Sein Vater, der als einziger von ihnen auf
einem Zweisitzer saß, breitete die Arme über die Rückenlehne aus
und nickte ebenfalls. “Mir haben sie gerade angeboten, zwei Jahre
früher in Rente zu gehen.”
“Und? Machst du?”
“Nix.” Sein Vater schaute kurz zu seiner Frau
hinüber. “Bin doch nicht bescheuert.”
“Dann hab ich ihn ja den ganzen Tag an der
Backe”, sagte Herrn Lehmanns Mutter. “Da muß man sich ja auch erst
mal dran gewöhnen.”
“Ich mach bald nur noch 25 Stunden. Mal sehen
…”
“Naja”, sagte Herr Lehmann, für den das alles
irgendwie Nachrichten von einem anderen Stern waren, “das ist ja
schon mal besser als 40 Stunden.”
In diesem Moment kam ein Kellner in voller
Montur durch die Tür des Hotels. Er trug ein großes, silbernes
Tablett, sah fragend zur Rezeption, wo man mit dem Finger auf Herrn
Lehmann wies, und kam dann zu ihnen.
“Dreimal Kaffee”, sagte der Mann und betonte
beim Wort Kaffee die letzte Silbe, das war bei Ihnen?”
“Ja, ja”, sagte Herr Lehmann und freute sich.
Das hat Klasse, dachte er und schnappte sich schnell die Rechnung,
als der Kellner das Tablett auf den niedrigen Tisch manövrierte. Er
wollte nicht, daß seine Mutter sah, was hier für Preise aufgerufen
wurden.
“So, so, so”, sagte der Kellner, als er den
Kaffee abstellte, drei Kännchen aus massivem Silber, wie Herr
Lehmann sogleich bemerkte, und dazu irgendwelche edlen oder edel
anmutenden Porzellantassen, außerdem silberne Löffel, eine
Zuckerdose mit Zuckerzange und ein Sahnekännchen. Der Kudamm ist
vielleicht gar nicht so schlecht, dachte Herr Lehmann, irgendwie
haben die was drauf. Jedenfalls, dachte er, bringen sie keine
Milchdöschen an den Start, jedenfalls nicht hier, korrigierte er
sich gedanklich, denn er hatte den Kudamm auch in dieser Hinsicht
schon ganz anders erlebt, immerhin war es am Kudamm gewesen,
damals, als er jene cineastisch orientierte Freundin gehabt hatte,
wo man ihn allen Ernstes gefragt hatte, ob er den Cappuccino mit
Sahne oder mit Milch haben wollte.
“Das ist ja schön”, freute sich seine
Mutter.
Der Kellner sah nett aus, sauber und
braungebrannt, er lächelte freundlich, und Herr Lehmann gab ihm
ordentlich Trinkgeld. Seine Eltern schütteten derweil Sahne in
ihren Kaffee und warfen Zuckerwürfel hinein. Herr Lehmann trank
seinen Kaffee schwarz.
“Aber Frank”, rief seine Mutter, seit wann
rauchst du denn?”
“Nicht oft”, sagte Herr Lehmann, nur wenn ich
Kaffee trinke.
“Jedenfalls gehen wir heute abend mit ihm
essen. Wär ja wohl noch schöner”, sagte sein Vater. “Diesen
Varieté-Quatsch braucht doch kein Mensch.” ”
“Das ist mit Transvestiten und so”, sagte
seine Mutter, “das kriegt man sonst nirgendwo.”
“Wieso Transvestiten?” fragte Herr Lehmann.
“Ich dachte, das wäre was mit Harald Juhnke.”
“Harald Juhnke?” Seine Mutter guckte
irritiert. “Der hat doch nichts mit Transvestiten zu tun.”
Sein Vater lachte.
“Du hattest mir doch damals am Telefon
erzählt, da wäre was mit Harald Juhnke.”
“Ach das, nein, das ist mit Transvestiten”,
sagte seine Mutter.
“Ich soll dich übrigens schön grüßen”, sagte
sein Vater. “Von Frau Brandt.”
“Wer ist Frau Brandt?”
“Ach so, die hieß früher, also früher hieß
die Fräulein Dormann, die kennt dich noch von damals, die ist aus
der Buchhaltung.”
“Oh”, sagte Herr Lehmann, der sich vor allem
deshalb an Fräulein Dormann erinnerte, weil sie ihn seinerzeit
entjungfert hatte. Gibt’s die noch?””
“Ja, ja, die
ist jetzt verheiratet. Hat aber keine Kinder.”
Herr Lehmann sah mißtrauisch seinen Vater an.
Der hatte wieder dieses feine Lächeln drauf. Er ist rätselhaft,
dachte Herr Lehmann, wahrscheinlich unterschätze ich ihn dauernd,
und dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches.
“Das ist aber ein guter Kaffee”, sagte seine
Mutter. “Und der Junge hat ihn bezahlt”, wandte sie sich an ihren
Mann. “So weit ist es schon.”
“Vielen Dank, Frank”, sagte sein Vater.
“Ist nett von dir.”
“Ja, wirklich”, bekräftigte seine
Mutter.
Herrn Lehmann war das unangenehm. Er wollte
nicht, daß seine Eltern das Gefühl hatten, sich bei ihm bedanken zu
müssen. Das war irgendwie nicht richtig.
“Hast du denn jetzt eine Freundin?”
“Martha, jetzt hör doch mal damit auf”, sagte
sein Vater und wandte sich dann an Herrn Lehmann. “Die ganze Zeit
liegt sie mir schon damit in den Ohren, von Helmstedt bis hier: Hat
der Frank eigentlich eine Freundin? Ob der wohl mal eine Freundin
hat, die er uns vorstellt …”
“Als ob da was Schlimmes dran wäre. Er ist
doch nicht vom anderen Ufer oder so.”
“Das hat ja auch keiner behauptet.”
“Na, ich etwa?”
“Hab ich doch gar nicht gesagt. Du hast doch
damit angefangen.”
“Ich mein ja bloß, man wird ja mal fragen
dürfen.”
“Nein, so was gehört sich nicht.”
“Jetzt streitet euch doch nicht”, sagte Herr
Lehmann, dem auffiel, daß sich im Foyer immer mehr Leute
ansammelten, die alle etwa im Alter seiner Eltern
waren. Daraus folgerte er, daß sie sich
langsam auf zwölf Uhr zubewegten und die Stadtrundfahrt bald
begann.
“Hört mal”, ergriff er die Initiative, “wie
geht das denn jetzt weiter? Ich meine, die Stadtrundfahrt würde ich
auslassen, wenn ihr heute abend mit mir essen geht. Es ist immerhin
mein Lokal, oder jedenfalls das, wo ich die Geschäfte führe”, mein
Gott, dachte er, wie gespreizt das klingt, die müssen mich ja für
bescheuert halten, außerdem hatten wir das ja so besprochen.”
“Das stimmt”, sagte seine Mutter.
Sein Vater nickte. “Vorher würde ich mich
gerne noch ein bißchen hinlegen”, sagte er. “Diese Stadtrundfahrt
wird mir den Rest geben. Das ist genau das, was ich jetzt brauche,
eine schöne Busfahrt.”
“Den Tisch hab ich für acht Uhr
reserviert.”
“So spät”, sagte seine Mutter, und dann noch
warm essen!”
“Jetzt hör aber mal auf”, sagte sein Vater,
“zu Hause essen wir doch auch nicht früher.”
“Natürlich, wir sind immer zur Tagesschau
fertig.”
“Ja, aber da sind wir ja nicht in
Berlin.”
“Das stimmt.”
Herr Lehmann seufzte. “Ich schreib euch mal
die Adresse auf.” Er ging zur Rezeption und bat um Stift und
Zettel. Die Frau dahinter lächelte ihn auf eine Weise an, die ihm
durch Mark und Bein ging. Es ist nicht alles schlecht am Kudamm,
dachte er, als er zu seinen Eltern zurückging. Man muß nur von der
Straße runter und die Naziwitwen-Cafes vermeiden.
“Das ist die Adresse”, sagte er, als er
wieder bei seinen Eltern saß und ihnen den Zettel hinlegte, “das
ist in Kreuzberg.”
“Ach Gott”, sagte seine Mutter, “und wenn da
jetzt Krawalle sind.”
“Jetzt hör aber auf”, sagte sein Vater, “das
ist doch schon Jahre her.”
“So was kann immer mal losgehen”, sagte seine
Mutter weise.
“Ja, das stimmt”, sagte Herr Lehmann grausam,
“aber sieh es mal so: Kreuzberg ist so groß wie Hemelingen, die
Neue Vahr, Sebaldsbrück und Arsten zusammen.”
“Ach so.”
“Jedenfalls müßt ihr das nur dem Taxifahrer
sagen, und dann geht das schon”, sagte Herr Lehmann.
Im Foyer wurde es jetzt richtig voll und Herr
Lehmann wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß sie von den
anderen Busreisenden beobachtet wurden. Sie sind es nicht gewohnt,
daß Leute jemanden dort kennen, wo sie mit dem Bus hinfahren,
dachte er. Für die sind meine Eltern jetzt Experten. Mit einem
mißratenen Sohn. Aber mit Kaffee, dachte er.
“Daß du aber auch so viel rauchst.”
“Nun laß ihn doch rauchen.”
“Ein Taxi kriegt ihr hier überall.”
“Das geht schon”, sagte sein Vater. “Ist ja
nicht das erste Mal, daß wir Taxi fahren.”
Sie schwiegen eine Weile. Herr Lehmann
merkte, daß seine Eltern unruhig waren. Der Bus ging wohl bald.
Sein Vater schaute auf die Uhr.
“Wie spät ist es denn?” fragte Herr
Lehmann.
“Zwanzig vor”, sagte sein Vater.
“Tut mir leid, wenn ich nicht mitkomme”,
sagte Herr Lehmann, aber das ist wohl nichts für mich.”
“Nee, laß man”, sagte sein Vater, würde ich
auch nicht machen.”
“Da sieht man mal alles”, sagte seine Mutter
hilflos. “Das muß doch auch mal sein.”
“Wir gucken uns das mal alles an”, sagte sein
Vater. Du wirst sehen”, sagte er und klopfte seiner Frau aufs Knie,
“hinterher wissen wir mehr über Berlin als Frank und sein
Bruder.”
“Wie geht’s dem denn so?” fragte Herr
Lehmann.
“Ach, der Manfred”, sagte seine Mutter. “Da
in New York, ob er da glücklich ist … ?”
“Er will Weihnachten vielleicht
rüberkommen.”
“Kommst du denn auch mal wieder zu
Weihnachten? Wenn doch auch dein Bruder kommt?”
“Sicher”, sagte Herr Lehmann.
“Ich glaub, das geht los”, sagte sein Vater.
Die Leute um sie herum hatten aufgehört, auf sie herabzustarren,
und drängelten sich am Hotelausgang. Seine Eltern standen auf, Herr
Lehmann auch.
“Um acht, ja?” sagte Herr Lehmann.“Ich verlaß
mich drauf.”
“Kannst du, kannst du”, sagte sein Vater.
Seine Mutter nahm ihn in den Arm. “Ich habe dich ja noch gar nicht
richtig begrüßt”, sagte sie und drückte ihn an sich. “Und jetzt
gehen wir schon wieder getrennte Wege.”
“Wir sehen uns ja heute abend”, sagte Herr
Lehmann.
“Alles klar”, sagte sein Vater und klopfte
ihm auf die Schulter.
Herr Lehmann ließ seinen Eltern und ihren
Touristikgenossen den Vortritt, bevor er, nach einem langen,
erwiderten Blick auf die Frau an der Rezeption, die ihn zum
Abschied noch einmal anlächelte, selbst auf die Straße ging. Als er
am Bus vorbeikam, klopfte seine Mutter, die auf dem Oberdeck am
Fenster saß, noch einmal gegen die Scheibe und winkte.
Herr Lehmann winkte zurück und war plötzlich
traurig, daß er nicht mitgekommen war. Nicht, daß ihm am Checkpoint
Charlie und am Brandenburger Tor mit Mauer und was da noch geboten
wurde, etwas lag. Aber trotzdem. Irgendwie traurig. Ich werde
weich, dachte er und zündete sich eine Zigarette an, bevor er die
Straße überquerte, um den Bus zu nehmen.
Kapitel 12
GASTMAHL
Als Herr Lehmann um Punkt acht Uhr die
Markthallenkneipe betrat, waren seine Eltern schon da. Sie saßen an
einem guten Tisch, nicht zu nah an der Küche, nicht zu nah am Klo
und nicht zu nah am Eingang, und sie redeten eifrig mit seinem
besten Freund Karl, der sich extra feingemacht zu haben schien: Er
trug einen selbst für ihn noch zu weiten, schwarzen Anzug aus
zweiter oder dritter Hand, den Herr Lehmann noch nie zuvor gesehen
hatte, dazu ein weißes Hemd und eine Fliege. Er sah grotesk aus,
wie ein Monsterpinguin nach dem Schleuderwaschgang. Herr Lehmann
wäre am liebsten gleich wieder umgekehrt.
“Da ist er ja”, sagte seine Mutter, als er an
den Tisch kam.
“Hallo Boß”, sagte sein bester Freund Karl
und reichte ihm die Hand.
“Keine Faxen”, sagte Herr Lehmann säuerlich
und setzte sich.
“Wir haben uns schon gewundert, wo du
bleibst”, sagte seine Mutter.
“Es ist Punkt acht Uhr”, sagte Herr Lehmann.
“Ihr wart zu früh.”
“Das Taxi fuhr so schnell.”
“Wie war die Stadtrundfahrt?”
“Anstrengend”, sagte sein Vater.
“Also, das mit der Mauer …”, sagte seine
Mutter und schüttelte sorgenvoll den Kopf.
“Hier ist die Karte, Boß”, unterbrach Karl
und reichte ihm die Karte.
Seine Eltern hatten sie schon. Dann zündete
Karl eine Kerze an. Es war die einzige Kerze im ganzen Lokal. Herrn
Lehmann fiel auf, daß Karl schmutzige Fingernägel hatte, und er
fragte sich, ob ihm das nur jetzt, in seiner Eigenschaft als
Pseudo-Geschäftsführer, auffiel, oder ob sein bester Freund etwas
abbaute.
“Du brauchst nicht Boß zu sagen”, sagte Herr
Lehmann. “Das sind übrigens meine Eltern, und das ist Karl
Schmidt.”
“Wissen wir doch alles”, sagte seine Mutter.
“Wir haben uns doch schon unterhalten.”
“Das ist schön”, sagte Herr Lehmann und
schaute in die Karte. Was wollt ihr trinken?”
“Haben wir alles schon bestellt”, sagte seine
Mutter. Herr Schmidt hat uns etwas empfohlen.”
Herr Lehmann schaute fragend zu seinem besten
Freund Karl hoch, der direkt hinter ihm stand und dessen Körper
einen mächtigen Schatten warf. Karl grinste. “Ich habe den guten
empfohlen, Boß.”
“Den guten was?” Herr Lehmann wurde langsam
ärgerlich. Er hatte nichts gegen ein bißchen Spaß, aber das hier
war nicht mehr subtil, das war der Vorschlaghammer.
“Den Roten.” Karl zwinkerte heftig mit dem
rechten Auge. “Von dem kaum noch was da ist. Den 85er.”
“Ach den …”, sagte Herr Lehmann. “Dann bring
auch noch Mineralwasser für alle. Wißt ihr schon, was ihr essen
wollt?” fragte er seine Eltern.
“Nein”, sagte sein Vater irritiert. Das geht
jetzt alles etwas schnell.”
“Ich geh dann mal den Wein dekantieren”,
sagte Karl und verschwand.
“Netter junger Mann”, sagte seine Mutter. Was
würdest du uns dennempfehlen?”
“Der Schweinebraten ist gut.”
“Schweinebraten”, sagte seine Mutter.
“Schweinebraten, das kann ich auch selber kochen. Gibt’s denn hier
nichts Aufregenderes?”
“Dieses Restaurant ist berühmt für seinen
Schweinebraten”, sagte Herr Lehmann streng. “Die Leute kommen aus
der ganzen Stadt, um hier den Schweinebraten zu essen. Manche
morgens schon. Nirgendwo sonst bekommt man so einen guten
Schweinebraten.”
“Naja, aber Schweinebraten …” Seine Mutter
lachte. “Da können sie auch zu mir kommen.”
“Der Schweinebraten hier ist la. Sonst nimm
doch Fisch”, versuchte Herr Lehmann Land zu gewinnen. Da!” Er
langte über den Tisch und zeigte auf das Fischkapitel in der
Speisekarte seiner Mutter. “Forelle, Dorsch, Dorade, das ganze
Programm. Oder”, fügte er bösartig hinzu, “nimm doch was
Vegetarisches, Mutter.”
“Ich glaube, ich nehme den Schweinebraten”,
sagte sein Vater.
“Ich auch”, sagte Herr Lehmann.
“Dann nehme ich den auch”, sagte seine
Mutter. “Glaube ich. Also vegetarisch, da weiß ich ja überhaupt
nicht …”
“Vielleicht einen Grünkernbratling mit
Currysoße”, schlug Herr Lehmannvor.
“Nein, nein, wenn du sagst, daß der
Schweinebraten …”
“So”, platzte Karl dazwischen. Er beugte sich
von hinten über Herrn Lehmann, bis seine offene Anzugjacke um
dessen Gesicht schlabberte, und stellte eine Flasche Rotwein auf
den Tisch. “Das ist ein ganz, ganz feines Stöffchen.”
“Gläser, Wasser”, sagte Herr Lehmann.
“Alles klar, Boß”, sagte sein bester Freund
Karl und verschwand wieder.
“Also dekantieren geht anders”, warf sein
Vater ein und studierte die
“Flasche. Und von 85 ist der auch
nicht.”
Herr Lehmann hätte seinen Vater gern gefragt,
seit wann er etwas von Wein verstand, aber er konnte sich
zurückhalten. Karl kam mit Gläsern und Wasser zurück.
“Ist der Schweinebraten gut?” fragte ihn
Herrn Lehmanns Mutter.
“Gut ist gar kein Ausdruck”, sagte Karl. “Ein
Gedicht ist das, sagen alle.”
“Ist der mit Kruste?”
“Moment”, sagte Karl und verschwand wieder.
Herr Lehmann sah ihn in der Küche verschwinden und ihm schwante
Böses. Und tatsächlich kam er mit Katrin wieder heraus.
“Wieso weiß der nicht, ob der mit Kruste
ist”, quengelte seine Mutter.
“So was weiß man doch.”
Katrin kam an ihren Tisch. “Kann ich helfen?”
fragte sie in die Runde.
“Ist der Schweinebraten mit Kruste?” fragte
Herrn Lehmanns Mutter.
“Natürlich ist der mit Kruste.”
“Wieso natürlich? Also, ich mach den nie mit
Kruste. Das ist mir viel zuviel Arbeit.”
“Die Kruste”, sagte Katrin lächelnd, “wird
allgemein überschätzt.”
“Das ist übrigens Katrin Warmers”, sagte Herr
Lehmann, “die Köchin hier, und das sind meine Eltern.”
“Ihr Sohn ist ein ganz großer
Schweinebratenfachmann”, sagte Katrin mit todernster Miene.
“Setzen Sie sich doch”, sagte seine Mutter
und zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran. Meine Eltern, dachte
Herr Lehmann, würden prima Kreuzberger abgeben. So hatte er das
noch nie gesehen.
“Ich habe aber nicht viel Zeit.” Katrin
setzte sich neben Herrn Lehmanns Mutter und strich sich eine
Haarsträhne aus dem Gesicht.
“Also ich mach den nie mit Kruste”, nahm
seine Mutter den Faden wiederauf.
“Würde ich auch nicht machen”, sagte Katrin.
Herr Lehmann, der sich nicht sicher war, wie sehr und in welche
Richtung ihm das alles jetzt peinlich sein sollte, beschloß sich zu
entspannen und goß den Rotwein in die Gläser.
“Ich nehm auch ein bißchen”, sagte
Katrin.
Karl, der sich in der Nähe herumdrückte und
lauschte, sprang mit einem vierten Weinglas herbei.
“Können Sie denn so lange aus der Küche
fernbleiben?” fragte seine Mutter.
“Wenn doch der Boß im Spiel ist”, mischte
Karl sich ein.
Herr Lehmann trank hastig sein Glas aus und
schenkte sich gleich was nach. Ohne Alkohol ging hier gar nichts
mehr.
“Na dann.”
“Wenn ich den nicht mit Kruste mache, dann
meckert die Hälfte der Leute herum, daß sie den mit Kruste haben
wollen”, sagte Katrin und schaute dabei Herrn Lehmann an. “Man kann
sich gar nicht vorstellen, was die Leute hier manchmal für Ärger
machen.”
“Ach Sie Ärmste”, sagte Herrn Lehmanns Mutter
und tätschelte ihren Arm, das kann ich mir gut vorstellen. Das ist
sicher nicht leicht, für Leute zu kochen, die man gar nicht
kennt.”
“Die Schweinebratenleute sind die
Schlimmsten”, sagte Katrin.
“Oh, da hätte ich mal lieber nicht
gefragt.”
“Nein, nein, bei Ihnen ist das in
Ordnung.”
“Kann ich jetzt die Essensbestellung
aufnehmen?” Karl war immer noch da.
“Wieso willst du jetzt die Bestellung
aufnehmen”, fragte Herr Lehmann aggressiv. “Was willst du denn
damit machen? In die Küche bringen? Ist da jetzt jemand?”
“Das muß alles seine Ordnung haben. Das ist
doch dein oberster Grundsatz, Boß.”
“Das schärft er uns immer wieder ein”,
bestätigte Katrin.
“Also ich nehm den Schweinebraten”, sagte
seine Mutter.
“Ich auch”, sagte Herrn Lehmanns Vater.
“Dreimal Schweinebraten”, sagte Herr Lehmann.
“Mit überschätzter Kruste.”
“Ich mach auch immer ein bißchen Knoblauch
dran”, sagte seine Mutter.
“Das mache ich auch. Das ist viel wichtiger”,
sagte Katrin.
Herr Lehmann hob sein Glas und prostete
seinem Vater zu. Sie stießen an. Währenddessen vertieften sich die
Frau, die er liebte, und die Frau, die seine Mutter war, in ein
ausführliches Gespräch über Knoblauch und woran er überall
gehörte.
“Ist hier immer so wenig los?” erkundigte
sich sein Vater.
“Nein, das richtige Geschäft ist später”,
sagte Herr Lehmann. Um neun ist das hier brechend voll.”
“Aber dann essen die nicht alle”, sagte sein
Vater.
“Nein”, gab Herr Lehmann zu, der in diesem
Moment sah, daß sich Kristall-Rainer am Tresen breitgemacht hatte.
“Und selbst wenn sie essen, das Geld macht man immer mit dem
Suff.”
“Würde ich auch mal denken”, sagte sein
Vater. “Naja”, fügte er hinzu,“gesoffen wird immer. So gesehen hast
du es ganz gut erwischt hier.” ”
“So, dann werde ich mal wieder in die Küche
gehen”, sagte Katrin und stand auf.
“Das war aber nett, sich mit Ihnen zu
unterhalten”, sagte Herrn Lehmanns Mutter.
“Ihr Sohn”, sagte Katrin noch einmal, “ist
auf jeden Fall ein ganz großer Fachmann. Für alles.” Und dann ging
sie.
“Was meint sie damit?” fragte seine Mutter
Herrn Lehmann.
“Ich habe keine Ahnung”, sagte Herr Lehmann.
“Manchmal denke ich, ich sollte sie alle entlassen.”
“Aber Restaurant …”, sagte seine Mutter und
beugte sich vor, um besser den Raum überblicken zu können. “Das
sieht doch mehr wie eine Kneipe aus. Die essen ja gar nicht
alle.”
“Man kann sie nicht zwingen zu essen”, sagte
Herr Lehmann, den das schnelle Trinken und der Wein überhaupt etwas
albern machten. “Und Alkohol hat einen hohen Brennwert.”
“So ihr Lieben.” Sein bester Freund Karl war
schon wieder da und stellte ein Körbchen mit Brot und ein
Schmalztöpfchen auf den Tisch. “Hier schon mal was zum Knabbern.
Und schön Salz draufmachen. Denkt an die Elektrolyte.”
“Das ist wirklich ein netter junger Mann”,
sagte Herrn Lehmanns Mutter und blickte ihm hinterher. “Aber auch
ein bißchen seltsam. Hat der irgend was?”
“Schwer zu sagen. Wie war denn die
Stadtrundfahrt?”
“Schrecklich ist das.” Seine Mutter machte
sich über das Brot her. “Wie kannst du hier bloß leben, mit dieser
furchtbaren Mauer drumrum, das ist ja ganz schrecklich. Also ich
könnte das nicht.”
“Für uns ist das nicht so schlimm. Wir können
ja trotzdem raus.”
“Da fühlt man sich doch total eingesperrt.
Die ist ja überall, einmal drum rum.”
“Quatsch.” Herr Lehmann hatte auf diesen
Scheiß keine Lust. Es war immer dasselbe, wenn die Leute Berlin
besuchten. “Wenn in Bremen irgendwo eine Straße zu Ende ist, und da
ist eine Mauer, dann fühlst du dich doch auch nicht gleich
eingesperrt.”
“Das ist doch ganz was anderes.”
“Ja. Aber das Problem haben die anderen
Leute, die im Osten. Die Idee von dem Ding ist ja nicht, daß wir
nicht rauskönnen, sondern daß die nicht reinkönnen. Wobei es für
die natürlich in dem Sinne dann ein Rauskönnen wäre.”
“Ja”, sagte seine Mutter. “Die wollen ja nun
auch alle raus, das sieht man jetzt ja.”
“Das ist schon hart, was da jetzt los ist”,
sagte sein Vater. “Da geht ja alles den Bach runter.”
“Sicher”, sagte Herr Lehmann. “Aber das hat
doch mit dem Leben in Westberlin nichts zu tun. Wir kriegen hier
doch gar nichts davon mit.”
“Also ich könnte das nicht. Da würde ich mich
total eingesperrt fühlen.”
Und so ging das immer weiter, bis der
Schweinebraten kam, den Karl erstaunlich zivil und ohne Faxen auf
den Tisch brachte, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, daß Erwin
gekommen war, der mit ihm ein paar Worte gewechselt und sich dann
am Tresen niedergelassen hatte, so weit von Kristall-Rainer
entfernt, wie es nur irgend möglich war.
“Der ist aber gut, der Schweinebraten”, sagte
seine Mutter.
“Ja, der ist sehr gut. Es gibt ja auch kaum
noch Restaurants, die guten Schweinebraten machen”, sagte sein
Vater.
“Sag ich doch”, sagte Herr Lehmann.
“Wird man hier gut bezahlt?” fragte sein
Vater. “So als Geschäftsführer::::” fügte er fein lächelnd
hinzu.
Herr Lehmann betrachtete seinen Vater kurz,
bevor er antwortete. Irgendwas war anders mit ihm. Er hatte etwas
Müdes an sich, wirkte aber auch wissender. Vielleicht habe ich ihn
tatsächlich immer unterschätzt, dachte Herr Lehmann.
“Geschäftsführer hat nicht viel zu bedeuten”,
sagte er. Zugleich war Karl wieder aufgetaucht und stellte eine
neue Flasche Rotwein auf den Tisch.
“Na, na”, sagte er und verschwand
wieder.
“Hat nicht viel zu bedeuten”, wiederholte
Herr Lehmann. “Man kümmert sich um die Bestellungen, um die
Abrechnungen und so … Ist mehr ein Zubrot.”
“Was meinst du damit”, horchte seine Mutter
auf.
“Damit meine ich”, sagte Herr Lehmann, der
nun ärgerlich wurde, vor allem auf sich selbst, weil er den
Geschäftsführerquatsch damals angefangen hatte, “daß ich im Grunde
auch nur einer bin, der hinter dem Tresen steht und den Leuten was
zu trinken gibt, was immer noch besser ist, als an den Tischen
herumzukellnern oder so.”
“Aber Frank, deswegen mußt du dich doch nicht
gleich so aufregen”, sagte seine Mutter. “Was kann ich denn
dafür?”
“Das habe ich doch gar nicht gesagt.”
“Hauptsache, du kommst über die Runden”,
sagte seine Mutter. “Also ich finde das ganz prima hier. Das ist
doch viel angenehmer als sonst in Restaurants, da ist immer alles
so steif und man fühlt sich überhaupt nicht wohl.- Und die Leute
hier, die sind doch alle sehr nett.”
“Ja, sicher.”
“Finde ich auch”, sagte sein Vater. “Wenn’s
einem Spaß macht …” Er legte die Gabel weg und goß allen noch Wein
ein. “Der Wein ist gut. Aber von 85 ist der nicht.”
“Warum sollte er auch von 85 sein”, sagte
Herr Lehmann, der plötzlich gute Laune hatte. Es ist ihnen
scheißegal, dachte er, es interessiert sie einen Scheiß, was ich
mache. “Ich habe das mit dem Geschäftsführer eigentlich auch immer
nur deshalb so hervorgehoben, damit du Frau Dunekamp irgendwas
sagen kannst”, sagte er zu seiner Mutter. “Weil du mir damals
gesagt hast, Frau Dunekamp hätte dich gefragt, was ich machen
würde, und du hättest nicht gewußt, was du sagen solltest.”
“Wußte ich auch nicht”, sagte seine
Mutter.
“Schmeckt’s?” fragte Erwin, der plötzlich bei
ihnen stand.
“Das ist Erwin Kachele”, sagte Herr Lehmann,
und das sind meine Eltern.”
“Ja, schön, guten Tag”, sagte Erwin.
“Erwin gehört der Laden hier”, sagte Herr
Lehmann.
“Ganz prima Schweinebraten”, sagte seine
Mutter. “Auch die Kruste.”
“Ich will auch nicht stören”, sagte Erwin,
aber kann ich dich gleich mal kurz sprechen, Herr Lehmann, ich
meine, wenn du aufgegessen hast?”
“Ja klar”, sagte Herr Lehmann, den das etwas
wunderte, “bin gleich da.”
“Wieso nennt der dich Herr Lehmann und duzt
dich dann?” wollte seine Mutter wissen, nachdem Erwin gegangen war.
“Das ergibt doch keinen Sinn.”
“Ich weiß, Mutter, ich weiß.”
Sie aßen einige Zeit schweigend vor sich
hin.
“Es ist gut, dich mal wieder zu sehen”, sagte
sein Vater unvermittelt. “Ich weiß auch nicht, was hier so läuft,
aber dir scheint’s doch ganz gut zu gehen.”
“Find ich auch”, sagte seine Mutter. “Das
sind nette Leute.”
“Auf jeden Fall”, sagte sein Vater.
“Nur das mit der Mauer. Ach so”, rief seine
Mutter unvermittelt, “wir wollten da sowieso noch was mit dir
besprechen.”
“Wartet mal eben”, entschuldigte sich Herr
Lehmann. Die Sache mit Erwin, der ihn sprechen wollte, beunruhigte
ihn irgendwie, und er wollte das hinter sich bringen. Er stand auf,
nahm sein Weinglas mit und ging zu seinem Chef hinüber, der jetzt
wieder am Tresen saß, einen Pfefferminztee mit Milch trank und
Kristall-Rainer nicht aus den Augen ließ. Als Herr Lehmann am
letzteren vorbeikam, wurde er freundlich gegrüßt und es blieb ihm
nichts anderes übrig, als freundlich zurückzugrüßen. Wie ist,
dachte er, der eigentlich so plötzlich in mein Leben
gekommen?
“Dieser Kristall-Rainer geht mir langsam übel
auf die Nerven”, sagte Erwin, als Herr Lehmann bei ihm ankam. “Ja”,
sagte Herr Lehmann, “mir auch.”
“Möchte mal wissen, was der will”, sagte
Erwin. Herr Lehmann betrachtete Erwin, während Erwin
Kristall-Rainer beobachtete. Erwin sah irgendwie alt aus. Und
schlechtgelaunt. Aber das tat er immer, wenn er nüchtern war.
“Hier Erwin”, sagte Heidi, die plötzlich bei
ihnen auftauchte, “hab ich beim Mülleimer gefunden. Gehört der
dir?” Sie wedelte mit einem 50-MarkSchein. Erwin hat die Preise
erhöht, dachte Herr Lehmann.
“Oh ja”, sagte Erwin und steckte ihn schnell
ein.
“Wie läuft’s denn so als Geschäftsführer?”
fragte Heidi Herrn Lehmann.
“Nette Eltern aber.”
“Geschäftsführer?” fragte Erwin
verwirrt.
“Ich habe nichts gesagt”, sagte Heidi und
ging wieder weg.
“Du wolltest mich doch nicht wegen
Kristall-Rainer sprechen”, lenkte Herr Lehmann ab.
“Seit wann rauchst du denn?”
Herr Lehmann betrachtete die Zigarette, die
er sich angezündet hatte. “Nur so”, sagte er. Jetzt komm schon zum
Punkt, Erwin.”
“Es ist wegen Karl. Ich mache mir da Sorgen”,
sagte Erwin und rieb sich die Augen. “Weißt du vielleicht, was mit
ihm los ist?”
“Was soll schon mit ihm los sein? Mit Karl
ist alles in Ordnung.”
“Ich weiß nicht, irgendwie baut der ab. Das
geht so nicht mehr.”
“Was geht nicht mehr?”
“Ach Scheiße”, sagte Erwin, “Karl ist von
allen Leuten, die noch bei mir arbeiten, derjenige, der am längsten
dabei ist. Karl und du”, fügte er hinzu.
Herrn Lehmann war diese Wendung unangenehm.
Er mochte es nicht, wenn Erwin vertraulich wurde.
“Wie lange arbeiten wir jetzt schon
zusammen?” fragte Erwin.
“Weiß nicht, neun Jahre vielleicht”, sagte
Herr Lehmann.
Zusammen arbeiten ist nicht ganz das richtige
Wort, dachte er, aber es war nicht die Zeit für klassenkämpferische
Erwägungen.
“Sag einfach, was los ist, Erwin, sentimental
können wir immer noch werden.”
“Es ist wegen Karl”, sagte Erwin, “irgendwas
stimmt mit ihm nicht. Vorgestern hat er die Lieferung vergessen.
War einfach nicht da. Die Abrechnungen stimmen neuerdings hinten
und vorne nicht.”
“Karl bescheißt dich nicht, Erwin”, sagte
Herr Lehmann. “Das kannst du gleich vergessen.”
“Nein, das meine ich auch nicht. Kerle,
Kerle, Kerle.” Erwin rieb sich wieder die Augen, als hinge sein
Leben davon ab. “Ich mach mir Sorgen um ”
ihn. Und ich kann den hier nicht die
Geschäfte führen lassen. Der baut total ab. Der sumpft nur noch
rum. Guck dir nur mal an, wie er aussieht.”
“Ach das mit dem Anzug”, wiegelte Herr
Lehmann ab, “das hat er nur gemacht, um mich mit meinen Eltern ein
bißchen aufzuziehen. Das spielt ja hier nun wirklich keine Rolle.
Oder meinst du, das stört irgend jemanden?”
“Der Anzug ist mir scheißegal”, sagte Erwin,
“obwohl das wirklich scheiße aussieht. Aber hast du mal seine
Fingernägel gesehen? Und die Hälfte der Leute hat nichts zu
trinken, weil er alles vergißt und so, meinst du, ich kriege so was
nicht mit?”
“Komm schon, Erwin”, sagte Herr Lehmann, dem
nichts Besseres dazu einfiel, “wie lange arbeiten wir schon
zusammen?” Jetzt werde ich selber sentimental, dachte er. “Du
kennst doch Karl. Der hat halt im Augenblick verdammt viel zu tun,
der hat bald die Ausstellung in Charlottenburg, ist doch logisch,
daß er ein bißchen durcheinander ist.”
“Ja sicher, habe ich auch schon gedacht. Ist
ja auch okay. Aber so geht das nicht. Ich will ihn ja nicht
rausschmeißen”, sagte Erwin. “Ich hatte nur überlegt, ob du dich
nicht in der nächsten Zeit hier um den Laden kümmern könntest, und
Karl arbeitet solange im Einfall.”
“Nee nee”, wehrte Herr Lehmann ab. “Nee, da
hab ich keinen Bock drauf. Ich meine, ich find es okay, wenn Karl
im Einfall arbeitet, das ist eine gute Sache, aber hier diesen
Geschäftsführerquatsch machen, das ist nicht mein Ding. Außerdem
gibt’s doch genug andere Leute. Was ist mit Heidi?” Herr Lehmann
sah zu ihr hin, und sie kam wieder zu ihnen herüber.
“Was gibt’s denn?” fragte sie.
“Ich hätte gerne ein großes Bier”, sagte Herr
Lehmann und schob ihr sein Weinglas hin. Vertrage keinen Wein.
Knallt zu sehr rein.”
“Vom Faß?”
“Ja, heute schon”, sagte Herr Lehmann. Aber
ein großes dann.”
“Gibt doch nur noch Nullvier”, sagte Heidi
und ging wieder.
“Heidi geht nicht”, sagte Erwin, als sie
wieder außer Hörweite war, “die packt das nicht.”
“Komm, Erwin”, sagte Herr Lehmann, “wir leben
im 20. Jahrhundert.”
“Ich habe sie schon gefragt”, sagte Erwin.
“Sie hat da keinen Bock drauf.”
“Dann frag doch Stefan oder Sylvio”, schlug
Herr Lehmann vor. “Laß doch einen von denen mit Karl tauschen. Oder
mach es selbst. Dann mach ich mit Karl zusammen die Nachtschichten
im Einfall, und alles ist gut.”
“Ich weiß nicht”, sagte Erwin. “Irgendwas
stimmt mit ihm nicht. Irgend wie mache ich mir Sorgen um
ihn.”
Herr Lehmann schaute Erwin in die Augen und
sah dort nichts Falsches. Aber, dachte er, das kann täuschen. Er
hatte jedenfalls Erwin nie als jemanden gesehen, der sich ernsthaft
um Leute Sorgen machte, die nicht zufällig Erwin Kachele hießen.
Aber es schien ihm ernst zu sein.
“Dann ist es um so wichtiger, daß ich mit ihm
zusammenarbeite”, sagte er. “Und Stefan, der steht da doch drauf,
Geschäftsführer sein und so.”
“Ja, das geht vielleicht. Vielleicht solltest
du zu deinen Eltern zurückgehen”, sagte Erwin und wies mit einem
Kopfnicken in deren Richtung. Herr Lehmann sah zum Tisch seiner
Eltern hinüber und glaubte nicht, was er sah. Nicht nur, daß Katrin
wieder mit seiner Mutter zusammensaß und sich blendend zu
unterhalten schien, nein, auch Kristall-Rainer hatte sich dort
eingefunden, und er saß auf seinem Stuhl und unterhielt sich mit
seinem Vater.
“Ich glaube auch”, sagte er.
“Ich rede mal mit Karl”, sagte Erwin.
“Ja, aber komm ihm nicht blöd”, sagte Herr
Lehmann. “Er hat’s nicht verdient.”
Er ging zurück zum Tisch seiner Eltern. “Du
sitzt auf meinem Platz”, sagte er zu Kristall-Rainer, der ihn
unschuldig anschaute.
“Oh, das wollte ich nicht, das tut mir leid”,
sagte Kristall-Rainer und stand auf.
Herr Lehmann setzte sich auf seinen Stuhl. Er
ist angewärmt, dachte er ärgerlich, mein Stuhl ist angewärmt von
Kristall-Rainer. “Vergiß nicht dein Weizen”, sagte er und reichte
es ihm hoch. Kristall-Rainer stand unschlüssig neben ihm.
“Irgendwie macht es mich nervös, wenn jemand neben mir steht, wenn
ich sitze”, setzte Herr Lehmann eins drauf. Kristall-Rainer ging
aber nicht. Er nickte, nahm sich einen Stuhl vom Nachbartisch und
setzte sich dazu. Er ist zäh, dachte Herr Lehmann.
Ach Frank, das ist richtig nett hier. Worum
ging’s denn?” sagte sein
”
Vater.
Ach, so innerbetrieblicher Kram”, sagte Herr
Lehmann.
”
Kann ich helfen?” fragte Karl, der plötzlich
bei ihnen stand und auf
”
Kristall-Rainer herunterschaute. Da ist ja
kaum noch was drin”, sagte er
”
und nahm ihm das Weizenglas aus der Hand. Das
ist ja ganz schale Plörre.
”
Komm mal mit, am Tresen gibt’s neues. Und ich
muß dich mal was fragen.”
Kristall-Rainer stand auf und ging mit.
“Wo geht der denn hin?” fragte Katrin von der
anderen Seite des Tisches.
“Keine Ahnung”, sagte Herr Lehmann
ärgerlich.
“Naja”, sagte Katrin und stand auf. Ich muß
mal wieder. ”
“Der Schweinebraten war ganz wunderbar”, rief
seine Mutter ihr hinter her.
Dieser Abend, dachte Herr Lehmann, ist das
Seltsamste, was ich in letzter Zeit erlebt habe.
“Das ist ja ein lustiger Abend”, sagte seine
Mutter zu ihm.“Du hast es wirklich nett hier mit deinen
ganzen Freunden.”
“Ja, ja”, sagte Herr Lehmann.
“Wir müssen aber sowieso noch mit dir reden”,
sagte seine Mutter.
“Wie jetzt?”
“Naja”, sagte sein Vater, “wir hätten da noch
eine Bitte an dich. Du mußt wegen Oma noch etwas für uns
erledigen.”
“Wegen Oma?”
“Wir schaffen das nicht”, sagte seine Mutter.
“Wir müßten das morgen machen, und das wird einfach zuviel, morgen
abend fährt ja der Bus schon wieder.”
“Wäre wirklich nett, wenn du das für uns
erledigen könntest”, fügte sein Vater hinzu. Ist keine große
Sache.”
“Worum geht’s denn?” fragte Herr Lehmann und
signalisierte Karl, der an der Kasse herumfummelte, daß er Schnaps
für alle wollte.
“Du mußt nach Ostberlin.”
Kapitel 13
KUNST
“Was sollst du?” Karl hatte nicht zugehört.
Herr Lehmann stand etwas ratlos in seiner Werkstatt, einer
Ladenwohnung in der Cuvrystraße, deren Rolläden immer geschlossen
waren, weil Karl lieber bei künstlichem Licht arbeitete und ihn die
Scheißtageszeiten nicht interessieren, wie er einmal gesagt hatte.
Es war heiß hier drin, überall hingen Kabellampen, und der ganze
Raum war vollgestellt mit neuen Skulpturen oder Objekten, oder wie
immer Karl die Dinger nannte, die er aus diversem Altmetall so
zusammenschweißte. Herr Lehmann wußte nicht genau, wo er sich
aufhalten sollte, weil Karl fahrig zwischen mehreren Kunstwerken
hin- und herschwankte und mit einem entflammten Schneidbrenner an
ihnen herumwerkelte, was eine Unterhaltung im Grunde unmöglich
machte. Außerdem konnte Herr Lehmann keinen Aschenbecher entdecken,
und er war sich nicht sicher, ob es opportun war, auf den Fußboden
zu aschen.
“Vielleicht sollte ich ein andermal
wiederkommen”, rief Herr Lehmann, obwohl er froh war, seinen besten
Freund Karl endlich wiederzusehen. Seit dem Abend mit Herrn
Lehmanns Eltern in der Markthalle war Karl nirgendwo mehr
aufgetaucht, das war jetzt fünf Tage her, in dieser Zeit hatte er
nur noch in seiner Werkstatt gestanden, um das Zeug für die
Ausstellung in Charlottenburg endlich fertigzubekommen.
“Ach Scheiße.” Sein bester Freund Karl drehte
den Schneidbrenner ab, riß sich die Schweißerbrille vom Kopf und
schleuderte sie in die Ecke. “Das bringt doch alles nichts.”
“Hast ja ganz schön was fertiggekriegt”,
sagte Herr Lehmann. An und für sich sagten ihm die Sachen, die Karl
machte, nichts, und Karl wußte das. Deshalb mußte Herr Lehmann nie
sagen, wie er das alles fand, und das war ihm angenehm. Herr
Lehmanns Bruder hatte mal ganz ähnliche Sachen gemacht, wenn auch -
zumindest damals - mit mehr Erfolg, und schon damit hatte Herr
Lehmann nie etwas anfangen können. Kunst ließ ihn überhaupt im
großen und ganzen kalt. Aber er hatte Respekt vor den Leuten, die
sich ihr widmeten, wie überhaupt vor allen Leuten, die sich in
irgend etwas hineinsteigern konnten.
Ach Scheiße.” Sein bester Freund Karl fuhr
sich mit der Hand durch die Haare, und Herrn Lehmann fiel erst
jetzt auf, wie sehr er schwitzte, seine Haare waren klatschnaß, und
von den Schläfen zogen dicke Tropfen in verschiedenen Bahnen
hinunter zum Kinn. “Das ist alles Mist”, sagte er.
“Kannst du alles mitnehmen.” Er trat
gegen eins seiner Werke, bis es trotz seiner metallenen Schwere
gefährlich wackelte.
“Nix”, sagte Herr Lehmann, der diese
Anwandlungen schon kannte. “Das ist amtliches Zeug.”
“Amtlich. Genau das. Amtlich!” sagte Karl mit
bitterem Unterton. “Du hast es auf den Punkt gebracht.”
“Wann ist denn jetzt eigentlich die
Ausstellung?”
“Am elften November, noch acht Tage, acht
verschissene Tage. Gestern war eine Frau von der Galerie da, fand
alles super. Genau das, was ich mir vorgestellt habe, hat die blöde
Tiffe gesagt.”
“Sei doch froh. Wenn schon, denn
schon.”
“Davon verstehst du nichts. Was hast du
vorhin erzählt? Was sollst du?”
“Ich muß nach Ostberlin.”
“Wieso das denn?”
“Wegen meiner Oma. Die hat plötzlich ihr Herz
für unsere Ostverwandtschaft entdeckt.”
“Ihr habt Verwandte im Osten?”
“Hab ich auch nicht gewußt. Irgendeine Kusine
meiner Mutter, die wird jetzt 60, und meine Oma will unbedingt, daß
sie 500 Mark kriegt.”
“Kann man das nicht mit der Post
schicken?”
“Weiß ich nicht. Irgendwie will meine Oma,
daß das persönlich übergeben wird. Sie traut den Kommunisten nicht,
sagt sie, und da geht jetzt alles drunter und drüber und so. Und
meine Eltern hatten keine Lust dazu, als sie jetzt da waren.”
“Hm, in den Osten”, sagte Karl nachdenklich
und holte zwei Flaschen Bier aus einem Kasten, der unter seiner
Werkbank stand. Er öffnete sie mit einem Schraubenzieher und
reichte eine davon Herrn Lehmann. “Hätte ich auch keinen Bock
drauf. Wann denn?”
“Sonntag. Übermorgen.”
“Haben sie dir wenigstens die Kohle für den
Zwangsumtausch gegeben?”
“Ach was, meine Eltern haben doch überhaupt
keine Ahnung von so was.”
“Da geht im Augenblick ganz schön was ab”,
sagte Karl. “Und dann muß man vorher zum Halleschen Ufer, in diesen
Scheiß da bei der AGB und sich diese Mehrfachberechtigung oder so
holen.”
“Hab ich schon, ich muß die nur noch mal
anrufen”, sagte Herr Lehmann.
“Diese Kusine, meine ich. Die wohnt irgendwo im Osten. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich mich mit ihr am Alex oder so treffe, dann gebe ich ihr das Geld und fahre wieder zurück.”
“Diese Kusine, meine ich. Die wohnt irgendwo im Osten. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich mich mit ihr am Alex oder so treffe, dann gebe ich ihr das Geld und fahre wieder zurück.”
“Du mußt vorher noch die Ostmark auf den Kopf
hauen, die darf man nicht wieder mit in den Westen nehmen”, sagte
Karl. “Das ist nicht so einfach. Wenn du das versaufen willst, mußt
du ganz schön in Form sein. Ich würde ja mitkommen, aber ich muß
arbeiten.”
“Katrin will mitkommen. Meint, das wäre
interessant. Sie freut sich richtigdrauf.”
Herr Lehmann hatte die letzte Nacht bei ihr
verbracht, und als er ihr von der Ostberlinsache erzählt hatte, war
sie ganz begeistert gewesen. Da sieht man endlich mal die andere
Hälfte der Stadt, hatte sie gesagt, und Herr Lehmann hatte sich
gefreut, daß sie sich freute, und deshalb hatte er es sich
verkniffen zu bemerken, daß sie ja noch nicht einmal diese Hälfte
der Stadt kannte. Er war froh, ihr etwas bieten zu können, was sie
interessierte, aber gleichzeitig drohte die ganze Ostsache durch
ihre Begeisterung aus dem Ruder zu laufen. Sie hatte sogar gefragt,
ob nicht Herrn Lehmanns Tante, oder was immer die Kusine einer
Mutter war, ihnen die Stadt zeigen könnte.
“Ich war ja mal da”, sagte Karl, nahm eine
Feile und feilte an einem Stück Metall herum, was ein nervtötendes
Geräusch verursachte. “Das ist so spannend wie Spandau am
Sonntag.”
“Warst du mal in Spandau?”
“Nein, um Gottes willen! Man weiß ja auch so,
wie das da sonntags aus sieht. Genau wie im Osten. Da war ich mit
deinem Bruder damals, das war kurz bevor du hergekommen bist. Wie
geht’s dem eigentlich?”
“Weiß nicht. Das letzte, was ich gehört habe,
war, daß es nicht mehr so gut läuft mit der Kunst. Er sagt, die
Deutschen sind in New York so was von abgemeldet, daß er schon
überlegt hat, ob er noch einmal von vorne anfangen sollte, als
Holländer.”
“Dabei war er doch dick im Geschäft.”
“Sah so aus. Mit Galerie und allem Drum und
Dran.”
“Galerie in New York, das hat ganz schön was
zu bedeuten. Muß aber Scheiße sein, wenn’s nicht mehr läuft.”
“Wahrscheinlich.”
“Wovon lebt er denn jetzt so?”
“Als Klempner oder Heizungsbauer oder
so.”
“Klempner?” Karl sah erschrocken aus.
“Klempner? Ich glaub’s nicht. Dein Bruder als Klempner?”
“Ich glaube, eher Heizungsbauer”, sagte Herr
Lehmann. “Schweißen kann er ja. Die sehen das da nicht so
eng.”
“Herr Lehmann!” Karl feuerte mit großer Geste
die Feile in die Ecke. “Weißt du eigentlich, was du da redest? Dein
Bruder! Klempner! Der war für mich immer der
Größte.”
“Ist nicht so schlimm, hat er gesagt”, sagte
Herr Lehmann. “Ich glaube, er verdient da sehr gut.”
“Frank!” Karl nahm ihn bei den Schultern und
blickte ihm dramatisch in die Augen. Er übertreibt, dachte Herr
Lehmann. Sein bester Freund hatte ganz rote Augen. Außerdem roch er
streng, als hätte er sich seit Tagen nicht mehr gewaschen. Er
arbeitet zu viel, dachte Herr Lehmann.
“Frank!” wiederholte Karl. “Dein Bruder ist
einer der größten Künstler, die es gibt. Das ist meine ehrliche
Meinung. Und wenn einer der größten Künstler, die es gibt, als
Heizungsbauer arbeiten muß, um über die Runden zu kommen, dann ist
das eine der übelsten Sachen, die ich je gehört habe.”
“Naja, er macht schon noch was”, versuchte
Herr Lehmann zu helfen. “Er muß ja nicht immer arbeiten. Die sehen
das da nicht so eng. Aber er malt jetzt viel.”
“Malen? Dein Bruder?”
“Ja, ich glaube schon. In Öl und so. Mehr so
zum Spaß, meint er.”
“Malen? Zum Spaß?” Karl schüttelte den
Kopf.
“Warum regst du dich denn so auf? Ich meine,
du hast demnächst eine Ausstellung in Charlottenburg, da kannst du
sogar mal richtig was verdienen, wo ist das Problem?”
“Ich rede über deinen Bruder, Herr
Lehmann.”
“Ja”, sagte Herr Lehmann, dem jetzt auffiel,
daß ihm sein Bruder fehlte.
Es wäre alles besser, wenn er hier wäre,
dachte er, ohne zu wissen, warum.
“Ich sollte ihn vielleicht mal anrufen.
Vielleicht läuft es ja schon wieder besser.”
“Malen! In Öl! Ich glaub, ich spinne.”
“Warum nicht?”
“Dein Bruder ist der größte lebende
Objektkünstler. Ohne Scheiß. Weißt du noch, wie ich damals das Ding
von ihm runtergehauen habe?”
“Da war ich nicht dabei. Ich bin erst kurz
danach nach Berlin gekommen.”
“Ja, stimmt.” Karl holte zwei neue Bier und
machte sie auf. “Das war auf dieser Ausstellung in der
Admiralstraße, in dieser komischen Galerie. Das Ding stand auf
einem Betonblock oder so und war nicht weiter befestigt. Irgendwann
waren wir alle besoffen und ich bin dagegen gedengelt. Das sollte
fünftausend Kracher kosten, stand direkt dran. Da fing er gerade
an, eine große Nummer zu werden. Fünftausend Steine. Und ich hab’s
runtergeworfen. Ist komplett zu Bruch gegangen. Fünftausend Mark.
Ich hab ihn gefragt, ob ich ihm jetzt fünftausend Mark schulde. Und
das Ding, das kommt noch dazu, das war wirklich gut gewesen.
Wirklich gut. Und er hat bloß gesagt: Scheiß drauf, ich mach was
Neues. Das war dein Bruder.”
“Er war schon cool”, gab Herr Lehmann
zu.
“Cool ist gar kein Ausdruck. Und so einer
schweißt jetzt in New York Heizungen zusammen.”
“Vielleicht macht’s ihm ja Spaß”, sagte Herr
Lehmann. “Ich meine, wenn er wirklich cool ist, dann regt er sich
über so einen Scheiß vielleicht nicht groß auf. Jedenfalls war er
nicht schlecht drauf, als er mir das erzählt hat. Er hat noch
gemeint, wenn er schon als Holländer geht, dann kann er auch gleich
große Schinken malen.” Er lachte. Karl nicht.
“Das ist eine ganz traurige Geschichte, Herr
Lehmann.”
“Ich weiß nicht”, sagte Herr Lehmann.
“Vielleicht ist es schlimmer für dich als für meinen Bruder.”
“Wie meinst du das?”
“Keine Ahnung, kommt mir nur so vor. Wundert
mich, daß du dich so aufregst.”
“Hier, ich zeig dir mal was!” Sein bester
Freund Karl ging zur Werkbank, faßte hinter ein großes
Schrott-Artefakt, das darauf stand, und warf es auf den Fußboden.
Es zerbrach in viele Teile. “Daran habe ich jetzt zwei Tage
gearbeitet. Ist aber nichts wert.”
“Warum nicht?”
“Weil es Scheiße ist. Und das da auch.” Sein
bester Freund Karl ging zu einem Objekt, das auf dem Boden stand
und trat es um. Dann drehte er sich zu Herrn Lehmann um und sah ihn
mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, so als würde er gleich in
Tränen ausbrechen.
“Schluß, aus, hör auf mit dem Scheiß”, rief
Herr Lehmann, der jetzt furchtbar erschrocken war. “Das ist doch
Quatsch! Was soll der Scheiß. Das ist einfach nur Quatsch.” Er ging
zu Karl und hielt seinen Arm fest.
“Herr Lehmann, ich sag dir mal was. Wenn dein
Bruder zwei Heizungsrohre zusammenschweißt, oder was immer er da
macht, dann ist das schon mehr wert als der ganze Scheiß
hier.”
“Jetzt mach mal halblang.” Herr Lehmann
konnte diesen pathetischen Mist nicht ausstehen, und der
weinerliche Unterton, den die Stimme seines Freundes hatte, ging
ihm auf die Nerven. Das ist nicht der Karl, den ich kenne, dachte
er. “Du bist ja bloß mit den Nerven fertig”, sagte er. “Du solltest
dich mal richtig ausschlafen oder vernünftig was essen, oder einen
wegstecken oder so. Das ist doch Superzeug, was du da
machst.”
“Du hast doch überhaupt keine Ahnung davon.
Was weißt du denn?”
“Natürlich habe ich keine Ahnung. Du aber
auch nicht. Du bist ja wohl der letzte, der seinen eigenen Kram
beurteilen kann. Dir fehlt der Abstand. Laß das mal alles so stehen
und denk ein paar Tage nicht mehr dran. Außerdem müssen wir gleich
los.”
“Wohin?”
“Zur Arbeit, du Dödel. Wir haben gleich eine
Schicht im Einfall. Du auch. Das wird dich auf andere Gedanken
bringen. Manchmal glaube ich, Erwin hat recht, und man sollte sich
Sorgen um dich machen.”
“Hat er das gesagt?”
“Ja.”
“Der soll sich mal lieber Sorgen um seine
Leber machen.” Karl wirkte plötzlich wieder entspannt und heiter.
“Schicht im Einfall?”
Herr Lehmann seufzte. “Ja. Im Einfall.”
“Hatte ich ganz vergessen.”
“War klar.”
“Eigentlich müßte ich hier
weitermachen.”
“Nix! Komm mal lieber mit ins Einfall. Das
bläst dir die Scheiße aus dem Kopf, wenn du mal was Vernünftiges
machst.”
“Ach Frank”, seufzte sein Freund Karl und
legte einen schweren Arm um Herrn Lehmanns Schulter. “Weißt du, was
ich an dir so mag?”
“Nein.”
“Daß du mit Kunst und dem ganzen Scheiß
nichts zu tun hast. Du bist so… so …” Sein bester Freund Karl
wedelte mit der freien Hand in der Luft herum, als wollte er dort
das passende Wort erhäschen.
“Langweilig?” schlug Herr Lehmann vor.
“Nein, nicht langweilig. Nur so … so
erfrischend simpel.”
“Ja”, sagte Herr Lehmann amüsiert. “Das sagen
viele. Und du solltest mal eben noch duschen, Herr Schmidt. Du
stinkst.”
“Siehst du, das meine ich.”
“Ich weiß.”
Kapitel 14
WIEDERVEREINIGUNG
Es tat Herrn Lehmann gut, wieder mit seinem
besten Freund zu arbeiten. Das hat mir gefehlt, dachte er, als er
hinter dem Tresen stand und Karl dabei zusah, wie er, sein dickes
Hinterteil in die Höhe streckend, Bierflaschen in die Kühlschublade
einräumte. Die Schicht ließ sich normal an, es war nicht viel los,
aber immerhin genug, um beiden die Möglichkeit zu geben, sich für
den Trubel eines Freitagabends warmzulaufen. Das Angenehmste daran,
mit Karl zu arbeiten, war immer ihr wortloses Einverständnis
gewesen, was zu tun sei und wer es tun sollte, sie waren wie zwei
aufeinander eingestellte Kolben eines Motors, und wenn sie
zusammenarbeiteten, lief alles rund. So war es jedenfalls früher
gewesen, und so schien es wieder zu sein, dabei war es schon zwei
Jahre her, daß sie das letzte Mal gemeinsam hinter dem Tresen
gestanden hatten. So sollte es mit Freunden sein, dachte Herr
Lehmann, wenn man sie wiedersieht oder wieder mit ihnen arbeitet,
nach egal wie langer Zeit, dann sollte es so sein, als sei gar
keine Zeit vergangen, dachte er, während sie zusammen Bierflaschen
öffneten, Milchkaffee aufschäumten und Schnäpse
eingossen.
Nach zehn Uhr füllte sich der Laden, und da
es Freitag abend war, mischten sich viele Wochenend- oder
Amateurtrinker, wie Karl sie immer nannte, unter die üblichen
Verdächtigen, sie waren durch die Aussicht auf das vor ihnen
liegende Wochenende gehörig aufgekratzt und hellten die Stimmung
mit ihrer fröhlichen Ausgelassenheit ziemlich auf, es mischte sich
viel Scherzen und Lachen in die über allem liegende Krachmusik, die
Klaus und Marko immer als Avantgarderock bezeichneten. Karl hatte
sie eingeworfen, nachdem er die Kassetten “mit der Scheiße von
Heiko”, wie er es nannte, in der Küche in einem Kühlschrank
versteckt hatte. Herr Lehmann hatte ihn gerade noch daran hindern
können, sie in den Abfall zu werfen.
“Das kannst du nicht bringen”, hatte Herr
Lehmann gesagt, und er war zum ersten Mal an diesem Abend leicht
irritiert gewesen. Es war nicht Karls Art, sich wegen Musik zu
ereifern.
“Das ist doch Scheißkram.”
“Wieso, du gehst doch auch dauernd ins Orbit,
wo sie den Bummbumm scheiß immer spielen. Erwin hat sogar gesagt,
da liegt die Zukunft.”
“Erwin hat keine Ahnung. Das ist nicht alles
dasselbe, bloß weil es Bumm bumm macht. Da gibt es so was und so
was.”
“Ja, aber die Tapes hat Heiko aufgenommen,
die kannst du doch nicht einfach wegschmeißen.”
“Scheiß auf Heiko. Das ist Rotz.”
“Karl! Hör auf mit dem Scheiß.”
So hatte die Sache damit geendet, daß Karl
die Kassetten im Kühlschrank versteckt hatte, was zwar ungewöhnlich
kindisch, aber nicht völlig untypisch für ihn war, und Herr Lehmann
hatte die Sache schnell wieder vergessen. Aber als es richtig voll
wurde, passierten wieder einige Dinge, die Herrn Lehmann stutzig
machten. Zum einen trank Karl ungewöhnlich viel Bier, während er
arbeitete. Dann ließ er eine Flasche fallen. Dann wurde er wütend,
weil sich der Mülleimer nicht richtig öffnete, wenn er auf die
Pedale ttat, und einmal regte er sich so sehr darüber auf, daß er
den Aschenbecher, den er hatte ausleeren wollen, einfach
hineinwarf. Dann verschwand er immer mal wieder im Keller, nicht
ohne Herrn Lehmann umständlich zu erklären, daß er das tat, um
irgend etwas zu holen, was sie angeblich noch brauchten, Weizenbier
oder Gläser oder irgend etwas, was aber meistens Unsinn war, zumal
Herr Lehmann gar nicht nach einer Begründung gefragt hatte oder
jemals gefragt hätte. Nichts von diesen Dingen war wirklich
außergewöhnlich, aber alles zusammen machte Herrn Lehmann stutzig.
Und irgendwann kam dann auch noch Erwin und wollte mit Karl reden.
Sie gingen zusammen nach oben in Erwins Wohnung, während unten vor
dem Tresen schon die Heide wackelte, und Herr Lehmann fragte sich
langsam, ob nun wirklich alle verrückt geworden waren.
Aber dann kam Katrin und begrüßte ihn mit
einem Kuß auf den Mund, und sie umschlang seinen Hals dabei, was
sie vor anderen Leuten noch nie gemacht hatte und bisher auch von
ihm in der Öffentlichkeit nicht hatte haben wollen, und das machte
ihn so glücklich, daß er die nächsten fünf Flaschen Bier wahllos
umsonst herausgab. Sie blieb eine Zeitlang am Tresen stehen und sah
ihm bei der Arbeit zu, und er versuchte, mit ihr ein Gespräch in
Gang zu halten, aber es war einfach zuviel zu tun, und nachdem sie
sich anlächelnderweise einige belanglose Worte zugeworfen hatten,
sahen sie beide ein, daß es in der jetzigen Situation nichts gab,
was unbedingt gesagt werden mußte.
In der Unterhaltung zwischen Erwin und Karl
schien es auch um nichts gegangen zu sein, jedenfalls um nichts
Böses, denn beide waren sehr gut drauf, als sie wieder
herunterkamen. Karl ging gleich wieder an die Arbeit und Herr
Lehmann konnte es sich nicht verkneifen, ihn zu fragen, was er und
Erwin eigentlich immer zu besprechen hatten.
“Oh … !” sagte Karl grinsend und machte sich
schnell ein Bier auf. “Du wirst es nicht glauben, aber Erwin ist
unter die Kunstkäufer gegangen. Er will was von mir kaufen, für
seinen neuen Laden in Charlottenburg.”
Das, dachte Herr Lehmann, ist komisch
formuliert. Früher hätte Karl das anders gesagt, dachte er, früher
hätte er gesagt: Der Blödmann will was von mir kaufen. Was, dachte
Herr Lehmann, soll das Gerede von ‘du wirst es nicht glauben’ und
‘Kunstkäufer’, warum redet er so komisch, dachte Herr Lehmann, aber
er sagte nur: Sieht so aus, als sei Charlottenburg deine
Bestimmung.”
“Sieht so aus, sieht so aus.”
Herr Lehmann hätte gerne mit Katrin über Karl
geredet, vielleicht wußte sie irgend etwas, was ihm entgangen war,
bei Frauen ist das ja manchmal so, dachte er, aber sie war irgendwo
im Gewühl verschwunden. Er sah sie später weiter hinten stehen und
sich mit Klaus und Marko unterhalten, und nach der Beharrlichkeit
zu schließen, mit der die beiden auf sie einredeten, hatte sie sich
mit ihnen auf ein Gespräch über Musik eingelassen. Sie lebt sich
schnell ein, dachte er, sie kommt mit allen gut klar, sie ist
offener als ich, dachte er, für sie ist das alles neu und
aufregend, und natürlich, dachte er, hat sie recht damit. Er
erinnerte sich daran, wie es für ihn gewesen war, als er neu nach
Berlin gekommen war, das war lange her, damals war er
erst
21 gewesen, jetzt wurde er bald dreißig, und
er nahm sich vor, selber wieder ein bißchen offener und positiver
zu werden. Man vergreist ja sonst, dachte er und gönnte sich ein
Bier.
Dann kamen die Polen. Sie waren zu fünft, und
alles, was Herr Lehmann zuerst von ihnen sah, war der Hals eines
riesigen Kontrabasses, der sich wie von selbst ins Gedränge zu
schieben schien. Dann war eine hübsche, blonde Frau bei ihm und
fragte mit schwerem Akzent, ob sie ein bißchen Musik spielen
dürften. Herrn Lehmann war es recht und er machte die Krachmusik
aus, woraufhin das allgemeine Geschrei gleich erheblich abebbte.
Dann rückte die Masse an einer Stelle etwas auseinander und die
Musiker - es waren vier, ein Kontrabaß-, ein Akkordeon- und zwei
Gitarrenspieler - begannen zu spielen. Es war eine eigenartige
Musik, die sie spielten, irgendwie folkloristisch, und Herr Lehmann
dachte darüber nach, ob das vielleicht Polkamusik war und ob das
Wort Polka was mit Polen zu tun hatte. So oder so waren es sehr
ungewohnte Klänge für das Einfall, aber das störte keinen, im
Gegenteil, die Leute schienen die Abwechslung zu begrüßen, sie
redeten weniger und einige nickten sogar mit dem Kopf im Takt. Das
hat was, wenn man einfach so Musik spielen kann, dachte Herr
Lehmann, das macht sicher Spaß. Plötzlich
war Katrin neben ihm, hakte ihn unter und
lächelte ihn an.
“Vielleicht sollten wir tanzen”, sagte
sie.
“Nein”, wehrte Herr Lehmann ab, “nein, das
geht nicht. Ich hab vom Tanzen überhaupt keine Ahnung.” Der
Gedanke, vor all den Leuten zu tanzen, ließ ihn erschaudern.
“Na, komm schon”, sagte sie.
Herr Lehmann kämpfte mit sich einen schweren
inneren Kampf. Er wünschte sich schon, jetzt in der Lage zu sein,
so einen Quatsch zu bringen, aber er hatte nicht den Hauch einer
Ahnung, wie das gehen sollte.
Ich kann das nicht, wirklich nicht, ich bin
der absolute Flop, was Tanzen betrifft”, sagte er und fügte nach
einer kurzen Bedenkzeit hinzu: “Tut mir leid. Ich weiß, das ist
traurig und enttäuschend und so, ich will ja auch keine Spaßbremse
sein, aber es ist nun mal leider so.”
“Na komm schon”, sagte sie und umfaßte seine
Hüfte. “Ist doch ganz einfach, nur so ein bißchen hin und
her.”
Herr Lehmann hätte schon gewollt, aber er
konnte nicht. Schon allein die Hüften zu schwenken, war ihm nicht
gegeben, und dazu noch mit den Füßen oder den Beinen oder was auch
immer etwas anzustellen, und zwar gleichzeitig und vor allen
Leuten, war jenseits alles Denkbaren. Glücklicherweise wedelten
einige Leute auf der anderen Seite des Tresens mit Händen und
Geldscheinen und taten auch sonst alles mögliche, um seine
Aufmerksamkeit zu erregen, so daß er einen guten Grund hatte, sich
zu drücken.
“Ich muß arbeiten”, sagte er erleichtert, hob
sie kurz hoch, drehte sich einmal mit ihr um seine Achse und
stellte sie dann wieder hin. “Das muß reichen”, sagte er, “ich muß
wirklich wieder arbeiten.”
“Na gut”, sagte sie lächelnd, dann eben
nicht.” Sie schien es nicht allzu schwer zu nehmen. Das beruhigte
Herrn Lehmann, der ordentlich ranklotzen mußte, denn Karl war schon
wieder verschwunden.
Die Polen kriegten viel Beifall und spielten
noch ein Stück und dann noch eins, und damit begannen sie Herrn
Lehmann, der sowieso leicht gereizt war, weil Karl verschwunden
blieb, langsam auf die Nerven zu gehen. Vielen Gästen ging es wohl
ähnlich, die Sache verlor ein wenig ihren Reiz, die meisten
konzentrierten sich wieder auf das Wesentliche und verlangten nach
Bier. Als Herr Lehmann Karl endlich entdeckte, tanzte der gerade
mit Katrin. Es sah seltsam aus, er hielt sie einfach mit einem Arm
fest an sich gedrückt, hob sie ein bißchen an, bis ihre Füße nicht
mehr den Boden berührten, ruderte mit dem anderen Arm dazu in der
Luft herum und torkelte so mit ihr durch die Leute. Das ist meine
Technik, dachte Herr Lehmann ärgerlich, nur etwas verfeinert. Er
kann es auch nicht, dachte er, aber er macht es trotzdem, und das
beeindruckte ihn, man kann immer noch einiges von ihm lernen,
dachte er. Als die Polen zu spielen aufhörten, stellte Karl sie
wieder ab, und sie lachten beide und klopften sich auf den Rücken.
Herrn Lehmann gefiel das nicht. Aber als sein bester Freund Karl
wieder hinter den Tresen kam, ließ er sich nichts anmerken. Karl
prostete ihm mit einem neuen Bier zu.
“Ganz schön schwer, deine Kleine”, sagte er
augenzwinkernd. “Du mußt stärker sein, als ich immer dachte.”
Herr Lehmann sah ihm prüfend ins Gesicht. So
redete er normalerweise nicht. Was sollen diese Schlüpfrigkeiten,
dachte er, aber es war nichts Böses oder Hinterhältiges oder
überhaupt irgend etwas im Gesicht seines besten Freundes zu
entdecken, das einzig Seltsame war, daß er mit dem Grinsen und dem
Zwinkern nicht mehr aufhörte. Außerdem schwitzte er wie ein Schwein
und atmete schwer.
“Schon klar”, sagte Herr Lehmann. “Aber sag
lieber nicht, daß sie meine Kleine ist, jedenfalls nicht, wenn sie
das hören kann. Ich glaube, das kann sie nicht so gut ab, und dann
fällt das auf mich zurück.”
“Ich schweige wie ein Grab”, sagte sein
bester Freund pathetisch und legte zwei Finger an seine Lippen.
“Versiegelt.”
Herr Lehmann wußte wirklich nicht, was der
Scheiß sollte. “Sag mal, Karl, “hast du irgendwie eine Krise oder
so? Ich meine, ist irgendwas?”
“Was soll sein?” fragte sein bester Freund
noch immer grinsend. “Ist alles bestens.” Und dann lachte er
seltsam, irgendwie verklemmt, fand Herr Lehmann, und sein Ärger
kehrte sich um in leichte Besorgnis. Er ist übermüdet, dachte er,
und körperlich nicht auf dem Damm. Es ist wahrscheinlich nicht sein
Tag.
In diesem Moment kam die blonde Frau, die mit
einem Hut herumging, zu ihm und fragte nach Geld für die Musik.
Herr Lehmann gab ihr zehn Mark aus der Kasse, und sie fragte ihn,
ob er nicht auch mal Ferien in Polen machen wollte. Er schüttelte
lächelnd den Kopf und sagte ihr, daß er schon seit Jahren keine
Ferien mehr gemacht hatte. “Ich bin nicht der Typ für Ferien”,
fügte er hinzu.
“Jeder ist Typ für Ferien”, sagte sie und
schaute ihm dabei seltsam direkt in die Augen. “Du mußt dich auch
mal ausruhen. Siehst müde aus.” Sie lächelte ihn an und holte eine
Ringmappe hervor. “Kannst du mieten, sind verschiedene Häuser, ist
alles möglich.” Sie schlug die Mappe auf, und Herr Lehmann besah
sich einige Fotos von Häusern auf Wiesen und an Waldrändern, die
auf Karton geklebt darin abgeheftet waren.
“Schön”, sagte er, weil er nicht wußte, was
er sonst sagen sollte. Außerdem hatte er ja beschlossen, ab jetzt
den Dingen etwas offener gegenüberzustehen, und er dachte, er
könnte jetzt gleich mal damit anfangen. Er bot der Frau eine
Zigarette an, aber sie lehnte ab.
“Ich hab selbst, sind besser”, sagte sie und
nahm eine von ihren. “Sind schöne Häuser, schöne Landschaft, kannst
du mal Ferien machen, mit Freunden, mit deiner Freundin.”
“Naja”, sagte Herr Lehmann, “jetzt ist
Herbst, das ist nicht gerade die Zeit, um Urlaub zu machen. Ich
meine, scheiß Wetter und so.”
“Im Winter ist wunderschön”, sagte sie.
“Schöner Schnee. Ich gebe dir mal meine Nummer.”
Sie nahm einen Bierdeckel und schrieb eine
lange Telefonnummer auf. Das ist Nummer in Polen”, sagte sie, da
bin ich oft. Mußt du nur anrufen ” ” und Elzbietta
sagen.”
Herr Lehmann war irgendwie verwundert, daß
man einfach so in Polen anrufen konnte. Schließlich lag es hinter
dem eisernen Vorhang und all das, was ihn wieder daran erinnerte,
daß er seine Ostverwandtschaft noch anrufen mußte. “Braucht man da
kein Visum?” fragte er.
“Visum ist kein Problem”, sagte sie, lächelte
und sah ihm wieder direkt in die Augen. Sie stand auch sehr nah an
ihm dran, und Herr Lehmann glaubte, ihr Haar riechen zu können.
“Ist nicht so schlimm wie DDR.”
“Na dann”, sagte Herr Lehmann, der nicht
wußte, worüber er sich sonst noch mit ihr unterhalten könnte. “Mal
sehen.”
Sie legte ihm einen
Finger auf die Brust. “Solltest du machen. Siehst müde aus. Polen
ist nicht weit.”
§Nein”, gab Herr Lehmann zu und wurde sich
plötzlich bewußt, noch nie über Polen nachgedacht zu haben, “weit
ist das nicht.”
“Mußt auch mal ein
bißchen was anderes machen”, sagte sie und sah ihn wieder so
seltsam an. Herrn Lehmann wurde ein bißchen flau um den Magen
herum.
Plötzlich stand Erwin bei ihnen. “Herr
Lehmann, hilf mal dem Karl, der baut da nur Scheiße”, sagte
er.
“Wieso?”
“Keine Ahnung, wieso. Kerle, Kerle, ich mach
mir langsam echt Sorgen.”
“Du mußt mal Urlaub machen”, sagte die Polin
zu ihm. “Siehst müde aus.”
Herr Lehmann ließ die beiden allein und
schaute nach Karl. Der putzte seelenruhig die Kaffeemaschine,
während hinter seinem Rücken die Meute nach Getränken
rief.
“Was ist los mit dir, Karl?” fragte er.
“Warum putzt du die Kaffeemaschine. Das kannst du doch später noch
machen.”
“Die ist total verspackt”, sagte Karl, ohne
auch nur aufzusehen. “Ich mach die mal eben fertig.” Er wienerte an
der Maschine herum, als ob gleich die Kaffeemaschinenkontrolle
käme. Herr Lehmann hatte keine Lust, mit ihm zu streiten, und
kümmerte sich um die Leute. Das ging aber auch nicht, denn es war
kein Beck’s mehr da.
“Karl, wir brauchen Bier.”
“Ich muß das hier eben fertig machen. Habt
ihr die denn die letzten Jahre nie geputzt?”
Herr Lehmann faßte es nicht.
“Bier, Karl, wir brauchen Bier.”
“Ja, ja”, sagte sein bester Freund und putzte
immer weiter.
Das ist, dachte Herr Lehmann, während er sich
schnell eine Zigarette anzündete, wie wenn lauter blutende
Verletzte herumliegen, aber die Rettungssanitäter waschen lieber
ihren Wagen. Das ist, dachte er, während er die Treppe zum Keller
hinunterstürmte, wie wenn einer eine Bank überfällt, aber die
Polizisten bürsten lieber ihre Uniformen. Das ist, dachte er,
während er mit einem Kasten Bier in jeder Hand die Treppe
hinaufpolterte, wie wenn ein Schiff sinkt, aber die Mannschaft
reinigt gerade das Deck.
Oben angekommen, verkaufte er das Bier direkt
aus dem Kasten an die Leute weiter, auch wenn einige Klugscheißer
sich natürlich gleich darüber beschwerten, daß es nicht richtig
kalt sei. “Bier will nicht kalt sein, Bier will getrunken sein”,
hielt er ihnen den alten Ruf aus jenen Tagen entgegen, als er und
Karl noch im Schrot und Korn gearbeitet hatten, wo Erwin auf den
Luxus von Kühlschränken und dergleichen von vornherein verzichtet
hatte. Das heiterte ihn zwar ein wenig auf, aber er war trotzdem
sehr beunruhigt. Karl putzte immer noch manisch an der
Kaffeemaschine herum und machte mit seinem dicken Hintern die Räume
eng. Früher war es immer Karl gewesen, der sich um den Nachschub
kümmerte, das hatte ihm immer gelegen, und das Bier hätte schon vor
langer Zeit nachgefüllt sein müssen, aber Karl hatte sich wohl den
ganzen Abend überhaupt nicht darum gekümmert, obwohl er dauernd in
den Keller gelaufen war und Quatsch geholt hatte. Das war wirklich
beunruhigend, sehr beunruhigend. Es läuft nicht mehr rund mit uns
beiden, dachte Herr Lehmann, und dieser Gedanke machte ihn traurig.
Wir waren ein gutes Team, dachte er, aber das war einmal, wir waren
mal ein perfektes Team, dachte er, so wie Bonnie und Clyde, wie
Dick und Doof, wie Simon und Garfunkel, wie Sacco und Vancetti
oder, dachte er, und mußte sich eingestehen, daß dies der Wahrheit
am nächsten kam, wie Bud Spencer und Terence Hill. Es ist Scheiße,
30 Jahre alt zu werden, ging es ihm durch den Kopf, man beginnt,
eine Vergangenheit zu haben, eine gute alte Zeit und den ganzen
Scheiß.
Er ging gleich wieder in den Keller, um noch
mehr Bier zu holen. Als er wieder hochkam, hatte Karl damit
begonnen, Gläser zu polieren, immerhin, aber Unsinn war auch das.
Herr Lehmann fand genug Zeit, die Flaschen in die Kühlung zu tun,
die meisten Leute hatten jetzt ihr Bier, wenn auch warmes, und die
Kneipe begann sich auch schon wieder zu leeren, der Zenit war für
das Einfall für heute nacht überschritten, die Leute zogen weiter
in irgendwelche anderen Kneipen und in Clubs und Discos und was
wußte Herr Lehmann was. Übrig blieben die zwanzig oder dreißig
Mann, für die es keine anderen Kneipen, Clubs oder Discos gab. Auch
die Polen waren noch da, sie saßen an einem Tisch zusammen und
entspannten sich, während die blonde Frau damit beschäftigt war,
Erwin und Katrin von den Vorzügen eines Urlaubs in ihrer Heimat zu
überzeugen. Und jetzt kam auch noch Kristall-Rainer durch die Tür.
Herr Lehmann stellte ihm nur eine Flasche und ein Glas hin. Sollte
er sich doch selber einschenken. Sich selbst gönnte er noch ein
warmes Bier.
“Wie geht’s denn so?” fragte Kristall-Rainer
und schenkte, das mußte Herr Lehmann ihm lassen, das Weizenbier
gekonnt ein.
Herr Lehmann hätte ihn am liebsten gefragt,
was ihn das anginge, statt dessen sagte er: “Alles klar” und half
seinem besten Freund beim Gläserpolieren, was zwar Schwachsinn war,
aber immer noch besser, als von KristallRainer in ein Gespräch
verwickelt zu werden.
“Worum geht’s da?” wollte Karl wissen und
wies mit dem Kopf zur Polin und Katrin und Erwin hinüber, zu denen
sich nun auch Kristall-Rainer gesellte, und die sich alle zusammen
über die Fotos beugten.
“Die vermietet Häuser, Ferienhäuser”, sagte
Herr Lehmann. In Polen.”
“Polen ist gut”, sagte Karl ernst.
“Wieso ist Polen gut?”
Karl dachte kurz nach und grinste dann.
“Keine Ahnung.”
“Wieso sagst du dann, daß Polen gut
ist?”
“Was weiß ich. Warum nicht?”
“Wenn man sagt, daß etwas gut ist, dann hat
man doch einen Grund dafür.”
“Was ist denn los mit dir, Alter? Seit wann
bist du so genau?”
“Ich bin nicht genau”, sagte Herr Lehmann,
ohne zu wissen, warum er das Thema nicht fallenließ. “Ich will
einfach bloß wissen, warum Polen gut ist. Ich meine, wenn man sagt,
daß Polen gut ist, dann muß man doch einen Grund dafür
haben.”
“Frank!” Sein bester Freund Karl stellte das
Glas ab, das er gerade polierte. “Jetzt mach dich mal locker. Ich
hab das nur so gesagt.”
“Ja, aber warum?”
“Frank”, sagte sein bester Freund Karl und
schüttelte bedächtig den Kopf.
“Manchmal mache ich mir echt Sorgen um
dich.”
“Das ist gut”, sagte Herr Lehmann. “Das ist
gut. Ich weiß nicht, ob Polen gut ist, aber das ist gut. Du machst
dir Sorgen um mich!”
“Einer muß es ja tun”, sagte sein bester
Freund Karl und streichelte ihm mit der Hand über den Kopf. “Aber
mal davon abgesehen: Es macht Spaß, wieder mit dir zu
arbeiten.”
Ja”, sagte Herr Lehmann. Spaß macht
das.”
Kapitel 15
HAUPTSTADT
Die Tür fiel ins Schloß und Herr Lehmann war
allein. Ihm war klar, daß es für ihn in diesem Moment nicht gerade
gut aussah, tatsächlich sah es eher schlecht aus. Ich habe, dachte
Herr Lehmann, ins Klo gegriffen, mit beiden Armen, dachte er, ganz
tief. Er hätte gerne eine geraucht, aber er wußte nicht, ob das
erlaubt war, es sah nicht danach aus, es gab zum Beispiel weit und
breit, sofern man bei diesem kleinen, kahlen Raum, in dem sich
nichts befand als ein Tisch, zwei Stühle und eine Neonröhre,
überhaupt von weit und breit reden konnte, keinen Aschenbecher. Und
Herr Lehmann ging stark davon aus, daß es besser war, die Leute
hier nicht zu reizen. Es gab auch keine Fenster, und die Tür hatte
innen keine Klinke.
So ist das also, dachte Herr Lehmann und
versuchte sich zu erinnern, wie es so weit hatte kommen können.
Erst war ja alles ganz normal gelaufen, sie hatten seinen Berliner
Personalausweis akzeptiert, seinen Mehrfachberechtigungsschein für
gut befunden, und sie hatten sein Geld getauscht. Katrin war Gott
sei dank an einer anderen Stelle durch die Kontrolle gegangen, sie
hatte nur einen westdeutschen Reisepaß, was ihr die Sache mit der
Mehrfachberechtigung erspart hatte, andererseits aber Visumgebühren
nach sich zog oder so, Herr Lehmann war sich da nicht ganz sicher,
aber das ist nun auch ziemlich scheißegal, dachte er. Sie stand
jetzt wahrscheinlich oben in Ostberlin und wartete auf ihn, während
er hier unten in einem fensterlosen Raum im Bahnhof Friedrichstraße
saß und der Dinge harrte, die da kommen sollten. Hoffentlich,
dachte er, fragt sie nicht oben nach, wo ich bleibe, falls sie
überhaupt oben ist und ich unten, vielleicht bin ich auch eher oben
und sie unten, dachte er, es kam ihm zwar vor, als säße er in einem
Keller, aber eigentlich kann man das nicht wissen, dachte er, denn
das viele Auf und Ab im Bahnhof Friedrichstraße hatte seine
Orientierung durcheinandergebracht.
Er war also schon fast durch gewesen mit dem
ganzen Kram, als plötzlich ein Mann in Uniform auf ihn zugekommen
war und ihn gefragt hatte, ob er irgend etwas anzumelden hätte.
Herr Lehmann hatte Nein, nicht daß ich ” wüßte”, gesagt, und der
Uniformierte, ein freundlicher, dicker Mann, hatte “Kommen Sie doch
mal mit nach nebenan” gesagt, und dann hatte er Herrn Lehmann die
Taschen umdrehen und alles auf den Tisch legen lassen. Die
fünfhundert Mark an sich, dachte Herr Lehmann grimmig, wären nicht
das Problem gewesen, Geld an sich, dachte er, ist kein Beweis.
Bitter war nur, daß diese fünfhundert Mark noch in dem Umschlag
gesteckt hatten, den seine Eltern ihm gegeben hatten und auf den
seine Oma in ihrer beeindruckenden Sütterlin-Handschrift sowohl den
Namen wie auch die Adresse seiner Ostverwandtschaft geschrieben
hatte, darunter sogar noch unterstrichen “Ost-Berlin” gesetzt
hatte, was in den uniformierten Kreisen, in die Herr Lehmann hier
geraten war, sicher ein ganz großer Brüller war.
Für meine Blödheit, dachte Herr Lehmann,
sollten sie mich zu zwanzig Jahren Bautzen verknacken, Blödheit,
dachte Herr Lehmann, muß bestraft werden, und ich bin blöd, blöd,
blöd. Der Uniformierte hatte sich nichts anmerken lassen, hatte
nicht etwa schallend gelacht oder so, er hatte nur “Aha, was haben
wir denn hier?” gesagt, war verschwunden, war wiedergekommen, hatte
Herrn Lehmann in diesen anderen Raum geführt, ihn auf diesen Stuhl
gesetzt und die Tür von außen zugemacht. Und da saß er nun. Man
sollte, dachte Herr Lehmann in dem Bemühen, eine Strategie zu
entwickeln, nicht lange her-umdödeln, man sollte gleich die
Wahrheit sagen, dachte er, das entwaffnet, jedenfalls ist es das
Einfachste, alles andere wäre noch blöder, dachte Herr Lehmann. Er
sorgte sich nicht so sehr darum, in Ketten gelegt und nach Sibirien
geschickt zu werden, das ist eher unwahrscheinlich, dachte er, aber
die ungeheure Peinlichkeit seiner Lage hier unten bedrückte ihn
sehr. Ich bin auf ihren guten Willen angewiesen, dachte er, da muß
ich mich blödstellen, und das wird nicht einmal gelogen sein,
dachte Herr Lehmann.
Die Tür ging wieder auf und ein anderer
Uniformierter kam herein. Er trug eine riesige Schreibmaschine, die
er auf dem Tisch abstellte. “Sie bleiben da sitzen”, sagte er, ging
wieder hinaus und kam dann mit einigen Blatt Papier, dem Umschlag
mit dem Geld und Herrn Lehmanns Ausweispapieren zurück, die er fein
säuberlich und parallel zueinander auf den Tisch legte, bevor er
sich setzte und Herrn Lehmann ansah.
“Dann wollen wir mal”, sagte er.
“Ja.”
“Was hat es mit diesem Geld auf sich?”
“Das hat mir meine Großmutter gegeben. Ich
soll es einer Verwandten bringen, die in Ost … äh …” - Herr Lehmann
nahm die letzte Ausfahrt zur Entspannungspolitik “… in der
Hauptstadt der DDR wohnt.”
“Das ist dann diese Frau …” - der Beamte tat,
als würde er sich jetzt erst damit beschäftigen,” … das kann man ja
kaum lesen, wer hat denn das geschrieben?”
“Meine Großmutter.”
“Also Helga Bergner heißt das ja wohl, die
ist also Bürgerin der DDR?”
“Ja sicher, ich denke schon.”
“Was soll das heißen, Sie denken
schon?”
“Naja, sie wohnt bei Ihnen in der DDR, da
wird sie wohl Bürgerin der DDR sein.”
“Werden Sie nicht pampig. Und wie sind Sie
mit der Frau verwandt?”
“Sie ist eine Kusine meiner Mutter, glaube
ich.”
“Glauben Sie?”
“Ja.”
“Was soll das heißen, glauben Sie?”
“Ich weiß es eigentlich.”
“Und Ihre Großmutter, wie heißt die?”
“Margarete Bick.”
“Und Sie heißen Lehmann?”
“Ja.”
“Und wie hängt das alles zusammen?”
“Naja, also meine Mutter ist eine geborene
Bick, und meine Großmutter war eine geborene Schmidt, und eine
ihrer Schwestern, glaube ich, hat jemanden geheiratet, der dann
wohl Bergner hieß, nehme ich an.”
“Nehmen Sie an?”
“Naja, das wäre die einzige Erklärung. Außer,
die Kusine meiner Mutter ist die Tochter von einem der Brüder
meiner Großmutter, dann wäre sie eine geborene Schmidt, und dann
hat sie wohl jemanden heiraten müssen, um Bergner heißen zu können.
Sonst wären wir ja nicht verwandt.”
“Wollen Sie mich verkaspern?”
“Nein, nein, auf keinen Fall.”
“Glauben Sie, daß das hier so eine Art Spaß
ist?”
“Nicht doch.”
“Denken Sie, ich mach hier Witze? Denken Sie,
hier ist Kaffee- und Kuchenzeit und wir plaudern nur ein bißchen?
Denken Sie …”, der Beamte wurde lauter und lief im Gesicht rot an,
er ist noch jung, dachte Herr Lehmann, aber er sollte auf seinen
Blutdruck achten, “… daß Sie gegen die ZOLLUND DEVISENVORSCHRIFTEN
DER DDR VERSTOSSEN KÖNNEN ” UND DANN HIER HERUMALBERN KÖNNEN, ODER
WAS?”
“Aber Sie hatten doch gefragt”, sagte Herr
Lehmann und nahm sich vor, beim Sichblödstellen einen Gang
zurückzuschalten. Die haben hier dünne Nerven, dachte er, denen
geht das alles ein bißchen an die Nieren, was bei ihnen so
läuft.
“Und dann haben Sie diesen Umschlag extra in
die Innentasche Ihres Mantels gesteckt, damit wir ihn nicht
finden, falls wir Sie durchsuchen?”
“Nix”, wehrte Herr Lehmann entrüstet ab. “Das
kann ja nun wirklich nicht sein. Fragen Sie doch Ihren Kollegen.
Ich habe gleich alles auf den Tisch gelegt. Ich wußte doch gar
nicht, daß das ein Problem sein könnte mit dem Geld.”
“Warum haben Sie das Geld nicht angegeben,
als Sie von dem Zollbeamten gefragt wurden, ob Sie etwas anzumelden
hätten?”
“Ich wußte ja nicht, daß ich es angeben muß.
Was weiß ich denn von den Zollvorschriften hier.”
“Wenn Sie nichts von den Zollvorschriften
wissen, warum haben Sie dann versucht, das Geld am Zoll vorbei in
die DDR zu schmuggeln.”
“Ich habe ja gar nicht versucht, das Geld am
Zoll vorbeizuschmuggeln. Ich habe auf die Frage, ob ich etwas
anzugeben hätte, nur gesagt: Nicht daß ich wüßte’. Das habe ich
gesagt. Sonst nichts. Und ich wußte es ja auch nicht. Wie soll ich
darauf kommen, daß es da was anzumelden gibt. Ich meine, mal
ehrlich …”, Herr Lehmann beugte sich vor, um eine etwas
vertraulichere Atmosphäre zu schaffen, “meinen Sie, wenn ich etwas
schmuggeln wollte, was ich gar nicht zu schmuggeln brauche, dann
würde ich das in einem Umschlag schmuggeln, auf dem die Empfängerin
groß und fett von meiner Oma draufgeschrieben worden ist, mit
Adresse und allem Kram?”
“Werden Sie jetzt mal nicht übermütig”, sagte
sein Gegenüber streng. “Die Interpretation der Fakten sollten Sie
lieber uns überlassen. Sie haben wohl noch nicht ganz begriffen, in
was für eine Situation Sie sich gebracht haben?”
“Aber ich habe ja gar nichts getan.”
“Bleiben Sie hier sitzen, ich komme gleich
wieder.”
“Kann ich mal eine rauchen?”
“Nein.”
Nach etwa fünf Minuten war der Beamte wieder
zurück, und er legte gleich wieder los, so als ob er gar nicht
weggewesen wäre.
“Warum haben Sie, als Sie gefragt wurden, ob
Sie etwas anzugeben haben, nicht den Beamten nach den Vorschriften
gefragt, das heißt, die Frage offengelassen und sich erst einmal
erkundigt, bevor Sie sie verneinten?”
“Moment”, sagte Herr Lehmann verwirrt,
“könnten Sie das noch einmal fragen?”
“Warum haben Sie, als Sie gefragt wurden, ob
Sie etwas anzugeben haben, nicht den Beamten nach den Vorschriften
gefragt, das heißt, die Frage offengelassen und sich erst einmal
erkundigt, bevor Sie sie verneinten?”
Herr Lehmann begann, den Mann zu mögen. Der
hat was, dachte er.
“Ich habe die Frage in diesem Sinne ja gar
nicht verneint”, sagte er, “ich habe gesagt: ‘Nicht daß ich wüßte’.
Das könnte man sogar indirekt als Frage verstehen, zumindest aber
als Hinweis darauf, daß mir die Vorschriften nicht bekannt gewesen
sind, so daß man auf keinen Fall von bösartiger Täuschung oder so
was ausgehen kann, ich habe ja gar keinen Hehl daraus gemacht
…”
“Nein!” unterbrach ihn der Beamte.
“Wie, nein?”
“‘Nein, nicht daß ich wüßte’, das haben Sie
gesagt. Sie haben gesagt: ‘Nein, nicht daß ich wüßte’. Nicht nur:
‘Nicht daß ich wüßte’. Sie haben gesagt: ‘Nein, nicht daß ich
wüßte’.”
“Ja nun, das sagt man natürlich dann so, ich
meine, man beginnt einen Satz mit ‘Nein’, wenn man ‘nicht daß ich
wüßte’ sagen will, aber natürlich muß man das nicht als absolute
Verneinung oder so interpretieren, das hat dann schon etwas
Bösartiges.”
“Was meinen Sie mit bösartig? Wollen Sie den
Zollbehörden der Deutschen Demokratischen Republik Bösartigkeit
unterstellen?”
“Nicht doch.”
“Was reden Sie dann von Bösartigkeit?”
“Ich meine das Leben im allgemeinen.”
“Herr Lehmann!”
“Ja?”
“Sie faseln.”
“Ja nun, das ist eine ungewöhnliche Situation
hier, das hat man nicht alle Tage, da ist man schon mal verwirrt,
wer würde da nicht faseln?”
“Niemand, der in Ihrer Lage ist, sollte
faseln, das ist nämlich dem Ernst der Sache nicht
angemessen.”
“So kann man das natürlich auch sehen.”
“Sind Sie alleine hergekommen?”
“Ja, sicher.”
“Wieso sicher? Keine Freunde oder Freundin,
die mitgekommen sind?”
“Nein.”
“Keine Komplizen also?”
“Nun, das ist jetzt nicht ganz korrekt aus
dem geschlossen, was Sie gefragt und was ich gesagt habe. Selbst
wenn ich mit Freunden oder mit einer Freundin unterwegs gewesen
wäre, das heißt, in die Hauptstadt der DDR und so, dann hieße das
ja noch lange nicht, daß es sich dabei um Komplizen handelt. Im
Gegenteil, es ist so oder so auszuschließen. Denn ich habe ja nicht
wissentlich und absichtlich gegen Ihre Gesetze verstoßen, das
möchte ich einmal betonen, das liegt mir gewissermaßen am Herzen,
und wenn also schon mal nicht ich als jemand gelten kann, der
bewußt gegen Gesetze verstoßen hat, dann kann ich so oder so keine
Komplizen haben, das würde ja keinen Sinn ergeben.”
“Also keine Begleiter?”
“Nicht, daß ich wüßte.”
“Fangen Sie schon wieder damit an?”
“Womit?”
Der Beamte seufzte. “Was soll’s”, sagte er,
wir machen am besten mal ein Protokoll.” Er zog die Schreibmaschine
zu sich her und spannte ein Blatt Papier ein. Dann begann er, ein
bißchen zu tippen. Mit zwei Fingern, wie Herr Lehmann bemerkte. Ab
und zu verklemmten sich die Typenhebel ineinander, und er mußte sie
erst wieder auseinanderfieseln. Das schien ihn nicht weiter zu
stören. Der ist das gewohnt, dachte Herr Lehmann, das wird
dauern.
“So. Protokoll der Vernehmung des Lehmann,
Frank, Bürger der selbständigen politischen Einheit Westberlin”,
las der Beamte vor. “Datum?”
“Fünfter elfter”, sagte Herr Lehmann
hilfsbereit.
“Stimmt. Name?”
“Das hatten Sie doch schon.”
“Lehmann, Frank”, sagte der Beamte unbeirrt
und tippte es auf.
Dann gingen sie an das eigentliche Protokoll.
Der Beamte und Herr Lehmann feilschten um jeden Satz. Der am Ende
von Herrn Lehmann zu unterzeichnende Schrieb war recht kurz und
lief im wesentlichen darauf hinaus, daß Herr Lehmann zugab, gegen
die Zollvorschriften und Devisengesetze der Deutschen
Demokratischen Republik verstoßen zu haben, er aber Wert auf die
Feststellung legte, daß dies nicht wissentlich geschehen
war.
“Unwissenheit schützt nicht vor Strafe”,
konnte der Beamte sich nicht verkneifen zu bemerken, nachdem Herr
Lehmann unterschrieben hatte.
“Schon klar”, sagte Herr Lehmann.
“Sie warten hier”, sagte der Beamte und
verschwand.
Nach einer halben Stunde, oder was Herr
Lehmann dafür hielt, kam er wieder, aber er war nicht allein. Mit
ihm kam ein etwas älterer Uniformierter, dessen Schulterklappen
etwas schwerer bepackt waren, und dieser Mann brachte einen kühlen
Wind in die Sache.
“Stehen Sie auf”, sagte er.
Herr Lehmann stand auf. Der neue Mann hielt
ein Blatt Papier in der Hand, von dem er ablas.
“Gegen Frank Lehmann, Bürger der
selbständigen Einheit Westberlin, geboren am 9. November 1959 in
Bremen, BRD, ergeht folgender Beschluß: Wegen Verstoßes gegen die
Zoll- und Devisengesetze der Deutschen Demokratischen Republik,
insonderheit der Paragraphen …”
Er ratterte einige Paragraphen herunter und
verlas den Beschluß, dem Herr Lehmann nur mühsam folgen konnte, es
war alles etwas eigenartig formuliert.
“Haben Sie verstanden?” fragte der Mann, als
er fertig war. Der andere, der Herrn Lehmann vernommen hatte, stand
regungslos daneben und schaute an Herrn Lehmann vorbei auf die
Wand.
“Ja nun”, sagte Herr Lehmann, “die
fünfhundert Mark sind wohl weg.”
“Das Geld, das Sie versucht haben,
unangemeldet in die Hauptstadt der DDR einzuführen, wurde
eingezogen”, bestätigte der Mann. “Die Hauptstadt der DDR
verzichtet für heute auf Ihren Besuch.”
“In Ordnung.”
“Hier haben Sie eine Durchschrift. Sie können
gegen diesen Beschluß beim zuständigen Gericht der DDR Beschwerde
einlegen, das steht da alles drauf. Mein Kollege wird Sie zurück
zur U-Bahn nach Westberlin bringen. Ihre Mark der DDR werden
zurückgetauscht. Die Mehrfachberechtigung wird eingezogen. Die
müssen Sie bei Bedarf neu beantragen.”
“Mal sehen”, sagte Herr Lehmann, dessen
Bedarf jetzt eher gedeckt war.
“Sie können jetzt gehen.”
“Kommen Sie”, sagte der andere und hielt ihm
die Tür auf. Herr Lehmann ging mit ihm den Weg, den er vor Stunden,
wie ihm schien, gekommen war, wieder zurück, und es war ein bißchen
wie in einem Film, der rückwärts läuft. Er mußte sein Ostgeld in
Westgeld zurücktauschen, obwohl ihm das angesichts der fünfhundert
Mark, die er gerade verloren hatte, jetzt auch egal war, und dann
schleuste der Beamte ihn gegen die vorgeschriebene Richtung durch
die Paßkontrollen. Irgendwann blieb er stehen, Herr Lehmann
auch.
“Gehen Sie einfach da weiter”, sagte der
Beamte und zeigte geradeaus, die Treppe runter geht’s zur U-Bahn
nach Westberlin.”
“Ja”, sagte Herr Lehmann. Tschüß dann.” Er
ging weiter, und der Beamte blieb wortlos zurück. Als Herr Lehmann
sich noch einmal umdrehte, stand er immer noch da und sah ihm nach.
Herr Lehmann hob die Hand zum Gruß, aber der andere reagierte
nicht. Er stand einfach nur da und sah ihm hinterher. Armer Willi,
dachte Herr Lehmann und ging die Treppen zur U-Bahn hinunter.
Kapitel 16
KLARE WORTE
Herr Lehmann hatte sich für den Abend seines
Ost-Ausflugs eine Schicht im Einfall geben lassen, nur für den
Fall, daß seine Ostverwandte ihn zum Abendessen einladen wollte,
eine Abendschicht war da eine schöne Ausrede. Nun war alles anders
gekommen, und es war erst drei Uhr, als er nach Hause kam. Er sah
keine bessere Möglichkeit, die gewonnene Zeit zu nutzen, als sich
ein bißchen hinzulegen, und er hatte sich schon ausgezogen, als das
Telefon klingelte. Er dachte, es wäre Katrin, die den Osten
verlassen hatte, um sich nach ihm zu erkundigen, aber dann war es
bloß Erwin, der aus dem Einfall anrief, um zu fragen, ob Herr
Lehmann auch früher zur Arbeit kommen könnte.
“Ich bin eigentlich noch im Osten”, sagte
Herr Lehmann, der keine Lust zum Arbeiten hatte und dem es außerdem
wichtig war, für Katrin erreichbar zu sein. Sie macht sich sicher
schon Sorgen, dachte er, die kommt jeden Moment aus dem Osten
zurück und sucht mich.
“Ich brauche dich dringend”, sagte Erwin,
“ich steh schon selber hier. Ich weiß auch nicht, was los ist,
Heiko ist krank, nicht mal Rudi kann kommen.”
“Wer ist Rudi?” fragte Herr Lehmann.
“Ist doch egal”, sagte Erwin, “kann ja eh
nicht kommen. Die sind alle krank, heute abend kommt wenigstens
Verena. ”
“Wieso Verena? Ich denke, Karl ist heute
abend dabei.”
“Vergiß es”, sagte Erwin. “Der kommt nicht
mehr.”
“Wie?”
“Ist eine lange Geschichte.”
“Karl kommt nicht mehr?”
“Kann ich jetzt nicht am Telefon
erklären.”
“Dann bleib mal da”, sagte Herr Lehmann, ich
komme eben rüber.”
Er zog sich wieder an, machte für Katrin
einen Zettel an die Tür und ging ins Einfall. Dort stand Erwin
hinter dem Tresen und schäumte Milchkaffee für ein paar
alleinerziehende Mütter auf, die sich nachmittags gerne dort
versammelten. Ihre Kinder machten einen Heidenlärm, während die
Mütter zur Beruhigung den Milchkaffee mit Schuß nahmen.
“Was ist mit Karl?” fragte Herr
Lehmann.
“Gute Frage”, sagte Erwin. “Gute Frage. Er
kam heute mittag in die Markthalle. Ich war auch da, zum Essen. Kam
gleich zu mir, der Vogel, und fing Streit an. Ich weiß nicht, war
der besoffen oder was, Kerle, Kerle!” Er wischte sich imaginären
Schweiß von der Stirn. “So hab ich den überhaupt noch nicht erlebt.
Meinte irgendwas von ich würde ihm eigentlich Geld schulden und ob
ich schon mal ausgerechnet hätte, was er mir eingebracht hat und so
Scheiß. Ich hab überhaupt nicht verstanden, was der wollte.”
“Naja, wenn er besoffen war, das kommt schon
mal vor.”
“Was weiß ich, ob der besoffen war. Dann hat
er angefangen zu randalieren.”
“Karl?”
“Aber sicher. Fing an, die Leute
anzupöbeln.”
“Und dann?”
“Und dann?” Erwin ließ von der
Milchaufschäumerei einen Moment ab und blickte Herrn Lehmann in die
Augen. In seinem Gesicht stand tiefe Erschöpfung. “Hat der mir eine
gescheuert.”
“Nein.”
“Doch! Hier!” Erwin zeigte auf seinen
Wangenknochen, aber da war nichts zu sehen.
“Wie jetzt? Da hat er dich hingehauen?”
“Was meinst du denn! Und dann ist er
weggelaufen.”
“Glaube ich nicht.”
“Frag doch Heidi, die war dabei, frag doch
Heidi, wenn du mir nicht glaubst. Echt mal, Frank”, wenn es ernst
wird, nennen sie mich Frank, dachte Herr Lehmann, “ich glaube, der
ist langsam ein bißchen plemplem, der dreht ab.”
“Karl doch nicht. Der hat nur eine kleine
Krise. Wegen der Ausstellung und so.”
“Frank, der hat mir eine gescheuert!
Mir!”
“Ja, Erwin”, sagte Herr Lehmann, das geht
natürlich nicht.”
“Hör auf mich zu verarschen, das ist ernst.
Es ist ja nicht wegen mir. Der hat nicht mehr alle Marmeln an der
Kiste.”
“Erwin, das ist jetzt wirklich blöd
formuliert.”
“Was?”
“Marmeln an der Kiste. Wo soll das denn
herkommen?”
Erwin zuckte mit den Schultern. “Naja, mir
ist das egal”, sagte er. Bei mir arbeitet der jedenfalls nicht
mehr. Wenn du sonst keine Probleme hast, als wie jemand was
formuliert, bitte, kein Problem, mir ist das egal, ist dein Freund,
bei mir arbeitet der jedenfalls nicht mehr.”
“Erwin, jetzt koch das doch nicht so
hoch.”
“Nee, nee, ist mir egal. Da bin ich aber
nicht der einzige. Kannst ja mal rumfragen, wegen mir die Deppen
vom Abfall, das sagen alle. Mit dem stimmt was nicht.”
“Hör mal, Erwin, okay”, sagte Herr Lehmann.
“Dann kann ich jetzt aber auf keinen Fall arbeiten, ich muß erst
mal nach Karl gucken. Ich bin erst um acht dran. Kannst du das
solange noch durchhalten hier mit den gefährlichen Müttern?”
“Ich weiß auch nicht”, sagte Erwin in
resigniertem Ton. Ich habe …” Er hielt inne und begann stumm an den
Fingern zu zählen, “acht Kneipen im Augenblick. Drei in Kreuzberg,
zwei in Schöneberg, jetzt die in Charlottenburg, das sind sechs,
und dann noch, warte mal, vier in Kreuzberg, der Eimer ist ja auch
in Kreuzberg, nein fünf, egal, jedenfalls habe ich immer nur hier
Ärger. Immer nur hier. Wenn was los ist, immer hier. Einfall und
Markthalle. Kann mir das mal jemand erklären?”
“Wahrscheinlich kann sich der Ärger nur da
richtig entwickeln, Erwin, wo dein problemlösender Einfluß am
stärksten ist.”
“Versteh ich jetzt nicht.”
“Du bist eben mehr hier als anderswo, Erwin.
Bei den anderen Kneipen hast du immer noch Partner, die sich um den
Scheiß kümmern, nur hier nicht.”
“Naja”, sagte Erwin, hier fing eben alles
an.”
“Ja”, sagte Herr Lehmann, “hier fing alles
an. Und ich muß mich jetzt mal um Karl kümmern, okay?”
“Wolltest du nicht heute in den Osten?”
“Ja, ich bin schon wieder zurück.”
“Wie war’s denn so?”
“Geht so.”
“War da wieder Demo und so?”
“Hab keine gesehen.”
“Da geht ganz schön was ab.”
“Ich geh dann mal, Erwin. Um acht bin ich
wieder da. Halt durch.”
“Ja, ja”, sagte Erwin. “Kümmer dich mal um
den Vogel. Wer bin ich schon. Nimm auf mich keine Rücksicht.”
“Trink erst mal einen Pfefferminztee, Erwin.
Mit Milch.”
“Jetzt hau schon ab.”
Herr Lehmann ging hinaus und durch den
Görlitzer Park zur Cuvrystraße. Karls Ladenwohnung war
abgeschlossen, und die Roiläden waren wie immer heruntergelassen.
Es gab keine funktionierende Klingel. Frank wummerte eine Zeitlang
mit der Faust gegen die Tür, aber er glaubte sowieso nicht, daß
sein bester Freund daheim war. Der ist irgendwo auf der Piste,
dachte er. Wenn er so einen Scheiß macht, dann ist er noch
unterwegs, dachte er, dann legt man sich nicht einfach aufs Ohr
oder feilt an irgendwelchem Schrott. Herr Lehmann versuchte sich zu
erinnern, wann jetzt die Ausstellung seines besten Freundes war, am
zehnten oder elften oder so, ich hoffe nur, dachte Herr Lehmann,
während er zur Schlesischen Straße hinüberging, um dort seinen
Kneipencheck zu beginnen, daß er seinen Kram jetzt fertig hat, denn
wenn er erst einmal so drauf ist, dachte er, dann kriegt er
wahrscheinlich überhaupt nichts mehr hin.
Zuerst überprüfte Herr Lehmann den Goldenen
Anker, eine der Prollkneipen, die Karl in extremer Stimmung gerne
besuchte, er stellte sich vor dessen großes Fenster und versuchte
zu erkennen, wer sich da drinnen alles so tummelte, und ob Karl
dabei war. Das war sinnlos, es war nichts zu erkennen, obwohl der
Goldene Anker, und das war das einzig Gute, was Herr Lehmann über
ihn sagen konnte, keine weißen Gardinen vor den Fenstern hatte,
obwohl er das von seinem Charakter her hätte haben müssen, solche
Kneipen haben eigentlich immer weiße Gardinen vor den Fenstern,
dachte Herr Lehmann jedes Mal, wenn er den Goldenen Anker sah, nur
der Goldene Anker nicht. Wahrscheinlich bloß deshalb nicht, weil
der Goldene Anker drinnen immer so düster ist, dachte Herr Lehmann
jetzt, daß es keine weißen Gardinen braucht, um die Blicke der Welt
fernzuhalten. Also mußte er in den Goldenen Anker hinein. Nachdem
sich seine Augen an das Dunkel im Inneren gewöhnt hatten, sah er
nur ein paar verlorene Gestalten, Rentner und andere Müßiggänger,
die über den großen Raum verteilt herumsaßen und in
Schultheißflaschen starrten, die hier für nur zwei Mark über den
Tresen gingen, eine Form des Dumpings, die nur durch des Goldenen
Ankers unendliche Trostlosigkeit akzeptabel war, wie Herr Lehmann
fand. Karl war nicht da, und Herr Lehmann war auch nicht in der
Stimmung, die dicke Frau hinter dem Tresen nach ihm zu fragen. Das
war hier nicht seine Welt, und außerdem hätte er dann pro forma ein
Schultheiß trinken müssen, und das, dachte Herr Lehmann, würde zu
weit gehen.
Also ging er weiter und arbeitete sich die
Schlesische Straße hinunter vor bis zum Schlesischen Tor,
überprüfte das griechische Restaurant, in dem Karl manchmal riesige
Portionen Gyros in sich hineinschaufelte, den Italiener daneben und
eine Autonomen-Kneipe, deren Namen er nicht kannte und auch nicht
kennen wollte. Dann ging er am Schlesischen Tor in die Klausur,
einen gruftigen Laden mit roten Plüschvorhängen, den er ganz gerne
mochte, und sprach dort mit der Nachmittagsbedienung, einem Mädchen
namens Sabine, aber die kannte Karl kaum und hatte ihn auch nicht
gesehen, und weil das alles ja doch nichts brachte, ging er
schließlich ohne weitere Umwege in die Markthalle und sprach dort
mit Heidi. Die bestätigte das, was Erwin erzählt hatte.
“Aber was war denn los, was sollte das denn?”
fragte Herr Lehmann, nachdem sie ihm einen Kaffee und einen Ouzo
gegeben hatte, etwas, was Herr Lehmann sonst nie bestellte, schon
weil es Schnaps war, aber dies war ein außergewöhnlicher Tag, und
das griechische Restaurant hatte ihn irgendwie an die Möglichkeit
erinnert, Ouzo zu trinken. “Wie kam er denn auf so einen
Scheiß?”
“Ich weiß es nicht. Der war ganz komisch
drauf, das war ganz schrecklich”, sagte sie und setzte sich auf den
Hocker, den sie sich immer hinter den Tresen stellte. “Das war, wie
wenn man den gar nicht kennt. Wolltest du heute nicht mit Katrin im
Osten sein?” wechselte sie plötzlich das Thema.
“Bin schon wieder da”, sagte Herr Lehmann.
“Weißt du vielleicht, wo er hingegangen sein könnte?”
“Keine Ahnung. Was läuft eigentlich so mit
dir und Katrin?”
Herr Lehmann sah ihr prüfend ins Gesicht.
“Wieso?””
“Seid ihr jetzt zusammen?”
“Hast du das Katrin auch schon
gefragt?”
“Ach die …” Heidi machte eine wegwerfende
Handbewegung. “Die redet doch kaum mit mir. Also ich weiß nicht
…”
“Ich auch nicht”, sagte Herr Lehmann. “Ich
muß mal eben telefonieren.”
Er ging zum Klo und rief bei Katrin an. Es
nahm niemand ab. Er sagte auf ihren Anrufbeantworter, was im Osten
passiert war, daß mit ihm alles in Ordnung sei, und daß er hoffe,
bei ihr sei das genauso, und dann ging er zurück an den Tresen.
Heidi saß versonnen auf ihrem Hocker und starrte durch das
gegenüberliegende Fenster in den trüben Tag hinaus.
“Ich fahre diesen Winter weg”, sagte sie an
ihm vorbei in den Raum hinein. “Das tu ich mir nicht mehr an. Nach
Bau.”
“Allein?”
“Nee, mit zwei anderen Leuten. Ist nicht
teuer, wenn man erst mal da ist. Die nehmen mich mit, die haben
einen Vertrieb für Bali-Klamotten, die sind da dauernd. Vielleicht
kann ich auch für die arbeiten, mal sehen.”
Das ist sicher eine gute Sache”, sagte Herr
Lehmann, “Bali und so.”
“Ja. Ich habe keinen Bock mehr auf den Winter
hier, ehrlich. Das schafft mich jedesmal.”
“Ja klar”, sagte Herr Lehmann. “Aber wegen
Karl: Hast du irgendeine Ahnung, wo der jetzt sein könnte?”
“Nein. Bei dem blicke ich schon lange nicht
mehr durch.”
“Kommt er dir denn schon länger irgendwie
komisch vor? Erwin meint, der dreht ab oder so.”
“Ach Erwin. Erwin redet auch viel, wenn der
Tag lang ist. Karl ist halt Karl. Aber so wie heute, das war
schon komisch. Und wie er dann Erwin eine gelangt hat
…”
“Mit der Faust?”
“Nein, das war so ‘ne richtige Ohrfeige, das
hat richtig geklatscht.”
“Was hat er denn plötzlich gegen
Erwin?”
“Ich habe keine Ahnung, wirklich. Das war
ziemlich wirr, was er da so geredet hat. Außerdem war er ja auch so
besoffen, und gestunken hat der …”
“Hm …”
“Ich glaube aber, Karl hat eine Freundin
irgendwo. Ich weiß nicht, wie die heißt, aber die hat eine Kneipe
in 6l.”
Herr Lehmann erinnerte sich an den Abend, an
dem sie alle zusammen ins Savoy gegangen waren, und an die Frau,
die Karl über den Kopf gestreichelt hatte. Da hätte ich auch gleich
drauf kommen können, dachte er. Er trank den Ouzo und schüttelte
sich.
“Seit wann trinkst du denn so was?” fragte
Heidi.