18
Corduroys Blick brannte in Oceans Nacken wie heiße Kohlen. Er saß am Tisch der großen Kammer und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als sei es seine vordringlichste Aufgabe, sie dabei zu beobachten, wie sie mit Baby im Arm hin und her lief. Sie hielt sich dabei so gut wie möglich hinter der Wand des Kinderzimmers auf, wo er sie nicht sehen konnte. Selbst dann wusste sie jederzeit, dass er dort draußen lauerte und an dem verdammten Tisch saß wie eine Schildwache.
Er weiß, dass ich dort gewesen bin, irgendwie hat er es mitbekommen, das spüre ich.
Babys Schreie ließen ihr Trommelfell beinahe zerspringen. Daher federte sie leicht auf den Fußballen und strich ihm sanft über den Rücken. Sie schloss die Augen und versuchte, ihm ein Lied vorzusingen, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zur vergangenen Nacht zurück und sie kam beim Text durcheinander.
Die Tür mit der verriegelten Öffnung. Der kleine Raum dahinter, zu kleinen Kugeln zerknüllte Zeitungen und …
»Pssst … ist doch in Ordnung, Baby. Schon gut, Schätzchen.«
Ocean sprach mehr zu sich selbst als zu dem lebhaften Säugling, den sie an ihren Körper presste. Sie hätte so gerne einfach alles vergessen, was sich seit der vergangenen Nacht ereignet hatte, und so getan, als sei alles nur ein Traum. Aber wie sollte sie das anstellen? Selbst wenn sie Corduroys Überfall aus ihrem Gedächtnis verbannen konnte, konnte sie denn wirklich vergessen, was sie hinter der verbotenen Tür gesehen hatte? Und was hatte das alles überhaupt zu bedeuten? Warum gab es da eigentlich eine …
Da war jemand bei ihr im Zimmer. Sie hatte niemanden gehört. Vielmehr spürte sie einen kalten Schatten auf ihrer Haut, der ihr eine Gänsehaut auf den Armen verursachte.
Sie riss die Augen auf und erstarrte für einen Moment auf der Stelle, vergaß den sich windenden Säugling in ihren Armen vollkommen. Der Atem stockte ihr mit einem scharfen Keuchen im Hals, die Wände des Raums schienen sie zu erdrücken.
Corduroy stand in der Türöffnung und hatte seine Arme vor der Brust verschränkt. Das vernarbte und verdrehte Fleisch in seinem Gesicht war bis zum Zerreißen zu einem schmallippigen Runzeln angespannt. Etwas an seiner Haltung deutete darauf hin, dass er den Eingang absichtlich blockierte, um ihr jede Fluchtmöglichkeit abzuschneiden.
»Wir müssen sprechen.« Seine Stimme klang tief und kratzig und ging in den Schreien des Babys beinahe unter. Trotzdem hatten die Worte die Kraft, Oceans Blick zu Boden sinken zu lassen, als hätte sie vorne auf den Pantoffeln, die sie von Levi geschenkt bekommen hatte, etwas unglaublich Interessantes entdeckt.
»Ich muss … auf Baby aufpassen. Ich weiß nicht, was er hat. Er weint die ganze Zeit und ich habe versucht …«
»Das ist die geringste deiner Sorgen.«
Ocean hatte das Gefühl, als sei ihr gesamter Körper in Eiswasser getaucht worden. Er weiß es tatsächlich, wie hat er es nur erfahren? Habe ich irgendeine verräterische Spur zurückgelassen?
Corduroy trat einen Schritt näher, und Ocean wich unfreiwillig ein Stück zurück. Sie stand nun mit dem Rücken direkt an der Wand und fühlte sich leicht benebelt, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu weinen und wegzulaufen.
»Um es gleich zu sagen: Du solltest dich nicht zu sehr an ihn gewöhnen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde starrte sie ihn an und suchte danach mit ihrem Blick das Zimmer ab, als ließe sich wie durch Zauberhand ein Fluchtweg für sie öffnen. Das Kinderzimmer wirkte so winzig … nicht größer als der Innenraum von einem der Autos, in denen sie einst geschlafen hatte. Doch selbst wenn sich ihr eine Fluchtmöglichkeit aufgetan hätte, wäre es für Corduroy ein Leichtes gewesen, ihr diese durch einen kleinen Schritt zur Seite zu versperren.
»Ich empfehle dir, dich an niemanden hier zu gewöhnen.«
Die Worte hingen in der Luft wie eine verschleierte Drohung und Ocean durchlief ein Zittern, das Babys Weinen abgehackt wirken ließ. Sie war gefangen, und dieser abscheuliche Fauler von einem Menschen stand so dicht neben ihr, dass sie den Geruch seines verkohlten Fleisches förmlich riechen konnte.
»Cord! Die Latrine hebt sich nicht von selbst aus.« Gauges Stimme dröhnte bis ins Kinderzimmer. Ocean brachte endlich genug Kraft auf, um ihrem Widersacher direkt in die Augen zu sehen. Sie wollte trotzig und widerspenstig erscheinen und einen Blick aufsetzen, der ihm demonstrierte, dass sie vor keiner der Strafen Angst hatte, die er für sie in der Hinterhand hatte. Doch gleichzeitig musste sie daran denken, Gauge vielleicht niemals wiedersehen, niemals wieder sein Lachen hören oder die Wärme seiner Hände auf ihrer nackten Schulter spüren zu dürfen … und das ließ ihr Herz in tausende Stücke zerspringen. Ihre Umgebung verschwamm hinter einem Schleier aus Tränen, doch sie bemühte sich trotzdem, möglichst gerade und aufrecht zu stehen.
»Corduroy!«
Er drehte seinen Kopf leicht und rief über seine Schulter. »Mach dir nicht ins Hemd … ich komm ja schon.«
Er bedachte sie mit einem letzten, durchdringenden Blick und streckte den Finger in ihre Richtung aus. »Diese Unterhaltung ist noch nicht vorbei, kleines Mädchen.« Und damit verschwand er.
Ocean versuchte, Baby zu beruhigen, aber der Säugling schien die Spannung zu spüren, die Hals und Schulter des Mädchens im Griff hielten. Ocean kam es so vor, als ob es Stunden dauerte, bis Levi ins Kinderzimmer trat und anbot, ihr den kleinen Jungen abzunehmen, wenn sie dafür den Männern mit der Latrine half. Ocean fühlte sich hin- und hergerissen zwischen der Furcht, was Corduroy Gauge erzählt haben könnte, und dem Kopfweh, das von Babys ununterbrochenem Schreien ausgelöst wurde. Schließlich gab Ocean nach. Sie legte das kleine Bündel in Levis Arme und trottete aus dem Zimmer.
Sie ging langsam dem grabenden Geräusch entgegen und spürte ein wenig Angst, dass sie dort in Wirklichkeit keine neue Toilette, sondern ein Grab aushoben, in das man sie hinablassen wollte, sobald das Urteil gesprochen und die Strafe verkündet war. Wie dämlich … man konnte sie schließlich nicht dafür töten, was sie gesehen hatte. Oder etwa doch? Sie könnten sie zurück an die Oberfläche verbannen, in diese Welt ohne Nahrung, voller Fauler und Zerfall. Aber sie töten?
Lieber sterbe ich. Lieber sollen sie mich töten, das wünsche ich mir wirklich.
Und wenn sie schonungslos ehrlich zu sich war, verdiente sie das auch. Sollte es nicht irgendeine Bestrafung dafür geben, was sie ihrer Mutter angetan hatte? Sollte sie nicht eigentlich für ihre Sünden büßen? Aber nein … man hatte sie dafür sogar noch belohnt, ihr Kleidung und etwas zu essen gegeben … man hatte sie in eine Welt gebracht, in der die Furcht vor einem gewaltsamen Tod ebenso weit entfernt lag wie der stechende Schmerz des Hungers. Und sie hatte ihn getroffen … die einzige Person auf der gesamten weiten Welt, von der sie sich wünschte, dass sie niemals etwas Schlechtes über sie dachte. Wenn man ihr all dieses Positive wieder wegnahm, wäre das für sie schlimmer als jede Hinrichtung.
Nun, vermutlich wird genau das geschehen … wegen Mama. Genau das droht dir.
Ocean stand einen Moment lang in der Türöffnung und schaute Gauge dabei zu, wie er die Schaufel in den Boden rammte. Seine Muskeln spannten sich bei jedem Spatenstich an und er grunzte leise, während Corduroy den vollen Eimer gegen einen leeren Eimer tauschte. Er war so stattlich, ihr Gauge, in jeder Hinsicht perfekt. Ihn würde sie am meisten vermissen, mehr noch als das Essen und die saubere Kleidung. Mehr noch als …
»Hey, Schönheit«, schnaufte Gauge und sah sie an. »Ich habe dich gar nicht gehört.«
Trotz der Furcht und der Verunsicherung überkam Ocean ein leichtes Schwindelgefühl. Er findet mich schön.
Corduroy starrte sie unverwandt an. Sein gesundes Auge schimmerte kalt im Kerzenschein. Schatten flackerten über die knotigen Überbleibsel seines Gesichts.
Sie schluckte schwer und wappnete sich für das Bevorstehende. Was auch immer sie entschieden, sie wollte nicht weinen … nicht dieses Mal. Sie war es so leid, das Wasser zu verschwenden, sich zu fühlen, als rissen die kraftvollen Schluchzer sie innerlich auseinander. Sie wollte tapfer sein. Stark.
Gauge wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn und grinste sie an.
»Das ist das Problem beim Löcherschaufeln«, sagte er. »Es bleibt immer mehr Erde übrig, als man herausgeschaufelt hat.«
Tu es einfach. Bring’s hinter dich, bitte! Mach schon.
»Und bei dieser Latrine? Die ist noch nicht einmal annähernd so tief wie die alte. Aber schon fast bis zum Rand gefüllt. Und dann müssen wir uns auch noch um den ganzen Dreck hier kümmern.«
Wollte er mit seiner kleinen Ansprache auf etwas hinaus? Verglich er sie vielleicht mit der Erde in diesem Loch?
»Den gröbsten Teil haben wir natürlich schon geschafft. Ich hab mir beinahe den Rücken ausgerenkt, um den Beton zu durchstoßen.«
Er schielte zu Corduroy hinüber und kniff die Augen leicht zusammen.
»Ehrlich, wir hätten echt ein wenig Hilfe brauchen können.«
Warum war er nur so gemein? Warum kam er nicht einfach zum Punkt und sagte ihr, dass er von ihrem nächtlichen Ausflug wusste … dass er wusste, dass sie gesehen hatte, was sich hinter der verrosteten Metalltür verbarg.
»Hier kommst du ins Spiel, Schätzchen. Du musst diese Eimer den Südtunnel runterschleppen. Gleich nach dem dritten Gully zweigt links ein Gang ab. Da gehst du hinein, biegst zweimal rechts ab und landest direkt vor einem großen Riss im Boden. Pass dort auf, denn er scheint geradewegs bis zum Mittelpunkt der Erde zu führen. Du schüttest die Erde da rein und wenn du wieder zurück bist, wartet schon die nächste Ladung auf dich, okay?«
Ocean dämmerte es langsam, dass Corduroy aus irgendeinem Grund, den sie nicht verstehen konnte, Gauge noch nichts verraten hatte. Wahrscheinlich wartete er nur auf den richtigen Zeitpunkt … oder er wollte einen Trumpf gegen sie in der Hand haben und sie mit der Macht, die ihm dieses Geheimnis verlieh, dazu zwingen, schmutzige Sachen mit ihm anzustellen. Ihre Mutter hatte ihr oft gesagt, dass manche Menschen so handelten und sie sich nie in eine Situation bringen sollte, in der jemand ein Druckmittel gegen sie ausspielen könnte.
Ist dies so eine Situation? Will er wirklich …?
»Hey, Schätzchen, alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus. Brauchst du einen Schluck Wasser oder was anderes?«
Sie murmelte eine Antwort, ein wenig Kopfweh wegen Babys Geschrei, und sofort zog Gauge die Stirn besorgt in Falten.
»Du solltest dich besser ein wenig hinlegen. Cord kann die Eimer schleppen. Es wird natürlich länger dauern, wenn wir nicht beide schaufeln, aber …«
»Nein, mir geht’s gut, ich mach das schon. Ehrlich. Dritter Gully, dann nach links, zweimal rechts … stimmt’s?«
Bald darauf lag eine hölzerne Tragstange schwer auf ihren Schultern und zwei weiße Eimer voller Dreck baumelten an jedem Ende an den Haken. Durch das zusätzliche Gewicht schlurfte sie mit kleinen Schritten vorwärts. Der Weg zum Südtunnel kam ihr deutlich weiter vor. Als sie die halbe Strecke zur verbotenen Tür zurückgelegt hatte, hatte sich ihre Rückenmuskulatur versteift und ihre Knie schmerzten bei jedem Schritt. Sie konnte sich nur vorwärtsschleppen, indem sie ständig Tu es für Gauge, tu es für Gauge vor sich hin flüsterte. Ansonsten wäre sie auf der Stelle zusammengebrochen.
Als sich die Tür drohend näherte, fiel es ihr schwerer, das kleine Mantra aufrechtzuerhalten. Ihre Augen wurden wie unter Zwang immer wieder von diesem metallenen Rechteck in der Wand angezogen. Ihre Gedanken kreisten um das, was sie in der Nacht zuvor gesehen hatte.
Beachte sie nicht. Geh einfach vorbei und lad die Erde ab.
Sie glaubte, Gauges Zorn wegen ihres ersten Fehltritts gerade noch entkommen zu sein. Sie wollte es nicht riskieren, ihr Glück weiter zu strapazieren. Was sich hinter dieser Tür befand, ging sie überhaupt nichts an … es hatte sie nicht zu interessieren. Es gibt sicherlich einen guten Grund dafür. Wenn die Zeit gekommen ist, wird mir Gauge genug Vertrauen entgegenbringen, um das Geheimnis mit mir zu teilen … solange Corduroy zwischenzeitlich sein verdammtes Maul hält.
Der Gedanke daran, dass dieser Mann sie berührte und seine rissige und vernarbte Haut gegen ihre drängte, ließ sie bis ins Mark erschaudern. Aber sie hätte sich darauf eingelassen … wenn sie dadurch hier unten bleiben durfte, wenn sie dadurch bei Gauge bleiben durfte. Dafür würde sie alles tun, was diese Bestie von ihr verlangte.
Doch zuerst einmal wollte sie beweisen, dass sie es wert war, in Gauges Gunst zu stehen. Sie musste die Tür ignorieren.
Einfach dran vorbeigehen und so tun, als habe ich sie nie geöffnet. Sie geht mich nicht das Geringste an. Los, weiter!
Die Tür schien sie erneut zu locken, mit einer unhörbaren Stimme nach ihr zu rufen und mit unsichtbaren Fäden an ihrer Seele zu zerren.
Diesmal schaffte sie es, sich dem Einfluss zu entziehen. Sie konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Gewicht der Eimer, das sie niederdrückte, auf den pochenden Schmerz in ihren Oberschenkeln. Sie zählte drei Gullys und schob sich durch einen besonders engen Tunnel, in dem sie sich seitwärts vorarbeiten musste, damit die Eimer nicht gegen die Wände schlugen.
Nach zweimal Rechtsabbiegen stieß sie auf den Riss … einen dunklen Spalt im Boden, der sie an eine klaffende Wunde im Körper der Erde erinnerte. Der Inhalt der Eimer prasselte gegen die steinigen Zacken und Kanten und verschwand in der tiefen Erdspalte. Sie verschnaufte einen Moment, massierte sich die Schultern, ließ ihren Kopf langsam kreisen und streckte ihre Knie.
Dann befand sie sich auch schon auf dem Rückweg und trat in ihre entgegengesetzt verlaufenden Fußstapfen, diesmal jedoch ohne die Last der Eimer auf ihren Schultern. Als sie wieder zur Metalltür gelangte, blieb sie stehen und betrachtete sie misstrauisch. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und befahl sich, einfach weiterzugehen. Irgendwie fiel es ihr diesmal schwerer. Möglicherweise, weil sie jetzt nicht mehr mit dem Gewicht der Eimer zu kämpfen hatte. Oder weil ein kleiner Teil von ihr darauf bestand, das alles nur geträumt zu haben. Sie schien sich das alles nur eingebildet zu haben.
Nie wieder. Wenn du nachschaust, dann nur dieses eine Mal. Danach lässt du das Ganze auf sich beruhen, klar?
Schließlich spielte es wohl kaum eine Rolle, ob sie die Tür nun ein- oder zweimal öffnete … sie wollte sich zu gerne davon überzeugen, dass sie sich geirrt hatte.
Gauge war mit dem Ausheben der Latrine beschäftigt. Er merkte also bestimmt nichts. Das Geräusch der Schaufel, die sich ins Erdreich grub, übertönte sicher das Quietschen der Tür. Sie wollte nur einen kurzen Blick hineinwerfen, um ihre überhitzte Fantasie zu beruhigen. Danach konnte sie noch ein paar Eimer mit Erde schleppen und alles hinter sich lassen. Ihr neues Leben weiterführen, ohne ihrem Geliebten auch nur im Geringsten Anlass zu Verdächtigungen zu bieten.
Ocean setzte die hölzerne Tragstange mit den Eimern ab und schlüpfte leise durch die Metalltür. Wie bereits in der Nacht zuvor lief sie durch den Gang, bewegte sich lautlos und presste die Zähne so fest aufeinander, dass ihr gesamtes Gesicht verkrampfte.
Jetzt hatte sie die zweite Tür erreicht … die Holztür mit der verriegelten Öffnung und der darin verkeilten Holzbohle, die ein Öffnen von innen verhinderte. Sie hielt den Atem an, ihre Hände klammerten sich um die kühlen Eisenstäbe. Ocean lehnte sich nach vorn, um noch einmal in die Schatten der Zelle zu spähen.
Aus der Dunkelheit schälte sich eine Stimme … die dünne und schwache Stimme eines Menschen am Übergang zwischen Leben und Tod.
»Hilf … mir.«