich die Vorlesung am Ende, um herauszukommen, an die Luft ...
London hatte er noch immer kaum verlassen. Zwölf Meilen waren das Weiteste gewesen, soweit seine Erinnerung ihn nicht täuschte. Das war eine Distanz, die sich so plötzlich wie radikal verändern sollte: Viel frische Luft lag vor ihm.
»Ich weiß, dass Sie gerne mitfahren möchten«, stellte sein Gönner drei Tage vor der Abreise nach Paris, Italien und Asien beiläufig fest. Davon konnte zwar keine Rede sein. Er wollte vielmehr im Labor arbeiten, gerne allein. Aber sagen konnte er das nicht.
»Mein Diener hat abgesagt. Seine Frau droht mit Scheidung, behauptet er jedenfalls, ich glaube, er fürchtet sich vor ... na ja, wir sollten das nicht beurteilen.«
Wieder dieses Lächeln!
»Wir fahren am siebzehnten, das wissen Sie? Überübermorgen. Sie bekommen Ihre Stellung hier anschließend zurück, nehme ich an.«
»Meine Mutter«, wollte Faraday sagen, aber Davy stand auf, sehr zufrieden mit sich, und schlug seinem neuen, überqualifizierten und augenblicklich noch stummen Diener freundschaftlich auf den Oberarm. Jetzt war er Diener. Der Tag des Dieners, so viel war gewiss, begann mit dem Nachttopf des Herrn. Da gab es, auch wenn es sich um zwei Chemiker handelte, nichts zu diskutieren. Davy hatte ja gesagt, die Geliebte sei rau. Verlass war also auf ihn. In Paris werde er einen Ersatz für den Diener finden, sagte Davy und: grinste.
Drei Jahre sollte die Reise dauern, und drei verbleibende Tage kämpfte Faraday darum, seine Abneigung nicht gegen die Neugier gewinnen zu lassen, die ihn beim Gedanken an das Meer und die Berge anbetete mitzugehen : »Berge und Meer«, sagte er sich laut, wenn er Sir und Lady dachte, und sagte ganz ruhig vor sich hin: »Das Meer und die Berge.«
Auch dieses Willensspiel gewann er. Dann verabschiedete er sich bei seiner Mutter, und selbstverständlich bewahrten beide beinahe die Fassung.
8 Europa
Die frische Luft tat ihm noch sehr viel besser, als er oder sonst jemand ahnen konnte. Er saß oben beim Kutscher, den Elementen ausgesetzt und mit freiem Blick auf die Schöpfung. Im Wagen die Herrschaften und Fräulein Meek, Lady Davys Dienerin, die alle zusammen nicht halb so viel sahen wie er. Am 15. Oktober 1813 erreichten sie Plymouth.
Es sei nicht sehr als sein Verdienst anzusehen, schrieb Faraday in sein Reisejournal, dass schon auf dem Weg von London sich alle seine Ideen über die Natur der Erdoberfläche verändert hätten. Schneller als das Sehorgan es hätte beobachten können, habe sich die Landschaft verändert, ihre »bergige Natur« habe öfter, als das Auge folgen konnte, neue Formation und Objekte hervorgebracht. Seine Erwartungen an die Reise waren immens gestiegen.
Die Kutsche wurde zerlegt und auf einem kleinen Boot verstaut. Beim Geldumtausch gab es Schwierigkeiten, denn der Jude wartete auf den Sonnenuntergang, und seine Frau ließ herabgelassene Jalousien nicht gelten.
Schließlich segelten sie. Faraday an Deck, die anderen in der Kabine. Er entging so jeder Seekrankheit. Nachts beobachtete er Wasserwände, leuchtende Punkte und Körper darin.
In Morlaix erreichten sie Feindesland. Sie mussten einen halben Tag warten, bis ein Offizier kam, der die Einreiseerlaubnis überprüfte, die von Buonaparte persönlich erteilt worden war. Als sie das Boot verlassen durften, wurden sie durchsucht. Nach Hause schreiben war nicht gestattet. Ohne jedes gute Gefühl sah Faraday das Boot ablegen und zurück nach England fahren.
Im Ort gab es ein kleines Hotel, ein ausgesprochen armseliges Haus. Pferde und Schweine, alles, was laufen konnte, benutzte den Haupteingang. Das Essen war ungenießbar und wurde dann doch genossen.
Auf dem Weg nach Paris mussten sie nach dem Sturz eines Pferdes eine Weile pausieren, um Schäden an der Kutsche zu reparieren. Faraday entdeckte zu seinem Entzücken ein Glühwürmchen, das er zerlegte, ohne gleich zu Erkenntnissen zu kommen. Seine Bewunderung erregten die Schweine, weil sie den Pferden eine oder zwei Meilen lang vorausrannten. Zuerst glaubte er gar nicht, dass es sich um ein Schwein handelte, da es sich vom englischen Schwein sehr unterschied. Erst bei der zweiten Kreatur dieser Art konnte er sich entschließen zu glauben, dass es sich »um ein reguläres Tier und nicht eine besondere Laune der Natur« handelte. Alle französischen Schweine waren am Ende, stellte er fest, gleich.
In Paris war er unglücklich. Er musste sich einen Pass machen lassen, in einem »enormen Haus am Fluss, mit einer unendlichen Zahl von Büros«, in dem er nur gegen Bezahlung die Information erhielt, in welches Zimmer er müsse. Zwanzig Sachbearbeiter mit riesigen Büchern vor sich stellten die Papiere aus, auf die viele Leute warteten. Als Engländer hier aufzufallen, war das Mindeste.
In den Büchern war er nicht zu finden. Französisch konnte er nicht. Aber schließlich und mithilfe eines übersetzenden Amerikaners bekam er, »rundes Kinn, brauner Bart, großer Mund und große Nase«, seinen Pass ausgehändigt.
Sie blieben bis zum Ende des Jahres. Einmal kam André-Marie Ampère mit zwei Kollegen und einem Glas vorbei, in dem sich schwarze Flocken befanden. Im Gegenlicht schimmerten sie violett, und über der Flamme, so Ampère, »verdampft es, ohne erst flüssig zu werden«. Ob Davy nicht schauen wolle, was er dazu meine. Woher sie die Substanz hatten? Das wollten sie nicht sagen.
»Ist doch viel spannender, wenn Sie gar nichts wissen«, meinte Ampère.
Davy schwieg und beachtete statt des Glases nur seinen Kollegen. Seit zwei Jahren, so Ampère, versuche er, etwas darüber herauszubekommen.
Und sein Kollege Nicolas Clément vervollständigte: »Wenn Sie nichts wissen, haben Sie es vielleicht einfacher.«
Davys Geste sagte ohne Worte, welcher Unsinn diese Vermutung in seinen Augen war.
»Man findet es im Süden in großen Mengen. Woher es kommt, ist unbekannt.«
Davy sah von einem zum anderen, dann lächelte er Faraday an. »Es gibt genug davon«, sagte er, sich wieder Ampère zuwendend, »oder?«
Der bestätigte, irritiert von der bloßen Wiederholung.
Clément: »Gay-Lussac hat nichts gefunden.«
Faraday zuckte bei dem Namen zusammen. Joseph-Louis Gay-Lussac hatte mit Alexander von Humboldt Sauerstoff und Wasserstoff im Verhältnis eins zu zwei zu Wasser verbrannt. Davy hielt ihn für den größten Chemiker der Franzosen, zweifellos ein Rivale nicht erst seit dem Streit um die Priorität bei den Alkalimetallen. Davy hatte nicht gezuckt.
Dann holte Ampère einen kleinen Brenner heraus, eine Blechschale und erwärmte die Substanz, die sofort in einen tiefvioletten Rauch aufging.
»Hübsch«, meinte Davy, ohne zu lächeln.
Alle husteten. Faraday wurde gebeten, die Fenster zu öffnen.
»Sie wollen nicht sagen, woher es stammt.«
Ampère blickte Clément an, dann den zweiten Kollegen, Charles Bernard Desormes. Unbehagen machte sich breit.
Davy zu Ampère: »Kommen Sie.«
Ampère: »Es ist Krieg.«
»Aber doch nicht zwischen uns, mein Freund.«
Ampère sah zu Clément, der mit den Schultern zuckte, dann zu Desormes, der seinem Blick standhielt.
»Ein Abfallprodukt beim Verarbeiten von Seetang.«
Als ob das nichts bedeutete, hatte er das gesagt, und als ob er plötzlich nicht mehr verstünde, weshalb das ein Geheimnis sein sollte.
Davy lächelte sein entwaffnendes, provozierendes, selbstsicheres und zufriedenes Lächeln, und Faraday freute sich zum ersten Mal darüber: Seine Seele jubelte. Die Franzosen sahen zum Boden und aus dem Fenster, kratzten sich an der Stirn, holten Luft, versuchten möglichst entspannt und wie unter Freunden zu wirken.
»Lassen Sie mir das Glas hier, und geben Sie mir ein paar Tage. Dann beraten wir uns.«
Davy klang wie ein Oberbefehlshaber, aber die Franzosen machten, was er wollte. Gut sichtbar fühlten sie sich unwohl, als sie einer nach dem anderen das Hôtel des Princes wieder verließen.
Kaum dass die Franzosen auf der Straße zu sehen waren, bekam Faraday Anweisungen. Sie schütteten Ammonium über die Flocken, und es bildete sich ein schwarzes Pulver, das sie trockneten. Bei kleinster Erhitzung explodierte es: Schießpulver.
Davy amüsierte das sehr. Ein Junge des Hotels erschien an der Tür und wollte durch den Rauch wissen, ob die Herrschaften gesund seien.
»Selten ist es uns«, gab Davy sehr laut zurück, »besser gegangen.« Er scheuchte den Jungen fort.
Nach zwei weiteren intensiven Wochen mit Versuchen im Hotelzimmer und im Labor des Kollegen Chevreul nannte Davy die Substanz Jod. Sie war nicht weiter zerlegbar und hatte viel mit Chlor gemein. Davy sandte einen Artikel, den Faraday aus dem nicht als Handschrift zu bezeichnenden Gekritzel und Geschmiere Davys hergestellt hatte, mithilfe einer Mittelsperson nach England, damit die Royal Institution ihn schnell verlas und veröffentlichte: »Über die Eigenschaften des Jod.«
Die kurze Freundschaft mit Ampère und den Kollegen, beim großartigen Empfang Davys im Institut de France noch gefeiert, war beendet.
Gay-Lussac, der die Substanz nach seinen Angaben ebenfalls schon Jod genannt hatte, erklärte Ampère den Krieg, wie sie später hörten, denn Jod konnte schlecht zweimal entdeckt werden.
Faraday schlenderte jetzt viel durch Paris und hielt seine allgemeine Abneigung gegen die Franzosen fest: Sie hatten keinerlei Begriff von Ehre oder Scham in ihren Geschäften. Der Kunde fragte immer zweimal nach dem Preis, und wenn er die Hälfte anbot, akzeptierte der Verkäufer. Auf die Kritik des unfairen Handels erwiderte er nur, dass der Käufer sich den höheren Preis schon hätte leisten können.
Einen Diener hatte es keinen gegeben in Paris, er hätte ja sowieso nicht auf den Bock der Kutsche gepasst, und im Wagen hätte Lady Davy den ungehobelten Sohn eines Schmieds nicht mal auf dem Weg zum Südpol geduldet.
Vor Abfahrt der daher unverändert kleinen Reisegruppe mischte sich Faraday unter Tausende, die an den Tuilerien warteten, um den Kaiser auf dem Weg zum Senat zu sehen. Mitte Dezember war es inzwischen, und unter einer großen Hermelinrobe »beinahe versteckt« kam der Eroberer, nachdem unzählige Reiter und Kutschen vorbeidefiliert waren, in einer Ecke seines Wagens sitzend, einen übergroßen Strauß Federn halb im Gesicht, der an seinem samtenen Hut steckte. Faraday war durchgeregnet, aber nicht zu weit weg, um zu erkennen, dass Buonaparte eine dunkle Miene machte. Kein Wunder, wusste er doch besser als der junge, sich selbst als nichts als ein Wissenschaftler verstehende Beobachter, dass seine Zeit abgelaufen war. Pompös der Wagen, vierzehn Diener umgaben den Eroberer, der ohne Akklamation seiner Bürger, ohne jeden Kommentar des stummen Volkes, selbst still und bis auf die Eisen der Pferde geräuschlos wie eine ungewisse Erscheinung am Himmel vorüberzog.
Auf dem Rückweg über Montmartre machte Faraday eine Skizze vom optischen Telegraphen, der einer Nachricht aus dem zweihundert Kilometer entfernten Lille erlaubte, über die Kette der zirka zehn Kilometer voneinander entfernten Stationen in sechs Minuten Paris zu erreichen. Dazu mussten sich alle auf ihrem Posten befinden, und es durfte keinen Nebel geben.
Was niemand wusste: In der anderen Richtung hatte Wellesley, der mittlerweile Lord Wellington hieß, mit seinen Einheiten Spanien unter Kontrolle gebracht und schickte sich an, Frankreich zu betreten.
Bevor Faraday als Spion hätte verhaftet werden können, war die Kutsche Richtung Montpellier unterwegs, eine lange Reise, an deren Ende Faraday fast den von den Alliierten befreiten Papst zu sehen bekommen hätte. Rutschend, kletternd und schlitternd überquerte die Gesellschaft die Alpen, mithilfe von sechzig Männern, die brusthoch im Schnee versanken, um die Kutsche in Teilen und die Damen in zwei Sänften über den Pass zu tragen. In Genua ging Faraday in die Oper und sah, wie man nach einer Arie zum Applaus des Publikums Papierschnipsel und Tauben aus der Höhe ins Parkett warf, wobei einige der Vögel zu Tode kamen.
Auf der Überfahrt nach Lerici gerieten sie in Seenot, und Lady Davy verstummte ausnahmsweise einmal, was laut Faraday die Lebensgefahr mehr als wettmachte. In Florenz verbrannten Faraday und Davy eine Handvoll Edelsteine mithilfe des durch eine Linse fokussierten Sonnenlichts, um zu zeigen, dass sie aus nichts als Kohlenstoff bestanden. Sie machten sich über die Italiener lustig, die das Sonnenlicht scheuten, und holten sich Sonnenbrände. In Rom feierten sie Karneval, und Faraday schloss sich in seinem Kostüm aus Versehen einem Beerdigungszug an. Sie fuhren auf der von Räubern belagerten Straße nach Neapel und erstiegen den Vesuv, atmeten lustvoll seine Gase ein, brieten Spiegeleier auf erkaltender Lava, tranken den vom Bergführer mitgebrachten Rotwein und sangen »God save the King« in den Golf von Neapel hinab, im Rücken das Feuer des Berges und den Rauch, der »im Sternenlicht eine Straße gen Himmel« bildete.
Buonaparte verlor eine monströse Schlacht bei Leipzig, zeigte trotz Unterzahl nochmals Geschick gegen den von Spanien anrückenden Wellington und seine englischen Truppen, verlor dann weiter, wollte zugunsten seines Sohnes abdanken, versuchte sich umzubringen, unterzeichnete schließlich die Kapitulation und wurde nach Elba gebracht.
Lady Davy, die außer Formalitäten und Rang nichts akzeptierte, hasste und verachtete den jungen Faraday. Sie glühte vor Eifersucht und wurde nicht minder glühend zurückgehasst.
Rom fand Faraday beeindruckend: Das Kolosseum stand für die Antike wie St. Peter für die Moderne. Das Kolosseum sei allerdings eine Ruine, und das sei in der Tat auch ganz Rom inklusive der Römer. Ganz unbegreiflich blieb ihm, »wie eine so kühne und streitbare Rasse, die den halben Globus erobert hat, in diese modernen, müßigen und verweichlichten Italiener degenerieren konnte«.
Abbott fragte, wie die italienischen Frauen seien, auch so hübsch wie die englischen? Dass sie schmutzig seien, schrieb Faraday begeistert zurück: »Schamlos und hässlich, und daher mit den englischen nicht zu vergleichen.«
Sie trafen Alessandro Volta, einen gesunden, alten Mann mit dem roten Ordensband und sehr freier Rede. Sie fuhren nach Genf, wo sie bei der von Faraday innig verehrten Jane Marcet, deren Konversationen zur Chemie ihn einst initiiert hatten, dinierten und Lady Davy in feinster englischer Artikulation darauf bestand, dass Faraday bei den Bediensteten in der Küche aß. Lady Davy überlebte überraschenderweise die Reise. Faraday wurde nicht gehenkt.
Sie fuhren durch Deutschland, nach Venedig und wieder Richtung Rom, wo Faraday das Betteln als das Geburtsrecht der Italiener erkannte. In Florenz stellte er fest, dass die Frauen viel und breitbeinig auf den Pferden saßen. In der Toskana sah er, wie ein Mann für das Bewerfen von Soldaten mit Dreck bestraft wurde, indem man ihm die Hände hinter dem Rücken fesselte und ihn dann an ihnen mittels eines Galgens in die Höhe zog. Dreimal geschah das, vorsichtig, da es sich um kein großes Verbrechen handelte. In anderen Fällen breche man dem Täter die Schultern und mehr, erfuhr Faraday, und kurz darauf hörte er, dass der Papst diese Art der Bestrafung wegen Grausamkeit jetzt verboten hatte.
In Rom sah Faraday, wie Lichtstrahlen eine Eisennadel magnetisierten, und fand das auf die schönste Weise der Welt rätselhaft: Licht und Magnetismus waren zusammen weniger als zwei grundverschiedene Sachen und zugleich mehr.
Buonaparte floh von Elba und sammelte auf dem Weg nach Paris genug militärisches Gerät und Soldaten ein, um triumphal anzukommen. Alles bereitete sich auf neuen Krieg vor. Statt nach Konstantinopel fuhren die Davys mit ihren Dienern Meek und Faraday auf dem kürzesten Weg, über den Brenner und Brüssel, zurück nach London, worüber der Letztgenannte viel mehr als sehr froh war.