Marie-Claude war genau so aufgeregt wie Paulette und Kelda, als sie von ihrer Entdeckung auf dem Friedhof berichteten. Nachdem sie den abendlichen Scherbenhaufen, diesmal waren es zum Glück nur zwei tönerne Blumentöpfe mit Rosmarin und Petersilie, die bei Soquettes wildem Toben zu Bruch gegangen waren, aufgeräumt hatten, setzten sie sich zusammen, um ihre Beute zu sichten.
»Ich versuche schon die ganze Zeit, alle möglichen Erinnerungen an die alte Bellard zusammenzukramen«, sagte Paulette und nippte an ihrem Cidre.
»Du hast mir oft von dem großen Haus erzählt, in dem sie wohnte, Maman.«
»Die Villa, drüben in Brignogan. Jetzt wohnt eine Familie aus Le Mans dort. Sie haben das Haus vor sieben oder acht Jahren gekauft.«
»Veuve Bellard starb 1964, richtig? Wer hat das Anwesen denn damals geerbt?«, fragte Kelda.
»Ein Neffe von ihr. Aus dem Zweig der Havaux aus Plounéour-Trez. Der hat es allerdings vermietet und sich wenig darum gekümmert. Es war – wie soll ich sagen – schon etwas heruntergekommen.«
»Renovierungsstau nennt man das, glaube ich. Das passiert leider häufig bei Häusern, die von alten Leuten bewohnt werden. Sie sehen keinen Sinn mehr darin, etwas für den Erhalt zu tun.«
»Hörst du, Maman!«
»Ich habe gerade neue Vorhänge anbringen lassen. Und eine neue Waschmaschine gekauft!«
Kelda wurde rot. Ihre Bemerkung war nicht eben geschmackvoll gewesen, fiel ihr bei diesem Wortwechsel auf. Aber Paulette, auch wenn sie schon knapp an die siebzig war, machte überhaupt nicht den Eindruck einer alten Frau.
»Entschuldigung!«, murmelte Kelda.
»Keine Ursache, Kelda. Du hast ja recht. Die alte Bellard hockte in ihrer riesigen, zugigen Villa, die langsam um sie herum verrottete. Sie hätte es gemütlicher in einem kleinen Häuschen in einem der Orte hier gehabt. Dann hätte sie am Leben teilnehmen können, statt immer nur mich umherzujagen. Damals hätte sie noch einen ansehnlichen Preis für die Villa bekommen. Ich glaube auch, sie hatte am Ende nicht mehr viel Geld. Zumindest habe ich gehört, dass alles, was irgendwie von Wert gewesen ist, schon verschwunden war, als der junge Havaux es geerbt hat.«
»Keine Pariser Couturen, kein Schmuck, kein Tafelsilber?«
Paulette schnaubte verächtlich. »Sie trug ausgeleierte Kittelschürzen, und in der Küche gab es nur Steingut und Blechbestecke.«
»Also hat der Neffe einen weißen Elefanten geerbt.«
»So kann man sagen. Ich war so froh, dieser Tretmühle entronnen zu sein, dass ich mich nicht weiter darum gekümmert habe. Ich nahm eine Stelle in einer Fischfabrik in Brest an, lernte Marie-Claudes Vater kennen und half ihm jahrelang dort in seinem Restaurant. Hierher zogen wir erst wieder Anfang der Neunziger, als Marie-Claude mit der Schule fertig war. Meine Eltern hatten nach dem Krieg dieses Haus zu einer Bar Tabak umgebaut, was für die damalige Zeit keine schlechte Entscheidung war.«
Soquette trabte mit einer Maus im Maul an ihren Stühlen vorbei, maunzte kurz auf und ließ sich dann unter einem Hortensienbusch nieder, um sie zu verzehren.
»Ihr hattet ja auch keine wahnsinnige Katze.«
»Nein, unsere waren immer sehr wohlerzogen.«
»Lebt der Neffe Havaux noch?«, wollte Kelda wissen, um das Gespräch wieder auf die Witwe Bellard zu bringen.
»In einem Pflegeheim, soweit ich weiß. Die Villa hatte er aber schon verkauft, bevor ich wieder hierher zurückkam. Ich weiß nicht, an wen, aber die Besitzer haben sie zumindest gründlich renoviert. Und wie gesagt, vor einigen Jahren haben dann die heutigen Besitzer das Anwesen übernommen. Ich glaube kaum, dass es heute noch Spuren des Erbauers oder seiner Witwe dort gibt. Jerôme Bellard verschwand ja 1944.«
»Eigentlich sollten wir uns auch auf Madames ersten Gatten konzentrieren, Herri Trobiant«, warf Marie-Claude ein. »Hat sie jemals von ihm gesprochen, Maman?«
»Nein. Zu mir nie. Ich wusste damals noch nicht einmal, dass sie vorher schon mal verheiratet war.«
»Simon sagte, dieser Herr sei ein Fischer und Goëmonier gewesen. Sie aber war die Tochter des Bürgermeisters. Gibt uns das zu denken?«
Paulette grinste. »Kluge Bemerkung, Kelda.«
»Ich liebe Zahlen!«, behauptete Marie-Claude und zückte einen Bleistift. Auf einer Papierserviette schrieb sie Jeannes Geburtsjahr: 1882.
»Ihr erster Mann ist laut Grabstein 1875 geboren. Ihr Sohn kam 1898 zur Welt. Sie war also – hoppla – sechzehn.«
»Mhm!«, sagte Paulette.
»Honi soit qui mal y pense.«
»Sieht nach einer überstürzten Heirat aus. Wir werden Kirchenbücher benötigen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Monsieur le Maire ziemlich stinkig war und die beiden flugs zur Heirat bewogen hat.«
»Eine Theorie nicht ohne Wahrscheinlichkeitsgehalt.«
»Weshalb die hochnäsige Madame den verstorbenen Gatten nie erwähnt hat.«
»Gestorben ist er 1912, also hat diese Ehe vierzehn Jahre gedauert. Madame war demnach dreißig, als er Schiffbruch erlitt.«
»Zu der Zeit hielt sich Jerôme schon hier auf. Man sollte herausfinden, wann sie ihn geheiratet hat.«
»Du bist ja wie ein Bluthund hinter dem Filou her. Lass Simon auch noch einen Knochen übrig, Kelda.«
»Sicher. Wir kommen jetzt sowieso mit der Frage nicht weiter. Ich mache morgen einen Bummel durch Brignogan. Welche der Villen gehörte Jerôme?«
»Du kannst es gar nicht verfehlen – am Hafen das Haus mit den beiden Rundtürmen am Portal zum Grundstück. Ziemlich protzig.«
Paulette gähnte hinter vorgehaltener Hand und meinte: »Ich fahre nach Hause, es ist schon nach Mitternacht.«
»Ja, gehen wir zu Bett.«
»Ich bleibe noch einen Moment hier sitzen und bewundere den Sternenhimmel.«
»Tu das – du hast Urlaub!« Marie-Claude nahm das Tablett auf. »Ach übrigens, dein Ex war heute Nachmittag hier und hat nach dir gefragt. Ich habe wirklich nicht gewusst, wohin du gegangen bist.«
»Ah, danke.«
Als Kelda alleine war und der nächtlichen Stille lauschte, tauchte Soquette wieder auf. Sie ignorierte sie allerdings. Dafür begann sie einen eigenartigen Tanz auf der Wiese vor ihr. Sie schien nach irgendwelchem Fluggetier zu haschen, doch eigentlich schwirrte nichts mehr herum. Es sah lustig aus, wie sie sich auf die Hinterpfoten stellte und mit den weißbestrumpften Vorderpfoten nach etwas tatzte, das ihr beständig zu entkommen schien.
Zufrieden seufzte Kelda. Es war schön hier, es war wirklich schön und weit interessanter, als die Tage nur am Strand zu verbringen. Sie hatte die Bretagne besser kennenlernen wollen – und war mitten in einen Intensivkurs für bretonische Geschichte geraten.
Was hatte Simon zu seinem seltsamen Verhalten veranlasst?
Warum hatte er ihren freundschaftlichen kleinen Kuss so vehement abgelehnt?
Warum dachte sie eigentlich jetzt daran?