ACHTER HÖLLENKREIS
BETRÜGER UND FÄLSCHER
»Wir waren schon hinauf bis zu dem Punkt des Felsenstegs gelangt, der auf die Mitte des Gräbergrabens lotrecht niederschaut. (…) Ich sah im Grund des Tals und an den Seiten gar viele Löcher, alle rund, und jedes von gleicher Größe in dem fahlen Stein. (…) Hervor aus jedes Loches Öffnung ragten die Füße und die Beine eines Sünders bis an die Waden; drinnen stak der Rest. Bei allen aber flammt es auf den Sohlen der beiden Füße, daß sie im Gelenk, als gält es Bänder zu zerreißen, zuckten.«
DANTE, Die Göttliche
Komödie,
»Hölle«, Neunzehnter Gesang
21. DEZEMBER
Tribeca, Manhattan,
New York
6:07 Uhr
(1 Stunde und 56 Minuten vor dem
prophezeiten Ende der Tage)
Das Treppenhaus war leer, und das war ein gutes Zeichen. David Kantor erreichte den Treppenabsatz im zweiten Stock mit bleiernen Beinen; seine Oberschenkel brannten wegen der Milchsäure, die sich nach der langen Fahrt mit dem Rad in seinen Muskeln angesammelt hatte.
Die Zeit wird knapp … Los, lauf weiter!
Er packte das Geländer und zog sich Stufe für Stufe schwer atmend nach oben.
Die Fahrt auf dem Zehn-Gang-Rad durch Manhattan war tückisch gewesen. Nur unter großen Mühen hatte David angesichts seiner militärischen Ausrüstung die Balance halten können, und er hatte es kaum geschafft, mit seinen schweren Stiefeln auf den Pedalen zu bleiben. Andererseits war das Rad so schmal, dass er sich durch die Masse der stehenden Fahrzeuge hatte hindurchfädeln können, und die lautlose Art, sich fortzubewegen, hatte verhindert, dass er von den Soldaten entdeckt worden war.
Doch wie sich zeigte, war das Militär sein geringstes Problem.
Als er durch die Upper West Side raste, machte er den Fehler, der Avenue of the Americas zu folgen. Das CBS-Gebäude. Der Turm der Bank of America. W. R. Grace. Macy’s. Die braune Wolkendecke am Himmel hatte die Gebäude aus Glas und Stahl auf dem Streckenabschnitt, der manchmal als »Wolkenkratzergasse« bezeichnet wurde, in Teile einer düsteren Albtraumszenerie verwandelt, die direkt den Fantasien eines Wayne D. Barlowe entsprungen zu sein schien.
Es war, als fielen Leichen direkt aus den bizarren Wolkenformationen – fliegende Säcke aus Fleisch und Blut. Eine Frau krachte mit dem Gesicht voran auf das Dach eines Taxis, doch sie starb nicht bei dem Sturz, und so lag sie entstellt und mit gebrochenen Knochen einfach nur da.
Ein plötzlicher Adrenalinstoß vertrieb seine Müdigkeit. Er raste an der Rockefeller Plaza vorbei, ohne einen Blick auf den Berg aus Toten zu werfen, der auf der Eisbahn aufgeschichtet worden war. Rasch durchquerte er den Garment District und Chelsea, und durch den Bogen am Washington Square erreichte er Greenwich Village, ein Künstlerviertel, in dem er fast seine gesamte Collegezeit verbracht hatte. Weil die Studenten glücklicherweise in den Weihnachtsferien waren, war der Campus der New York University verlassen, sodass er, ohne auf Hindernisse zu stoßen, quer über die Wege seiner Alma Mater fahren konnte. Er rollte am alten Reihenhaus seiner Eltern und an den ihm so vertrauten Basketballplätzen an der Desalvio und der Bleeker Street vorbei, wo er Tausende von Stunden mit Spielen verbracht hatte. Wie die Eisbahn waren auch diese asphaltierten Rechtecke zu Orten geworden, an denen man die unbegrabenen Scythe-Opfer abgeladen hatte – und zu einer Art Grenzgebiet eines Schlachtfelds, auf dem sich die Mitglieder verschiedener Gangs tummelten, die entschlossen waren, das Village in einen einzigen gewaltigen Schießplatz zu verwandeln.
Ohne Vorwarnung erklang Maschinengewehrfeuer aus einer Senke, und plötzlich war er wieder im Irak, wo überall und nirgends unsichtbare Angreifer lauerten. Eine Kugel streifte seine Schulter, eine andere prallte an einem Gullydeckel ab und traf sein Rad, sodass er zwischen den Reihen verlassener Autos in Deckung gehen musste. Geduckt schob er das Rad durch den schmalen Spalt zwischen den Fahrzeugen und schaffte es, das umkämpfte Gebiet zu verlassen und SoHo zu erreichen.
Die trendige Einkaufsgegend südlich der Houston Street – South of Houston Street – glich einer entmilitarisierten Zone. Acht Stunden zuvor waren die Anwohner Amok gelaufen und hatten die Geschäfte des Stadtteils geplündert und zerstört, bis sie auf SWAT-Teams in Schutzanzügen gestoßen waren, die nur wenig Toleranz zeigten. Die von Kugeln zersiebten sterblichen Überreste der Plünderer hatte man einfach in den zerstörten Auslagen der Geschäfte unter den zerfetzten bunten Baldachinen liegen lassen, um weitere Personen vor der Missachtung der Ausgangssperre zu warnen.
David Kantor brauchte fast neunzig Minuten, bis er Tribeca erreichte. Das Viertel lag zwischen SoHo und dem Finanzdistrikt Manhattans unmittelbar westlich von Chinatown. Sein Name beschrieb seine Lage: das Dreieck unter der Canal Street – Triangle below Canal Street. Der ehemalige Industriebezirk war zu einer der reichsten Gegenden des Big Apple geworden, seine Lagerhallen und Fabrikgebäude waren in noble Stadthäuser und Lofts umgewandelt worden; viele von ihnen dienten inzwischen den größten Hollywood-Stars als Zweitwohnsitz.
Die Claremont Prep lag unmittelbar südlich der Wall Street im früheren Bank of America International Building. Hier wurden Privatschüler von der Grundschule bis zur Highschool unterrichtet. Auf über 12 000 Quadratmetern befanden sich Klassenzimmer, Kunststudios und Labore, eine Bibliothek, ein Café, eine Sporthalle, Spielplätze im Freien und ein fünfundzwanzig Meter langes Schwimmbecken. Die Schüler kamen aus allen fünf Bezirken New Yorks und aus New Jersey. Sie waren die Kinder wohlhabender Eltern, die den besten Unterricht für ihre Kinder suchten. Zwölf Stunden zuvor war die Schule geschlossen worden.
Jetzt war es an David Kantor herauszufinden, ob irgendjemand überlebt hatte.
Nachdem der Armeemediziner das Treppenhaus im ehemaligen Gebäude der Bank of America betreten hatte, stieg er Stufe für Stufe hinauf. Schwer atmend erreichte er den Treppenabsatz im dritten Stock. Er versuchte, die Brandschutztür zu öffnen. Abgeschlossen. Er hämmerte mit dem Kolben seines Sturmgewehrs gegen den Stahlbügel. Keine Reaktion.
David trat einige Schritte zurück, richtete den Lauf auf das Schloss und gab einen Feuerstoß ab, der den Mechanismus zerfetzte. Er befürchtete das Schlimmste, als er die Tür aufriss und die dunklen Flure der Schule seiner Tochter betrat.
Lower East Side,
Manhattan, New York
6:16 Uhr
Sie waren ohne Licht auf dem Bürgersteig gefahren und hatten die Markisen über den Schaufenstern zahlloser Geschäfte zerfetzt. Pankaj war den größeren Verkehrsadern ausgewichen, denn es erwies sich als leichter, sich durch die weniger verstopften Nebenstraßen nach Süden zu manövrieren.
Midtown East war besonders gefährlich, denn im Bereich des UN-Gebäudes war die Militärpräsenz noch immer hoch. Deshalb wich Pankaj nach Westen über die Park Avenue aus und durchquerte Murray Hill, bevor ihn der Weg wieder nach Südosten durch die ruhigen, älteren Viertel des Gramercy Park führte.
Als er das East Village erreichte, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als die im Süden liegende Bowery direkt anzusteuern.
Sofort begann der Kristall, den Manisha Patel um den Hals trug, zu vibrieren. »Nein, das ist der falsche Weg.«
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Hinter den beiden Brücken staut sich meilenweit der Verkehr. Dort kann man nicht fahren.«
»Meine spirituelle Führerin sagt Nein. Such einen anderen Weg. Fahr durch Chinatown in Richtung Süden.«
Paolo und Francesca saßen auf der dritten Rückbank. Paolo tröstete seine schwangere Frau, die ihren Kopf in seinen Schoß gelegt hatte. Immer wieder zog sich ihr angeschwollener Bauch zusammen. »Dein Sohn spielt seiner Mutter schon übel mit.«
»Schau nur, wie er um sich tritt. Aus ihm wird mal ein großer Fußballer.«
»Er will raus, Paolo. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen. Als wir im Park auf dich gewartet haben, ist meine Fruchtblase geplatzt.«
Überwältigt und zugleich vollkommen hilflos, konnte Paolo gerade noch genügend Kraft aufbringen, die Hand Francescas zu drücken. »Versuch durchzuhalten, mein Liebling. Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir die Docks erreicht.«
Virgil saß auf der mittleren Bank neben Shep. Erschöpft war der alte Mann eingeschlafen. Er schnarchte leise vor sich hin.
Patrick Shepherd lehnte sich gegen die hintere Tür auf der Fahrerseite. Unaufhörlich hämmerte der Schmerz in seiner linken Schulter, doch das hielt ihn wenigstens wach. Mit schweren Lidern betrachtete er das indische Mädchen, das zwischen seinen Eltern vor ihm saß. Irgendwie wurde seine Seele von ihrer Aura angezogen.
Aufmerksam wie immer spürte sie, wie er sie ansah. »Hast du große Schmerzen?«
»Ich bin schon schlimmer verwundet worden.«
Das Mädchen löste den Gurt und drehte sich auf ihrem Sitz zu ihm um, sodass es ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Gib mir deine Hand.« Sie lächelte, als er zögerte. »Ich verspreche, dass ich dir nicht wehtun werde.«
Er streckte seine rechte Hand aus, sodass sie sie mit ihren weichen, zierlichen Handflächen umschließen konnte. Sie tastete sein Fleisch ab und schloss die Augen. Ihre Fingerspitzen ruhten auf seinem Puls. »So rau. So viel Schmerz …«
»Ich war Soldat.«
»Das hier geht tiefer. Es ist ein Schmerz, der von einer früheren Reise stammt … vor langer Zeit. Eine schreckliche Untat … so viele Tote. Die Last drückt dich nieder.«
»Eine frühere Reise? Welche Art …«
»Aber da ist noch etwas … eine große Enttäuschung … die alles verschlingt. Deine eigenen Handlungen suchen dich heim.«
»Dawn!« Manisha drehte sich um. Sie lächelte entschuldigend. »Patrick, meine Tochter, sie ist noch so jung …«
»Nein, nein, schon in Ordnung.« Er sah das Mädchen an. »Dein Name ist Dawn?«
»Ja.«
»Du hast so hübsche braune Augen. Als ich dir im Central Park zum ersten Mal in die Augen sah, da … Na ja, spielt keine Rolle.«
»Sag’s mir.«
»Na ja, es ist nur so, dass deine Augen mich an jemanden erinnern, den ich kenne.«
»Meine Mutter sagt, die Augen sind die Spiegel der Seele. Vielleicht haben wir uns in einem früheren Leben gekannt.«
»Vielleicht. Und was siehst du, wenn du mir in die Augen schaust?«
Sie blickte ihm in die Augen, zunächst nur leichthin, doch dann immer tiefer.
Patrick spürte, wie er zitterte.
Die Miene des Mädchens veränderte sich. Ihre Unterlippe zitterte. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie ließ seine Hand los und umarmte ihre Mutter.
Shep setzte sich auf und gab sich große Mühe, die Fassung zu bewahren. »Was ist? Was stimmt nicht?«
Das schluchzende Mädchen vergrub sein Gesicht in Manishas Schoß.
»Komm schon, Kleine, lass mich nicht hängen.«
»Vergib meiner Tochter, Patrick. Sie wollte dich nicht beunruhigen. Das Gesicht eines anderen Menschen zu lesen ist selbst im günstigsten Fall harte Arbeit. Dawn ist erschöpft, aber es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Dawn, sag Patrick, dass es dir leidtut, wenn du ihn so beunruhigt hast.«
»Es tut mir leid, dass ich dich beunruhigt habe, Patrick. Bitte entschuldige.«
»Schon gut. Mach dir keine Sorgen deswegen.« Voller Anspannung wandte er sich ab und sah kühl aus dem Fenster neben dem Sitz hinter dem Fahrer. Irgendwo in der Ferne war der FDR Drive und jenseits davon der East River. Draußen war es völlig dunkel, bis auf die beiden Großfeuer: Im Norden brannte die Manhattan Bridge und im Süden die Brooklyn Bridge. Siebzehn Stunden zuvor waren die beiden Brücken zerstört worden, doch das Thermit, das dabei eingesetzt worden war, brannte noch immer. Die chemische Verbindung fraß sich durch die Stahlträger …
Genauso wie sie es am 11. September 2001 getan hatte.
Drei Gebäude waren fast mit Fallgeschwindigkeit in sich zusammengestürzt. Zwei waren von entführten Flugzeugen getroffen worden, das dritte – das siebenundvierzig Stockwerke hohe Gebäude WTC 7 – war Etage für Etage wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, obwohl der Wolkenkratzer zuvor nur von Trümmerteilen getroffen worden war. Während die meisten Amerikaner nie infrage stellten, was ihre Augen gesehen hatten, waren Wissenschaftler und Ingenieure vollkommen verblüfft angesichts von Ereignissen, die jedem bekannten physikalischen, bautechnischen und metallurgischen Gesetz widersprachen.
Die Zahlen waren letztlich das Problem. Wie konnte Flugzeugbenzin, das sehr rasch bei etwa 430 bis 650 Grad Celsius verbrannte, Stahlträger verflüssigen, die erst bei knapp 1400 Grad schmolzen – also bei einer Temperatur, die mehr als doppelt so hoch war wie die größte Hitze, die man jemals bei brennendem Flugzeugbenzin gemessen hatte? Es gab keinen Zweifel daran, dass der Stahl geschmolzen war, denn auf Videoaufnahmen war zu erkennen, wie sich flüssiger Stahl wenige Augenblicke vor dem Einsturz aus den Fenstern ergoss, und unter den Fundamenten des World Trade Center hatte noch Monate nach dem 11. September ein See aus geschmolzenem Stahl gebrannt – und das trotz aller Versuche der Feuerwehrleute, die Flammen mit mehreren Millionen Litern Wasser und Pyrocool zu löschen, einer Chemikalie, die zur Brandbekämpfung eingesetzt wird.
Das Heimatschutzministerium hatte den Zugang zu Ground Zero vollkommen abgeriegelt, wodurch jede eingehende Untersuchung der Trümmer verhindert wurde. Trotzdem war es findigen Ingenieuren gelungen, zahlreiche Materialproben zu sammeln; ihre Analyse bewies eindeutig das Vorhandensein einer fremden Substanz, die sich nicht unter den Trümmern hätte befinden dürfen: Thermit. Thermit ist ein pyrotechnisches Material, das vom Militär und von Bauingenieuren benutzt wird, um Stahlkonstruktionen zum Einsturz zu bringen. Es entwickelt extrem hohe Temperaturen von bis zu 2900 Grad, brennt über einen langen Zeitraum hinweg und lässt sich überdies wie ein Farbanstrich auftragen.
Als Reaktion auf die beunruhigenden Entdeckungen unabhängiger Experten veröffentlichte das National Institute of Standards and Technology (NIST) einen tausendseitigen Bericht, der Erklärungen enthielt, die sämtlichen bekannten Fallstudien über Brände in Hochhäusern widersprachen. Der Report lieferte genauso wenig eine Erklärung für die Thermit-Rückstände, wie er auf den geheimnisvollen See aus geschmolzenem Stahl einging. Darüber hinaus weigerten sich die Beamten des NIST, auf eine Reihe von Explosionen einzugehen, die von Hunderten von Augenzeugen unmittelbar vor dem Einsturz der Türme beobachtet worden waren. Die Beamten äußerten sich auch nicht zu den Aufnahmen, die den Einsturz von WTC 7 zeigten und auf denen eindeutig Rauchwolken zu erkennen waren, wie sie üblicherweise bei Gebäudesprengungen auftreten – typische Rauchformationen, die sich auf Höhe jedes einzelnen Stockwerks zeigten, als der Turm fast mit Fallgeschwindigkeit in sich zusammensackte.
Über vierhundert Architekten und Ingenieure zogen die Untersuchungsergebnisse des NIST in Zweifel – folgenlos. Amerika war angegriffen worden. Die Amerikaner wollten Vergeltung und keine lächerlichen Verschwörungstheorien.
Patrick Shepherd hörte zum ersten Mal bei seinem zweiten Einsatz durch einen Kameraden von den umstrittenen Truth Websites zum 11. September, die sich die Aufklärung der mysteriösen Vorgänge zum Ziel gesetzt hatten. Die Vorwürfe machten ihn wütend. Was hatte es schon zu bedeuten, dass die Türme bekanntermaßen eine Gesundheitsgefahr darstellten, weil bei ihrem Bau Asbest verwendet worden war? Was hatte es schon zu bedeuten, wenn die BBC vierzig Minuten vor dem tatsächlichen Ereignis den Einsturz von WTC 7 meldete? Oder dass sich darin das zweitgrößte geheime CIA-Kommandozentrum des ganzen Landes befand – sowie Büros der Börsenaufsicht SEC, die den Betrug bei Enron und WorldCom untersuchte? Gewiss, Larry Silverstein, der neue Besitzer des World Trade Center, hatte einen Monat vor dem 11. September in den Twin Towers einige der Aufzugsschächte schließen lassen, die auf den neuesten Stand der Technik gebracht werden sollten – aber was hatte das schon zu bedeuten? Wie konnte irgendein loyaler Amerikaner glauben, dass Teile der eigenen Regierung die ruchlosen Terrorangriffe unterstützt und gefördert hatten, um das Ereignis als Rechtfertigung für eine Invasion des Irak zu benutzen? Das war absoluter Unfug.
Die Mainstream-Medien weigerten sich, auf diese Vorwürfe einzugehen, und das galt ebenso für die meisten Amerikaner, unter ihnen Patrick. Doch im Laufe der Jahre begann Patrick Shepherd, die Hinweise ernst zu nehmen, und mit der wachsenden Zahl seiner Einsätze ließen die giftigen Gedanken sein Herz versteinern und erkalten.
Er erfuhr, dass es in der jüngeren Geschichte zahllose Ereignisse gegeben hatte, die gewissermaßen unter falscher Flagge segelten. Es handelte sich dabei um Gewaltaktionen, die von den herrschenden Eliten organisiert worden waren, um Gegner in Verruf zu bringen und sich die Unterstützung der Massen für die eigenen Interessen zu sichern. 1931 sprengten die Japaner Teile ihres eigenen Schienennetzes in die Luft, um sich einen Vorwand für die Besetzung der Mandschurei zu verschaffen. 1939 fälschten die Nazis Beweise über polnische Angriffe gegen Deutschland, um die Invasion Polens zu rechtfertigen. 1953 brachten die Vereinigten Staaten und Großbritannien die »Operation Ajax« auf den Weg, die sich gegen Mohammed Mossadegh richtete, den demokratisch gewählten Premierminister des Iran. Neun Jahre später stoppte Präsident Kennedy die Operation Northwoods, eine Intrige des Verteidigungsministeriums, mit der Kuba die Schuld an einer ganzen Reihe von Ereignissen gegeben werden sollte; unter anderem war dabei an die Entführung und den Absturz eines amerikanischen Zivilflugzeugs gedacht worden. Jahre später sorgte eine weitere Aktion unter falscher Flagge – der Zwischenfall im Golf von Tonkin – für eine Eskalation des Vietnamkriegs.
Am 11. September waren dreitausend Unschuldige ermordet worden. Doch so entsetzlich das auch war, die Zahl verblasste beinahe angesichts der Realitäten moderner Kriegsführung. Hitler hatte sechs Millionen Juden ermordet. Pol Pot hatte systematisch über eine Million Kambodschaner ausgerottet. Tag für Tag hatten die Chinesen bei ihrem Überfall auf Tibet Einwohner des Landes massakriert. Beim Völkermord in Ruanda waren über eine Million Leben ausgelöscht worden. Bei der US-Invasion im Irak waren eine Million Menschen getötet worden – obwohl Saddam keine Massenvernichtungswaffen besaß und einer der entschiedensten Gegner von Osama bin Laden und al-Qaida gewesen war.
Für die Drahtzieher des militärisch-industriellen Komplexes und die Elite der Wall Street waren dreitausend Tote nichts im Vergleich zu den Ölreserven des Irak und den Garantieverträgen in einem Volumen von einer Billion Dollar im Hinblick auf die zu erwartenden Militärausgaben.
Auf der Rückbank des VW-Busses erinnerte sich Patrick an den Augenblick, als ihm endgültig die Wahrheit über den 11. September aufgegangen war. Es war der letzte Tag seines vierten und letzten Einsatzes, der Tag, an dem er begriffen hatte, dass das Land, das er liebte, von einer Gruppe von Wirtschaftsbossen und Bankern übernommen worden war, die zahllose Unschuldige ermordet hatten, um das Reich ihrer Gier zu vergrößern – und dass er für seine eigenen Taten in der Hölle brennen und seine Seelengefährtin nie wiedersehen würde.
Während Patrick zu den in Flammen stehenden Brücken hinaussah, spürte er den Kupfergeschmack des Hasses in seinem Mund. Es war ein Hass, der ihn während des größten Teils der letzten elf Jahre verblendet hatte, eine Wut, die so tief reichte, dass sie alle Liebe, die er jemals empfunden hatte, erstickte, jede gute Erinnerung auslöschte und jeden Funken Licht verhüllte. Und in diesem Augenblick plötzlicher Klarheit erhob eine andere Wahrheit ihr hässliches Haupt.
»Sie werden Manhattan niederbrennen.«
Die anderen Mitglieder der kleinen Gruppe drehten sich zu ihm um.
Paolo griff nach der Hand seiner Frau. »Wer wird Manhattan niederbrennen?«
»Die Bundesbehörden. Das Verteidigungsministerium. Es wird schon bald passieren, möglicherweise bei Sonnenaufgang. Vielleicht wäre es schon vor Stunden geschehen, wenn sie es geschafft hätten, sich den Impfstoff zu verschaffen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Pankaj.
»Im VA Hospital habe ich gehört, wie Bertrand DeBorn damit drohte, die Sache mit Anthrax und die Hintergründe der Angriffe von 2001 öffentlich zu machen. «
»Kogelos Verteidigungsminister?«
»Was hat Anthrax zu tun mit …«
»Anthrax kam aus den Laboratorien der CIA. Ich vermute, dass Scythe in einem ähnlichen Labor entwickelt wurde.«
»Zu welchem Zweck?«, fragte Paolo.
»Um den Iran zu erobern. Da wir nicht über genügend Soldaten verfügen, um noch ein Land zu besetzen, haben sich die Geheimdiensttypen einen neuen Plan einfallen lassen. Wir setzen einen biologischen Kampfstoff wie Scythe frei, mit dem wir die feindlichen Truppen erledigen, um dann mit dem Impfstoff in der Hand in das Land einzuziehen und Friedensverhandlungen aufzunehmen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Francesca nachdrücklich. »Ich weigere mich, so etwas zu glauben. Das hier ist Manhattan, der Big Apple. Niemand wird die am dichtesten bevölkerte Großstadt Amerikas in Flammen aufgehen lassen.«
»Das ist denen egal«, sagte Shep und schloss die Augen. »Wir sind nichts weiter als kleine Zahlen in einer großen Rechnung – ein akzeptabler Verlust. Sie werden Manhattan niederbrennen und Scythe einer Gruppe Terroristen in die Schuhe schieben. Und bevor noch irgendjemand begriffen hat, was vor sich geht, stecken wir mitten im Dritten Weltkrieg.«
Governor’s Island,
New York
6:20 Uhr
Alleine in der Dunkelheit auf einer schimmligen Matratze, die im Keller auf dem feuchten Zementboden lag, zuckte Leigh Nelson von Kopf bis Fuß zusammen, als sie hörte, wie jemand direkt über ihr durch das Erdgeschoss ging. Entsetzen erfüllte sie, als die schweren Schritte des Soldaten die Holztreppe herunterkamen.
Sie schrie auf, als der Mann sich ihr näherte.
»Kein Waterboarding mehr, ich verspreche es. Ich habe Ihnen etwas zur Beruhigung Ihrer Nerven mitgebracht. Können Sie sich aufsetzen?« Jay Zwawa half Leigh Nelson in eine aufrechte Position. Die Muskeln der Ärztin zitterten noch immer. Er reichte ihr eine offene Flasche Whiskey.
Sie hob sie an ihre Lippen und trank. Sie leerte ein Drittel der Flasche, bevor Zwawa sie ihr wieder abnehmen konnte. Ihr Magen brannte, aber die innere Hitze trug dazu bei, dass sich ihre angegriffenen Nerven entspannten.
»Alles in Ordnung?«
»Warum haben Sie mich foltern lassen?«
»Warum? Weil ich Befehle befolgt habe. Weil die Welt verrückt geworden ist. Weil der gesunde Menschenverstand zum Fenster hinausgeworfen wurde, als mehrere Präsidenten zu dem Schluss kamen, dass ahnungslose Schwachköpfe wie Cheney, Rumsfeld und DeBorn mehr vom Militär verstünden als Männer, die tatsächlich in den Streitkräften gedient haben.«
»Ich hasse euch und eure verdammten Kriege und eure wahnsinnigen Programme zur biologischen Kriegsführung. Ich hoffe und bete darum, dass jede dieser Maden in Menschengestalt und jeder Kriegstreiber, der daran beteiligt ist, in der Hölle brennen wird.«
»Ich vermute, dass Sie Ihren Willen bekommen werden.«
Sie duckte sich, als er in seine Jackentasche griff – doch er zog nur sein Handy heraus. »Rufen Sie Ihre Familie an. Sagen Sie Ihren Leuten, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist. Mehr nicht.«
Mit zitternder Hand nahm sie das Gerät entgegen und gab die Nummer ein.
»Hallo?«
Sie brach in ein Schluchzen aus. »Doug?«
»Leigh! Wo bist du? Hast du es geschafft, aus der Stadt rauszukommen? Ich habe die ganze Nacht versucht, dich anzurufen.«
Durch einen dichten Tränenschleier hindurch sah sie zu Zwawa auf. »Es geht mir gut. Ich bin in einer Militärbasis auf Governor’s Island.«
»Gott sei Dank! Wann wirst du nach Hause kommen? Warte … Hast du dich angesteckt?«
»Nein, es geht mir gut. Geht es dir auch gut? Sind die Kinder in Sicherheit?«
»Wir sind alle hier. Uns geht es gut. Autumn sitzt direkt neben mir. Autumn, willst du Mommy Guten Tag sagen?«
Eine benommene Kinderstimme murmelte: »Hi, Mommy.«
Leigh schluchzte heftiger. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, als sie antwortete. »Hi, Baby Doll. Passt du gut auf Parker und Daddy für mich auf?«
»Ja, Mommy. Passt du gut auf Patrick für mich auf?«
Leighs Herzschlag dröhnte in ihren Ohren.
Jay Zwawas Augenbrauen hoben sich, seine Miene wurde finster.
»Schätzchen, Mommy muss los. Ich liebe dich.« Entsetzt beendete sie das Gespräch. »Ich habe ihn mit nach Hause genommen, damit er meine Familie kennenlernt. Meine kleine Tochter und er haben sich sofort gut verstanden. «
Der Captain schob das Handy in seine Tasche. Ohne ein weiteres Wort ging er mit schweren Schritten die Holztreppe hinauf und verschloss die Tür hinter sich.
Leigh Nelson kroch in eine Ecke des Kellerraums und übergab sich.
Battery Park,
Manhattan, New York
6:21 Uhr
Ernest Lozano folgte Sheridan Ernstmeyer in die Lobby des Wohngebäudes, die Waffe im Anschlag. Das kleine Marmorfoyer war dunkel bis auf die einsame gelbe Notbeleuchtung, die an der Decke blinkte.
Schatten krochen hin und her. Stöhnen erhob sich über den Körpern der hustenden Kranken. Gedämpfte Schreie erklangen aus den Wohnungen im ersten Stock. Die faulige Luft stank nach Tod.
Lozano konnte sich nicht mehr beherrschen. »Das ist doch idiotisch. DeBorn ist infiziert. Er könnte tot sein, bevor wir auch nur zurück sind.«
»Halt die Klappe.« Die Attentäterin suchte nach dem Treppenhaus. Eine Woge aus Adrenalin und Amphetaminen strömte durch ihren Körper. »Da drüben.« Sie riss die Brandschutztür auf, wodurch eine Katze ins Freie stürmen konnte. Das übermütige Haustier schoss an ihnen vorbei in die Dunkelheit.
»Stockwerk?«
»Was?«
»Shepherds Frau. In welchem Stock wohnt sie?«
»Im elften. Sheridan, diese Aktion ist vollkommen überflüssig. «
Sie drehte sich um und richtete den Lauf ihrer 9-Millimeter-Pistole auf seine Schutzmaske. »DeBorn ist ein Überlebenskünstler. Er wird es hier raus schaffen – lebend. Gilt das auch für dich?«
»Du bist verrückt.«
»Du meinst, dass ich eine verrückte Schlampe bin. Das ist es doch, was du in Wirklichkeit denkst, nicht wahr, Ernie? Los, spiel schon auf meine Menstruation an. Aber wir werden ja sehen, wer am Ende blutet.«
Ihre Augen hinter den Sichtfenstern der Maske starrten Lozano mit wildem Blick an. »Holen wir uns doch einfach Shepherds Frau, und dann verschwinden wir von hier«, antwortete er.
Sie rammte ihm ihren Zeigefinger in die Brust. »Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Sie trat einen Schritt zurück, drehte sich um und begann, die Treppe hinaufzusteigen.
Tribeca, Manhattan,
New York
6:24 Uhr
Der Tod eines Kindes ist etwas zutiefst Unnatürliches, eine Perversion des Lebens. Man ist einfach nicht darauf vorbereitet, dass Kinder vor ihren Eltern sterben. Wenn es doch passiert, stürzt das die Eltern in eine so grenzenlose Trauer, in einen so heftigen Schmerz und eine so allumfassende Leere, dass die Betroffenen darin manchmal geradezu ertrinken.
David Kantor war im Krieg gewesen. Er hatte Kinder behandelt, die Arme oder Beine verloren hatten. Er hatte ihre leblosen Körper in den Armen gehalten. Trotz fünf Einsätzen in zwei Kriegen war der Mediziner gegenüber den Tragödien, die Kinder betrafen, niemals immun geworden. Doch das hier war anders. Der Anblick war so herzzerreißend, dass nur der überwältigende Drang, seine Tochter zu finden, ihn vor einem geistigen Zusammenbruch bewahrte.
David stolperte von einem Klassenzimmer zum nächsten, und der Strahl seiner Taschenlampe enthüllte das Werk von Scythe in seiner bösartigsten Form. Von der Pest infiziert, hatten sich die kleinsten Kinder auf dem Boden aneinandergedrängt wie ein Wurf Welpen, um sich gegenseitig zu wärmen. Menschliche Schneeflocken, von Blut befleckt.
Sie kann nicht hier sein. Das sind Grundschüler. Du musst die Siebtklässler suchen.
David hörte ein Stöhnen. Rasch ging er auf das Geräusch zu, indem er den Flur überquerte und in die Bibliothek trat. Im Licht der Taschenlampe sah er den Mann.
Der Rektor lag auf dem Teppichboden, den Kopf auf eine Enzyklopädie gestützt. Rodney Miller öffnete die Augen. Mit jedem keuchenden Atemzug sprühten kleine Tropfen Blut aus seinem Mund.
»Miller, ich bin’s, David Kantor.«
»Kantor?«
»Gavis Vater. Wo ist sie? Wo sind die älteren Kinder?«
Nur unter größten Mühen gelang es ihm zu antworten, und mit letzter Anstrengung murmelte er das Wort: »Sport… halle.«
Chinatown,
Manhattan, New York
6:26 Uhr
Der Wind peitschte die Wellen des East River auf und verwirbelte die schlammfarbene Wolkendecke über Manhattan zu einem gewaltigen Mahlstrom. Unter der giftigen Schicht aus Kohlendioxid und chemischen Stabilisatoren kauerten sich die Scythe-Überlebenden auf den Hausdächern zusammen, wo sich jeder freie Streifen Teerpappe in das Fundament eines Flüchtlingslagers verwandelte, denn die Wohnungen waren längst den Sterbenden überlassen worden, und die Straßen gehörten den Toten.
Pankaj Patel ließ das Getriebe des VW-Busses aufheulen, als er auf der Henry Street nach Südwesten rollte und die Front des Fünf-Gang-Relikts die Markisen der Geschäfte und alle sonstigen Gegenstände beiseitedrückte, die die schmalen Bürgersteige blockierten. Er fuhr unter den Überresten der Manhattan Bridge hindurch. Bog nach rechts in die Catherine Street ab. Und rollte noch zwei Blocks weiter, bevor er gezwungen war, anzuhalten.
Die Nord-Süd-Verbindung vor ihnen – die Bowery – war praktisch ein einziges Knäuel aus Autos, Bussen und Lastwagen, die, so weit das Auge reichte, jeden Quadratmeter der Straße und der Bürgersteige bedeckten. Die meisten Fahrer, die auf der Bowery feststeckten, hatten ihre Autos auf der Suche nach Nahrungsmitteln und Toiletten längst verlassen. Die wenigen, die der Pandemie entgangen waren und die Nacht über ausgeharrt hatten, mussten feststellen, dass sie jetzt auf ihrer sicheren Insel gefangen waren und nirgendwo anders hingehen konnten.
Die Silhouette der roten Backsteingebäude mit ihren wackligen Feuerleitern ragte wie eine weitläufige mittelalterliche Burg jenseits des endlosen Staus auf der Bowery in den Himmel.
Pankaj drehte sich zu den anderen um. »Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können hier bleiben und sterben, oder wir können versuchen, zu Fuß durch Chinatown zu gehen. Bis zum Finanzdistrikt ist es nicht mehr weit, und dann haben wir den Battery Park und das Boot von Paolos Schwager schon so gut wie erreicht. Manisha?«
»Mein Kristall ist zur Ruhe gekommen. Meine spirituelle Führerin ist einverstanden.«
»Virgil?«
»Einverstanden.«
»Paolo?«
»Francescas Fruchtblase ist geplatzt. Gerade hatte sie ihre erste Wehe. Was sollen wir tun, wenn das Baby kommt?«
»Wir müssen uns irgendeinen Notbehelf besorgen … vielleicht einen Karren oder etwas Ähnliches, in dem wir sie transportieren können. Patrick?«
Virgil versetzte Patrick einen leichten Stoß, sodass er erwachte. »Deine Frau und deine Kinder sind jetzt schon ganz nahe. Bist du bereit weiterzugehen?«
»Ja.«
Die sieben Überlebenden verließen den VW-Bus und gingen zu Fuß über die Bowery weiter. Sie kletterten und rutschten über Kofferräume und Motorhauben, bis sie einen Schwertransporter erreichten. Der Neunachser lag auf der Seite und blockierte den Eingang nach Chinatown.
Sechzehn Stunden zuvor hatte die asiatische Enklave von Menschen gewimmelt. Tausende Touristen hatten die Dim-sum-Restaurants bevölkert und waren auf der Suche nach günstigen Einkäufen durch die engen, überfüllten Gassen gestreift. Am Nachmittag waren alle Touristen geflohen. Bei Einbruch der Dämmerung hatte sich das Asiaten-Getto vom Rest Manhattans abgetrennt. Die Führer Chinatowns hatten bis hinauf zur Canal Street die Straßen von allem Verkehr freigeräumt und angeordnet, dass kein Fremder die Gegend betreten durfte. Dazu hatten sie die Zufahrtsstraßen mit Lastwagen verbarrikadiert.
Pankaj gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen; der Psychologieprofessor hatte eine erreichbare Feuerleiter entdeckt. »Wir klettern aufs Dach und gehen dann in Richtung Süden zum Columbus Park.« Er holte sich einen Mülleimer, stieg hinauf und griff nach der ersten Sprosse. Dann zog er den untersten Teil der Stahlleiter herab.
Minuten später kletterten sämtliche Mitglieder der kleinen Gruppe an der Seite des Gebäudes nach oben. Die rostigen Stufen knirschten unter ihrem Gewicht.
Sekretariatsgebäude
der Vereinten Nationen
United Nations Plaza, Manhattan,
New York
6:32 Uhr
Der Notstromgenerator war in Betrieb, und die zur Verfügung stehende Elektrizität war so verteilt worden, dass damit ausschließlich die Funktion der sechs Aufzüge des Gebäudes gesichert war. In der Lobby hatte die Verteilung der Racal-Schutzanzüge begonnen. Die schwere Sicherheitskleidung wurde auf Karren geladen und von Soldaten in die Suiten gebracht, in denen es noch Überlebende gab.
In der dreiunddreißigsten Etage hatten Präsident Kogelo und sein Stab ihre Schutzanzüge bereits erhalten. Der Führer der freien Welt war nun schon fast dreißig Stunden wach und stand unter enormem Druck. Während der ganzen langen Nacht hatten ihm die Ärzte des CDC immer wieder versichert, dass seine Müdigkeit und sein leichtes Fieber seiner Erschöpfung und nicht etwa Scythe zuzuschreiben waren. Kogelo hatte vorgegeben, diese Einschätzung zu teilen, sich jedoch gleichzeitig »als reine Vorsichtsmaßnahme« in sein Privatbüro zurückgezogen.
Dass sich die Beulen in seiner Leistengegend und nicht an seinem Hals gebildet hatten, half ihm, die Wahrheit vor seinen Mitarbeitern zu verbergen. Nur John Zwawa in Fort Detrick wusste, dass der Präsident infiziert war, und der Colonel setzte alles daran, den Impfstoff zur Verfügung zu haben, sobald Kogelo auf Governor’s Island eintreffen würde.
»Mr. President, der Impfstoff befindet sich in Manhattan, und unsere Männer sind in diesem Augenblick dabei, ihn sicherzustellen. Wenn die Beulen erst vor sechs Stunden aufgetaucht sind, dann haben wir immer noch Zeit. Ich weiß, dass es schwierig ist, Sir, aber versuchen Sie, ruhig zu bleiben.«
Eine Zeit lang war es Kogelo tatsächlich gelungen, ruhig zu bleiben. Er hatte sich damit beschäftigt, Videobotschaften an seine Frau und seine Kinder, den Vizepräsidenten, den Kongress und das amerikanische Volk aufzunehmen. Doch innere Blutungen hatten ihn schließlich gezwungen, die Arbeit daran einzustellen. Jedes Mal, wenn er Blut husten musste, schien der Schmerz seine Lunge fast zu zerreißen.
Jetzt lag der Präsident in seinem Schutzanzug auf der Couch und betete, dass ihm sein Schöpfer noch etwas mehr Zeit gewähren würde. Dann nämlich könnte er seine Kinder noch einmal wiedersehen und seine Frau noch einmal in den Armen halten. Und den Krieg abwenden, der allen Kriegen für immer ein Ende machen würde.
Chinatown,
Manhattan, New York
6:37 Uhr
Stockwerk für Stockwerk setzten sie ihren Aufstieg über die wacklige Feuerleiter nach oben fort. Manisha hatte ein wachsames Auge auf Dawn, Pankaj half Virgil. Paolo stützte Francesca auf den schmalen Gitterstufen. Alle acht bis neun Minuten musste die Frau des Italieners aufgrund ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft eine Pause einlegen, sodass sie eine Wehe »reiten« konnte.
Patrick war der Letzte, der von der Feuerleiter auf das Dach des achtstöckigen Gebäudes trat. Breite Abschnitte aus Teerpappe und Kies bildeten die Bruchstücke eines Labyrinths aus Dächern, die als dunkle Silhouetten erkennbar waren. Einige der Dächer waren flach, andere schräg, und nur selten hatten zwei die gleiche Höhe, sodass ein Irrgarten aus Schatten entstand, der Backsteinschluchten und Verbindungsbrücken, Wasser-und Lüftungsrohre, Klimaanlagen und Schornsteine, Antennen und Satellitenschüsseln fast verbarg; sie alle ragten verschieden weit in die Dunkelheit.
»Hier entlang«, sagte Pankaj. Er war sich sicher, was die Richtung betraf, auch wenn er die genaue Route noch nicht kannte. Er drängte die kleine Gruppe nach Westen und übernahm selbst die Führung – als der Asphalt vor ihm sich plötzlich in Wellen erhob und aus den Schatten Menschen wurden. Unter Decken zusammengekauert erwachten Hunderte asiatischer Männer, Frauen und Kinder, die die Eindringlinge absolut stumm anstarrten, während das ersterbende Licht aus ihren Laternen die Begegnung in eine zutiefst fremdartige Aura hüllte.
Eine Grenze war verletzt worden. Waffen wurden gezogen.
Bevor Pankaj reagieren und Manisha die Schwingungen ihres Kristalls spüren konnte, bevor die zehnjährige Dawn aufschreien und Paolo und Francesca beten konnten, zog sich die Menge in die Schatten zurück und fiel verängstigt auf die Knie.
Patrick trat nach vorn. Sein Kopf und sein Gesicht waren unter der Kapuze der Skijacke verborgen, seine Armprothese war in die Höhe gereckt, als handle es sich um die Sense des Todesengels.
»Paolo, ich glaube, es ist Zeit, dass ich die Führung übernehme.« Shep schob sich an dem verblüfften Psychologieprofessor vorbei, und seine Präsenz teilte das Meer der von Entsetzen erfüllten Überlebenden.
Tribeca, Manhattan,
New York
6:38 Uhr
Die Sporthalle lag im neunten Stock. David drückte gegen die Türen – verriegelt. Mit dem Kolben seines Sturmgewehrs zerschlug er das kleine Glasrechteck in einer der Türen. »Hallo! Ist jemand da drin?« Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Hörte ein Rascheln … und Geflüster.
»Wer ist da?«
»David Kantor. Ich bin Gavis Vater. Ich bin nicht infiziert. «
Jemand kam näher. Eine schwere Kette wurde auf der anderen Seite der Tür gelöst. Die Tür öffnete sich, und David trat ein. Bis auf die Notbeleuchtung war alles dunkel. Die Schüler saßen auf dem Basketballfeld aus Hartholz; David konnte nur ihre dunklen Silhouetten erkennen.
»Wer hat hier die Verantwortung für alles?«
»Ich … irgendwie.« Der junge Mann war erst sechzehn Jahre alt. »Wir sind insgesamt achtzehn. Soweit wir wissen, ist niemand infiziert. Wir haben uns nachmittags gegen zwei hier eingeschlossen.«
»Ist Gavi Kantor hier? Gavi?«
»Sie ist nicht hier.« Eine Siebtklässlerin trat vor; das afroamerikanische Mädchen hatte sich in eine Decke gewickelt. »Sie war heute nicht in der Schule.«
Sie war nicht in der Schule? Sie war überhaupt nicht zum Unterricht gekommen? Vielleicht ist sie nicht einmal in Manhattan …
»Dr. Kantor, haben Sie genügend Schutzanzüge für uns?«
Ein Erstklässler zog an seinem Hosenbein. »Ich möchte nach Hause.«
Nach Hause? David knirschte mit den Zähnen. Wenn sie gehen, werden sie sich anstecken. Wenn sie bleiben, werden sie auf jeden Fall sterben. Was soll ich nur mit ihnen machen? Wohin kann ich sie bringen? Es gibt keine Möglichkeit, die Insel zu verlassen …
Sie drängten sich um ihn wie Motten um eine Flamme. »Bitte, verlassen Sie uns nicht.«
Er sah zu dem Siebenjährigen hinab. »Euch verlassen? Warum sollte ich denn so etwas tun? Ich bin hier, um euch nach Hause zu bringen. Doch bevor wir aufbrechen, muss jeder seinen Mund und seine Nase bedecken – egal, womit. Nehmt einen Schal oder ein Handtuch oder notfalls eine Socke … was ihr nur finden könnt. Die Größeren müssen den Kleineren helfen. Sobald wir die Sporthalle verlassen haben, dürft ihr nichts mehr anfassen. Und ihr müsst durch den Stoff atmen. Lasst eure Sachen hier, ihr braucht sie nicht. Nur Jacken, Handschuhe und Mützen.«
Chinatown,
Manhattan, New York
6:39 Uhr
Das plötzliche Vibrieren ihres Kristalls ließ Manisha zusammenzucken. Sie sah sich mit typisch mütterlicher Paranoia um. »Pankaj, wo ist Dawn?«
Ihr Mann deutete nach vorn, wo ihre Tochter Hand in Hand mit dem in seine Kapuzenjacke gehüllten Patrick Shepherd weiterging. »Sie hat darauf bestanden. Stimmt was nicht?«
»Hier stimmt überhaupt nichts«, flüsterte Manisha zitternd. »Unsere übernatürliche Führerin ist ganz nahe.«
»Patrick, können wir für einen Moment anhalten? Ich muss mich ausruhen.« Dawn ließ seine rechte Hand los und setzte sich neben einen Lüftungsschacht, wobei sie sich mit der gepolsterten Rückseite ihrer Jacke vor dem vereisten Metall schützte. »Tut mir leid, aber meine Füße tun weh.«
»Meine auch.« Er lehnte sich gegen den anderthalb Meter hohen Dachsims und sah auf die Mott Street hinab. »Es sind nur noch ein paar Blocks bis zum Columbus Park. Soll ich dich tragen? Du könntest auf meinem Rücken sitzen, wie ich das mit meiner eigenen kleinen …«
Seine Stimme erstarb, und er fixierte die Straße unter sich.
»Was ist, Patrick? Was siehst du?«
Die Chinesen waren effizient, das musste er zugeben. Als immer mehr pestverseuchte Leichen auftauchten, hatten sie rasch gehandelt und ihre Toten in der Kanalisation entsorgt – und zwar auf die schnellstmögliche Art: Sie hatten sie mit dem Kopf voran in die offenen Abwasserschächte geworfen. Irgendwann hatte sich der scheinbar endlose Leichenstrom in der Tiefe so sehr angestaut, dass der improvisierte unterirdische Friedhof völlig verstopft war. Als Folge davon steckten in jedem Abwasserschacht mehrere Leichen fest, wobei aus jeder Öffnung die Beine des jeweils letzten Toten in die Höhe ragten.
Auf dem Kopf stehende Körper, deren Füße aus der Erde in die Höhe ragen … Der Scythe-Impfstoff angelte nach einer lange verloren geglaubten Erinnerung wie nach einem Fisch, der aus einem Abgrund im Meer gezerrt und auf ein Boot geschleudert wird.
Graue Nebelschwaden zogen über die Mott Street …
… und die schlammige Landschaft, die zwischen den einzelnen Nebelstreifen hindurch sichtbar wird, erstreckt sich Tausende von Kilometern in jede Richtung. Überall sind Tote – fleckige, verwesende Leichen. Die meisten liegen wie aufeinandergeschichtet im Dreck, doch einige sind mit dem Kopf voran bis zu den Hüften in der sumpfigen Erde verschwunden. An den Körperteilen, die schon lange im Wasser liegen, haben sich die Kleider vom Fleisch abgeschält. Und manchmal auch das Fleisch von den Knochen.
Es ist ein Tal der Toten, ein gärender Friedhof von mehreren Zehntausend Menschen, die Folge einer kaum vorstellbaren Naturkatastrophe … oder eines göttlichen Akts.
Mit einem Ruck kam Shep wieder zu sich. Er zitterte am ganzen Körper, und noch immer sah er die entsetzlichen Bilder vor sich. Instinktiv fiel er auf die Knie und umarmte Dawn mit seinem gesunden Arm. Irgendwie wirkte ihre Aura tröstlich auf ihn.
»Patrick, was ist? Was hast du gesehen?«
»Den Tod. In einem Ausmaß, das ich mir niemals hätte vorstellen können. Und irgendwie … war das alles meine Schuld.«
»Du musst gehen.«
»Ja, wir müssen von hier weg.«
»Nicht wir. Nur du.«
Er schob sich von ihr weg – und das war der Augenblick, in dem er den Geist sah. Die schimmernde blaue Erscheinung schien über Dawn zu schweben und ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Anscheinend gab sie dem Kind Anweisungen. »Du musst uns verlassen und dich um andere Schutzbefohlene kümmern.«
»Welche Schutzbefohlenen? Dawn, hat dir das deine spirituelle Gefährtin gesagt?«
»Zehn Ebenen unter uns ist malebolge, ein Ort des Bösen, wo Unschuldige bedrängt werden. Geh zu ihnen, Patrick. Befreie sie aus ihrer Knechtschaft. Wir werden uns außerhalb dieses Todeskreises wiedertreffen, wenn du deine Aufgabe vollbracht hast.«
Patrick stand auf. Seine Augen waren noch immer auf das Licht fixiert, als er rückwärts stolperte und fast über Virgil fiel.
»Mein Sohn, was stimmt hier nicht? Hattest du etwa noch eine Vision?«
»Das war etwas anderes. Etwas viel Schlimmeres. Völkermord. Totale Vernichtung. Das Ende der Tage. Irgendwie war ich dort – und zugleich war nicht ich es, der dort war. Aber ich war dafür verantwortlich. Ich war unmittelbar daran beteiligt.«
Die anderen umringten ihn.
»Du musst versuchen, ruhig zu bleiben. Wir klären das.«
»Ich muss los.«
»Wohin?«, fragte Paolo. »Ich dachte, du musst deine Familie finden.«
»Das stimmt.« Er sah von Virgil zu dem Mädchen, während das Licht des Geistes langsam hinter dem Kind erlosch. »Aber zuerst muss ich noch eine andere Aufgabe erledigen.«
MALEBOLGE
6:53 Uhr
Immer wieder wurde sie zwischen dem Schmerz des Bewusstseins und der letzten Dunkelheit hin und her gerissen, doch die entsetzliche Gegenwart der drei Raubtiere in Menschengestalt verhinderte, dass sie in Ohnmacht fiel.
Ihr Oberkörper war über den Tisch gebeugt. Ihre Jeans hingen um ihre Knöchel. Sie zitterte, und ihr ganzer Körper hatte eine Gänsehaut, als die drei Angreifer ihrer Beute immer näher kamen.
Sie kniff ihre Augen mit aller Kraft zu, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr das abstoßende Aftershave des Mannes, den sie Ali Chino nannten, in die Nase drang. Der schlaksige Mexikaner stand direkt vor ihr, doch sie weigerte sich, ihn anzusehen. Sie musste würgen, als er ihren Hals ableckte, und schaudernd spürte sie, wie die Klinge seines Messers ihre Kehle hinab und über ihre Bluse glitt. Mit einer Bewegung nur aus dem Handgelenk heraus schnippte er einen Knopf nach dem anderen weg. Unwillkürlich zuckte sie zurück – und entdeckte Farfarello.
Der Sizilianer war zwanzig Jahre alt. Er riss ihr den BH herunter und betatschte von hinten ihre Brüste. Seine Hände waren so schwielig und kalt wie seine Seele. In Gedanken schob sie den Sizilianer und den Mexikaner beiseite, denn die beiden waren nur die Helfer, die sich mit den Überresten des Festmahls würden begnügen müssen. Es war das Alphamännchen, das sie schaudern ließ, der Dämon, der ihr den Slip herunterzog und sie von hinten packte.
Cagnazzo schob Farfarello weg, denn er wollte das Mädchen für sich selbst haben. Der Kolumbianer war ein Psychopath. Ein Monster, das nur dafür lebte, anderen Schmerz und Leid zuzufügen. Gavi Kantor schrie auf, als die von Blasen übersäten Finger des Siebenundzwanzigjährigen zwischen ihre Beine fuhren, während er sich mit der anderen Hand bereit machte, in sie einzudringen. Er beugte sich vor und flüsterte in gebrochenem Englisch: »Das wird wehtun. Das wird schrecklich wehtun. Und wenn ich fertig bin, werde ich das alles noch einmal mit meiner Pistole machen.«
Im Leben der dreizehn Jahre alten Gavi Kantor gab es nichts mehr – keine Angst, keine erschöpften Nerven, keine Gefühle, keine Gebete. Der Schmetterling war auf dem Rad gebrochen worden. Die letzten Stunden ihres Lebens hatten ihr die Identität, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft geraubt.
Der Kolumbianer drückte sie nach unten. Er spürte keinerlei Widerstand mehr.
Und dann war plötzlich eine weitere Präsenz im Raum – ein anderes Raubtier.
Drei Männer sind dort … und das Mädchen. Sie ist dreizehn, vierzehn Jahre alt. Ihr Hemd ist aufgerissen und blutverschmiert, ihr Unterkörper nackt. Sie liegt ausgestreckt mit dem Bauch auf einem Tisch.
Dunkle Augen richten sich auf ihn, als er diesen Ort der Entwürdigung betritt. Das Mädchen schreit auf. Ihre unartikulierten Worte müssen nicht übersetzt werden.
»Das ist nicht unser Kampf, Sergeant. Verlassen Sie das Grundstück. Sofort!«
»Diesmal nicht.«
Cagnazzo sah erschrocken auf. »Scheiße, wer bist du denn?«
Patrick Shepherds Augen wurden immer größer, seine Nasenflügel blähten sich auf. »Du erkennst mich nicht? Ich bin der Todesengel.«
Die Armprothese peitschte durch die Luft, und ihre gebogene Klinge drang durch Cagnazzos Kehle und seine Speiseröhre, bis die Stahlkante zwischen dem vierten und dem fünften Halswirbel des Kolumbianers stecken blieb. Shep versetzte dem Toten einen Tritt, sodass er von der sensenförmigen Klinge abrutschte, und drehte sich den beiden anderen Sklavenhändlern zu.
Farfarello war bleich wie ein Geist. Er bekreuzigte sich und floh.
Ali Chino, der wie versteinert vor Angst dastand, sah, wie die blutbeschmierte Klinge in einem Bogen mitten in das umgekehrte V seiner Beine nach oben schoss, sich durch seine Jeans bohrte und seine Hoden aufschlitzte. Der kastrierte junge Mexikaner schrie auf vor Qual. Er versuchte, seine blutüberströmten Genitalien festzuhalten, stürzte nach vorn, schlug mit dem Kopf gegen die Tischplatte und verlor das Bewusstsein.
Gavi Kantor bedeckte zitternd ihre Blöße. »Wer immer du auch bist, bitte tu mir nicht weh.«
»Ich werde dir nicht wehtun.« Shep zog die Kapuze vom Kopf, sodass das Mädchen sein Gesicht sehen konnte.
Gavi zog sich rasch an, während sie im flackernden Kerzenlicht Sheps Gesicht musterte. »Ich kenne dich. Wie kann es sein, dass ich dich kenne?«
»Du zitterst. Hier, nimm meine Jacke.« Er zog seine Skijacke aus und reichte sie ihr. »Ich heiße Patrick. Wir müssen hier raus.« Er beugte sich vor und zog eine Smith & Wesson Kaliber .45 aus dem Hosenbund des toten Kolumbianers.
»Sie haben mich entführt. Sie wollten mich … oh mein Gott …«
Er legte seinen gesunden Arm um ihre Schulter, als sie vor Entsetzen nicht weitersprechen konnte. »Es ist alles gut, jetzt ist alles gut. Ich werde dich hier rausschaffen. Ist noch jemand hier? Irgendwelche anderen Mädchen?«
»Sie haben uns alle zusammen in einen Raum gesperrt. Den Gang runter.«
»Zeig’s mir.«
Battery Park,
Manhattan, New York
7:04 Uhr
Sheridan Ernstmeyer erreichte den Treppenabsatz im elften Stock zuerst. Schweiß rann ihr unter ihrer Atemmaske über das Gesicht. Einen wohlverdienten Augenblick lang genoss sie das intensiv brennende Gefühl in ihren Oberschenkeln und die Woge der Endorphine, die bei ihr jede gelungene Trainingseinheit begleiteten.
Dann drehte sie sich zur Treppe um und sah hinab. Ernest Lozano war noch zwei Stockwerke unter ihr. »Das können wir jederzeit wiederholen, Mr. Y-Chromosom. Am besten noch vor der Apokalypse.«
Keine Antwort.
»Wie ist die Nummer der Wohnung? Ich werde mich alleine darum kümmern.«
»Elf null zwei. Warum hast du mir das nicht neun Stockwerke früher gesagt?«
»Du hattest das Training nötig. Komm hoch, während ich mir Shepherds Frau hole.« Mit der Waffe in der Hand riss sie die Brandschutztür auf.
Die Wohnung lag in der Nähe des Treppenhauses. Es war die zweite Tür links. Sheridan klopfte mehrmals laut dagegen. »Mrs. Shepherd, machen Sie auf! Hallo!« Sie klopfte noch einmal und machte sich bereit, die Tür einzutreten.
In der Wohnung kam jemand näher. »Wer ist da?« Die Stimme gehörte einer Frau um die dreißig.
»Ich gehöre zum Militär, Mrs. Shepherd. Es ist äußerst wichtig, dass ich mit Ihnen spreche.« Sie hielt ihren Ausweis vor die Linse des Türspions.
Ein Riegel wurde gelöst. Die Tür öffnete sich – und im Eingang der Wohnung stand eine zweiunddreißig Jahre alte Afroamerikanerin, die einen Flanellbademantel trug.
»Beatrice Shepherd?«
»Nein, ich bin Karen. Beatrice ist meine Mutter.«
»Ihre Mutter? Nein, das kann nicht sein. Ihr Mann … Ihr Ehemann Patrick, der von Ihnen getrennt lebt … Er muss Sie unbedingt sehen.«
»Ich bin nicht verheiratet, und meine Mutter ist seit zwanzig Jahren Witwe. Ich glaube, Sie haben die falsche Person.« Sie wollte die Tür schließen, doch Sheridans Stiefel kam ihr in die Quere.
»Sie lügen. Zeigen Sie mir Ihre Papiere.«
»Sie sollten jetzt gehen.«
Die Attentäterin richtete ihre Pistole auf das Gesicht der Frau. »Sie sind Beatrice, nicht wahr?«
»Karen?«
Die Stimme kam irgendwo aus dem dunklen Wohnzimmer. Sheridan schob sich in die Wohnung. Im Kerzenlicht sah sie eine Gestalt, die sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte.
Von Fieber gezeichnet lag die siebenundfünfzig Jahre alte Beatrice Eloise Shepherd in einer Pfütze aus ihrem eigenen Schweiß und ihrem Blut. Eine obszöne dunkle Beule von der Größe eines reifen Apfels ragte unter dem Kragen ihres Seidenpyjamas hervor. Sie stand eindeutig an der Schwelle des Todes – und ebenso eindeutig war sie nicht Sergeant Patrick Ryan Shepherds Ehefrau, die von ihrem Mann getrennt lebte.
Die Attentäterin trat einen Schritt zurück. Dann drehte sie sich um, verließ die Wohnung – und stieß im Hausflur auf Ernest Lozano.
»Und? Wo ist Shepherds Frau? Ich dachte, du wolltest das in deinem Übereifer alleine erledigen.«
Sheridan Ernstmeyer hob ihre Neunmillimeter und schoss dem Agenten ruhig und kühl dreimal ins Gesicht. Knochensplitter und Blut spritzten gegen ihre Atemmaske. »Sie war nicht die Richtige.«
Sie machte einen Schritt über die Leiche hinweg und eilte auf das Treppenhaus zu, wobei sie die Endorphine genoss, die durch ihren Kopf strömten.