Einführung
Ich heiße Maxim Kammerer. Ich bin neunundachtzig
Jahre alt.
Vor langer Zeit einmal las ich einen Roman, der auf
ebendiese Weise begann. Und ich weiß noch, wie ich damals dachte,
dass ich - würde ich später einmal meine Memoiren zu schreiben
haben - genau so damit beginnen wollte. Doch handelt es sich hier
nicht um Memoiren im eigentlichen Sinne … Und am Anfang sollte ein
Brief stehen, den ich vor ungefähr einem Jahr erhielt.
Nowgorod, den 13. Juni "25
Kammerer, sicher haben Sie die berüchtigten
»Fünf Biografien des Jahrhunderts« gelesen. Bitte helfen Sie mir
herauszufinden, wer sich hinter den Pseudonymen P. Soroka und E.
Braun verbirgt. Ihnen wird das vermutlich leichter fallen als
mir.
M. Glumowa
Ich habe diesen Brief nicht beantwortet, weil es
mir nicht gelang, die wirklichen Namen der Autoren festzustellen.
Ich fand nur heraus, dass P. Soroka und E. Braun - wie zu erwarten
- prominente Mitarbeiter der Gruppe »Menten« am Institut für
kosmische Geschichtsforschung (IKGF) waren.
Ich konnte ohne Mühe nachfühlen, was Maja Toivowna
Glumowa empfunden hatte, als sie die Biografie ihres Sohnes in der
Version von P. Soroka und E. Braun las. Und mir wurde klar, dass
ich mich in dieser Sache äußern muss.
Also habe ich diese Memoiren geschrieben.
Aus der Sicht eines unbefangenen, vor allem eines
jungen Lesers bedeuteten die Ereignisse, von denen hier die Rede
sein wird, das Ende einer ganzen Epoche im kosmischen
Selbstverständnis der Menschheit. Anfangs schien es sogar, als
eröffneten sich damit völlig neue Perspektiven, die zuvor nur
theoretisch betrachtet worden waren. Ich war Zeuge, Teilnehmer und
in gewisser Weise sogar Initiator dieser Ereignisse. Daher
verwundert es nicht, dass sich die Gruppe »Menten« in den letzten
Jahren immer wieder mit entsprechenden Anfragen an mich wandte -
mit offiziellen und inoffiziellen Bitten, die Patenschaft für ihre
Arbeiten zu übernehmen, oder mit Appellen an meine
Bürgerpflichten.
Den Aufgaben und Zielen der Gruppe »Menten« brachte
ich von Anfang an Verständnis entgegen, habe aber nie ein Hehl aus
meiner Skepsis gemacht, was ihre Erfolgschancen angeht. Zudem war
ich sicher, dass die Unterlagen und Erkenntnisse, über die ich
persönlich verfüge, der Gruppe »Menten« nicht im Geringsten von
Nutzen sein würden. Daher bin ich jeglicher Teilnahme an ihrer
Arbeit bislang ausgewichen.
Dann aber erhielt ich den Brief Maja Glumowas und
hatte nun aus eher privaten Gründen das dringende Bedürfnis, alles,
was mir über die ersten Tage der Großen Offenbarung bekannt war,
zusammenzutragen und es für die Menschen, die sich dafür
interessieren mochten, aufzuschreiben. Als Große Offenbarung
bezeichnet man für gewöhnlich diesen Sturm von Diskussionen und
Befürchtungen, von Unruhe, Streit, Aufruhr und großem Erstaunen,
der auf die Ereignisse, von denen hier die Rede sein wird,
folgte.
Ich habe den letzten Absatz noch einmal
durchgelesen und muss mich sogleich korrigieren. Erstens werde ich
hier natürlich nicht annähernd über alles berichten, was mir
bekannt ist. Manche Unterlagen sind zu speziell, um sie hier
darlegen zu können; einige Namen möchte ich aus ethischen Gründen
nicht preisgeben, und ich werde darauf verzichten, bestimmte
Verfahrensweisen zu erwähnen, die mit meiner damaligen Tätigkeit
als Leiter der Abteilung für Besondere Vorkommnisse (BV) der
Kommission für Kontrolle (KomKon 2) zusammenhängen.
Zweitens waren die Ereignisse des Jahres’99 streng
genommen gar nicht die ersten Tage der Großen Offenbarung, sondern
- im Gegenteil - ihre letzten. Ebendarum ist die Große Offenbarung
heute nur noch Gegenstand historischer Forschungen. Die Mitarbeiter
der Gruppe »Menten« aber können oder wollen das nicht verstehen -
trotz all meiner Bemühungen, es ihnen begreiflich zu machen.
Vielleicht war ich aber auch nicht beharrlich genug … Man wird
alt.
Nun zu Maja Glumowas Sohn - Toivo Glumow, dessen
Persönlichkeit bei den Mitarbeitern der Gruppe »Menten« ein ganz
besonderes Interesse weckt. Das verstehe ich und habe ihn deswegen
zur Hauptfigur meiner Memoiren gemacht.
Aber natürlich nicht nur deswegen. Ja, nicht einmal
hauptsächlich deswegen. Denn wann immer ich an jene Tage denke und
was immer mir dabei einfällt - in meiner Erinnerung taucht sofort
Toivo Glumow auf. Ich sehe sein schmales, junges und immerzu
ernstes Gesicht vor mir; sehe seine wasserklaren, grauen Augen, die
von den langen, hellen Wimpern halb verdeckt werden. Ich höre seine
wie mit Absicht langsam dahingesprochenen Worte, fühle das stumme,
hilflose, und doch unerbittliche Drängen, das von ihm ausging wie
ein tonloser Schrei: »Was ist? Warum unternimmst du nichts?
Befiehl, befiehl doch endlich!« Oder aber umgekehrt: Kommt mir
Toivo Glumow in den Sinn, in welchem Zusammenhang auch immer,
sofort erwachen »die bösen Hunde der Erinnerung«: der ganze
Schrecken jener Tage, die Ohnmacht und Verzweiflung, die ich damals
erlebte - allein, denn es gab niemanden, mit dem ich es hätte
teilen können.
Die Grundlage meiner Memoiren bilden Dokumente: In
der Regel sind es Routineberichte und -meldungen meiner Inspektoren
oder offizielle Schriftwechsel, die ich hier vor allem deshalb
anführe, um die Atmosphäre jener Zeit wiederzugeben. Ein
gründlicher und sachkundiger Leser wird aber sofort bemerken, dass
eine Reihe von Dokumenten, die zur Sache gehören, in den Memoiren
fehlen, während man auf andere, die aufgenommen wurden, genauso gut
hätte verzichten können. Ich möchte dieser Kritik zuvorkommen und
anmerken, dass ich die Materialien nach bestimmten Kriterien
zusammengestellt habe. Erläutern möchte ich diese allerdings nicht
und halte das auch nicht für notwendig.
Einen erheblichen Teil des Textes machen die
sogenannten Rekonstruktionskapitel aus. Sie entstammen meiner Feder
und zeichnen Szenen und Ereignisse nach, bei denen ich nicht selbst
vor Ort war. Ich habe sie auf der Grundlage von Erzählungen,
Tonaufzeichnungen und späteren Erinnerungen von Menschen
rekonstruiert, die unmittelbar beteiligt waren - wie etwa Toivo
Glumows Frau Assja, seine Kollegen, seine Bekannten usw. Ich weiß,
dass diese Kapitel für die Mitarbeiter der Gruppe »Menten« von
geringem Wert sind, aber das macht nichts - für mich sind sie
wertvoll.
Und schließlich habe ich mir erlaubt, dem Text
eigene Reminiszenzen hinzuzufügen, die weniger über die Ereignisse
etwas aussagen, als über den damals achtundfünfzigjährigen Maxim
Kammerer. Das Verhalten dieses Menschen unter den dargestellten
Umständen weckt noch heute, einunddreißig Jahre später, einiges
Interesse - sogar bei mir selbst …
Als ich mich endgültig entschlossen hatte, die
Memoiren zu schreiben, stellte sich mir die Frage: Womit beginnen?
Wann und was war der Anfang der Großen Offenbarung?
Genau genommen begann alles vor etwa zweihundert
Jahren, als in den Tiefen des Mars eine leere Tunnelstadt aus
Elektrin entdeckt wurde: Damals fiel zum ersten Mal das
Wort »Wanderer«. Das ist richtig. Aber zu allgemein. Ebenso
gut könnte man behaupten, die Große Offenbarung hätte im Augenblick
des Großen Urknalls begonnen.
Dann vielleicht vor fünfzig Jahren? Der Fall mit
den »Findelkindern«? Damals bekam das Wanderer-Problem
erstmals einen tragischen Beigeschmack. Der maliziöse,
vorwurfsvolle Begriff des »Sikorsky-Syndroms« wurde geboren und
breitete sich schnell aus; er verwies auf die unkontrollierbare
Angst vor einer möglichen Invasion der Wanderer. Auch
richtig, und schon näher an der Sache … Aber damals war ich noch
nicht Chef der Abteilung BV, und auch die Abteilung selbst
existierte noch nicht. Zudem erforsche und schreibe ich hier ja
nicht die Geschichte des Wanderer-Problems.
Für mich also begann es im Mai’93. Wie alle anderen
BV-Abteilungsleiter von sämtlichen Sektoren der KomKon 2 erhielt
ich ein Informat über den Tissa-Vorfall (nicht der Fluss Tisza oder
Theiß, der durch Ungarn und Transkarpatien fließt, ist hier
gemeint, sondern der Planet Tissa des Sterns EN 63061, den die
Jungs von der Gruppe für Freie Suche kurz zuvor entdeckt hatten).
Im Informat wurde das Ereignis als ein Fall spontaner,
unerklärlicher Geistesverwirrung behandelt, von der alle drei
Mitglieder der Forschungsgruppe betroffen waren, die zwei Wochen
zuvor auf einem Plateau (den Namen habe ich vergessen) gelandet
war. Alle drei glaubten plötzlich, die Verbindung zur Zentralbasis
sei abgerissen und sie stünden nun zu niemandem mehr in Verbindung
- außer zum Mutterschiff im Orbit, dessen Bordcomputer allerdings
in endloser Wiederholung mitteile, dass die Erde infolge eines
kosmischen Kataklysmus untergegangen und die Bevölkerung der
Äußeren Welten infolge unerklärlicher Epidemien ausgestorben
sei.
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten.
Zwei Mitglieder der Gruppe hatten wohl zunächst versucht, sich
umzubringen, und endeten schließlich in der Wüste - verzweifelt
und ohne Hoffnung angesichts des totalen Verlusts von allem, was
ihrem Leben einen Sinn gegeben hatte. Der Kommandant der Gruppe
hingegen erwies sich als ungewöhnlich charakterfest. Eisern riss er
sich zusammen und zwang sich zum Weiterleben, so, als wäre die
Menschheit gar nicht umgekommen, sondern nur er selbst in eine
Notlage geraten und für immer vom Heimatplaneten abgeschnitten.
Später erzählte er, am vierzehnten Tag seiner wahnhaften Existenz
sei ihm eine weiße Gestalt erschienen und habe ihm verkündet, dass
er, der Kommandant, die erste Bewährungsprobe ehrenvoll bestanden
hätte und nun als Kandidat für die Gemeinschaft der Wanderer
akzeptiert sei. Am fünfzehnten Tag traf vom Mutterschiff das
Rettungsboot ein, und die Lage entspannte sich. Die beiden
Forscher, die es in die Wüste verschlagen hatte, wurden
wohlbehalten aufgefunden; alle waren und blieben fortan bei
Verstand und niemand hatte Schaden genommen. Die Aussagen der drei
Männer deckten sich bis ins Detail: So gaben sie etwa völlig
übereinstimmend den Akzent des Computers wieder, der angeblich die
Unglücksnachricht übermittelt hatte. Subjektiv hatten sie die
Ereignisse wie eine eindrucksvolle, sehr realistische
Theateraufführung empfunden, an der sie unerwartet und wider Willen
hatten teilnehmen müssen. Die Tiefenmentoskopie bestätigte den
subjektiven Eindruck und bewies, dass im Grunde keiner von ihnen je
daran gezweifelt hatte, es handele sich nur um eine Art
Theatervorstellung.
Soviel ich weiß, haben meine Kollegen in den
anderen Sektoren der KomKon 2 das Informat als ganz gewöhnliches BV
aufgefasst - als ungeklärtes Besonderes Vorkommnis, wie es bei den
Äußeren Welten auf Schritt und Tritt vorkommt. Es interessierte
sich daher auch niemand dafür, das Rätsel zu lösen. Alle
Beteiligten waren wohlauf, das Gebiet des BV evakuiert und weitere
Arbeiten dort nicht vorgesehen, das BV zur Kenntnis genommen
worden. Ab ins Archiv damit.
Ich aber war ein Schüler des alten Sikorsky. Wie
oft hatte ich, wenn es um die Bedrohung der Menschheit von außen
ging, mit ihm gestritten - in Gedanken und mit Worten. Sikorsky
lebte nicht mehr, doch eine seiner Thesen wollte und konnte ich
schwerlich bestreiten: »Wir arbeiten in der KomKon 2. Wir dürfen in
den Ruf von Ignoranten, Mystikern, abergläubischen Dummköpfen
geraten. Eins aber wird uns nicht verziehen: wenn wir die Gefahr
unterschätzen. Und wenn es in unserem Haus einmal plötzlich nach
Schwefel stinkt, sollten wir davon ausgehen, dass der Leibhaftige
erschienen ist. Wir haben die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, auch
wenn das heißt, die Produktion von Weihwasser in industriellem
Maßstab zu organisieren.« Und kaum erfuhr ich, dass eine weiße
Gestalt im Namen der Wanderer gesprochen hatte, roch ich
schon den Schwefel und bäumte mich auf wie ein Schlachtross beim
Klang der Trompete.
Ich holte weitere Informationen ein und stellte
ohne Verwunderung fest, dass in den Instruktionen, Anweisungen und
Perspektivplänen der KomKon 2 das Wort »Wanderer« überhaupt
nicht vorkam. Besuche bei den höchsten Instanzen der KomKon 2
schlossen sich an, wo ich mich wie erwartet davon überzeugen
konnte, dass in den Augen der höchsten Verantwortlichen das Problem
der Wanderer und ihrer Progressorentätigkeit im System der
Menschheit erledigt war - überstanden, wie eine Kinderkrankheit …
Auf unerklärliche Weise hatte die Tragödie von Lew Abalkin und
Rudolf Sikorsky die Wanderer gleichsam für alle Zeiten von
jeglichem Verdacht befreit.
Der Einzige, bei dem meine Besorgnis zumindest auf
ein wenig Verständnis stieß, war Athos-Sidorow, der Präsident
meines Sektors und mein unmittelbarer Vorgesetzter. Er genehmigte
das Projekt »Besuch der alten Dame« kraft seines Amtes und
bestätigte es mit seiner Unterschrift. Er erlaubte mir zudem, eine
Sondereinheit zusammenzustellen, um mein
Vorhaben durchzuführen. Im Grunde gab er mir in dieser Sache freie
Hand.
Am Anfang stand eine Expertenbefragung unter den
führenden Spezialisten für Xenosoziologie. Ich wollte ein möglichst
wahrheitsgetreues Modell entwickeln für die Progressorentätigkeit
der Wanderer im System der Erdenmenschheit. Alle dabei
gesammelten Informationen und Materialien sandte ich an den
renommierten Wissenschaftshistoriker und Gelehrten Isaac Bromberg.
Warum ich das tat, weiß ich nicht mehr, denn Bromberg beschäftigte
sich zu der Zeit schon lange nicht mehr mit Xenologie. Vielleicht
lag es daran, dass die meisten Fachleute, an die ich mich wandte,
nicht ernsthaft mit mir über dieses Thema sprechen wollten (das
Sikorsky-Syndrom), wohingegen Bromberg, das war bekannt, nie um ein
Wort verlegen war, völlig gleich, um was es ging.
Jedenfalls bekam ich von Dr. I. Bromberg eine
Antwort - heute in Fachkreisen bekannt als das sogenannte
»Bromberg-Memorandum«.
Damit begann alles.
Und auch ich will damit beginnen.