Donnerstag

 

Wie viel Zeit verbrachten wir mit dem Warten auf die Vorüberfahrt von Hassan II.? Zwei Stunden? Drei Stunden? Ich erinnere mich nicht mehr. Auch wenn ich noch so sehr in meinem Gedächtnis krame, finde ich keine Antwort. Fast erdrückt von der nervenaufreibenden Menschenmenge solch großer Anlässe und voller Überdruss, zum tausendsten Mal sinnlose, monotone patriotische Gesänge zu vernehmen, vergaßen wir ihn in Wirklichkeit schnell, Hassan II. Wir sprachen über ihn, mussten ihn aber nicht unbedingt gesehen haben. Khalid stellte Fragen, erfand Spiele, die sich auf den König bezogen. Am Anfang. Dann gingen wir zu etwas anderem über. Wir sprachen noch einmal über uns, lange. Ich, er. Er, ich. Ich habe meinen Mund aufgemacht. Ich habe mein Maul und meine Augen aufgemacht. Ich habe mein Innerstes geöffnet. Ich bin Khalid in seinem tiefsten Inneren suchen gegangen, dort, wo er sich selbst noch nicht kannte. Ich habe geredet. Ich habe ihn zum Reden gebracht. Er hat mit mir gespielt. Er hat gelacht und geweint mit mir. Stundenlang.

Es war Donnerstag, ohne sich nach Donnerstag anzufühlen. Der Tag des Königs. Ohne den König.

Wir sollten ganz still bleiben. Unseren Respekt beweisen. Alle beide an dieselben Werte glauben. Uns zu dem geeinten und stolzen marokkanischen Volk gesellen, das seinen König erwartet. Wir taten das Gegenteil. Ungewollt. Wir folgten einem anderen Gott, einem anderen Gebieter, einem anderen Teufel.

Wir diskutierten endlos über alles und jedes, wobei wir uns immer weiter von den anderen entfernten. Wir flüchteten. Wir sahen Hassan II. an jenem Tag nicht. Wir waren anderswo, gefährlich frei.

Wir redeten.

 

»Hassan II.?«

»Ja, Omar. Wann ist er geboren?«

»1925.«

»Nein.«

»1920?«

»Nein. Schande über dich.«

»Also 1900?«

»Zweifach, dreifach Schande über dich.«

»Lass mir noch eine Chance, Khalid. Schließlich bist du mein Freund.«

»Keine zweite Chance, die gibt es nicht.«

»Habe ich verloren? Endgültig?«

»Verloren. Bist du Marokkaner?«

»Ja.«

»Jetzt bist du keiner mehr.«

 

»Wer ist dein König?«

»Hassan II

»Er ist nicht mehr dein König.«

»Ist das möglich?«

»Ja.«

»Wer bin ich, Khalid? Sag es mir.«

»Du hast verloren, Omar.«

»Alles verloren?«

»Er ist 1929 geboren.«

»Ah ja!«

»Hast du es gewusst?«

»Nein. Das hat mir nie einer beigebracht.«

»Das gibt's nicht.«

»Ich lüge nicht.«

»Du bist nicht mehr mein Freund, Omar.«

»Wer bist du?«

»Diskutiere nicht endlos. Jetzt noch den Monat. In welchem Monat wurde Hassan II. geboren?«

»In einem Sommermonat. Das weiß ich.«

»Und in welchem?«

»Im Sommer. Im Frühsommer, stimmt's?«

»In welchem Monat? Los . . . Los . . . Wir kommen bald zum Ende . . . Schnell . . . Schnell, Omar.«

»Zum Ende für mich? Zum Ende des Verhörs? Dieses Alptraums?«

»Ganz einfach zum Ende. Schnell, rette deine Haut . . . In welchem Monat ist der König geboren?«

»Ich weiß es, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Weißt du's, oder weißt du's nicht?«

»Ich weiß es, Khalid, ich weiß es.«

»Also sag.«

»Ich weiß es und habe Angst.«

»Sag schon.«

»Ich kann auch schreien.«

»Zuerst die Antwort.«

»Ich schreie lieber zuerst. Das hilft mir, mich zu entscheiden. Zuerst der Schrei.«

»Die Antwort. Die Antwort zuerst . . .«

»Die Antwort!«

»Sag.«

»Ich komme. Sie kommt. Sie kommt, Khalid . . .«

»Kommt beide zugleich . . . Schnell . . . Omar, schnell.«

»Schnell!«

»Der Monat des Königs! Das ist das Ende. Schnell. Das Ende in fünf Sekunden.«

»Fünf Sekunden!«

»Fünf . . . vier . . . drei . . .«

»Drei.«

»Zwei . . . eins . . .«

»Juni.«

»Falsch.«

»Falsch!«

»Führt ihn ab!«

»Ich kann nichts dafür.«

»Du wirst nie wieder aufwachen. So lautet dein Urteil.« 

»Grässlich, dieses Spiel, Khalid. Du kennst kein Mitleid.«

 

Wir hatten die Grenzen überschritten. Wir setzten unsere freie, unverfrorene Rede immer weiter fort. Die Menge rings um uns wurde uns gleichgültig. Ihre Stille wie ihre Geräusche betrafen uns nicht mehr. Wir waren ja nicht die Menge. Sie konnte den Taumel nicht verstehen, in dem wir unsere Unabhängigkeit erklärten. Wir entfernten uns von ihr, immer weiter.

 

»Schönes Wetter heute Morgen, Omar.«

»Normal. Am Tag des Königs. Re-Animator läuft immer noch im Kino An-Nasr, schon gewusst?«

»Das ist ein Horrorfilm.«

»Ich glaube. Ein Mann erweckt die Toten zum Leben.« 

»Aber lebt er denn?«

»Weiß ich nicht.«

»Ich habe Angst vor Horrorfilmen.«

»Ich bin ja bei dir, Khalid. Du bist nicht allein, Kindchen.« 

»Mach dich nur lustig über mich, du Hund.«

»Morgen ist Programmwechsel im Kino An-Nasr.«

»Ja und?«

»Wir müssen ihn uns angucken, heute Nachmittag oder nie.«

»Also wenn der Festzug von Hassan II. vorbei ist.«

»Abgemacht?«

»Haben wir bis dahin für alles Zeit? Du weißt, dass wir in der Schule erwartet werden.«

»Du meinst wohl: Du wirst erwartet. Du wirst gefeiert, Khalid. Du wirst der König sein.«

»Freust du dich nicht für mich, Omar?«

»Du hattest es mir nicht gesagt. Ich schämte mich vor den anderen. Ich habe die Neuigkeit im selben Augenblick wie alle anderen erfahren. Ich schämte mich für mich. Warum hast du es mir nicht früher gesagt? Warum?«

»Ich . . . Ich . . . Ich konnte nicht. Ich war nicht sicher. Es war noch nicht sicher, noch nicht offiziell.«

»Ich schämte mich für unsere Freundschaft.«

»Ich schwöre es dir, Omar, ich sage die Wahrheit.«

»Bist du mein Freund? Immer noch mein Freund? Wir haben doch schon alles . . . alles zusammen gemacht . . . sogar gebumst.«

»›Sich lieben‹ nennt man das.«

»Ich bin aber nicht so zimperlich wie du.«

»So habe ich das nicht gemeint.«

»Antworte. Antworte, Khalid.«

»Worauf? Auf welche Frage?«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist.«

»Okay.«

»Bin ich immer noch dein Freund?«

»Ja. Ja. Mein einziger Freund. Omar, du bist mein einziger Freund. Freust du dich jetzt?«

»Dann kommst du heute Nachmittag mit mir Re-Animator angucken.«

»Na gut, na gut. Nicht weinen.«

»Ich weine nicht.«

»Könnte man aber meinen.«

»Ich habe heute Nacht von dir geträumt. Wieder einmal.«

»Haben wir uns geliebt?«

»Nein, Herr Khalid. Nein. Du hast mich einem Verhör unterzogen.«

»Hoffentlich einem handfesten Verhör.«

»Du hast mich vernommen. Du hast mich gefoltert. Ganz im Ernst.«

»Und du hast geweint, stimmt's?«

»Nein.«

»Dann weinen wir heute Nachmittag . . . alle beide . . . wenn wir deinen Horrorfilm angucken.«

»Auf dem Plakat trägt der Hauptdarsteller eine Brille.«

»Na und?«

»Wie du früher.«

»Komm jetzt, komm. Wir müssen uns beeilen. Hassan II. wird jetzt bald da sein.«

»Quatsch. Das wird noch lange dauern, bis er kommt.«

»Hast du ihn schon mal gesehen, Omar?«

»Schon öfter. Von weitem. Ich habe seinen Namen wie alle anderen gerufen. Hoch lebe der König! Hoch lebe der König!«

»Hast du deine Rache vergessen?«

»Wovon redest du?«

Eine Gruppe von Berbermusikern tauchte plötzlich vor uns auf. Sie sahen gefährlich aus, sehr gefährlich sogar, doch sie spielten wundervoll ein vielfältiges Folklorerepertoire aus dem Süden Marokkos. Als Einzige wiederholten sie nicht andauernd die gleichen öden Lieder, die den König verherrlichen und einen von der ersten Note an langweilen. Diese Musiker waren alle schwarz. Tiefschwarz. Und ihre fesselnde Musik veranlasste uns, Khalid und mich, unseren Dialog zu unterbrechen und ihnen eine Zeitlang zu lauschen.

 

»Hadda ist weg.«

»Welche Hadda? Deine Kusine?«

»Nein, Hadda, das schwarze Hausmädchen. Unser schwarzes Hausmädchen. Dein Liebling.«

»Ah!«

»Erinnerst du dich an sie?«

»Natürlich. Wie könnte ich Hadda vergessen? Unmöglich. Sie hat mir gestern bei euch geöffnet. Warum ist sie weggegangen? Warum? Werden wir sie nie wiedersehen?« 

»Wissen wir nicht. Sie hat ihren ganzen Krempel mitgenommen und ist verschwunden. Vielleicht ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt.«

»Ihre Heimat, was heißt das?«

»Keine Ahnung. Woher kommen die Schwarzen normalerweise?«

»Weiß ich nicht. Das müsstest du mir doch sagen können, Monsieur Khalid.«

»Aus dem Süden. Aus Afrika. Aus Schwarzafrika.«

»Schwarzafrika ist zu vage. Aus welchem Land genau? Mali? Sudan?«

»Mag sein.«

»Glaubst du, Hadda kommt aus dem Sudan?«

»Mag sein. Meine Mutter hat mir heute Morgen gesagt, dass sie ihr noch schnell ein paar Ringe gestohlen hat.«

»Das glaube ich dir nicht, Khalid.«

»Sie will heute sogar auf das Kommissariat gehen und Anzeige erstatten.«

»Arme Hadda. Reiche haben kein Herz.«

»Da täuschst du dich, Omar.«

»Mochtest du sie denn wenigstens ein bisschen?«

»Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Sie war bei uns ein Hausmädchen unter vielen. So oft habe ich sie gar nicht gesehen.«

»Sind bei euch alle Hausmädchen schwarz?«

»Ja, alle. Das ist Familientradition.«

»Sie wird dir also nicht fehlen?«

»Ich verstehe nicht, warum sie mir fehlen sollte.«

»Du bist hart, sehr hart, Khalid. Hast du schon all die Augenblicke aus deinem Gedächtnis verbannt, die wir mit ihr verbracht haben?«

»Meinst du die beiden Male, als wir versucht haben, ihr Schreiben beizubringen?«

»Ja.«

»Das war eine Katastrophe.«

»Wird sie dir nicht fehlen?«

»Meinem Vater wird sie sicher fehlen. Sie sind sich in letzter Zeit sehr nahegekommen.«

»Und deine Mutter will wirklich Anzeige gegen sie erstatten?«

»Meine Mutter ist es gewohnt. Sie sagt: ›Sie sind doch alle gleich. Schlecht erzogen. Störrisch. Diebinnen. Und . . .‹«

»Huren.«

»Ja, genau.«

»War Hadda auch eine Hure?«

»Wahrscheinlich.«

»Was soll das heißen, Khalid?«

»Huren mag ich nicht.«

»Ich schon.«

»Du magst Huren? Kennst du welche?«

»Sollte ich das?«

»Du kennst also welche?«

»Khalid, bitte wechseln wir das Thema.«

»Reden wir über deine Mutter. Ist sie zurückgekommen?«

»Sie wird nicht zurückkommen.«

»Wo ist sie jetzt?«

»In Azemmour.«

»Azemmour ist nicht weit.«

»Azemmour ist die Heimat der . . .«

»Im Süden von Casablanca.«

» . . . die Heimat der . . .«

»Der Huren, Omar. Sag es ruhig.«

»Du auch. Selbst du weißt es?«

»Ich lebe wie du in Marokko, mein Freund.«

»Kommen alle Frauen aus Azemmour?«

»Jedenfalls verschwinden sie am Ende dort.«

»Ist das eine Legende?«

»In Marokko gibt es doch nichts anderes als Legenden. Sie sind unser Leben, Omar.«

»Unser Erbe.«

»Nicht lästern. Die Bullen sind ganz in der Nähe, sie könnten uns verhaften.«

»Hast du Angst, Khalid?«

»Eher du solltest Angst haben.«

»Ich hatte Angst. Aber seit gestern Nachmittag habe ich keine Angst mehr. Du wirst für deinen Verrat bezahlen.« 

»Soll das eine Drohung sein? Du weißt, ich werde beschützt.«

»Ja. Von mir.«

»Unter anderem von dir, das gebe ich ja zu.«

»Und es gefällt dir, dass ich dich beschütze?«

»Es gefällt mir, ja, es gefällt mir. Beschütze mich, Omar, beschütze mich.«

»Darf ich mal deine Ohren anfassen?«

»Warum? Von mir aus!«

»Ich mag deine kleinen Ohren.«

»Sie werden noch wachsen. Autsch . . . Autsch . . . Du tust mir weh. Du tust mir weh.«

»Gut so.«

»Böser Omar.«

»Ja, ich bin böse. Omar der Böse.«

»Lass mich jetzt an deine ran.«

»Nur zu, Monsieur Khalid. Aber nicht zu doll, sonst mache ich hier einen Skandal inmitten dieser Menschenmenge, die auf Hassan II. wartet. Los, aber sachte.«

»Zart sind sie, deine Ohren. Bist du zart geworden, Omar?«

»Bald werde ich es nicht mehr sein. Jetzt, hier. Sofort.«  

»Warum denn?«

»Ich werde mich rächen. Ich werde Hadda für die Schande rächen, die ihr deine Mutter zugefügt hat, als sie behauptete, sie habe Schmuck gestohlen.«

»Schon wieder Hadda?!«

»Ich werde mich für alles Böse rächen, das du mir antust. Ich werde mich rächen.«

»An mir? Hier? Wann gehen wir zu den Huren von Azemmour?«

»Ich werde mich rächen.«

»Jetzt, sofort? Wenn Hassan II. vorbeigefahren ist?«

»Hast du auch schön gepisst, Omar?«
»Was?«

»Gestern . . . Heute Morgen . . . Hast du auch schön gepisst?«

»Was?«

»Du hast es anscheinend vergessen. Du hast mir schon mal die ganze Geschichte erzählt. Du brauchst dich nicht zu schämen. Dein Vater . . . Das Wunderheilmittel. Auf sich pissen, um Wunden auszukurieren.«

»Das soll ich dir alles erzählt haben . . . dieses Geheimnis? Wann denn?«

»Gleich bei unserer ersten Begegnung. Weißt du wirklich nicht mehr?«

»Nein, Khalid.«

»Nein?«

»Nein.«

»Macht nichts. Wie geht es deiner Verletzung an der Wade? Hast du gestern auch richtig darauf gepisst? Und heute Morgen? Hast du richtig gepisst, wie es dir dein Vater empfohlen hat?«

»Nein . . . Ja . . . Habe ich. Das heißt, nicht wirklich. Aber ich hatte nicht genug Pisse. Ich weiß nicht, ob ich es richtig gemacht habe. Heute Morgen war es genauso, ich habe es nicht geschafft zu pissen, nur ein paar Tropfen.«

»Zeig mir deine Verletzung. Dein Vater hat recht. Pisse ist ein hervorragendes Antiseptikum.«

»Anti. . . was?«

»Um Wunden zu desinfizieren, gibt's nichts Besseres.«

»Danke, Herr Krösus.«

»Hör auf, den Armen zu spielen, und zeig mir deine Verletzung.«

»Knie dich runter und sieh's dir aus der Nähe an. Mach schon.«

»Sieht schlecht aus. Du baust Mist, Omar. Du hättest wirklich regelmäßig auf die Wunde pissen sollen. Jetzt ist sie infiziert. Das Blut ist mit Eiter vermischt.«

»Ist es schlimm, Herr Doktor?«

»Mach keine Witze. Ich meine es ernst. Wir müssen eingreifen. Und zwar sofort.«

»Wie gesagt, ich habe ein Problem, seit gestern kann ich nicht mehr pissen.«

»Wir müssen etwas tun.«

»Was?«

»Keine Ahnung. Soll ich dich anpissen?«

»Gerne, Monsieur Khalid.«

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.«

»Dann komm mit. Weg von dieser grässlichen Menge.« 

»Wo willst du denn hin?«

»Da ist doch ein Wäldchen auf der anderen Straßenseite, stimmt's?«

»Es ist kein Wäldchen.«

»Ich weiß, ich weiß. Da fängt der Mamora-Wald an, der größte Marokkos.«

»Gehen wir.«

»Gehen wir.«

»Pass auf beim Überqueren der Straße, Khalid.«

»Keine Angst. Die Straße ist heute gesperrt, stillgelegt. Keiner darf sie befahren.«

»Umso besser.«

»Komm mit.«

»Geh schon.«

 

Ein wenig später hatte Khalid im Inneren dieses dunklen Waldes, von dem wir nur ein kleines Stück kannten, eine erstaunliche Idee. Er vergaß sichtlich immer mehr, wer er war und vor allem wer sein Vater war. Der Wald umgab uns, nah, sehr nah, die Menge hatten wir hinter uns gelassen, als wir unsere ernsthafte und zugleich wahnwitzige Unterhaltung wiederaufnahmen. Dieses Mal war ich derjenige, der kaum folgen konnte und der Sache nicht gewachsen war.

 

»Wie wär's, wenn wir für deinen Vater eine Prostituierte finden würden?«

»Heute?«

»Warum nicht?«

»Aber wo, Khalid?«

»Ich habe von einem Dorf gehört, Douar Dbaba.«

»Kenne ich.«

»Schon mal da gewesen?«

»Ja, ja. Lange her. Nicht allein. Aber ohne etwas zu unternehmen. Die Prostituierten waren dort zu alt, zu schmutzig. Sie stanken nach Fusel.«

»Wo ist dieses Dorf, Douar Dbaba?«

»Hinter dem Dorf Al-Karya.«

»Und wo liegt das?«

»Irgendwo an der Straße nach Fès.«

»Also an der, die zum Flughafen führt. Das heißt die Straße, an der wir gerade auf Hassan II. gewartet haben.« 

»Ja, ja.«

»Also befindet sich Douar Dbaba hinter dem Dorf Al-Karya, das irgendwo an dieser Straße liegt.«

»Genau, Khalid.«

»Und ist dieses Dorf Al-Karya weit von hier?«

»Nein. Direkt gegenüber vom Flughafen. Ich würde sagen . . . dass . . .«

»Bist du sicher?«

»So gut wie sicher. Vor nicht allzu langer Zeit war ich dort, um einem Cousin zu helfen, einen Haschisch-Dealer wiederzufinden.«

»Lenke jetzt nicht vom Thema ab.«

»Also eine Nutte für meinen Vater.«

»Also . . .«

»Ich bin einverstanden, Khalid.«

»Gehen wir jetzt zu diesem Douar Dbaba? Führst du mich hin?«

»Ganz schön riskant.«

»Warum?«

»Für Leute wie dich, dort. Das ist riskant. Du bist zu sauber, denen fällst du sofort auf. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Die sind ein bisschen gefährlich dort, weißt du.« 

»Du bist ja bei mir. Du wirst mich beschützen. Wie immer. Du bist stark. Du wirst dich stark geben.«

»Mit Douar Dbaba ist es nicht so einfach. Außer den Prostituierten gibt es die Zuhälter, die Drogendealer. Die Verrückten. Und auch Mörder. Kinderdiebe.«

»Du schaffst es nicht, mir Angst zu machen. Ich will dahin. Ich will es. Hörst du?«

»Bist du sicher, dass wir für meinen Vater eine Prostituierte in diesem Douar Dbaba suchen werden?«

»Ich habe noch nie eine gesehen.«

»Was?«

»In echt, meine ich.«

»Khalid . . .«

»Ich will es. Ich will es. Unbedingt.«

»Khalid, hör mal, heute passt es nicht so gut.«

»Warum?«

»Mein Vater ist traurig, zu traurig. Er will keine Prostituierte. Er ist nicht einmal fähig zu gehen. Vor allem will er meine Mutter. Sonst niemanden.«

»Wird deine Mutter wieder zurückkommen?«

»Glaube ich nicht. Dieses Mal ist sie gegangen. Für immer. Von nun an werde ich mein Leben mit meinem Vater zubringen. Allein mit meinem Vater. Und ihn versorgen. Unter Männern. Ich werde die Frau meines Vaters sein.« 

»In dieser Rolle wirst du perfekt sein.«

»Mach damit keine Witze.«

»Bist du traurig? Sei nicht traurig, mein kleiner Omar.« 

»Bin ich ja nicht. Obwohl – ein bisschen schon . . .«

»Ach! Nicht doch.«

»Ein bisschen.«

»Vergessen wir also diese Geschichte mit der Prostituierten?«

»Ich habe einen besseren Vorschlag. Einen viel besseren.«

»Und was? Was? Sag. Sag schon.«

»Hast du eine Schere dabei, in deiner kleinen Tasche?«

»Ja.«

»Gleich wirst du sehen, was wir machen.«

»Was? Wann? Wo?«

»Lass uns weiter weggehen von der Straße. Erst gehen wir ein wenig weiter in den Wald hinein. Komm . . . Komm . . . In die Mitte des Waldes. Wir werden frei sein. Frei und nackt.«

»Nackt!«

»Ja, nackt, alle beide. Wie in deinem Zimmer, Khalid.«

»Bist du nicht mehr traurig?«

»Ich bin mit dir zusammen.«

»Ich bin mit dir zusammen.«

Die Stunde der Rache hatte geschlagen. Der Wald war kein Wald mehr. Ich hatte die Angst hinter mir gelassen. Früher oder später musste Khalid dafür bezahlen. Zumindest all dem zuhören, was ich an Gehässigkeiten gegen ihn auf dem Herzen hatte. Gegen seinen Namen. Gegen seine Herkunft. Er und ich, wir waren noch immer Brüder, mehr denn je, aber trotzdem würde der Krieg erklärt und ganz zu Ende geführt werden.

 

»Wer ist Hassan II.?«

»Hör mal, Omar! Was soll dieser Blödsinn?«

»Ich meine es ernst. Wer ist Hassan II.?«

»Hör auf. Er ist der König. Der KÖNIG. Hör mit dem Quatsch auf.«

»Ich meine: Wer ist er außerhalb seines königlichen Amtes?«

»Wer kann das schon wissen?«

»Du, Khalid. Du, du wirst es wissen, denn nächste Woche hast du die Gelegenheit, ihn zu treffen. Und ihm sogar die Hand zu küssen.«

»Meinst du, ich werde ihn darum wirklich kennen?«

»Du bist intelligent, Khalid. Du wirst erraten können, was er verheimlicht. Du wirst ihm manche seiner Geheimnisse rauben. Und sie mir erzählen.«

»Ich werde vor allem Angst bekommen, wenn ich vor ihm stehe. Ich glaube, ich werde nicht einmal wagen, ihn anzublicken.«

»Du bist reich. Er ist reich. Du wirst ihn anblicken. Du wirst keine Angst haben. Da bin ich mir sicher.«

»Er ist der König. Der König. Das hast du wohl vergessen.«

»Der König, ja. Das habe ich nicht vergessen. Aber ich kenne ihn nicht. Ich kenne von ihm nur das, was man uns von ihm zeigen will. Ein Bild.«

»Ein Bild.«

»Der Vater. Betrachtest du ihn als deinen Vater, Hassan II.?«

»Du weißt doch, dass ich ihm nächste Woche die Hände küssen werde.«

»Du hast keine andere Wahl.«

»Was willst du eigentlich, Omar? Worauf willst du hinaus mit dieser verschwörerischen Diskussion?«

»Hast du Angst?«

»Nein. Ich bin Khalid, der Sohn von Hamid El-Roule.«

»Du meinst, dass dir selbst der Wald, in dem wir uns jetzt befinden, keine Angst macht?«

»Doch, ein bisschen. Ich habe gesagt, ich hätte vor Hassan II. Angst. Habe ich aber nicht. Ich habe Angst, ihm gegenüberzustehen. Das ist etwas anderes.«

»Das ist der große Unterschied zwischen uns.«

»Was soll das heißen?«

»Ich bin eifersüchtig.«

»Eifersüchtig?«

»Nein, nein, nicht eifersüchtig. Ganz falsch. Wütend. Ich bin wütend.«

»Wütend, hier, jetzt?«

»Wütend seit gestern in der Schule. Und wütend, seit wir in diesem Wald angelangt sind.«

»Wütend auf mich?«

»Ja.«

»Gefällt es dir hier nicht? Willst du wieder zurück und am Straßenrand auf Hassan II. warten?«

»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du mir nichts gesagt hast.«

»Wegen des Königs? Ich kenne ihn auch nicht besser als du.«

»Du hattest mir nichts über deine Einladung in den königlichen Palast gesagt. Ich habe es wie alle aus dem Mund dieses ekelhaften Typen von Schuldirektor erfahren. Wie jeder x-Beliebige. Ich war jeder x-Beliebige. Ich dachte, ich sei etwas Besonderes in dieser Freundschaft mit dir. Etwas Besonderes durch diese Freundschaft, durch diese Beziehung. Durch diese Verbindung unserer Körper. Ich habe mich offensichtlich getäuscht. Mit deinem Schweigen hast du mich an meinen Platz zurückverwiesen. Nicht nur bist du offiziell der beste Schüler, sondern zudem durfte ich es nicht vor den anderen erfahren.«

»Du kennst mich doch, Omar, ich bin ein bisschen abergläubisch, ein bisschen seltsam.«

»Auch nicht mehr als ich.«

»Quatsch, viel mehr als du.«

»Ich bin nicht dein Spielzeug. Lass mich wenigstens mein Herz ausschütten. Meiner Verbitterung und meiner Wut Luft machen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich verstehe dich, Khalid. Ich verstehe, was dich dazu verleitet hat, mir nichts zu sagen. Es waren weder deine Angst noch dein Aberglaube. Es war . . . Es ist . . . Von Anfang an bist du nicht da, mit uns zusammen, mit mir zusammen. In dieser Welt. Meiner Welt. Ich habe geglaubt, ich wäre mit dir zusammen, wirklich mit dir. Ich habe geglaubt, du wärest mit mir zusammen, wirklich mit mir. Ich habe dir alles erzählt. Ich habe dir alles gesagt. Unter anderem, um dir zu gefallen, das gebe ich zu. Ich habe geglaubt, mit mir würdest du es genauso halten. Nicht nur mir alles erzählen. Ich erhoffte mir mehr. Das vollkommene Vertrauen. Hingabe. Immerhin haben wir doch alles zusammen erlebt, seit wir uns kennen. Sex, Träume, verbotene Filme, Hexer, den Strand von Salé im Winter, billigen Wein aus grünen Plastikflaschen. Alles . . . Alles . . . Alles bis gestern, dem letzten Schultag, dem letzten Tag in derselben Schule. Das Ende, Khalid, hast du verpatzt, du hast es durch dein Geheimnis versaut. Dein bescheuertes königliches Geheimnis. Du hast mich ignoriert, vergessen, kaltgestellt. Getötet. Du hast mich nicht einmal angeschaut, Khalid, du hast nicht einmal versucht, mich mit deinen Augen mitzunehmen. Nein. In deinem Ruhm bist du ganz allein geblieben. Ganz allein in deiner Sternstunde. Egoistisch. Egoistisch. Du warst egoistisch, Khalid. Und ich war allein. Allein und neben dir. Allein und noch immer an dich festgeklammert. Aber du warst fern, fern, fern mit Hassan II., bei Hassan II. Was ich auch tun mag, mir wird es nie gelingen, das zu erreichen, dieses Erfolgsniveau, von einem König empfangen zu werden. Ja, ich war eifersüchtig und ich war bereit, diese Eifersucht zu vergessen, sie zu ersticken, hättest du mich nur angesehen, hättest du mir auch nur leise zugepfiffen, wie wir es manchmal in deinem Zimmer machen. Ein Zeichen gegeben, dass ich für dich noch existierte. Dass für mich noch Hoffnung bestand. Dass meine Zukunft zwar weniger glorreich sein würde als deine, doch dass es möglich wäre, dass . . . Nichts. Nichts. Seit gestern gibt es keine Zukunft mehr. Du bist davongeflogen. Und ich, ich habe verzichtet. Ich bin geblieben, wo ich war. Von nun an wird mir niemand helfen. Weder du. Noch meine Mutter. Und schon gar nicht mein Vater.«

»Verzeih mir, Omar. Das war mir nicht bewusst.«

»Wer ist Hassan II.? Das ist eine ernst gemeinte Frage. Wer ist Hassan II.?«

»Was soll ich da antworten? Ich weiß über ihn auch nicht mehr als du. Er gehört zur Dynastie der Alawiten. Er ist König seit dem 3. März 1961. Er hat zwei Jungs, drei Mädchen. Und bestimmt Bastarde, die für immer totgeschwiegen werden.«

»Hör auf. Nicht über diesen Hassan II. will ich mit dir sprechen. Ich möchte lieber, dass du mir sagst, was ich nicht weiß, was ich niemals erfahren werde, was ein Armer wie ich von dem Charakter und der Geschichte dieses Königs nicht einmal ahnen würde. Etwas, was du von deinem Vater und seinen bedeutenden Freunden weißt. Ein Staatsgeheimnis. Ein Gerücht. Eine seltsame Geschichte. Eine Verschwörung. Ein bevorstehender Putsch. Ich hätte den Wunsch, ich, der den König nie aus nächster Nähe zu Gesicht bekommen wird, etwas Unglaubliches, etwas Undenkbares über ihn in der Hand zu haben. Und dass das von dir kommt. Dass dieses mit mir geteilte Geheimnis dein letztes Geschenk an mich ist. Der Beweis, dass unsere Freundschaft trotz der kommenden Jahre, trotz der gestern begonnenen Trennung lebendig bleiben wird. Ich will, dass du mir sagst, was du über Hassan II. weißt. Ich will es. Zwinge mich nicht, dich anzuflehen.«  

»Omar, sei vernünftig. Ich weiß nicht mehr über Hassan II. als du.«

»Dann schwöre es.«

»Ich schwöre nicht gern.«

»Na bitte, Khalid.«

»Was?«

»Vor drei Monaten, fast auf den Tag genau, hat dir deine Freundin Leïla erzählt, dass sie mit einem anderen geht. Sie sei noch immer in dich verliebt, doch dem anderen Jungen sei es dennoch gelungen, sie zu verführen. An fangs war das überhaupt kein Problem für dich. Du hast zu mir gesagt: »Ich bin modern.« Aber als du erfahren hast, wer der andere war, war es nicht mehr das Gleiche. Der andere war der Sohn eines großen Generals, eines in diesem Land so wichtigen Generals, dass sein Name jedem Angst einjagt. Erinnerst du dich an deine Reaktion? An deine Tränen? An dein Schamgefühl? An deine Machtlosigkeit? Wir beide lagen in deinem Bett, im Dunkel deines Zimmers, wir spekulierten über das herannahende Weltende, und plötzlich hast du mir alles erzählt. Alles über den anderen gesagt. Über Leïla, die dir durch die Lappen ging. Und du hast geweint. Nicht allein. Ich war da. Ich sagte nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber ich trocknete deine nicht versiegenden Tränen. Ich verstand dich. Dem Generalssohn gegenüber warst du arm. Ihm gegenüber warst du machtlos. Du warst nicht mehr modern. Du warst nicht mehr stolz. Du hast dich klein gefühlt. Du warst es nicht. In meinen Augen warst du noch immer groß. Ich habe dich aufgerichtet. Ich habe dich geliebt. Erinnerst du dich, Khalid, erinnerst du dich daran?«

»Ich erinnere mich, Omar.«

»Verstehst du, warum ich dir all das erzähle? Hast du den Bezug begriffen?«

»Hab ich, Omar.«

»Verstehst du meine Reaktion auf deine Einladung in den Königspalast? Meine Eifersucht? Meine Raserei? Meinen Tod?«

»Ich glaube schon.«

»Aber sicher bist du dir nicht?«

»Du hast recht, wir stammen nicht aus derselben Welt. Du hast recht, ich begreife nicht alles von dir. Du hast recht, ich war völlig fertig, als mir Leïla den Namen des anderen gesagt hat. Du hast recht. Du hast recht. Was soll ich sonst noch sagen?«

»Nichts. Das genügt.«

»Ich werde immer an dich denken. Vor allem nächste Woche beim König.«

»Nein, bitte, nicht beim König. Er macht mir Angst. Von dir weiß ich, dass du keine Angst vor ihm hast. Ich schon. Wenn du also an seinen Hof kommst, vergiss mich, verbanne mich aus deinem Kopf und selbst aus deinem Herzen. Durchlebe diesen Augenblick weit weg von mir. Nächste Woche wird für mich alles anders sein. Alles wird anders. Nächste Woche werde ich wie mein Vater sein. Am Boden.«

»Du drückst dich immer seltsamer aus, Omar. Vergiss Hassan II

»Ich sehe, dass du nichts verstanden hast.«

»Er ist dermaßen weit von dir weg.«

»Das ist wahr. Und gleichzeitig ist es auch nicht wahr.«

»Er ist abstrakt.«

»Nächste Woche wird er konkret für dich sein, Khalid.« 

»Ist das denn so wichtig, im Grunde?«

»Für mich schon. Für dich wird sich nichts ändern. Für dich steht schon alles geschrieben, wundervoll schön geschrieben.«

»Weißt du, ich bin kein Idiot. Ich werde dir helfen, Omar . . . später. Du wirst nicht weit weg sein. Ich werde dich nicht vergessen. Ich werde dir helfen. Ich werde dir helfen.«

»Du hast nichts verstanden, Khalid.«

»Dann erkläre es mir!«

»Ich habe gehört, dass Hassan II. ständig Hexenmeister um sich hat, die ihn beschützen.«

»Wovor?«

»Vor dem bösen Auge, vor den anderen Hexenmeistern, die ihn nicht mögen, vor Mördern, vor Verschwörern, vor Militärs, die ihn hassen.«

»Ja und?«

»Das ist das Einzige, von dem ich mir wünsche, dass du es nächste Woche für mich überprüfst, wenn du am Hof des Königs bist. Überprüfe, ob die Hexenmeister ihn tatsächlich andauernd umgeben. Ehrenwort?«

»Wenn du willst . . .«

»Ehrenwort, Khalid?«

»Ehrenwort. Man könnte meinen, die Rollen seien seit heute vertauscht. Von uns beiden bist du der Seltsamere.« 

»Ich bin nicht seltsam. Ich könnte losheulen.«

»Dann heule.«

»Wenn ich losheule, bin ich noch einsamer, noch isolierter.«

»Was kann ich tun, um dir zu helfen, Omar?«

»Zieh dich aus, und zwar ganz.«

Wir waren allein auf der Welt. Der Wald hatte uns von allem entfernt und mehr oder weniger von allem befreit. Wir waren nackt. Wir hatten schnell unsere Kleider abgestreift. Ich kannte Khalids Körper sehr gut. Er kannte meinen in jeder Einzelheit. In dieser Hinsicht gab es zwischen uns nicht die geringste Befangenheit. Ich spielte nicht den Schüchternen. Er genauso wenig. Zwischen uns würde nun ein anderes Spiel beginnen. Es war aber nicht wirklich ein Spiel. Uns wurde schnell klar, dass die Spiele im Wald nicht denselben Sinn und auch nicht denselben Reiz hatten wie anderswo.

 

»Ich habe eine Idee, Khalid.«

»Lass hören.«

»Lach mich nicht aus.«

»Ich lache nicht, Omar. Ich lache nicht mehr.«

»Es ist eine ziemlich verrückte Idee.«

»Sag schon. Ich werde nicht lachen. Schieß los.«

»Wie wäre es, wenn wir unsere Namen austauschen würden? Ich meine, unsere Vornamen austauschen, nur unsere Vornamen.«

»Ab sofort bin ich Omar an deiner Stelle. Und du bist Khalid an meiner Stelle. Richtig?«

»Ja, richtig. Genau. Wir schlüpfen aus unserer Haut.«

»Ist das alles?«

»Das ist doch schon mal nicht schlecht. Findest du nicht?«

»Du hast mich missverstanden, Omar. Ich meine, tauschen wir auch unseren Charakter, unsere Familie, unsere Liebe aus?«

»Nein, nein, nur unsere Vornamen. Ich werde Khalid sein.«

»Gefällt dir Khalid?«

»Das ist ein schöner Vorname. Gefällt dir Omar?«

»Ich kenne außer dir niemanden mit diesem Vornamen.«

»Wirklich?«

»Ich schwöre es.«

»Danke.«

»Ab sofort bin ich Omar.«

»Ich schenke ihn dir.«

»Ich bin nackt.«

»Ich bin auch nackt.«

»Wir schließen die Augen.«

»Wir schließen die Augen zehn Sekunden. Danach werden wir beide jeweils der andere sein. Ich werde du. DU wirst ich.«

»Warte, Omar, warte. Ich sage dir, wie wir vorgehen. Wir schließen die Augen. Wir warten ein bisschen. Dann gehen wir mit noch immer fest zugekniffenen Augen aufeinander zu. Wir suchen uns. Wir finden uns. Wir berühren uns. Wir küssen uns auf den Mund. Und wir öffnen die Augen.«

»Sehr gut, Khalid. Los, fang an zu zählen.«

»Zehn . . . neun . . . acht . . .«

»Ich komme auf dich zu.«

»Komm.«

»Ich komme.«

»Fünf . . . vier . . .«

»Wo bist du?«

»Drei . . . zwei . . .«

 

Khalids Mund war mein Mund. Er roch nach Zimt. Was hatte er zum Frühstück gegessen?

 

Er war unermesslich, dieser Mund. Er nahm mich vom Wirbel bis zur Zehe. Verschlang mich.

 

Ich ließ alles mit mir geschehen. Durch diese Öffnung schlüpfte ich in die Haut Khalids.

 

Ich wollte in diesem Mund, der meiner war, der ich war, die Herkunft dieses Zimts finden. Wissen, wie er sich mit den anderen Gerüchen von Khalids Körper vermischt hatte. Ausfindig machen, woher Khalids Geschmack kam. Die Geschmacksrichtung »Khalid«.

 

Ich kannte ihn, diesen Geschmack. Sauberes Kind. Wohlriechend. Ordentlich gekämmt. Immer. Kein Kind Marokkos, sondern eines anderen Marokkos, dem ich eigentlich nie hätte begegnen, über den Weg laufen sollen. Ein Geschmack von anderswo. Ein in Paris gedrehter Werbespot, französisch, dermaßen französisch, wie man ihn im Fernsehen sieht, wieder und wieder, der plötzlich einen Geruch, einen Geschmack hatte. Khalid war dieser unbekannte, bekannte, gezähmte, geliebte Geschmack.

Aber der Zimt in seinem Mund überraschte mich. Dieser Zimt war ich, er stand für mich und meine Welt. Khalid hatte ihn mir gestohlen. Und dieser Regelverstoß gefiel mir. Etwas von uns beiden war jetzt in ihm.

Der Zimt veränderte den gewohnten Geschmack Khalids, machte ihn noch vertrauter, zugänglicher, appetitlicher. 

Ich nahm seine Zunge in den Mund. Ich lutschte sie, saugte sie bis in die Tiefe meines Rachens auf. Ich spielte mit ihr. Ich mühte mich mit ihr ab: ein Kampf. Ich gewann. Sie war nun mein. Ich behielt sie in mir. Sie ruhte. Drei Sekunden, nicht länger. Der Kampf, spielerisch, ernsthaft, ging weiter. Die Verwandlung auch. Der Austausch der Vornamen. Ein marokkanischer Science-Fiction-Film.

Der Zimt war nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Er füllte uns gegenwärtig alle beide von innen aus. Er bot sich für uns in mehreren Formen dar. Als Zimt-Apfel. Als Zimt-Aufguss. Als Kuskus mit Zimt. Als indischer Film mit Zimt. Als Weihrauch auf Zimtbasis. Als Droge mit einer Messerspitze Zimt.

Ich trank davon. Ich atmete davon ein. Ich biss davon ab. Aß davon. Liebte davon.

Khalid gab auf, gab sich hin. Sein innerstes Wesen. Seine Haut. Seine Seele. Khalid gehörte mir.

Er versenkte sich in meinen Mund. Und ich war weiterhin in seinem unterwegs. Wege. Gassen. Dunkelheit. Vereinzelte Lichter.

Ich war zu einem Hexenmeister geworden: zu Bouhaydouras Sohn.

Khalid war der Baum und die Rinde gewesen. Er war nun einzig und allein die Rinde. Ich war der Baum.

Ich bin Khalid. Zimtgeschmack. Zimtfarbe.

Ich stellte eine Frage. »Hast du heute Morgen etwas mit Zimt gegessen?«

Während er noch in meiner Haut war, antwortete er für mich.

»Nein. Ich mag keinen Zimt.«

Aïn Houala. Ein furchtbarer Name, um mehrere Dinge gleichzeitig zu benennen. Eine Dunkelzone zwischen Rabat und Salé. Ein kleiner Abschnitt einer langen Straße, ein kleiner Teil eines dunklen und grenzenlosen Waldes, der bis Salé vordringt, um es zu verschlingen.

Aïn Houala ist zugleich ein Weg zwischen zwei Hügeln. Wenn man zu Fuß dort ankommt, befindet man sich unvermittelt oben auf dem Hügel. Eine unsichtbare Kraft treibt einen voran. Man kann nichts dagegen tun, unmöglich, sich zu widersetzen. Wie in einem Sog zieht es einen nach unten, zum Herzstück dieser höllischen Straße. Man fällt. Man fällt immer tiefer. Ein endloser Fall. 

Es gibt eine unauffindbare Wasserquelle. Und verirrte, herrenlose Schafe ohne Hund, um sie zu hüten.

In Aïn Houala ist man besessen. Oder kriminell.

In Aïn Houala gibt es frisches, trockenes Blut. Stimmen. Schreie. Mörder am Werk. Sie fangen einen, ob Kind, ob Jugendlichen, bringen einen hierher, auf diese leere Straße, und bluten einen aus: Sie füllen mit diesem Blut Ölkanister der Marke Cristal. Und sie verkaufen es an die Hexenmeister und Ärzte. Blut und Sonnenblumenöl, eine teuflische Mischung.

Von Aïn Houala kannte ich nur die Legende. Das Böse, das von der anderen Seite kommt, von den Hügeln von Rabat, gegenüber. Von weiter her. Vom schwarzen Herzen Marokkos. Und die Angst. Die grenzenlose Angst. Fabriziert aus den Ängsten der Kindheit und der Unwissenheit. Fiktive Ängste. Keine, die man braucht, nein, ich meine die Ängste, die die Phantasie, anstatt ihr den Weg zum Ozean hin freizugeben, in Truhen ohne Schlüssel verschließen. Die Angst vor den Gebietern, die gesichtslose Angst. Die Angst, die vom dunklen Himmel herrührt. Vom alltäglichen Tod. Nicht vom natürlichen Tod, sondern eher vom Tod als stetige, sichtbare, sofort an ihrem Geruch erkennbare Drohung, wie eine auf mich, uns, ein ganzes Volk gerichtete Waffe. Der Tod, der keine Beruhigung bringt. Der Tod von Anfang an.

Von Aïn Houala kannte ich nur meine lebhafte Vorstellung und die Warnungen meiner Mutter:

»Geh niemals nach Aïn Houala! Geh niemals nach Aïn Houala! Es ist zu abgelegen. Du wirst nie wieder zurückfinden. Du wirst nicht mehr zu deinem Leben zurückfinden. Geh niemals dorthin. Niemals. Hörst du? Hörst du?« 

Ich hörte auf sie, auf meine Mutter. Ich berücksichtigte sie, diese Warnung.

Bis zum heutigen Tag mit Khalid im Wald.

 

Wir waren noch immer nackt. Es war bald vier Uhr nachmittags. Der Muezzin rief in der Ferne die frommen Muslime zum Gebet.

Ich öffnete als Erster die Augen.

Ich war nicht Khalid. Ich konnte nicht Khalid sein. Ich konnte nicht in eine andere Haut schlüpfen. Es war unmöglich.

Ich streckte Khalid die Hand entgegen. Ich berührte seine Nase, seine hübsche Nase, und ich fing an zu sprechen. Über Aïn Houala in ein paar Metern Entfernung von uns. Über die Felswand. Über den Abgrund. Über den Fluss irgendwo hinter dem Wald. Über die Müllkippe der Amerikaner, die eines Tages zu entdecken ich mir erträumte. Eine weitere Legende für die Armen.

Khalid war noch in mir, in meiner Haut.

Ich redete. Ich redete immer weiter.

»Mach die Augen nicht auf, mach die Augen nicht auf. Nimm zuerst deinen Vornamen wieder zurück! Nimm ihn zurück!«

Er überraschte mich mit seiner Antwort.

»Ich lasse die Augen zu, schon gut, schon gut. Aber bevor ich meinen Vornamen wieder annehme, Khalid, möchte ich sagen, wie ich die Welt von dir ausgehend, von deinem Vornamen aus sehe.«

Ich hörte ihm zu.

»Ich sehe deine Mutter. Ich bin du. Ich bin mit ihr im Hamam. Im Hamam des Viertels. Er ist leer. Es ist noch früh. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Hat sie vergessen aufzugehen?

Wir warten alle beide im heißesten Raum, dort, wo das Becken für das kochend heiße Wasser thront. Aber es gibt kein heißes Wasser. Es gibt kein heißes Wasser mehr.

Sie sagt: ›Omar, geh mal nachsehen, warum kein heißes Wasser mehr kommt. Frag am Eingang nach.‹

Ich sage: ›Ich will nicht von dir weggehen, Mama. Sonst werde ich kein zweites Mal in den Hamam hereingelassen. Ich will bei dir bleiben. Es ist das letzte Mal. Ich bin bei dir bis zum Schluss.‹

Sie sagt: ›Es ist kalt in diesem Hamam. Wir brauchen heißes, sehr heißes Wasser. Hätten wir doch mehr Dampf. Das Wasserbecken ist leer.‹

Ich sage: ›Das ist nicht schlimm. Ich werde mich an dich schmiegen. Ich werde dich wärmen. Du wirst mich wärmen. Wir werden füreinander da sein. Ich für dich. Du für mich.‹

Sie schreit: ›Wir werden sicher krank. Die Kälte ist nicht gut, das weißt du. Sie ist die Wurzel allen Übels. Hast du das vergessen?‹

Mein Kopf liegt in ihrem Schoß.

Ich antworte sanft: ›Ich habe nichts vergessen. Aber ich will nicht von hier verjagt, nicht ausgeschlossen werden. Das ist unsere Welt. Und ausnahmsweise sind wir allein. Nur du und ich.‹

Sie behält meinen Kopf auf den Schenkeln, doch sie kreischt erneut: ›Du bist wahnsinnig. Du bist nicht mehr in dem Alter, um mit mir in den Hamam zu kommen. Du bist groß, du hast seit Langem die Grenze überschritten. Du bist kein Kind mehr.‹

Ich schreie nun meinerseits: ›Was bin ich dann? Wer? Ein Mann? Nein. Nein.‹

Sie steht auf. Mein Kopf schlägt auf dem Boden auf. Ich habe Schmerzen. Ich bin verletzt. Blut rinnt. Es ist keine Sonne zu sehen.

Meine Mutter steht vor mir. Ich habe furchtbare Schmerzen. Ich blicke sie an, ich klammere mich an ihr fest. An ihrem nackten Körper.

Ich leide. Ich habe keine Angst.

Sie trifft Anstalten, wegzugehen. Mich im Stich zu lassen.

Ich brülle: ›Mama. Das Blut . . . Das Blut . . .‹

Sie dreht sich um. Wirft mir einen strengen Blick zu. Sie bringt mich noch um.

Sie verlässt den heißesten Raum. Sie hat sich entfernt. Ich höre sie mit einer anderen Stimme lachend sagen: ›Ich bin nicht deine Mutter. Ich bin Hadda. Mal Wahrsagerin, mal Hexe. Ich bin nicht deine Mutter. Ich habe weder ihre Haut noch ihren Atem. Und komme von woanders her. Ich gehe. Ich fliehe. Ich auch.‹

Ich sehe deine Mutter. Sie heißt Hadda.

Mein Blut fließt noch immer. Ich friere. Es gibt noch immer kein heißes Wasser. Ich bin im Hamam für Frauen. Ich lächle. Wem lächle ich zu? Dir? Mir?

Ich sehe dich. Du bist nicht ich. Du bist nicht tot. Im Dunkel des Hamams rieche ich deinen Geruch. Er nähert sich. Er kommt. Du hast dich seit mehreren Tagen nicht gewaschen. Eine Woche? Zwei Wochen? Was soll's. Dein herber Geruch ist nicht unangenehm. Du kommst immer näher. Ich warte auf dich. Ich stehe auf. Ich mache die Augen auf: Du bist es! Du ähnelst mir nicht. Aber ich liebe dich. Ich finde zurück zu mir. Mein Vorname von früher ist wieder meiner, nur auf andere Art: Du hast in ihm deine Spur hinterlassen, deine Atmung, deine Herkunft. Das überrascht mich. Das stört mich nicht. Ich nehme ihn in mir auf.

In diesem Hamam, in den wir sonst nie gehen, wäschst du mich. Du schrubbst mich. Du reinigst mich, verwandelst mich. Du kümmerst dich um mich. Du nimmst dich meiner an. Du stützt mich.

Das heiße Wasser kommt. Der Dampf ist da. Die Schwaden sind da.

Du bist da, Omar.

Ich schließe die Augen.

Ich murmle: ›Verzeih! Verzeih! Ich habe dich enttäuscht. Ich habe dich verraten. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich bald vom König empfangen werde. Verzeih . . . Verzeih . . .

Hast du gehört?‹«

 

Khalid war wieder Khalid. Nach und nach. Ohne die Augen zu öffnen. Nackt wie ich. Nicht wie ich splitternackt.

Und da fiel er mir auf, da wurde er mir wirklich klar: der Unterschied zwischen uns. Der Unterschied, selbst in unserer Nacktheit. Der in unsere Haut eingeschriebene Unterschied.

Khalids Haut war natürlich schöner. Und natürlich weiß. Zart, das wusste ich. Woher kam sie, diese Haut? Von wel cher Reise? Aus welchem Teil der Welt? Inwieweit war sie marokkanisch, muslimisch? Liebte die Sonne sie? Wo war ihr Ursprung?

Ich schlug als Erster die Augen auf. Gelassen, erleichtert, zu mir zurückzufinden. Eine Zeit lang bestaunte ich die Welt jenseits der Straße, den dunklen Wald, dahinter die noch kräftige Sonne, die Stille in der Ferne, nachdem der Festzug von Hassan II. vorüber war, Khalid nackt, ich nackt, irgendwo in der Nähe der Felswand.

Ich sagte: »Khalid, Khalid, komm zurück, komm zurück. Die Welt ist glücklich!«

Glücklich? Dachte ich das wirklich?

Er öffnete das rechte Auge. Dann das linke Auge. Und er antwortete: »Bin ich es? Khalid?«

Ich beruhigte ihn: »Ja, ja, du, Khalid.«

Er hatte Angst: »Ganz und gar ich?«

Ich konnte diese Frage nicht an seiner Stelle beantworten. Aber wenigstens beruhigte ich ihn: »Ich kann es bezeugen. Ja. Du bist es. Immer mehr du.«

Da lächelte er: »Ich bin ich . . . aber in mir noch mit . . . einem Nachgeschmack von dir.«

Dieses Lächeln war neu. Ich hatte Khalid zuvor noch nie so lächeln sehen.

Dieses Lächeln stand ihm richtig gut, es gehörte ihm jedoch nicht. War es meines?

Khalid war stärker behaart als ich, vor allem unter den Armen und auf den Beinen.

Er begann als Erster. Ich gab ihm die kleine Schere und befahl ihm: »Schneide dir ein paar Härchen ab, die du auf dem Oberkörper, auf den Armen, den Beinen, unter der Achsel, rings um das Geschlecht, zwischen den Pobacken hast. Und ein paar Haare. Eine oder zwei Wimpern. Vergiss keinen Teil deines Körpers. Sei gewissenhaft. Lache nicht. Du musst daran glauben. Darauf hat Bouhaydoura besonders bestanden. Kein Spott. Keine unzüchtigen Worte. Sonst stellt sich der Schutz nicht ein. Die Heiligen und die Dschinns sind anspruchsvoll. Wenn sie in Zorn geraten, sind sie entsetzlich. Sei gewissenhaft, Khalid. Geh da rüber. Bleibe nackt. Verstecke dich und vollziehe das Ritual. Ich werde hier auf dich warten, neben dem gefällten Baum, genauso nackt.«

Er entfernte sich. Ich sah ihm nach, wie er aus meinem Blickfeld verschwand. Der Wald nahm ihn mir für kurze Zeit weg.

Bouhaydoura hatte mir geraten, dieses Ritual allein zu vollziehen.

Normalerweise sind es die Mütter, die sich für ihre Söhne darum kümmern.

»Aus der Entfernung werde ich deine Mutter sein, wie deine Mutter. Du wirst genau befolgen, was ich dich übermorgen, Freitag, am Nachmittag, nach dem Al-Asr-Gebet, zu tun geheißen habe. Sei pünktlich. Vergiss nicht, nach dem Gebet oder, besser noch, sobald der Aufruf zum Gebet beendet ist. Aus der Entfernung werde ich das Nötige tun. Ich werde die Stimme und die Persönlichkeit deiner Mutter annehmen. Für dich. Ich werde deinen Vornamen dreimal sagen. Nicht öfter. Omar. Omar. Omar. Das wird die anderen zu dir führen, die Dschinns, die unsichtbaren Sinne, die Gebieter, unsere Gebieter. Sie werden sich über dich neigen, dich in deiner völligen Nacktheit betrachten und dir helfen, uneingeschränkten Schutz zu erhalten, einen Schutz, der ein Leben lang andauert. Kein einziger Fluch, nicht einmal der eines Juden, wird dich treffen, dir schaden, dich zerstören, deine Grenzen ausradieren können. Schneide dir Härchen ab. Lege sie in ein kleines weißes Taschentuch und verscharre sie, nach wie vor nackt, vergiss das nicht, mit fest geschlossenen Augen, an einem geheimen Ort. Selbst unter der Erde werden deine Härchen nie absterben, sie werden noch länger, sie wachsen noch weiter und begleiten dich stets, um dich bis zu deinem Tod zu beschützen. Hast du verstanden? Soll ich dir die notwendigen Schritte noch einmal sagen? Magst du Wälder?«

Ich mag einen bestimmten Wald.

Den, in dem wir uns befanden, Khalid und ich. Diesen Winkel des Waldes, in dem wir uns neu erfanden. Diesen auf dem Boden liegenden, noch immer lebenden Baum, neben dem ich auf meinen Freund wartete.

Es wurde immer heißer. Doch die Blätter der Bäume milderten die Hitze. Das Säuseln der Blätter auf diesen riesenhaften, schönen und zugleich unheimlichen Bäumen leistete mir Gesellschaft. Ich war besänftigt. Indem ich mich auf Bouhaydoura besann, fand ich zurück zu mir. Ich sagte die Worte, die mir dieser Mann, dieser Prophet beigebracht hatte. Ich sagte sie für Khalid in mir auf. Wusste Bouhaydoura das? Billigte er diesen Regelverstoß? Ich hoffte es. Ich war mir sicher. Das Geheimnis, das die ses Ritual erforderte, würde gewahrt werden: Das war die Hauptsache. Zu Khalid hatte ich nicht viel gesagt. Er hatte freudig akzeptiert, mich in dieser Mission zu begleiten. Er wusste nur das Wenige, das ich ihm preisgegeben hatte. »Tu es. Das geschieht zu deinem Wohl. Um ohne den Schmerz der anderen zu leben. Tu es für mich. Ich werde es für dich tun.«

Bouhaydoura stand auf meiner Seite. Er würde Verständnis haben. Ich sagte weiterhin seine Worte.

Ich wartete. In einer anderen Welt.

Am Anfang einer anderen Welt.

Khalid: Omar.

Omar: Khalid.

Von Anfang an neu beginnen: die Geschichte, die Liebe, die Bindung, das Blut.

Gott hatte einen Namen: Bouhaydoura.

Das Paradies war auf einmal in der Sphäre des Möglichen.

Ich hatte die Augen noch immer geschlossen.

 

Ich verscharrte seine Härchen. Er verscharrte meine Härchen. Er sah mir dabei zu. Ich sah ihm dabei zu.

Wir setzten unsere Reise im Wald von Aïn Houala fort. Ohne Ziel. Ohne Richtung. Von den Bäumen und den Geistern beschützt. Von der restlichen Welt abgeschirmt. Ein wieder vereintes Paar auf der Flucht.

Ich war Khalid nicht mehr böse. Ich hatte seine Lüge, seinen Verrat vergessen. Unsere Unterschiede. Die Dunkelheit des Waldes und das eben von uns ausgeführte Ritual entfernten uns weit von Groll und Streitereien. In diesem Moment waren Hassan II., die Angst und der Argwohn verschwunden.

Khalid war kein Reicher mehr.

Ich war kein Armer mehr.

Wir waren alle beide anderswo, verbunden im gleichen Gefühl. Im Glück? Auf dem gleichen Teppich aus grünen und gelben Gräsern. Wir bestaunten den Himmel. Zwei Jungs in Unterhosen, die sich in Richtung ihres Schicksals aufmachten.

Eine Felswand erwartete sie.

»Omar?«
»Ja.«

»Mir gefällt . . . Mir gefällt deine rote Unterhose.«

»Und mir gefällt deine blaue Unterhose.«

»Wie wär's, wenn wir unsere Unterhosen tauschen würden?«

»Deine ist eine Reichenunterhose.«

»Na und?«

»Zu sauber.«

»Ist deine nicht sauber?«

»Weiß ich nicht. Weiß ich nicht mehr. Meine Mutter ist schon lange weg.«

»Das macht nichts, Omar.«

»Meine Unterhose hat Löcher.«

»Was soll's.«

»Aber . . .«

»Aber was, Omar?«

»Bekomme ich sie für immer? Ich will deine Unterhose für immer behalten.«

»Du kannst sie für immer behalten. Tauschen wir also.« 

»Mit deiner Unterhose werde ich Khalid der Blaue sein.« 

»Und ich Omar der Rote.«

»Los, los, schnell, schnell, zieh deine Unterhose aus. Voller Löcher . . .«

»Schon wieder Spott.«

»Ich verspotte dich nicht. Ich habe nichts gegen löchrige Unterhosen.«

»Hör auf. Hör auf . . .«

»Ganz ehrlich, mir gefällt deine Unterhose. Sie ist löchrig und ein bisschen . . .«

»Hör auf, gleich werde ich schüchtern wegen dir.«

»Omar, schüchtern? Mach keine Witze!«

»Du hast recht. Die Zeit der Schüchternheit ist vorbei. Jetzt ist Krieg.«

»Krieg der Unterhosen.«

»Blau gegen Rot.«

»Du meinst: die löchrige gegen die saubere Unterhose.« 

»Ich bringe dich um, Khalid.«

»Zieh zuerst deine Unterhose aus. Sie gehört schon längst mir.«

»Nein.«

»Wird's bald, stell dich nicht an wie ein Kind.«

»Nein.«

»Und auch nicht wie ein kleines Mädchen.«

»Nein ist nein.«

»Omar!«

»Nein!«

»Stell dir vor, ich weiß alles über dich.«

»Nein. Ich bin beleidigt.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Mir bleibt nur eine Lösung, damit du dich nicht so zierst. Ich opfere mich. Jawohl . . . Jawohl . . . Schau mal. Sieh mich an. Ich werde als Erster die Unterhose ausziehen. Schau mal.«

»Ich schaue ja. Mach weiter.«

»Hier, nimm sie. Jetzt bist du dran.«

»Sieh mich an.«

»Ich bin mit dir zusammen.«

Unterhalb der Felswand befand sich die Gago-Fabrik, die rote Ziegelsteine herstellte. Es war eine Fabrik unter freiem Himmel. Alle Maschinen, gigantisch, ungeheuer, waren gut sichtbar, defekt und verrostet. Vergessen. Manche dienten Störchen als Nester. Andere lagen zertrümmert am Boden. Gago, wo einer meiner Onkel eine Zeitlang gearbeitet hatte, sah von oben aus wie ein Schlachtfeld. Ein geheimer Krieg hatte hier stattgefunden, auf diesem Gelände, das am Fuße der Felswand begann und etwas weiter am Ufer des Bou-Regreg-Flusses endete. Etliche unbekannte Tote ruhten sicherlich noch hier, unter dieser Erde, doch ohne Grab. Sie waren gefoltert worden. Man hatte sie jeglichen Lichtes beraubt. Sie sich selbst beraubt. Auf kleiner Flamme gemartert.

Wer waren sie? Helden? Auf ewig vergessene Helden? Wie hießen sie? Welche Verbrechen hatten sie begangen? Gegen wen wollten sie sich auflehnen? Gegen die offiziellen Machthaber? Gegen den Vater? Gegen Hassan II.? Gegen die Geschichte?

Hoch über dieser Stille, über der Welt, über zwei verfeindeten Städten, Rabat und Salé, und ein paar rätselhaften Ruinen, hingen Khalid und ich, jeder für sich, unseren Träumen nach. Der Mamora-Wald lag nun direkt hinter uns. Wir kehrten zur Zivilisation zurück. Nach einer gewissen Zeit war ich es, der das Wort ergriff, um Khalid wieder zu mir zurückzuholen, zu uns beiden in Unterhosen, der eine jeweils in der Unterhose des anderen. Ich vertraute ihm meine zugleich morbide und realistische Vision an. Einen weiteren Alptraum. Am helllichten Tag.  

»Gehen wir weg von hier!«

»Man könnte meinen, du hättest Angst, Omar.«

»Diese Fabrik ist ein Friedhof. Ich spüre es. Ich sehe es. Ich bin mir sicher.«

»Ich sehe kein einziges Grab.«

»Ich schon.«

»Im Ernst?«

»Unter den verrosteten Maschinen sind Tote. Tote aus längst vergangenen Zeiten. Hingeschlachtete Menschen. Ein Gemetzel. Unschuldige Tote.«

»Aus unserem Jahrhundert? Aus einem anderen Jahrhundert?«

»Mein Vater . . . Mein Vater ist unter ihnen. Er trägt die weiße Dschellaba seines Hochzeitstages. Doch meine Mutter ist nicht bei ihm.«

»Ist sie nicht tot?«

»Sie ist tot. Sie ist tot. Sie liegt auf einem anderen Friedhof begraben. Ich sehe sie nicht. Ich will nicht über sie reden. Ich verleugne sie. Ich enterbe sie. Ich bespucke sie.«

»Sie ist deine Mutter. Übertreibe mal nicht.«

»Sie ist nicht mehr meine Mutter. Sie ist weggegangen. Sie ist nicht mehr meine Mutter.«

»Gestern sagtest du, du würdest sie verstehen, du hast sie verteidigt. Warum hast du es dir anders überlegt?«

»Ich bin nicht mehr ihr Sohn. Ich bin es nicht mehr. Für mich ist sie gestorben. Ich sehe ihr Grab nicht. Das meines Vaters, unsichtbar, verborgen, ist hier, in den Trümmern der Gago-Fabrik.«

»Wann ist dein Vater gestorben?«

»Ich weiß nicht. Diese Dinge sind mir nicht bewusst. Ich sehe ihn. Er ist ein Leichnam, aber es ist, als wäre er noch am Leben. Er atmet nicht. Er verwest nicht. Er riecht gut.«

»Ein Heiliger?«

»Ein Märtyrer, mein Vater? Ich sehe seinen Leidensweg. Er ist unterwegs. Er läuft. Dabei schlurft er schwerfällig. Er trägt noch immer die Dschellaba seiner Hochzeit. In der linken Hand hat er eine Flasche mit billigem Rotwein. Und in der rechten Hand ein Päckchen La-Marquise-Zigaretten. Er hält es gut fest, er wird es nie loslassen. Er läuft mühsam. Er ist allein. Keine Menschenmenge, nur sein Hassgeschrei. Er protestiert. Er begehrt auf. Er ist endlich er selbst. Er läuft. Keine andere Wahl. Er läuft. Am Ende des Weges eine gigantische Tür, bereits sperrangelweit offen. Die Flammen, die Geräusche des geheimen Kriegs. Das Gemetzel. Das Gemetzel, von dem ich eben sprach. Sie richten die Leute hin. Junge. Alte. Ganz Marokko. Noch offene Massengräber. Die Heere des Verbrechens sind bei der Arbeit. Sie brauchen Blut.«

»Und . . . dann . . . Sprich weiter, Omar, sprich weiter.«

»Es ist Schluss. Es fließt immer mehr Blut. Hier ist Schluss. Hier, wo wir sind, du und ich. An der Felswand. Am Abgrund. Er wird springen, mein Vater.«

»Wird er kämpfen?«

»Er wird springen.«

»Bringt er sich um? Er kann sich nicht umbringen. Denn so wird er nicht zu einem Heiligen.«

»Sie verfolgen ihn. Er wird springen. Er wird springen. Er springt. Er springt. Der Sturz ist unendlich lang. Unendlich lang. Er wird auf den Boden prallen.«

»Wende den Blick ab, wende den Blick ab. Sieh ihn nicht an. Nicht mehr.«

»Kann ich nicht. Kann ich nicht.«

»Komm zurück, komm zurück zu mir, Omar.«

»Kann ich nicht, kann ich nicht.«

»Doch, doch, du kannst. Komm zurück zu mir, zu mir, Khalid, Khalid, deinem Freund.«

»Er hat mich mitgerissen. Ich hefte mich an seine Dschellaba, ich klammere mich an ihm fest. Wir fallen zusammen. Er ist mein Vater. Wir müssen zusammenbleiben. Zusammen. Leb wohl. Leb wohl. Leb wohl, Khalid. Das ist das Ende. Ich bin am Ende. Sie haben gewonnen.«

»Omar . . . Omar . . .«

»Leb wohl . . . leb wohl . . .«

»Komm zurück zu mir, komm zurück, komm zurück . . . Auch ich brauche dich . . . Komm zurück . . . Omar . . . Omar . . .«

»Das ist das Ende.«

»Mach die Augen auf. Mach die Augen auf.«

»Das ist das Ende.«

»Omar . . . Omar . . . OMAR . . .«

»Das ist das Ende.«

Die Brücke war leer.
Ich weiß nicht mehr, wie wir dort auf dieser Brücke, die ich so sehr mochte, gelandet waren. Die gebrochene Brücke. Die verbotene Brücke. Die Brücke der Säufer und der abgebrannten Liebespaare.

Wir waren noch immer in Unterhosen. Wir waren barfüßig. Alle restlichen Sachen in unseren Schultaschen.

Die Sonne blickte uns von der anderen Flussseite aus an. Ihr Licht hatte sich verändert, ein wenig verhangen, aber nach wie vor grell, wenn nicht noch greller. Der Tag neigte sich dem Ende zu, doch es war noch heiß. Khalid und ich waren halbnackt und trieften vor Schweiß. Die gebrochene Brücke bot keinen Schutz vor dieser unerbittlichen Sonne.

Wir waren am Ende der Brücke, dort, wo sie aufhörte, dort, wo man sie zertrümmert hatte.

Wir waren in der Mitte des Flusses. Im wahrsten Sinn des Wortes zwischen zwei Welten, zwei Städten, zwei Hügeln. Zwei Kriegen. Zwei Zivilisationen. Zwei Marokkos.

Zwei in der Luft schwebende Körper, die bald vom Abgrund, vom Wasser aufgesogen werden würden.

Wir waren wieder getrennt, in der Stille. Wir betrachteten Rabat genau gegenüber. Die ganze Stadt bot sich stolz unseren Blicken dar. Die Oudaïa-Kasbah. Der Hassanturm, in dem sich das Grab von König Mohammed V. befindet. Das überdimensionierte Gebäude der marokkanischen Post. Die Glockentürme der Kathedrale. Das Viertel der Ministerien. Die endlos lange Mauer von Touarga, die den Königspalast gebührend verbarg. Die Ruinen von Chellah, diese erhabenen Ruinen, wo man einst zahlreiche Könige unterschiedlicher Dynastien begraben hatte. Ich betrachtete sie mit einem Stich Freude im Herzen. Ich liebte sie, diese Ruinen, ohne sie je besichtigt zu haben. Der Arabischlehrer, der ein Faible für mich hatte, hatte mir eines Tages gesagt, Chellah sei das schönste und stimmungsvollste Bauwerk Marokkos. Man konnte dort die Überreste mehrerer Zivilisationen bestaunen: der Phönizier, der Römer, der Muslime. Ihre Gärten waren geheimnisvoll, dunkel und unvergesslich. Ihre Heiligen, vier an der Zahl, so gut wie unbekannt, waren mächtig, jeder auf seine Art. Und das in den Fels gehauene Bassin mit den heiligen und dämonischen Aalen war laut meinem Lehrer der eigentliche Ursprung aller Kräfte, die Rabat und Salé beherrschten.

Der Arabischlehrer schwärmte für die Ruinen im Allgemeinen und für die von Chellah im Besonderen. Er sagte zu mir, er wolle der Erste sein, der sie mir zeigt, er wolle seine Leidenschaft weitergeben, mich auf andere Art und Weise in die Geschichte einweihen, mich in eine geheime, von der Sonne vergessene Welt einführen.

Ich hasste Rabat. Ich hatte Angst vor Rabat. Ich verfluchte Rabat.

Ich liebte vor allem Chellah.

Chellah war nicht Rabat. Chellah rächte mich an Rabat, das seit Jahrhunderten die Kokette, die Stolze, die Versnobte mimte. Chellah distanzierte sich von Rabat. Seine Ruinen befanden sich außerhalb der Hauptstadt, doch sie lagen einem Eingang von Touarga gegenüber, dessen Mauern den Königspalast verbargen, in dem in der folgenden Woche Khalid empfangen werden sollte.

Ich wandte mich ihm zu. Meinem Freund Khalid. Seine Augen waren geschlossen. Sein Körper war steif, kalt, los gelöst von meinem. Sein Körper war erneut hochmütig geworden. Egoistisch. Er war wieder in seiner ersten Welt angelangt.

Und ich begriff. Khalid war mein Feind. Ich war sein Feind. So stand es geschrieben. Nichts konnte diesen tödlichen Ausgang mehr ändern. Auch ich schloss die Augen. Um mich für den letzten Kampf besser zu rüsten. Die letzte Runde. Das letzte Kapitel. Einer gegen den anderen. Was folgen sollte, war berechtigt. Logisch. So ist das Gesetz, es gibt immer nur einen Gewinner. Was folgen sollte, war Liebe. Verdammte Liebe, ohne Gott und ohne Mutter, um sie zu beschützen.

Es war ein Krieg. Ohne Worte. Außerhalb der Welt. Am Anfang von allem. Jenseits von mir. Jenseits von Khalid. In Gestalt von uns beiden begann der ursprüngliche, unschuldige, wilde, freie Kampf von neuem.

Die gebrochene Brücke war unser Theater. Ohne Zuschauer. Ohne Regisseur. Das Böse hatte wieder von uns Besitz ergriffen. Jeder empfing es mit geschlossenen Augen auf seine Weise.

Ich stieß ihn hinab. Er selbst verlangte es von mir.

Er betrachtete den Königspalast und befahl mir unaufhörlich: »Stoß mich runter, stoß mich runter bis zum Palast des Königs. Stoß mich runter. Ich will fliegen. Stoß mich. Stoß mich.«

Ich hielt mich zurück. Ich tat so, als ob ich mich zurückhielte. Ich zögerte. Ich erweckte bei ihm den Eindruck, ich würde zögern. Ich nahm Anlauf und stieß ihn hinab. Mit voller Wucht. Indem ich meine ganze Wut bündelte.

Ist es wirklich so gewesen?

Dieses Mal hatte er das Schweigen gebrochen.

Von den ersten Worten an hatte ich begriffen, dass alles, was wir gerade erst intensiv zusammen erlebt hatten, dieser Austausch, dieses Verschmelzen, diese Verwandlung, dieser Pakt, dieser dunkle und in uns auf ewig verwunschene Wald, die von Dschinns bewohnten Bäume, die für uns und von uns beiden neu erfundene Welt, nun nicht mehr zählte.

Er schlug die Augen auf. Er war bereits im Palast. Ich war nicht mit ihm dort. Weder in seinen Gedanken noch in seinem Herzen. Wie tags zuvor in der Schule, als der Direktor uns angekündigt hatte, dass Khalid vom König empfangen werden würde, war ich vergessen. Ich existierte nicht mehr.

Er fragte mich Folgendes: »Wie muss ich nächste Woche dem König die Hände küssen?«

Ohne nachzudenken, antwortete ich: »Mach es wie in Der Pate . . . dem Film.«

Er wunderte sich, dass ich den Film kannte. Niedergeschlagen frischte ich sein Gedächtnis auf. »Du hast ihn mir doch gezeigt, letztes Jahr, zu Hause in deinem Zimmer. Dein Vater hatte dir aus Paris die Kassette mitgebracht. Weißt du nicht mehr?«

Er wusste es nicht mehr. Er war noch immer mit den Gedanken woanders, auf der anderen Seite des Flusses, inmitten von bedeutenden Leuten, von Reichen, die nie einen Gedanken an Geld verschwendeten. Seine Augen sahen Hassan II. Meine waren ins Dunkel gerichtet.

Hingerissen und besessen setzte ich meine Provokation fort.

»Du solltest meinem Rat folgen, Khalid. Der Pate ist ein großer Film, das hast du zu mir gesagt. Die Hauptfigur, die am Schluss stirbt, heißt . . . Ich habe ihren Namen vergessen.«

»Don Corleone.«

»Er ist toll, nicht wahr? Nächste Woche solltest du die Hand von Hassan II. küssen, wie Don Corleone im Paten die Hand geküsst wird. Das ist origineller. Und damit auch schicker. Der König wird dir mehr Beachtung schenken.«

»Meinst du?«

»Ganz sicher!«

»Besser, ich verhalte mich wie alle anderen.«

»Hast du Angst?«

»Ähm . . . Habe ich Angst?«

»Ich glaube, du hast Angst.«

»Hassan II. muss man ernst nehmen. Ich will nicht, dass es wie in dem Traum läuft, den du mir gestern erzählt hast.«

»Das war kein Traum. Das war ein Alptraum.«

»Ich will diesen Alptraum nicht erleben.«

»Du hast nichts zu befürchten. Du gehörst ja schon zur Familie.«

»Zu welcher Familie?«

»Man könnte meinen, deine Intelligenz sei einfach weg, Khalid. Bis nächste Woche ist noch Zeit. Du bist noch nicht beim König. Du bist mit mir zusammen. Mit mir, Omar. Hier auf der gebrochenen Brücke. Komm zurück zu mir.«

»Aber ich muss mich vorbereiten, proben. Hassan II. ist mehr als ernst zu nehmen, er ist heilig.«

»Also gut. Einverstanden.«

»Womit?«

»Mit dir zu proben.«

»Wirklich?«

»Ich spiele Don Corleone. Du küsst mir die Hände.«

»Und ich?«

»Du spielst dich selbst.«

 

Ich stieß ihn hinab.

Er stürzte in die Tiefe. Der Fluss Bou Regreg empfing ihn, umschlang ihn, liebte ihn über alle Maßen.

Ich höre und sehe diesen Augenblick noch immer. Khalids Körper, der mit dem Wasser des Flusses zusammentrifft. Eine Hochzeit. Ein gewaltiges schrilles Juchzen, das eine unbekannte, im Himmel versteckte Frau ausstößt. Ein sanftes »Plaaaatsch«.

Ich stieß ihn hinab. Ich muss es noch einmal sagen. Er selbst verlangte es von mir.

Er war mit sich selbst zufrieden. Erleichtert. Glücklich. Wir hatten den königlichen Handkuss gut einstudiert. Ich hatte Don Corleones Rolle gut gespielt.

Khalid war überglücklich. Euphorisch. Er befand sich noch immer im Palast von Rabat, er schlenderte durch seine endlosen Gänge auf der Suche nach dem Blick des Königs. Er war endgültig getrennt von mir.

Ich war nicht ich. Ich war noch in der Haut des sizilianischen Paten in New York. Ich hatte die Macht. Der Name des Schauspielers, der Don Corleone spielte, fiel mir wieder ein. Marlon Brando.

Ich war Marlon Brando. Ein alter Mann, der Stil hatte und grausam war. Ein unwiderstehlicher, großzügiger, erbarmungsloser, blutrünstiger alter Mann.

Khalid sah mich nicht. Er erkannte Don Corleone, Marlon Brando in mir.

Khalid war hingerissen, voller Dankbarkeit, voller Begierde. Er schritt auf mich zu und küsste mich. Auf den Mund. Mit der Zunge. Lange. Mit geschlossenen Augen nahm ich seinen Mund, seine Lippen in mich auf. Und traurig, verbittert spielte ich brutal mit seiner Zunge.

Er protestierte nicht.

 

Ich stieß ihn hinab. Ich schenkte ihm meine Flügel. Meine Kraft. Meine Wut. Meine Liebe und meine Eifersucht.

Ich trat so weit wie möglich zurück. Khalid befand sich am äußersten Ende der Brücke. In der Flussmitte. Er betrachtete den Palast.

Fast hätte ich verzichtet. Ihn nicht hinabstoßen. Ihn nicht zerstören. Uns nicht trennen. Fast wäre ich wieder vernünftig, freundlich, zärtlich geworden. Schwach. Fast, jawohl.

Ich wartete. Ich sagte mir: Wenn er sich umdreht, gehe ich nicht ganz vor, lasse ich ihn nicht springen. Wenn er sich umdreht. Wenn er sich meiner besinnt und sich zu mir, für mich umdreht, rette ich ihn, werde ich wieder zu einem Engel, nur zu einem kleinen Teufel, dem kleinen Armen. Wenn er sich umdreht, bleibt die Welt für immer die Welt, es wird keine Revolution geben, Khalid und ich, wir werden dieselben Freunde sein wie zuvor, mit denselben Bedingungen, auf zwei Wegen, in ein und derselben Sternennacht. Wenn er sich umdreht . . . Wenn er sich umdreht . . . Wenn er sich zu mir umdreht . . . Dreh dich um, Khalid, dreh dich um. Dreh dich um. Rette uns. Dreh dich um. Ich flehe dich an. Dreh dich um. Khalid. Khalid. Khalid . . .

Ich wartete eine Minute. Vielleicht zwei. Ich war bereit, noch länger zu warten.

Er ließ mir keine andere Wahl. Er drehte sich nicht um. Er rief lediglich ein einziges Mal, ohne meinen Vornamen zu sagen: »Ich bin bereit.«

Da ich mich nicht rührte, rief er ein zweites Mal, immer noch ohne sich umzudrehen: »Los . . . Los . . . Stoß mich runter . . . Stoß mich runter . . . STOSS MICH . . . STOSS MICH . . .«

Wie oft hatte ich Khalid von dieser gebrochenen Brücke erzählt, wo ich im Sommer ohne Erlaubnis meiner Eltern mit manchen Kumpeln aus unserem Viertel ein, zwei Stunden zum Schwimmen herkam. Wie oft hatte ich ihm von den spektakulären Kopfsprüngen erzählt, denen ich von dieser verbotenen, gefährlichen, abgeschiedenen Stelle hinter dem Wald zugesehen hatte. Ich hatte ihm meine Abenteuer auf und unter dieser Brücke erzählt. Ich hatte erreicht, dass er sie liebte. Lediglich durch meine kurzen, ein wenig zu sehr ausgeschmückten Erzählungen war es mir gelungen, diese Brücke für ihn zur Legende zu machen. Ein Symbol der Freiheit. Das letzte Symbol der Freiheit, hatte er mehrmals gesagt. Wie oft war ich in seinem Zimmer, abgeschottet von der restlichen Welt, in Begeisterung, in Verzückung auf diese Brücke, auf diese Legende zurückgekommen. Er wollte selbstverständlich auch eines Tages hin. Um meine Lügen zu überprüfen, wie er sagte. Ich hatte ihm versprochen, ihn in den nächsten Sommerferien mitzunehmen.

Es wird keine nächsten Sommerferien geben. Alles hat hier sein Ende.

Er hatte sich die Seele aus dem Leib geschrien.

STOSS MICH!

Er wollte sich ohne mich in meinen Fluss stürzen. Nicht, dass er uns, meine Kumpel aus dem Viertel und mich, imitieren wollte. Er wollte eher hinabstürzen, um in den Himmel zu fliegen, auf dem Wasser zu gehen, auf den Hügeln von Rabat laufen, schnell laufen, die Mauer von Touarga hinter sich lassen, den königlichen Palast betreten, schnell, schnell König Hassan II. suchen, sich ihm zu Füßen werfen. Ihm die Hände küssen wie in Der Pate.

Ein doppelter Verrat.

Ich war nicht das Opfer von Khalid. Ich war sein Henker. Die Rache zu diesem Zeitpunkt, genau in diesem Augenblick großer und ewiger Einsamkeit, hatte einen Sinn.

Mit bloßen Füßen begann ich zu laufen, immer schneller zu laufen, auf der heißen gebrochenen Brücke, zum Ziel, zum Sieg. Meine Hände taten das Übrige. Berührten sanft den nackten, verschwitzten Rücken Khalids. Als dieser Lauf zu Ende war, brach aus meinem Körper eine phänomenale Kraft hervor, um mir dabei zu helfen, den Befehl auszuführen, den mir mein Freund unaufhörlich zurief. 

STOSS MICH!

Der bebende, glückliche Körper Khalids flog für einen lange anhaltenden, gedehnten Augenblick in den Himmel zwischen Salé und Rabat davon. Alsbald stürzte der egoistische und reiche Körper Khalids. Er schlug auf das Wasser auf. Mit einem gewaltigen »Plaaaatsch«.

Khalid überstand es nicht. Er tauchte unter. Schnell. Er sank ab. Im Nu. Er verschwand.

Der Fluss behielt ihn. Genau das wollte ich.

Zwecklos zu weinen.