Everett Shedd

Als ich hinkam – Herr im Himmel, das war ein erschütternder Anblick. Ich hoffe, ich muß nie wieder so was Trauriges sehen, weiß Gott nicht.

Mary hat auf dem Boden gehockt und einen Mann in den Armen gehalten. Jack hat das Kind im Wohnzimmer rumgetragen. Alles war voller Blut – die Couch, der Boden, die Wand hinter der Couch. Und Mary Amesbury auch.

Mein Gott, Mary! Sie hätten Ihren Augen nicht getraut, wenn Sie sie gesehen hätten. Sie hatte Mantel und Stiefel an und war von oben bis unten voller Schlamm – vom Niedrigwasser. Ihr Gesicht war schwarz, ihre Haare – alles. Und das dann mit dem Blut vermischt …

Sie hatte die Augen zu und hat sie auch nicht aufgemacht. Sie hat diesen Mann in den Armen gehalten – jetzt weiß ich natürlich, daß es ihr Mann war, Harrold English, aber damals hatte ich keine Ahnung – und ihn hin und her gewiegt und dabei die ganze Zeit vor sich hin gesummt. Wissen Sie, das, was man zuerst in diesem Zimmer gespürt hat, war der Schmerz, nicht der Schrecken und das Entsetzen. Es war eher so, als hätte sich da was Tieftrauriges niedergelassen.

Ich bin dann raus zum Wagen und hab über Funk in Machias einen Streifenwagen und einen Rettungswagen angefordert, obwohl ich wußte, daß der Mann im Haus tot war. Und dann bin ich wieder reingegangen.

Jack war weiß wie die Wand. Aber er hat das Kind nicht aus den Armen gelassen und versucht, es zu beruhigen, weil es so geweint hat. Und immer wieder hat er Mary angeschaut, bis ich dann gesagt hab: »Jack, was ist hier passiert?«

Ich glaub, er hatte nur drauf gewartet, daß ich ihn das frage. Er hat sich geräuspert und ist zum Spülbecken rübergegangen. Er hat eine tiefe Stimme, bißchen rauh, und er hat ganz langsam geredet, wie wenn er dabei überlegte. Er sagte, er wär so gegen dreiviertel fünf gekommen. Warum er gekommen war, hat er nicht gesagt, und ich hab so getan, als würd ich glauben, er hätte nur zu seinem Boot runtergewollt. Aber wenn Sie mich fragen, war ihm klar, daß ich wußte, daß das nicht ganz stimmte. Kurz und gut, so wie er’s mir erzählt hat, hat er das fremde Auto gesehen und das Licht im Haus, das sonst um diese Zeit immer dunkel war, und dann hat er zu sehen geglaubt, wie ein Mann vom Sofa aufgestanden ist und Mary ins Gesicht geschlagen hat. Daraufhin ist er raufgerannt, und wie er zur Hintertür kommt, sieht er, daß dieser Mann Mary gegen den Tisch gedrängt hat und auf sie einprügelt. Es hätte ausgesehen, als wollte der Mann Mary umbringen, sagte er. Er hat die Tür aufgerissen, und da ist der Schuß gefallen.

»Ein Schuß?« hab ich gefragt.

»Nur der eine«, hat Jack gesagt, und ich glaub, das hat er sofort bereut, weil jeder Blinde sehen konnte, daß zwei Schüsse gefallen waren.

»Wem gehört die Waffe?« hab ich gefragt.

Vergessen Sie nicht, Jack hatte immer noch das Kind im Arm, und ich glaub, die Frage hat ihm vielleicht einen Moment zu denken gegeben, aber dann sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, es wär seine, er hätte sie Mary Amesbury zum Schutz gegeben. Vor einer Woche ungefähr, als Mary Angst gehabt hatte, weil sie nachts was gehört hatte und glaubte, es wär jemand ums Haus geschlichen.

Aber da sagte Mary – sie hat immer noch auf dem Boden gehockt und den Mann – ihren Mann, mein ich – in den Armen gehalten –: »Nicht, Jack!«

Jack hat sie angeschaut, dann hat er mich angeschaut und dann hat er sich von mir weggedreht.

Da ist Mary dann aufgestanden und rübergekommen und hat sich an den Tisch gesetzt. Wie ich schon sagte, sie hat zum Fürchten ausgesehen, und ich hab mich gefragt, wie sie’s geschafft hatte, sich so über und über mit Schlamm zu beschmieren. Aber dann hat sie zu reden angefangen.

Und sie ist immer bei dem geblieben, was sie an dem Morgen gesagt hat.

Ihr zufolge ist ihr Mann morgens zwischen halb drei und drei aufgekreuzt. Er hatte getrunken. Er hat sie vergewaltigt, und dabei hat er ihr einen solchen Schlag versetzt, daß sie bewußtlos geworden ist. Und davor ist er mit einer Gabel auf sie losgegangen.

»Was?« hab ich gefragt. »Mit einer Gabel?«

»Ja, mit einer Gabel«, hat sie geantwortet.

Nachdem er sie vergewaltigt hatte, ist er eingeschlafen, kann auch sein, daß er das Bewußtsein verloren hat. Jedenfalls ist sie dann zu Jacks Kutter rausgefahren und hat die Pistole aus der Kabine geholt und hat ihren Mann im Schlaf erschossen. Sie hat zweimal auf ihn geschossen. Ein Schuß hat die Schulter getroffen und der andere die Brust. Jack wär erst zur Tür reingekommen, nachdem er die Schüsse gehört hatte, sagte sie, aber da wär ihr Mann schon tot gewesen.

Darauf hat Jack gerufen: »Aber so …«, und sie hat ihn unterbrochen und zu mir gesagt: »Genauso war es.« Dann ist sie aufgestanden und zu Jack gegangen. Die beiden haben eine Weile nur dagestanden und sich angeschaut, ehrlich, das war mir richtig peinlich, mit ihnen im selben Raum zu sein, als Zuschauer sozusagen, wo zwischen den beiden alles so offenlag. Dann hat sie Jack auf den Mund geküßt und ihm das Kind abgenommen und sich wieder an den Tisch gesetzt.

Und ich hab bei mir selbst gedacht: Wenn sie diese Geschichte der Polizei erzählt, sehen die beiden sich nie wieder.

Wissen Sie, das Schlimme war, daß Mary sich selbst der ärgste Feind war. Nicht, daß sie auf ihre Tat stolz gewesen wäre oder in irgendeiner Hinsicht froh darüber, nein, das war’s nicht. Es war eher so, daß es das Wichtigste war, was sie je in ihrem Leben getan hatte, und da wollte sie nicht lügen.

Tja, da waren wir nun, wir drei – na ja, genau genommen, wir fünf –, und inzwischen war die Sonne aufgegangen, und da hab ich zu Mary gesagt: »Warum?«

Sie hat eine Weile überlegt, und dann hat sie gesagt: »Weil es sein mußte.«

Und das war’s dann auch schon.

Sie haben sie dann ins Bezirksgefängnis gebracht, aber da konnten sie sie nicht behalten, das eignet sich auf Dauer nicht für Frauen. Sie haben sich dann mit dem Justizministerium abgesprochen und jetzt ist Mary im Staatsgefängnis in South Windham, da kommen alle Frauen hin.

Ich hab seit dem Morgen eine Menge Zeit gehabt, über diese Geschichte nachzudenken und mir das alles gründlich durch den Kopf gehen zu lassen, und heute sehe ich es folgendermaßen: Ich glaube, daß Jack bei ihr im Haus war, als sie Harrold English erschossen hat, aber das konnte er nicht sagen. Nicht, weil er Angst hatte, in die Sache reingezogen zu werden. Nein, bestimmt nicht – das ist nicht seine Art. Sondern weil er sofort begriffen hat, daß sie nur eine Chance hatte, wenn sie Notwehr geltend machte, und sie kann sich doch nicht auf Notwehr berufen, wenn er direkt neben ihr steht. Ich weiß nicht genau, wie es war – vielleicht hat er versucht, ihr die Waffe wegzunehmen. Und Mary, die wollte nicht sagen, daß er da war, weil sie ihn raushalten wollte. So ähnlich wie in dieser wunderbaren alten Kurzgeschichte »Das Geschenk der Weisen«. Haben Sie die mal gelesen? O. Henry hat sie geschrieben. Das sind Geschichten, die ich mag. Na ja, ganz genau so war’s nicht, aber die Gefühle waren die gleichen.

Kurz und gut, beim Prozeß haben die Geschworenen das alles natürlich ziemlich verwirrend gefunden. Der Verteidiger, Sam Cotton, hier aus der Gegend, von Beals Island, hat so argumentiert: Mary hat ihren Mann im Schlaf erschossen – sie sind davon ausgegangen, daß es so passiert ist, obwohl Mary gesagt hat, er wär wach gewesen, als sie auf ihn gezielt hat –, aber sie hätte es in Notwehr getan, weil sie überzeugt war, daß er sie früher oder später an diesem Tag oder in dieser Nacht umbringen würde.

Heikel, das.

Dieses »früher oder später« war genau das Problem.

Der Staatsanwalt – Pickering – hat argumentiert, Mary hätte genug Zeit gehabt, um die Polizei zu rufen – mich in dem Fall – und Harrold English wegen tätlichen Angriffs verhaften zu lassen. Aber Mary wäre eben nicht den Hügel hinauf zu den LeBlancs gelaufen, wo es ein Telefon gegeben hätte, sie wäre runter zu Jacks Boot gelaufen, hätte die Pistole geholt, wär zurückgekommen und hätte ihren Mann kaltblütig erschossen.

Mary hat immer wieder drauf hingewiesen, daß ihr Mann sie vergewaltigt und bewußtlos geschlagen hat, aber das Problem ist, daß es in Maine, und vielleicht auch anderswo, Vergewaltigung in der Ehe nicht gibt. Der Staatsanwalt ist überhaupt nicht drauf eingegangen. Er hat den k.o.-Schlag praktisch genauso vom Tisch gefegt wie die Vergewaltigung.

Und dann war da noch die Geschichte mit der Gabel.

Ziemlich unglückselige Geschichte. Ich mein, was kann man denn mit einer Gabel schon groß anrichten? Pickering jedenfalls hat die Geschichte in der Luft zerrissen und sogar bei den Geschworenen noch ein paar Lacher geerntet, wenn ich mich recht erinnere.

Sie sehen also, Mary Amesbury hat sich selber nur geschadet. Daß ich und Julia und Muriel ausgesagt haben, wie geschunden sie am ersten Tag ausgeschaut hat, als sie ins Dorf kam, hat nicht gereicht. Schon gar nicht, da ja Willis Beale dann ausgesagt hat, Mary selbst hätte ihm erzählt, daß sie die Blutergüsse von einem Autounfall hatte. Zu allem Überfluß haben sie dann Julia noch mal aufgerufen, und sie mußte zugeben, daß Mary ihr das gleiche erzählt hatte. Das war natürlich sehr nachteilig, besonders im Licht der Tatsache, daß Sam Cotton nicht einen einzigen Zeugen aus New York beibringen konnte, der bestätigt hätte, daß zwischen Harrold English und seiner Frau etwas nicht stimmte, oder daß ihm irgendwann mal Verletzungen an Mary aufgefallen waren.

Tja, so war das. Und ich denke, die Geschworenen waren damit ganz einfach überfordert – sie konnten sich nicht auf einen Spruch einigen. Es hat ungefähr halbe halbe gestanden, soviel ich weiß.

Nach dem Prozeß hat der Richter den Geschworenen gedankt und hat sie entlassen, und Sam Cotton hat sofort die Einstellung des Verfahrens beantragt. Aber daraufhin ist Pickering aufgesprungen wie von der Tarantel gestochen und hat gesagt, es würde auf jeden Fall einen neuen Prozeß geben, und er hat auch gleich einen Termin verlangt.

Und vor ungefähr zehn Tagen dann muß Sam erfahren haben, daß der neue Prozeß von Joe Geary geleitet werden soll, der allgemein dafür bekannt ist, daß er für Frauen eine Schwäche hat. Er gibt ihnen immer milde Strafen, wissen Sie. Daraufhin hat Sam beschlossen, auf Marys Recht auf einen Geschworenenprozeß zu verzichten – ich vermute, er dachte, sie würde mit Geary allein besser fahren – und nun wird eben Joe Geary entscheiden. Der Prozeß ist im September, das hat in der Zeitung gestanden.

So sieht’s aus.

Es liegt jetzt allein in seiner Hand.

Wo der Schlamm herkam? Sie war in einen Honigpott gefallen. Das sind so tückische Stellen in der Schlammzone. Da kann man leicht runtergezogen werden. Ganz schön beängstigend, das kann ich Ihnen sagen. Wie Treibsand. Mary Amesbury ist in einen reingestolpert, als sie zu Jacks Boot runter wollte.

Die Kleine? Die hat Julia Strout zu sich genommen. Sie hat eigens darum gebeten. Sie ist jetzt immer noch bei ihr.