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Ich sitze im Schaukelstuhl auf meiner Veranda, schwinge sanft vor und zurück und beobachte den Sonnenuntergang am westlichen Himmel, der die Farbe jungen roten Weins angenommen hat. Es ist zwei Wochen her, dass ich die Servierplatte aus James' Haus geholt habe. Falls er den zerbrochenen Bilderrahmen bemerkt haben sollte, hat er nichts davon gesagt. Ich habe das Duplikat seines Haustürschlüssels noch nicht benutzt, aber ich trage es an meinem Schlüsselbund immer bei mir und warte auf eine neue Gelegenheit, sein Haus zu durchsuchen. Heute Abend werde ich diese Chance haben.
Die Dielenbretter knarren unter dem Gewicht des Schaukelstuhls. Während sich der Himmel verdunkelt, verlieren die Bäume und Büsche ihre Farbe, werden erst formlos, dann zu Schatten. Ich habe ein kleines möbiliertes Haus im Zentrum von Napa gemietet; es gehört einem Professor, der sein Sabbatjahr in Europa verbringt. Es steht weit zurückgesetzt vom Bürgersteig, ein malerischer Bungalow aus den zwanziger Jahren, mit Stuckwänden, dunklen Fensterläden und einem Dach aus Tonpfannen. Ein bescheidener Bau ohne große Besonderheiten, abgesehen von dem üppigen Bewuchs, der das Haus umschlingt und fast verschluckt. Eine dichte Hecke aus großen Oleanderbüschen schirmt das Haus und die Zufahrt zur Straße hin ab; Bougainvilleen ranken an dem niedrigen Gitter, das die Veranda einfasst; Efeu klettert die Wände hinauf, windet sich um die Ecken und umklammert den Schornstein. Die herabhängenden Äste einer alten Trauerweide, deren Wipfel sich neben dem Haus wölbt, streichen raschelnd über den Stuck. Das Haus scheint ganz vom Grün verhüllt, schwer beladen, eingenommen von rankenden Weinreben, Kletterpflanzen und Gras, das man einfach hat wachsen lassen und das sich im nächtlichen Luftzug leise beweg. Ein getarntes Haus, verborgen – wie ich.
Es ist dunkel. Ich trinke Kaffee und lasse die Stunden vergehen. Ein dreieinhalb Kilogramm schweres Gewicht – ein Überbleibsel aus den Jahren, in denen ich meinen Körper trainiert habe – liegt neben dem Schaukelstuhl. Hin und wieder nehme ich es auf und mache ein wenig Bizepstraining, um meine Arme zu kräftigen. Der Lärm von der Straße – das Zuschlagen einer Autotür, das Heulen einer Krankenwagen-Sirene, das Schreien der Kinder – verklingt. Die Geräusche sind gedämpft, als würde das dichte Blattwerk meines Gartens die scharfen Kanten und klare Töne herausfiltern und die Schallwellen so weit abfangen, dass nichts Bestimmtes mehr durchdringt. Es herrscht eine Feierlichkeit und Stille wie in einem Leichenschauhaus. Aus der Ferne höre ich schwach den tiefen Schrei einer Eule. Je später es wird, desto mehr kühlt es sich ab; ich schlinge die Arme um den Leib. Ich denke an James und daran, was ich wohl heute Nacht in seinem Haus entdecken werde. Ich denke an ihn.
Zu sehr später Stunde ziehe ich dunkle Jeans und einen schwarzen Pullover an und fahre nach Byblos. Mrs. McGuane geht früh ins Bett, und um diese Zeit wird auch Gina schon schlafen. James hat gesagt, er würde in San Francisco übernachten. Ich parke den Wagen weit von seinem Haus entfernt, unten in der Nähe der Weinkellerei, und gehe zu Fuß weiter, wobei ich mich im Schatten der Olivenbäume halte, die die Hauptstraße säumen. Selbst wenn ich gesehen werden sollte, es würde niemanden interessieren. Die McGuanes haben sich mittlerweile an mein unregelmäßiges Kommen und Gehen gewöhnt. Obwohl ich mich um das Frühstück nicht zu kümmern brauche, treffen sie mich hin und wieder frühmorgens in der Küche an, manchmal auch noch spätabends, gelegentlich sogar an meinen freien Tagen. Ich halte mich an meinen eigenen Rhythmus und komme und gehe, wie es mir passt. Sie beklagen sich nicht darüber – und warum sollten sie auch? Keine der Köchinnen, die sie vor mir hatten, hat so viele Stunden gearbeitet und sie so gut versorgt. Ich werkele in der Küche, arbeite im Obst- und Gemüsegarten, serviere ihnen Gerichte und Zwischenmahlzeiten, für die ich eigentlich nicht zuständig bin. Mrs. McGuane – Charlotte soll ich sie nennen, hat sie mich gebeten – trinkt am Vormittag mit mir Kaffee, und manchmal gehen wir zusammen auf den Markt. Auch James und Gina haben meine ständige Anwesenheit offenbar akzeptiert. Sie sind daran gewöhnt, dass ich überall auftauche, in den Gärten, bei der Weinkellerei. Ich lasse mich auf dem Anwesen zwar überall sehen, stehe aber niemandem im Weg herum.
Der schmale Weg, der zu James' Haus hinaufführt, ist jetzt genau gegenüber, ein dünner Einschnitt in den Weingärten, vom Mondlicht schwach beleuchtet. Die Nacht ist dunkel und kühl, am klaren, schwarzen Himmel blinken vereinzelt stecknadelgroße Sterne. Ich überquere die Straße und gehe auf sein Haus zu. Gehen macht mir nichts aus. Ich gehe jetzt schon seit Jahren täglich mehrere Kilometer. Auch diesen Teil meines Körpertrainings habe ich mir zur Gewohnheit gemacht.
Die Straße ist uneben gepflastert und windet sich um mehrere kleine Hügel, die von großen sperrigen Felsblöcken bedeckt sind; dazwischen stehen alte Eichen, deren Laubkronen sich wie Pilze ausbreiten. Die umliegenden Weingärten verschwimmen in einer endlos scheinenden Dunkelheit; plötzlich wirkt alles unheimlich, dunkel und verlassen, jeder Erdbeerbaum am Straßenrand ein drohender Schatten, der einem schwarz gekleideten, sich anpirschenden Mann gleicht.
Ich bleibe abrupt stehen, als ich ein Geräusch höre, das aus dem Weingarten zur Rechten kommt, irgendeine Bewegung. Ich starre argwöhnisch in die Dunkelheit, doch als ich zwei dunkle Hunde mit Hängeohren erkenne, entspanne ich mich. Die McGuanes haben außer dem deutschen Schäferhund noch weitere Hunde. Sie sind nützlich in den Weingärten, hat James mir erklärt, weil sie die Hasen und Rehe davon abhalten, die neuen Blätter zu fressen. Beide Hunde kommen schwanzwedelnd zu mir. Sie kennen mich und bellen nicht. Ich knie mich hin und tätschele einem den Kopf, kraule ihn hinter den Ohren.
»Ich bin es nur, Blue«, flüstere ich. Der andere Hund reibt sich an meinen Beinen und schnüffelt an meiner Hose und meinen Schuhen. »Hi, Chica«, sage ich, drücke sie an mich und kratze ihr die Brust. Dann stehe ich wieder auf.
»Geht jetzt weg«, flüsterte ich, doch sie gehorchen nicht. Sie umkreisen meine Beine, wedeln mit den Schwänzen, streichen um mich herum, als wollten sie spielen, doch dann hören sie offenbar etwas – beide erstarren mit geneigtem Kopf. Dann springen sie zum Weingarten hinunter und verschwinden. Ich höre nichts. Sie sind hinter einem Nager her, denke ich, hinter irgendeinem nachtaktiven Tier.
Ich setze meinen Weg fort und horche auf seltsame Geräusche. Hinter der letzten Kurve erblicke ich James' Haus und bleibe stehen. Es ist eine herbe Enttäuschung: Sein Cherokee parkt als kastenförmiger Schatten vor der Tür. Er sollte heute Nacht nicht hier sein. Ich gehe am Straßenrand in die Hocke und beobachte enttäuscht das dunkle Haus. Die Außenbeleuchtung ist nicht angeschaltet, doch ich mache einen schwachen, kaum wahrnehmbaren Lichtschimmer hinter den geschlossenen Vorhängen im Erdgeschoss aus. Ich nehme an, dass James das Licht zum Schlafen heruntergedimmt hat, so matt ist der Schein. Jetzt kann ich sein Haus nicht durchsuchen. In einer anderen Nacht, James, denke ich, in einer anderen Nacht.
Als ich mich aufrichte, sehe ich, dass das Licht noch matter geworden ist und gleich darauf wieder heller wird. Es flackert und zittert hinter den Vorhängen wir Kerzenschein. Neugierig nähere ich mich dem Haus, gehe ganz vorsichtig, damit ich keinen Lärm mache. Ich bleibe bei den Bäumen stehen, verstecke mich hinter seinem Wagen und überquere dann die freie Fläche, so schnell ich kann. Die Gardinen vor dem großen Fenster sind geschlossen, nicht der kleinste Spalt, durch den ich schauen könnte. Das zweite und dritte Fenster sind genauso undurchdringlich, doch am vierten klaffen die Gardinen ganz leicht auseinander und lassen in der Mitte einen schmalen Spalt frei. Das reicht, um gerade so eben durchzuschauen. Ich trete näher und spähe hinein. Ungefähr in der Mitte des Raumes brennen Kerzen auf dem Holztisch, dem Kaminsims und hier und da auf dem Boden. Das gedämpfte Licht, weich und diffus, lässt den Raum warm erscheinen. In den Ecken wird es matter, verschwimmt mit der Dunkelheit. Ich stütze meine Hände auf den Fenstersims, spüre den harten Stein, presse mein Gesicht ans Glas und versuche mehr zu erkennen, indem ich nach rechts schaue. Ein kunstvoll gearbeiteter, sechsarmiger Leuchter, dessen Kerzen alle brennen, steht auf dem Boden. Die Kerzen schimmern und werfen lange tanzende Schatten über den Backsteinboden und die Wand. Der Schlitz in den Vorhängen grenzt mein Gesichtsfeld ein, als trüge ich Scheuklappen, daher kann ich den Raum nur ausschnittweise sehen. Ich spähe in die andere Richtung und atme scharf ein bei dem, was ich zu sehen bekomme.
Entsetzt fahre ich zurück. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ein zitterndes Unbehagen erfasst mich. Ich möchte wegrennen und stehe doch da wie angewachsen.
Als ich wieder hineinschaue, beschleunigt sich mein Puls. James steht mit nacktem Oberkörper da, sein Rücken schimmert im Kerzenlicht golden, glänzt vor Schweiß. Er ist von bedrohlicher Präsenz, sein Körper wirkt groß und stark wie ein mächtig gewachsener Baumstamm, und unter seiner Haut zeichnen sich deutlich die Muskelstränge ab. Er schwingt eine Peitsche; sie ist lang und schwarz, mehrere Lederriemen hängen von dem Handstück herab. Eine Frau, die außer sehr hochhackigen Schuhen nichts anhat, steht dort an die Wendeltreppe gefesselt, die Hände hoch über dem Kopf am Schmiedeeisen befestigt, die Beine weit gespreizt, die Knöchel unten an der Treppe festgezurrt. Der schwarze Eisenhandlauf presst sich in ihren Bauch. Sie hat lange lockige rötliche Haare und rot bemalte Lippen, lange Beine und eine schmale Taille; ich sehe, dass sie keine Hilfe braucht. Beim ersten Hinschauen habe ich gedacht, dass James sie verletzt, dass er sie so schlägt, wie er mich vielleicht damals geschlagen hat. Doch jetzt sehe ich, dass das nicht der Fall ist. Es gibt kein Blut, keine verletzte Haut, keine gebrochenen Knochen. Ihr Gesicht ist von seiner Wut nicht zerstört worden, und sie duckt sich nicht vor Angst. Nein, sie lehnt entspannt an dem Handlauf und wehrt sich nicht gegen ihre Fesseln. Ihre Augen sind geschlossen, und wenn die Peitsche sie trifft, zucke ich zusammen, nicht aber sie. Ihre Lippen öffnen sich nur leicht, als ob sie einen sanften Seufzer von sich gibt. Ich kenne sie nicht. Er schlägt sie wieder, und wieder fahre ich zusammen. Es ist mir zuwider, Schmerzen mit anzusehen oder selbst zugefügt zu bekommen. Ich habe schon zu viele ertragen.
Nun legt er die Hand sanft auf ihren Rücken, beugt sich herab und flüstert ihr etwas ins Ohr. Seine Hand streichelt ihren Rücken, gleitet über ihren geröteten Hintern und weiter hinab bis zu ihrem Oberschenkel. Er trägt schwarze Hosen und einen Gürtel, doch seine Füße sind nackt. Die Frau will sich an ihn lehnen, versucht, ihren Körper an seinem zu reiben, doch er zieht sich blitzschnell zurück und schlägt zu. Diesmal zuckt sie zusammen, weil sie die Peitsche nicht erwartet hat, schnappt sichtlich nach Luft, und er schlägt wieder und wieder zu; seine Muskeln spannen sich an, wenn er ausholt, und dann entspannen sie sich wieder.
Ich zwinge mich zuzuschauen. Er wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, schlägt wieder zu. Noch immer schreit sie nicht auf und kämpft auch nicht gegen die Fesseln. Ich sehe, wie sie versucht, die Schmerzen, die er ihr zufügt, hinzunehmen. Ihr im Kerzenlicht goldfarbener Körper scheint sich seinen Schlägen zu ergeben. Inzwischen muss ich mich nicht mehr zum Zuschauen zwingen. Ich bin fasziniert von dieser Frau, von ihrer Beherrschung, davon, wie sie die Schmerzen hinnimmt. Ich muss sie einfach anstarren. Sie sieht herrlich aus.
James dagegen wirkt ganz anders. Sein Gesicht ist dunkelrot, erfüllt von einer brutalen Leidenschaft. Er scheint nichts um sich her zu bemerken, ein massiger Mann, beinahe bedrohlich, wie er so mit finsterer Miene dasteht und sich ganz auf die Frau konzentriert, auf das, was er ihr antut, wie er ihre nackte Haut peitscht, die roten Spuren seiner Leidenschaft auf ihr hinterlässt. Seine Bewegungen sind präzise und wohl überlegt, was den Eindruck erweckt, als sei er Herr der Lage, doch sein Gesicht sieht anders aus, so als fehle nicht mehr viel, dass er die Beherrschung verliert.
Beunruhigt von dem, was ich sehe, ziehe ich mich vom Fenster zurück. Ich habe zu viele Operationen hinter mir, habe zu viele Schmerzen ertragen, um nicht zu wissen, wie verletzlich die menschliche Haut ist. Gewalt ist für mich kein vager Begriff; ich weiß sehr gut, was sie anrichten kann. Und doch...
Ich entferne mich und mache mir keine Gedanken mehr darüber, dass sie mich hören könnten. Sie sind viel zu sehr in Anspruch genommen, um irgendetwas außerhalb ihrer Sphäre wahrzunehmen. Ich gehe zurück die Straße hinunter, biege um die erste Kurve, denke nach. Ich weiß nicht, was ich von der Szene halten soll, die ich gerade beobachtet habe. Eigentlich müsste ich sie ablehnen, aber das tue ich nicht. Ich habe mit Sicherheit Angst vor James, Angst vor seiner Intensität, Angst davor, dass meine Verstrickung mit ihm eine Fortsetzung finden muss. Doch während ein Teil von mir – vielleicht sogar der größere – nur Furcht vor dem Gesehenen empfindet, ist ein anderer Teil fasziniert. Zu beobachten, wie die Frau sich offenkundig bereitwillig unterwarf, hat mich neugierig gemacht. Mehr noch, es hat mich erregt. Ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, warum.
Das Knacken eines Zweiges ist zu hören. Ich bleibe stehen, bin augenblicklich auf der Hut, fühle, wie meine Muskeln sich anspannen. Als ich mich umdrehe, rechne ich damit, James zu sehen, doch da ist niemand. Nervös mustere ich die schattigen Erdbeerbäume, schaue hinüber zu den Weingärten, die sich in der Dunkelheit ausbreiten, blicke die Straße hinunter, soweit das im Dunkeln möglich ist. Es ist nichts zu sehen. Ich gehe langsam weiter, obwohl alles in mir zur Flucht drängt. Angespannt schaue ich über die Schulter zurück. Noch immer sehe ich niemanden, doch ich habe das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Nur der gedämpfte Laut meiner Tennisschuhe auf dem Boden durchbricht die Stille. Dann aber höre ich Schritte, die nicht meine sind.
Sofort drehe ich mich um. Mein Herz schlägt heftig nach diesem Adrenalinstoß. Ich sehe, dass oben auf dem Hügel jemand aus dem Schatten einer alten Eiche heraustritt, und versuche, zu erspähen, wer es ist. Mein Puls rast. Mehr als einen dunklen, großen und Furcht erregenden Schatten, der den Hügel herabsteigt, kann ich nicht erkennen. Ich möchte rufen, lasse es aber bleiben. Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu, und nun sehe ich, wer das ist: Gina.
»Was machen Sie denn hier?«, fragt sie. Ihr Haar ist zurückgebunden, und ihre Jeansjacke steht offen. Sie hat ein kleines Notizbuch in der Hand, das sie jetzt in die Tasche schiebt.
Mein Herz hämmert noch immer, obwohl ich froh bin, dass nicht James mich entdeckt hat, sondern sie. »Warum haben Sie sich so versteckt?«, sage ich weit schärfer, als ich wollte. »Sie haben mich erschreckt!«
Schweigend kommt sie näher. Ich begreife meine missliche Lage und erzähle ihr, dass mein Wagen in der Nähe der Weinkellerei stehen geblieben sei und ich zu James' Haus gegangen sei, um Hilfe zu holen. Sie beobachtet mich mit reglosem Gesicht, schiebt die Daumen in ihre Gürtelschlaufen, verlagert das Gewicht auf das andere Bein und schiebt die Hüfte vor.
»Und haben Sie sie bekommen?«, fragt sie schließlich.
Ich sehe sie verständnislos an.
»Hilfe«, sagt sie.
Ich kratze mich im Nacken. »Nein«, antworte ich. »Ich habe nicht geklopft. Mir schien, dass er nicht allein war.«
Sie setzt sich in Bewegung, geht die Straße hinunter, in die Richtung wo ich mein Auto zurückgelassen habe. Ich passe mich ihrem Schritt an, was mich einige Anstrengung kostet. »Ich konnte auch nicht schlafen«, sagt sie nüchtern. »Ich habe noch im Büro gearbeitet. Dann habe ich einen Wagen gehört, und als ich nachsah, gingen Sie zu Fuss weiter, auf James' Haus zu.«
Ich sage nichts dazu. Ich wartete darauf, dass sie fortfährt, doch sie schweigt. Sie würde mir nicht erzählen, wie viel sie weiß. Wenn sie mir den ganzen Weg gefolgt ist, dann muss sie gesehen haben, dass ich in sein Fenster geschaut habe. Aber sie kann auch auf dem Hügel geblieben sein und dort auf mich gewartet haben. Schweigend gehen wir die kurvige Straße hinunter. Die Nachtluft ist erfrischend kühl. In der nächsten Biegung wird Gina langsamer, bleibt schließlich stehen. Sie wendet sich mir zu.
»Ich sehe, wie Sie meinen Bruder anschauen«, sagt sie. »Sie starren ihn regelrecht an, wenn Sie sich unbeobachtet glauben.« Ihr Ton ist vorwurfsvoll, so als hätte ich ein Verbrechen begangen. Ich will protestieren, doch sie wischt mein Leugnen mit einer brüsken Handbewegung weg.
»Ich möchte Ihnen einen Rat geben«, sagt sie. »Halten Sie sich von ihm fern.«
Die schonungslos offene Warnung überrascht mich sehr. »Warum?«, frage ich.
Eine Hand in die Hüfte gestützt, steht sie da und fixiert mich. Dann seufzt sie und schaut in die Ferne. »Er ist hart zu Frauen«, erklärt sie schließlich sanft, beinahe im Flüsterton. Sie dreht sich um, geht weiter und verschwindet hinter der Biegung.
Ich folge ihr, ratlos angesichts ihrer rätselhaften Äußerung. Als ich die Hauptstraße erreiche, gehe ich in Richtung Weinkellerei weiter.
Gina lehnt an der Motorhaube meines Wagens. Als ich sie erreiche, sagt sie: »Steigen Sie ein und versuchen Sie, ihn zu starten.«
Der Motor springt natürlich beim ersten Versuch an.
Sie beugt sich herab und stützt sich mit den Händen auf der Tür ab. Sie sagt: »Ich wollte nicht schroff sein.«
Ich zucke mit den Achseln. »Das geht schon in Ordnung«, sage ich und mache die Scheinwerfer an. Sie tritt nicht zurück, sondern lehnt sich erneut gegen mein Auto.
»Er war mal verheiratet«, sagt sie ruhig. »Hat meine Mutter Ihnen das erzählt?«
»Nein«, erwidere ich und bin ehrlich überrascht. Niemand hat eine Ehefrau erwähnt.
»Es ist lange her. James hat sie sehr geliebt. Seither hat er sich nie mehr mit einer Frau ernsthaft eingelassen – er hatte eine Menge Freundinnen, aber die haben ihm alle nichts bedeutet. Er ist nie darüber hinweggekommen.«
Ich nicke, denn nun verstehe ich auch Ginas Warnung.
»Wie lange sind sie denn schon geschieden?«, frage ich.
»Sie sind nicht geschieden«, erwidert sie. »Seine Frau ist kurz nach der Hochzeit gestorben.«
Plötzlich wird es mir in meinem Auto zu eng. »Woran ist sie gestorben?«, frage ich mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern ist.
Ginas Lippen werden zu einer harten, geraden Linie. »Wir sprechen nicht darüber«, erklärt sie, richtet sich auf und fügt hinzu: »Nie.« Dann geht sie davon.