Nuala

Fühlte man sich einen Moment lang aufgehoben

Ins wundersame Netz Familie eingeschlagen

Wäre es dann falsch oder gelogen

»Ich lebe hier, dies ist zu Hause« zu sagen?

Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter

Zusehen zu müssen, wie James aus dem Wohnheim kam und Dee rettete, versetzte mich in üble Laune. Ich hatte es sehr schnell satt, ihr Geheul zu beobachten, und beschloss, stattdessen ins Kino zu gehen. Wenn ich schon ein solches Maß an Melodramatik miterleben musste, dann doch lieber präsentiert von sehr gut bezahlten, schönen Menschen auf einer großen Leinwand. Auf dem Weg zum Kino dachte ich an die zahllosen Dinge, die ich an Dee nicht mochte. Während ich in der Schlange vor dem Kartenverkauf wartete – nicht dass ich unbedingt eine Karte gebraucht hätte –, fragte ich mich, ob sie diese traurigen Mienen vor dem Spiegel geübt hatte. Oder ob sie einfach ein Naturtalent darin war, männliches Mitgefühl zu erheischen. Worin ich nicht sonderlich begabt war.

Der Knabe an der Kasse sah gelangweilt aus. »Für welchen Film?«

»Überrasch mich doch«, sagte ich zu ihm und wedelte mit meinen Scheinen.

Er brauchte einen Moment, um zu kapieren, was ich meinte. »Meinst du das ernst?«

»Todernst.«

Er zog die Augenbrauen hoch, gab etwas in den Computer ein und blickte mit einem fiesen Grinsen zu mir auf, das mir die Menschheit im Allgemeinen richtig sympathisch machte. Dann reichte er mir eine Karte, mit der bedruckten Seite nach unten. »Hier nach rechts. Zweiter Saal. Viel Spaß.«

Ich belohnte ihn mit einem Lächeln und ging den trübe erleuchteten, mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Es roch nach Popcornbutter, Teppichreiniger und diesem anderen Etwas, das irgendwie immer Kinos und Theater durchdrang – gespannte Erwartung oder so etwas Ähnliches. In dieser vertrauten Umgebung wandte mein Verstand sich wieder der vorherigen Beschäftigung zu: aufzählen, was ich an Dee hasste.

Erstens, ihre Augen waren zu groß. Sie sah aus wie ein Alien.

Ich zählte die Türen, erreichte Saal zwei und widerstand der Versuchung, auf der Anzeige über der Tür nachzusehen, welchen Film der Kassenknabe für mich ausgesucht hatte.

Zweitens klang ihre Stimme im ersten Moment ganz hübsch, aber sie ging einem ziemlich schnell auf die Nerven. Wenn ich jemanden singen hören wollte, würde ich mir eine CD kaufen.

Der Kinosaal war still und fast leer – nur zwei oder drei Pärchen. Vielleicht hatte der Junge mich deswegen so unverschämt angegrinst, weil er mich in den letzten Flop geschickt hatte.

Drittens benutzte sie James dazu, sich besser zu fühlen. Das war eine Eigenart, die ich nur an mir selbst schätzte.

Ich suchte mir einen Sessel genau in der Mitte und legte die Füße auf die Lehne vor mir. Das war der perfekte Sitzplatz. Wenn irgendjemand hereinkam und sich vor mich setzte, würde ich ihn umbringen.

Viertens passte sie zu perfekt in James’ Arme. Als wäre sie schon dort gewesen. Als würde sie Anspruch auf ihn erheben.

Vor mir erwachte die Leinwand mit Trailern zum Leben. Normalerweise hätte ich sie genossen, hätte in den Versprechen auf zukünftige Filme gebadet, aber heute Abend konnte ich mich nicht darauf konzentrieren. Zunächst einmal würde ich nicht mehr hier sein, um mir irgendeinen der Filme anzusehen, die da beworben wurden – sie würden alle um Weihnachten oder nächstes Jahr anlaufen. Und zweitens probte ich im Geiste schon den Dialog für meine nächste Begegnung mit James.

»Unerwiderte Liebe«, würde ich sagen. Er würde mich auf seine schlaue Art von der Seite ansehen und fragen: »Was ist damit?«, und ich würde antworten: »Sie steht dir einfach nicht.« Kurz und gut. Nur um ihm zu zeigen, dass ich es bemerkt hatte. Aber vielleicht sollte ich mich lieber ihr zeigen und sagen: »Ich bin hier wohl nicht die Einzige, die Menschen benutzt.« Und danach würde ich ein paar von Owains Hunden herbeirufen, damit sie ihr die Beine von unten abnagten. Dann würde sie nicht mehr genau richtig in James’ Arme passen, weil sie zu klein wäre. Das wäre so, als umarmte er eine Zwergin.

Ich grinste im dunklen Kinosaal.

Der Film begann mit einer grandiosen Rockballade aus den Siebzigern und einer Hubschrauberaufnahme von New York City. Das Gitarrenspiel war genial – ich fragte mich, ob ich etwas damit zu tun gehabt hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass der Kassenknabe mich in eine romantische Komödie geschickt hatte. Eigentlich nicht mein Ding, aber zumindest würde sie mich von James ablenken und von dem Lied, das er für mich gespielt hatte. Der Gedanke, dass ich es vielleicht nie wieder laut gespielt hören würde, war unerträglich. Ich war richtig verknallt in dieses Lied.

Eine halbe Stunde lang versuchte ich, mich von dem Film mitreißen zu lassen, aber es funktionierte nicht. Die Geschichte war niedlich, und sie küssten sich, und die Musik war schön. Und ich begann darüber nachzudenken, wie ich in James’ Arme passen würde, ob mein Kopf haargenau richtig unter seinem Kinn liegen würde, so wie Dees. Und dann dachte ich an sein Auto, das nach ihm gerochen hatte, und stellte mir vor, wie dieser Geruch an meiner Haut haftete.

Mist.

Ich stand auf und schob mich durch die Sitzreihe nach draußen. Ich blieb nicht stehen, um mit dem Kassenknaben zu reden, obwohl ich seinen Blick auf mir spürte. Wahrscheinlich glaubte er, dass mir der Film nicht gefallen hatte. Vielleicht stimmte das ja. Ich ging hinaus ins Zwielicht. Es regnete nicht mehr, und in der Ferne grollte leiser Donner. Schnell lief ich den regennassen Bürgersteig entlang, als könnte ich dadurch meinen Gedanken ein Stück davonlaufen.

Es war nicht so, als hätte es noch nie erotische Anziehung zwischen mir und meinen Schülern gegeben. Meine Jungs, die armen Lämmchen, wollten mir fast immer an die Wäsche, aber dadurch arbeiteten sie umso härter und klangen umso schöner.

Aber mir sollte es nicht passieren, dass ich mich zu einem von ihnen hingezogen fühlte. Ich war kein Mensch.

Da ich so sehr mit mir selbst beschäftigt war, merkte ich erst, dass ich nicht allein war, als die Straßenlaternen um mich herum flackerten, kurz erloschen und erneut flackerten, ehe sie wieder hell leuchteten. Wer auch immer – was auch immer – das war, ich durfte nicht eingeschüchtert wirken, also ging ich weiter den Bürgersteig entlang, als hätte ich nichts bemerkt. Vielleicht war es nur eine einzelne Fee, die mich in Ruhe lassen würde.

Meine Hoffnung erlosch, als ich leise Stimmen hörte und zwei Feen sah, die mir auf dem Bürgersteig entgegenkamen. Es drehte mir den Magen um, der sich scheußlich hohl anfühlte, eine ganz neue Empfindung. Nervosität.

Das war die Königin.

Bevor sie Königin geworden war – ehe die vorherige Königin in Stücke gerissen worden war –, hatte Eleanor stets Weiß getragen. Es hatte ihrem blassgoldenen Haar mehr Farbe verliehen. Nun da sie Königin war, kleidete Eleanor sich in Grün, wie es die älteste Tradition vorsah, und ihr langes Haar wirkte unter den Straßenlaternen beinahe weiß. Natürlich hatte sie auch heute Abend ein verdammt schönes Kleid an: Es war sattgrün-schwarz mit goldenen Kreisen und Punkten, die auf die Ärmel und den hohen Kragen gestickt waren, der ihren langen Hals bedeckte und ihr Kinn umrahmte. Irgendwelche Edelsteine glitzerten auch an ihrer Schleppe, die hinter ihr her über den Bürgersteig schleifte. Im Gegensatz zur vorherigen Königin trug Eleanor keine Krone – nur ein bescheidenes Diadem mit Perlen, die stumpf schimmerten wie kleine Zähne.

Sie war so schön, dass es schmerzte. Empfand James dasselbe, wenn er mich ansah?

Eleanor entdeckte mich und lachte, schrecklich und schön. Die Person neben ihr war keine Fee, wie ich zuerst gedacht hatte, sondern ihr Gefährte, der Mann vom Feentanz. Schief lächelte er mich an und schaute dann wieder zu Eleanor. Er war sehr menschlich – zerbrechlich, geraubt und verliebt.

»Ah, kleine Hure«, sagte Eleanor freundlich. »Wie nennst du dich dieses Mal?«

Ich hatte das Wort schon zu oft gehört, um noch mit der Wimper zu zucken. Trotzig reckte ich das Kinn. »Ich soll Euch meinen Namen sagen – hier, wo ihn jeder mitbekommen kann?« Sofort bereute ich die Worte. Ich wartete auf die offenkundige Erwiderung, die ich schon tausendmal gehört hatte. Alles andere kann doch auch jeder von dir bekommen.

Doch Eleanor lächelte mich nur wohlwollend an. Erstaunt überlegte ich, ob sie »Hure« vielleicht gar nicht als Beleidigung gemeint hatte, sondern nur als Titel. Dann sprach sie. »Nicht deinen wahren Namen, Fee. Wie nennt dich dein aktueller Junge?«

James hatte nein zu mir gesagt, also wäre »Nuala« eine Lüge gewesen. Ich konnte ebenso wenig lügen wie Eleanor, und so war ich gezwungen, die Wahrheit zu sagen. »Ich habe im Augenblick niemanden.«

Eleanors Mitleid brannte wie eine Ohrfeige. »Dann fühlst du dich wohl recht schwach, du armes Ding?«

»Mir geht es gut. Er ist erst vor ein paar Monaten gestorben.«

Ihr Gemahl runzelte die Stirn, und seine Gedanken, die in meine Richtung trieben, beschäftigten sich mit der Frage, ob er mir jetzt höflich sein Beileid aussprechen sollte. Eleanor neigte leicht den Kopf zur Seite und erklärte es ihm. »Sie braucht sie lebend, weißt du? Ihre Kreativität. Natürlich sterben die armen Geschöpfe irgendwann, aber ich bin sicher, der Sex war es wert. Keine Sorge, Liebster, ich lasse nicht zu, dass sie dich in die Finger bekommt. Er ist Dichter.«

Ich merkte, dass die letzten Worte an mich gerichtet waren, und sah wieder den Menschen an. Ruhig hielt er meinem Blick stand, ohne mich zu verurteilen. Ohne die Missklänge eines Feentanzes um mich herum konnte ich seine Gedanken leichter lesen. Ich stocherte darin vorsichtig nach seinem Namen, traf aber auf entschlossenes Schweigen – er schützte ihn genauso gut wie eine Fee. Vollkommen dämlich war er also nicht, trotz seines zweifelhaften Geschmacks, was Frauen anging.

»Du bist also auf der Suche nach einem neuen Freund?«, fragte Eleanor, und mir wurde klar, dass sie von vornherein Bescheid gewusst hatte. »Ich möchte dich nur bitten, Rücksicht auf meinen Hof zu nehmen, wenn du deinen nächsten … Schüler auswählst, meine Liebe. Es gehen Dinge vor, die keine Einmischung dulden. Dieses Samhain-Fest wird man nicht so schnell vergessen.«

Ich brauchte einen Augenblick, um mich daran zu erinnern, dass Samhain Halloween war. Mit dem Kinn wies ich auf ihren Begleiter. »Seinetwegen? Wie ich höre, soll jemand zum König gemacht werden.«

Wahrscheinlich hatte ich zu viel gesagt, konnte es aber nicht mehr zurücknehmen. Außerdem betrachtete Eleanor mich weiterhin, als sei ich eine Kiste voller Hundewelpen. »Es gibt wahrlich keinerlei Geheimnisse unter meinem Volk, nicht wahr?«

Ihr Gefährte wirkte einen Moment lang, als sei ihm ein wenig übel – vermutlich hätte er seine lose Zunge am liebsten verschluckt.

Die Königin strich mit den Fingern über seine Hand, als spürte sie seine Furcht. »Ist schon gut, mein Liebling. Niemand denkt schlecht von dir, weil du König sein wirst.« Erneut schaute sie zu mir. »Du wirst deinen Schülern gegenüber selbstverständlich kein Wort darüber verlieren, nicht wahr, kleine Muse? Nur weil das gesamte Feenreich von unseren Plänen weiß, brauchen die Menschen nicht auch davon zu erfahren.«

»Ich werde schweigen wie die Blumen«, antwortete ich sarkastisch. »Was haben denn die Menschen damit zu tun?«

Mit schmerzhafter Freude lachte Eleanor auf, und ihr Begleiter taumelte unter diesem Ansturm. »Ach, meine Liebe, ich vergesse immer wieder, wie wenig du doch weißt. Ein Mensch – das Kleeauge – zieht uns hierher an diesen Ort. Wir folgen ihm, wie stets, gegen unseren Willen. Doch nach diesem Samhain-Fest werden wir unseren Weg selbst bestimmen. Und wir werden dadurch noch schöner, noch mächtiger werden.« Sie hielt inne. »Bis auf dich natürlich. Du wirst ewig an sie gebunden sein, armes Ding.«

Ich sah sie nur voller Abscheu an, hasste entweder sie oder mich selbst.

Eleanors Lippen kräuselten sich bei meinem Gesichtsausdruck. »Und ich vergesse oft, wie leicht ihr Jungen zum Schmollen neigt. Sag mir, wie viele Sommer hast du gesehen?«

Ich starrte sie an, denn ich war sicher, dass sie auch diesmal die Antwort kannte und mich nur reizen wollte, um mich zu Tränen und Zorn anzustacheln. In meinem Kopf leckten gierig die Flammen an meiner Haut, zum Gedenken und als Vorahnung zugleich. Es war Jahre her, dass mein Körper zuletzt zu einem Häuflein Kohlen verbrannt war, doch die Erinnerung an den Schmerz verging nie – obgleich alle anderen Erinnerungen verschwunden waren. »Sechzehn.«

Die neue Königin trat sehr, sehr nah an mich heran, strich mit dem Finger an meinem Hals hinauf und hob mein Kinn an. »Deine Unsterblichkeit ist von sehr seltsamer Art, nicht wahr? Es überrascht mich, dass du dich mir nicht zu Füßen wirfst, um von deinem Schicksal befreit zu werden.«

Ich konnte ihre Füße unter dem langen grünen Kleid nicht einmal sehen, und selbst wenn – ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals bettelnd davor niederzuwerfen. Mit geballten Fäusten wich ich von ihr und ihrer Berührung zurück. »Ich weiß es besser. Ich kann ihm nicht entgehen. Und ich fürchte mich nicht.«

Eleanor lächelte dünn und geheimnisvoll. »Und ich dachte immer, mein Volk könne nicht lügen. Du bist wahrhaftig die Menschlichste unter uns.« Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss nicht, was ich dir geraten habe, Liebes. Komm unserer Arbeit hier nicht in die Quere, dann finde ich vielleicht sogar die Zeit, deiner Verbrennung dieses Jahr persönlich zuzusehen.«

Höhnisch lächelte ich sie an. »Eure Anwesenheit wäre eine große Ehre«, spottete ich.

»Ich weiß«, entgegnete Eleanor, und von einem Atemzug zum nächsten waren sie und ihr Begleiter verschwunden.

Neue Textnachricht

An:

James

 

Wir reden über nichts, obwohl ich dir so viel sagen will. Fühle mich hier verloren. Wir sind alle musikstreber, aber niemand ist wie ich. Alle spielen barock o. rock o. jazz. Das sollte mir egal sein, ist es aber nicht.

 

Absender:

Dee

 

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