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James hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, auf das Matschfeld zu rennen, seine Turnschuhe durchweichen zu lassen und jedes Mal einen grausamen Schmerz im Rücken zu spüren, wenn er im Schlamm ausrutschte. Während ein paar kleinere Spieler den Ball um das Tor am oberen Teil des Hanges jagten, hielt sich Michael Hendry in dem halbdunklen Bereich in der Mitte auf. Seine Hose war hinten mit einer dicken Schlammschicht bedeckt und er schlug die Hände aneinander, um sie zu wärmen.

James hielt wütend das Handy in der ausgestreckten Hand, als er sich Michael von hinten näherte. Doch seine Lust auf einen Angriff schrumpfte gewaltig angesichts Michaels imponierender Muskeln. Sein Kampftraining nutzte James gar nichts, da Michael genau dasselbe absolviert hatte. Alles, worauf James bauen konnte, war der Überraschungseffekt.

»He, du Scheißkerl!«, rief er.

Noch bevor er sich umdrehte, wusste Michael, dass er entlarvt worden war. Und noch bevor er reagieren konnte, hatte ihm James das Handy an die Schläfe geknallt. Die Plastikhülle zerbrach von der Wucht des Schlages, und James ließ zwei kräftige Hiebe in den Magen folgen, die die meisten anderen umgehauen hätten. Doch der größere, durchtrainierte Michael steckte sie weg, packte James an seiner Kapuze und trat ihm mit den Metallstollen seines riesigen Fußballschuhs gegen den Knöchel.

»Willst du dich mit mir anlegen?«, schrie er.

James jaulte auf und brach zusammen. Aber trotz der Schmerzen in seinem Rücken und dem Knöchel umfasste er Michaels Fuß und zerrte ihn durch den Matsch nach oben in die Luft, während er aufsprang. Michael versuchte, sich mit einem Tritt zu befreien, während James seinen Fuß festhielt und schmerzhaft verdrehte.

Inzwischen waren die anderen Spieler auf sie aufmerksam geworden, und einige von ihnen kamen angelaufen, um den Kampf zu beenden, während der Schiedsrichter aufgeregt in seine Pfeife blies.

»Du Verräter!«, schrie James und drehte Michaels Fuß mit einem Ruck herum.

Der Schmerz ließ Michael zusammensacken. Er fiel nach vorne in den Dreck und riss James mit sich, rollte sich über ihn und verpasste ihm einen kräftigen Hieb auf den Hinterkopf. Eiskaltes Wasser durchtränkte James′ Kleidung. Wild um sich schlagend versuchte er, sich zu befreien, als Michael einen weiteren brutalen Treffer landete.

Wahrscheinlich wäre er gnadenlos verprügelt worden, wenn ihn nicht Bruce Norris gerettet hätte. Bruce lähmte Michael mit einem gezielten Tritt in den Rücken, legte ihm dann die Arme um die kräftige Brust und zog ihn zurück.

Doch obwohl Bruce für seine Größe extrem stark war, gelang ihm das nur mithilfe von Shakeel und Rat. Durch die beiden Schläge auf den Kopf war James zwar benommen, aber bei Bewusstsein, und so merkte er, dass er gleich doppelt in Schach gehalten wurde: Michaels Freundin Gabrielle zog ihn aus dem Matsch und von seinem Widersacher weg, während ihm seine Exfreundin Kerry den Arm auf den Rücken drehte.

»Um Himmels willen, James«, rief Kerry, als James vor Schmerz aufstöhnte. »Es ist doch nur ein Spiel. Und du wolltest doch eigentlich gar nicht mitspielen, wegen deines Rückens!«

James und Michael versuchten, sich loszureißen, als der Schiedsrichter angelaufen kam und beiden ein wenig hilflos die rote Karte zeigte.

»Glaubst du, es geht hier etwa um das blöde Spiel?«, fuhr James Gabrielle über seine Schulter hinweg an. »Dann schau dir mal Jakes Handy an! Schau, was dein toller Freund mit Dana angestellt hat!«

Gabrielles Augen blitzten auf und ihr Blick sagte James, dass sie offenbar schon vermutet hatte, dass da irgendetwas lief.

»Gab, nicht!«, rief Kerry besorgt und hielt James noch fester.

»Du hast gesagt, du arbeitest an einem Kunstgeschichtsprojekt! « , schrie Gabrielle Michael an und ließ James los. »Hast du deshalb so viel Zeit in Danas Zimmer verbracht? Du dreckiger, gemeiner …«

Gabrielle war groß und schlank, aber in einem offenen Kampf hätte sie Michael nie besiegen können. Doch Michael wurde immer noch von Bruce und Shakeel festgehalten. Und noch bevor der Schiedsrichter eingreifen konnte, hatte Gabrielle ihrem Freund mit der Handfläche gezielt unter die Nase geschlagen.

»Ich bring dich um!«, schrie sie, während Michael das Blut aus der Nase schoss.

Als der Schiedsrichter endlich nach Gabrielle griff, um weitere Angriffe zu verhindern, brach sie auf einmal zusammen.

»Ich habe geglaubt, du liebst mich, Michael«, schluchzte sie und ließ sich in die Arme des verdutzten Schiedsrichters fallen.

Kerry wollte ihre beste Freundin trösten, musste dazu aber von James ablassen.

»Benimm dich, sonst passiert was«, drohte sie ihm, bevor sie Gabrielle beistand.

Gabrielles verzweifeltes Schluchzen stachelte James′ Wut noch mehr an. Er fühlte sich zwar verletzt, hatte aber selbst schon einige Freundinnen gehabt, und auch wenn er manchmal gedacht hatte, Dana wirklich zu lieben, so hatte doch niemand damit gerechnet, dass ihre Beziehung ewig halten würde  – die meisten waren überrascht, dass sie überhaupt so lange gehalten hatte.

Die Beziehung von Michael und Gabrielle war dagegen viel intensiver gewesen. Er war ihre erste große Liebe, und seit sie zusammen waren, bekam man den einen nicht mehr ohne die andere.

James war stinksauer, dass Dana ihn betrogen hatte. Ihm tat der Kopf weh, sein Rücken schmerzte und an seinem Knöchel, wo Michaels Stollen ihn getroffen hatten, drang Blut durch die Socke. Doch mit anzusehen, wie Gabrielles Herz brach, ließ ihm seinen eigenen Schmerz vergleichsweise gering erscheinen.

»Alles okay?«, erkundigte sich Kyle, der sich hinter James durch den Matsch kämpfte, während Gabrielle in Kerrys Armen herzzerreißend schluchzte.

»Mir tut der Kopf weh und mein Knöchel muss vielleicht genäht werden«, meinte James mürrisch. »Tut mir leid.«

Kyle lächelte. »Was tut dir leid?«

»Das hier«, meinte James achselzuckend. »Da bist du seit fünf Monaten mal wieder auf dem Campus und musst dir meinen Mist antun.«

»Dein Mist hat mir gefehlt«, erklärte Kyle trocken. »Erinnert mich nämlich immer daran, wie klug und rational ich doch eigentlich bin.«

James musste trotz seiner Schmerzen lachen. Er hatte Kyles Humor vermisst.

»Leg den Arm um meine Taille«, bot ihm Kyle an. »Ich nehme einen der Golfbuggys und fahre dich zur Krankenstation hinüber.«

 

Zwei Stunden später klopfte Lauren an James′ Tür im sechsten Stock.

»Alles okay?« Sie streckte den Kopf herein und sah James im Bademantel auf seinem Bett liegen. Sein Knöchel war bandagiert und auf dem fast kahlen Kopf verdeckte ein viereckiges Pflaster eine Schnittwunde, die von Michaels Ring stammte.

Bis auf einen Streifen Licht, der aus dem Bad fiel, war es dunkel im Zimmer. Lauren setzte sich auf die Bettkante.

»Hab schon bessere Zeiten gehabt, aber auch schon schlimmere«, sagte James, warf eine Motorradzeitschrift weg, in der er doch nicht gelesen hatte, und setzte sich auf, um seine Schwester anzusehen.

»Du hast doch selbst gesagt, dass du glaubst, zwischen euch sei etwas nicht in Ordnung«, versuchte ihn Lauren zu trösten. »Es hat doch schon eine ganze Weile nicht mehr gestimmt.«

»Ehrlich gesagt, das mit dem Schlussmachen sehe ich sogar ganz locker«, erklärte James. »Aber was mich echt nervt, ist, dass es offensichtlich der ganze Campus gewusst hat, dich eingeschlossen.«

»Ich hätte es dir gesagt, wenn es noch länger gedauert hätte«, beruhigte ihn Lauren. »Für diese dämliche Dana habe ich ganz bestimmt nichts übrig.«

»Aber sie hat klasse Titten«, seufzte James. »Und sie war das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen habe, daher werde ich mich wahrscheinlich immer an sie erinnern.«

Lauren grinste. »Hast du nicht schon bei deinem Einsatz gegen die Gangs in London mit einem Mädchen geschlafen?«

James lachte. »Okay, ich formuliere es anders: Dana war das erste Mädchen, mit dem ich Sex hatte, abgesehen von zwei Minuten Todesangst in einer Badewanne mit einem Mädchen, mit dem ich nie wieder gesprochen habe.«

Lauren kicherte. »Das ist typisch James …«

»Aber Gabrielle tut mir wirklich leid«, fuhr James fort. »Als ich zurückgekommen bin, hat sie sich immer noch in Kerrys Zimmer die Augen ausgeweint.«

»Was hat Zara gesagt?«

»Sie ist zur Krankenstation gekommen und hat mich und Michael einander die Hände schütteln lassen wie zwei Fünfjährige. Nur gut, dass Gab seine Nase total zermatscht hat. Zara erlässt uns allen dreien die Strafe, vorausgesetzt, es gibt kein böses Wort mehr zwischen uns. Aber ich muss Jake das kaputte Handy ersetzen.«

»Wie viel?«

»Hundertfünfzig«, stöhnte James. »Aber immerhin kann ich die Summe abstottern.«

»Oh je«, sagte Lauren und versuchte, ihn mit einem Themawechsel aufzuheitern. »Übrigens war das letzte Spiel der Matschmeisterschaft der absolute Knüller: Trainer gegen Schwarzhemden. Bruce hat einen Hattrick geschafft, deshalb haben ihn Mr Pike und Miss Smoke am Ende in den See geschmissen.«

»Klingt echt witzig.«

»Und die Köche haben im Partyzelt heißen Punsch ausgeschenkt und warme Hackfleischpasteten verteilt, damit sich alle hinterher aufwärmen konnten. Im Punsch war ein bisschen Rum, deshalb durften wir jeder nur einen Becher haben.  – Weißt du, was mir eingefallen ist?«

»Was denn?«, fragte James misstrauisch.

»In den USA ist doch demnächst dieses große Training. Und da deine Mission jetzt so früh beendet ist, könntest du dich doch dafür melden.«

»Wieso sollte ich mich für ein Sondertraining melden?«

Lauren schüttelte den Kopf. »Es findet an einem Ort namens Fort Reagan statt, und dabei geht es nicht um ein normales Training. Es wird ein riesiges Kriegsspiel gegen amerikanische Soldaten, die für den Straßenkampf trainieren. Wir sollen als Aufständische kämpfen, Mac wird der Anführer der bösen Jungs und wir kriegen Miniferien in Las Vegas, bevor es losgeht.«

»Hört sich ganz gut an«, stimmte James zu. »Und du bist dir sicher, dass es nicht ums Steineklopfen oder Marschieren mit schwerem Gepäck geht?«

Lauren schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit einem CHERUB-Training zu tun. Es wird von der US-Army und den britischen Spezialeinheiten durchgeführt. Sie wollen CHERUB dabeihaben, um ihren Truppen eine neue Herausforderung zu bieten.«

»Ich kann′s mir ja mal ansehen«, nickte James.

»Nach den letzten Monaten würde dir eine Pause bestimmt ganz gut tun«, lächelte Lauren. »Allerdings bewerben sich eine ganze Menge Leute. Aber ich bin sicher, dass du es mit deinen bisherigen Einsätzen schaffst.«

»Hab gehört, dass Bruce vielleicht mitmacht«, überlegte James. »Vielleicht rede ich mal mit Mac darüber, wenn er das nächste Mal auf den Campus kommt.«

»Cool«, fand Lauren, als es plötzlich klopfte.

»Du traust dich also echt noch her?«, fragte James böse, als Dana mit einer großen Schachtel in der Tür auftauchte.

Dana schaltete ohne zu fragen das Licht an und stellte die Schachtel auf das Sofa an der Tür.

»Egal, wie es aussieht, James, ich wollte ehrlich zu dir sein«, sagte sie. »Aber Michael wollte es Gabrielle schonend beibringen. Doch dann hat sie Verdacht geschöpft und ihn in die Ecke getrieben, sodass er es abgestritten hat.«

»Tja, wenn man auch alles gleichzeitig haben will«, kommentierte Lauren verächtlich.

»Falls du es noch nicht bemerkt hast, Lauren«, gab Dana ebenso gehässig zurück, »dein Bruder hat auch noch keine Medaille fürs Treusein bekommen.«

»Ich hab dich nur ein Mal betrogen und es außerdem sofort gebeichtet«, verteidigte sich James und sprang vom Bett, um den Inhalt der Schachtel zu untersuchen: CDs, Klamotten, Schulbücher und andere Dinge, die sich im Laufe ihrer dreizehnmonatigen Beziehung in Danas Zimmer angesammelt hatten.

Danas Stimme wurde hart. »Wir sollten jetzt nicht so tun, als wäre das mit uns beiden was Besonderes gewesen. Ich bin ein Freak, mit dem du nur gegangen bist, weil ich große Titten habe. Und du bist ein gutaussehender Typ, der das auch weiß und seine Finger von keinem Rock lassen kann, der nicht bei drei auf einem Baum ist.«

James war wütend. Einerseits hätte er die ganze Sache gerne mit einem lauten Streit beendet und ein paar Gegenstände durch den Raum gefeuert. Aber andererseits tat ihm alles weh und er hatte einfach keine Lust dazu.

»Nimm dir, was du willst«, sagte er nur und deutete aufs Bad. »Das meiste von deinem Zeug ist da drin.«

Lauren sah James an, dass er traurig war. Während Dana im Bad ihre Sachen zusammensuchte  – einschließlich dem Herrn der Ringe, den James nie ganz zu Ende gelesen hatte  – stellte sie sich neben ihren Bruder und legte ihm in geschwisterlichem Beistand eine Hand auf die frotteeumhüllte Schulter.

»Alles Gute noch«, rief James halb zynisch, als Dana mit derselben Schachtel in der Hand hinausging, mit der sie gekommen war. Nur dass jetzt ihre Dinge darin lagen.

»Dir auch«, sagte Dana, hob ihre freie Hand und schloss die Tür hinter sich.

»Zu schade, dass das alles so kurz vor Weihnachten passiert«, fand Lauren.

»Von wegen«, grinste James. »Montag Früh geh ich gleich als Erstes in den Laden und kriege neununddreißig Pfund neunundneunzig für ihr Weihnachtsgeschenk zurück!«