Nach dem Selbstmord unserer Eltern waren wir zweieinhalb Monate in dem Turm eingesperrt, in dem Wahrzeichen unseres Vorortes Amras, das nur durch den großen, in südlicher Richtung hinauf an das Urgestein führenden Apfelgarten, vor Jahren noch ein Besitztum unseres Vaters, zugänglich ist.
Der unserem Onkel gehörende Turm ist uns in diesen zweieinhalb Monaten eine vor dem Zugriff der Menschen schützende, vor den Blicken der immer nur aus dem Bösen handelnden und begreifenden Welt bewahrende und verbergende Zuflucht gewesen.
Nur dem Einfluß unseres Onkels, des Bruders unserer Mutter, verdankten wir, daß wir, gegen die grobe Tiroler Gesundheitsvorschrift, die im Selbstmord Entdeckten, zu qualvollem Weiterleben Verurteilten und dadurch Entstellten betreffend, nicht in die Irrenanstalt hineindirigiert und nicht wie so viele das Schicksal der in ihr erst Zerrütteten und Zerschlagenen aus dem Oberinntal und vom Karwendel und aus den Brennerdörfern auf die mir bekannte entsetzliche Weise zu teilen hatten.
Unsere Familienverschwörung war von einem Imster Geschäftsmann und Gläubiger unseres Vaters zwei Stunden zu früh entdeckt und publik gemacht worden: wir waren, zum Unterschied von den Eltern, noch immer nicht tot gewesen …
… sofort und, wie unser Onkel uns nicht verschwiegen hat, völlig nackt, in zwei Roßdecken und in ein Hundsfell gewickelt, waren wir noch in der gleichen Nacht und in noch bewußtlosem Zustand, um den Gesundheitsbehörden zuvorzukommen, in einem von unserem Onkel geschickten schnellen Wagen aus dem Innsbrucker Vaterhause nach Amras und dadurch in Sicherheit, in den Hintergrund von Beschuldigung und Geschwätz und Verleumdung und Infamie gebracht worden … Wir hatten, wie unsere Eltern, unseren Selbstmord gewünscht und ihn untereinander abgesprochen … und am Dritten von einer Verschiebung, wie wir sie im Laufe des Winters öfter im letzten Augenblick und jedesmal wieder durch Einwände unserer Mutter zu akzeptieren gezwungen waren, überhaupt nichts mehr wissen wollen …
Hinter unseren Eltern zurückgeblieben, von ihnen allein gelassen, lagen wir, Walter und ich, in den uns von allen Seiten nur in Bruchstücken schamvoll beschriebenen, dadurch so dunkel gebliebenen Tagen kurz auf die Selbstmordnacht, schon von den ersten Augenblicken im Turm an, die ganze Zeit auf den wohl für uns in aller Eile frisch überzogenen Strohsäcken auf dem mittleren Boden des Turms, zuerst besinnungslos, späterhin schweigend und horchend und danach, oft den Atem anhaltend, vom Ende der ersten Woche an, immer nur auf und ab gehend, mit nichts als mit unserer völlig verfinsterten, hintergangenen noch nicht zwanzigjährigen jungen Natur beschäftigt … Der Turm war uns aus der Kindheit wie kein andres Tiroler Gebäude vertraut, kein Kerker … auf der oberen wie auf der unteren Treppe gehorchten wir ständig, tappend und frierend, in unseren aus den Himmelsrichtungen bodenlos impulsiv zerstörten Gedanken, unserem heillosen, wenn auch höhern Geschwisterstumpfsinn … Unsere Wachsamkeit drückte auf unser Gemüt und beschränkte unseren Verstand … Wir schauten nicht aus den Fenstern hinaus, wir hörten aber genug Geräusche, um Angst zu haben … Unsere Köpfe waren, streckten wir sie ins Freie, der Bösartigkeit der Föhnstürme ausgesetzt; in den Luftmassen konnten wir kaum mehr atmen … Es war Anfang März … Wir hörten viele Vögel und wußten nicht, was für Vögel … Das Sillwasser stürzte vor uns in die Tiefe und trennte uns lärmend von Innsbruck, der Vaterstadt, und dadurch von der uns so unerträglich gewordenen Welt … In den von unserem Onkel, noch während wir ohnmächtig, wahrscheinlich vollkommen weg und besinnungslos – tödlich gewesen waren, mit großem Bedacht ausgewählten, aus der Herrengasse nach Amras heraufgeschafften, uns beiden gehörenden Büchern und Schriften, meinen, Walter unverständlichen naturwissenschaftlichen, Walters mir unverständlichen musikalischen, blätternd, über die eigene und über die fremde, die allgemeine, uns wahnsinnig machende große Geschichte, sinnierend, über die Millionen von Schneestürmen von Entwicklungen – schon immer liebten wir, was uns schwer-, verabscheuten wir, was uns leichtfiel – immer tiefer in unsere tobenden Köpfe zurückgezogen, stopften wir unseren Turm mit Trauer aus.
Einen Brief des Meraner Psychiaters Hollhof, eines Freundes unseres Vaters, den wir schon drei Tage, nachdem wir im Turm gewesen waren, erhalten hatten, beantworteten wir wie folgt:
Geehrter Herr,
der Zeitpunkt, in welchem wir Ihnen etwas über die Umstände, die zum Tode unserer Eltern geführt haben, mitteilen können, wie Sie uns auffordern, Ihnen eine Beschreibung vor allem der Zeit zwischen dem Entschluß unserer Eltern (und uns) zum Selbstmord und der Ausführung ihres Selbstmords, was uns betrifft, über unsere ›Einübung in den Selbstmord‹, zu geben, ist noch nicht gekommen; wir wünschen im Augenblick nichts, als in Ruhe gelassen zu sein.
Für Ihre Anteilnahme unseren Dank.
K. M. W. M.
Einen zweiten Antwortbrief schickten wir am gleichen Tag noch nach Kufstein:
Sehr geehrte gnädige Frau, sämtliche Ansprüche Ihrerseits, die Geschäfte unseres Vaters betreffend, sind an unseren Onkel, den Bruder unserer Mutter, der Ihnen bekannt ist, zu stellen.
Hochachtungsvoll
K. M. W. M.
Ermuntert nur durch die Aufmerksamkeit unseres Onkels, der uns wöchentlich zweimal, jeden Dienstag und Samstag – öfter, an anderen Tagen, erlaubte es seine Wirtschaft nicht – aufsuchte, immer in guter Laune, schien uns, immer mit Zeitungen, Nachrichten, Neuigkeiten, die uns aber doch nur erschütterten, existierten wir plötzlich, allein auf unsere fürchterlichen, von jeher verletzten, wachsamen, ausdauerarmen Charaktere angewiesen, in einer sich immer mehr gegen uns verschwörenden, selbst unsere Geh- und Sitz- und Liege- und Stehfähigkeit, naturgemäß unsere Denk- wie auch Sprechfähigkeit, unsere allgemeine Vernunftfähigkeit irritierenden Finsternis des für uns nicht jahrhunderte-, sondern jahrtausendealten Turms.
Auch in ihm empfing Walter, wie schon sein ganzes Leben lang, regelmäßig die für ihn wichtigen, teuren Besuche des Internisten, eines in ganz Tirol berühmten und berüchtigten Epileptikerarztes, eines brutalen, übergesunden vierzigjährigen Mannes, der, wohl medizinisch durch frühen Eifer und spätere Schläue wie niemand gebildet, uns immer verhaßt gewesen, auch schon unsere Mutter behandelt hatte … Nachdem wir im Turm soviel wie ganz aus der Welt und von unseren Eltern und ihrer behutsamen Wirksamkeit plötzlich verlassen waren, hatte sich, wie in Schüben und Stufen durchschaubar, Walters Krankheit, eine ihn von Geburt an immer nur noch verdrießende, anfänglich nur sein Gemüt, aber später auch seinen Verstand immer gründlicher untergrabende, gegen ihn, wie es schien, mit logischer Grausamkeit heimtückisch wie auch offen vorgehende, noch heute vollkommen unerforschte, mit großer Geschwindigkeit periodisch gewaltsam verschlimmert und in der Folge auch unser gegenseitiges, auf geschwisterliches Zutrauen wie auf geschwisterliche Übervorsicht gegründetes Verhältnis zueinander bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten verschärft … Wir mußten aber zusammenhalten, und so ertrugen wir uns …
Wir hatten beide sofort nach dem Ende unserer von den Tabletten hervorgerufenen und von zwei Innsbrucker praktischen Ärzten mit, wie sich denken läßt, großer Feierlichkeit entgifteten Ohnmacht, in der Gewißheit, wieder und gegen unseren Willen, also um so entsetzlicher existieren zu müssen, befürchtet, daß die Anfälle Walters, ihm angeborene, von der Mutterseite ererbte, von seiner Exostose begünstigte, ihn von Zeit zu Zeit blitzartig mißbrauchende, in den letzten Monaten ganz zum Stillstand gekommene, jetzt im Turm, unter dem Überdruck des uns Zugestoßenen, wieder auftreten könnten … und tatsächlich traten sie (die infolge seiner wissenschaftlichen Daueranstrengung von ihm hinausgeschobenen) schon nach den ersten Schritten im Turm wieder auf … Mein Bruder war, ein Jahr jünger, viel feiner als ich konstruiert, einem eher phantastischen Nervensystem unterworfen, seine Konstitution immer eine automatisch geschwächtere gewesen … sein ganzes Leben lang hatte er vor den Anfällen seiner Mutter Angst gehabt, diese Angst hatte er sich im Turm vergrößert … nachdem er tagelang neben mir, immer schweigend und wie ich nahrungslos, auf sich selbst geschaut hatte, war, als er plötzlich, aufstehend, mich zu Hilfe nehmend, zum Fenster wollte, wenn auch anfangs nur kurz, als eine sogenannte Momentaphasie ohne geringste Bewußtlosigkeit, die Epilepsie wieder über ihn hergefallen … In der Finsternis hatte ich, der Vehemenz der Erkrankung gehorchend, nicht gesehen, wie sein Gesicht, wie seine Augen vor allem sich durch die Erkrankung verändert hatten, doch an dem Handgelenk, an dem ich ihn festhielt, ihn führend, hatte ich, während er stürzte, seinen Zustand gefühlt … Wir befürchteten eine katastrophale Verschlimmerung seiner Epilepsie … Wir hatten unser ganzes an unsere Eltern wie an zwei Pfähle gebundenes Leben in ständiger Angst vor der uns immer unheimlichen, auch an unserer Mutter unheimlichen ›Tiroler Epilepsie‹ verbringen müssen … diese Krankheit hatte uns alle, von einem gar nicht mehr eruierbaren Zeitpunkt an, zerstört, diese nur in Tirol bekannte Epilepsie … Unsere Mutter war merkwürdig spät, in ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr, kurz vor Walters Geburt, plötzlich von ihr befallen worden, von einem Augenblick auf den andern, nachweisbar auf dem Höhepunkt eines Tanzfestes in einem Wiltener Herrenhaus … und hatte sich sofort, auf ihre Umwelt sogleich erschütternde Weise, verändert … Walter war wohl aus seiner kindlichen Überfurcht schon rasch von ihr aufgestört und zersetzt worden … ich selber, verhängnisvoll furchtlos als Kind, von ihr niemals auch nur im geringsten gestreift … Es schien, als hätte diese jederzeit überall in Tirol entstehende Krankheit sich nach dem Tod unserer Mutter zur Gänze auf Walter geworfen … Jetzt im Turm, und zwar mit den Tagen immer noch rücksichtsloser, trat sie, so wie ich sie von der Mutter her kannte, durch alles, so schien mir, gedeckt, durch die Turmatmosphäre begünstigt, an ihm wieder auf, gemeiner als vor dem Tod unserer Eltern … Auf mich erschreckende Weise beobachtete ich, wie er, Walter, von Tag zu Tag auch physiognomisch, in seiner Schweigsamkeit, Hautfarbe, Stimmgebung, seelische Reaktionen, Körperfunktionen betreffend, unserer Mutter immer noch ähnlicher wurde … Die Schlaflosigkeit, von welcher wir beide aus einem uns durchsichtigen physikalischen rohen Gesetz heraus, im Turm einem uns wildfremden Luftrhythmus untergeordnet, urplötzlich für einen von uns nun nicht mehr überblickbaren Zeitraum befallen worden waren, verhinderte, daß wir uns, auch nur für Augenblicke, beruhigten …
Nur selten getrauten wir uns an die Fenster und drängten die Läden zurück: wir schauten, betrogen, kam uns im Sturmgeheul vor, auf die wahllos verkrüppelten Apfelbäume, in eine vor lauter Finsternis und Naturrätsel und Verstandeserschütterung taube, wie uns schien, merkwürdig laute und wie nur anscheinend, weit unten, am Ende des Apfelgartens, wo der Zirkus war, von Menschen bevölkerte, widerspenstige, von ihrer Verschrobenheit nur an der schwarzen und braunen und dort und da weißen Oberfläche gereizten, vorstädtisch jederzeit nur in strafbaren Handlungen existierenden, verdrußerzeugenden Hochgebirgslandschaft … Was wir hörten, waren die klaren Gerinnsel einer ununterbrochenen, sterbensmüden Chemie, was wir sahen, war Tag und Nacht nichts als Nacht … brausende, ohrenbetäubende Finsternis … Wir waren in der Beobachtung alles Scheiternden stets und von jeher geschult, doch fühlten wir hier im Turm, verstört, von der ganzen Natur ins Vertrauen gezogen, auf einmal die Weisheit der Fäulnis … Durch nichts als durch uns von uns abgelenkt, erblickten wir uns in Amras in unserem brodelnden, dann wieder starren Geschwisterzusammenhang … immer wieder die Frage stellend: warum wir noch leben müssen … und waren die ganze Zeit ohne Antwort – kein hellsichtig machendes Echo jemals, immer Rückschläge wie Gehirnschläge! – in einer sich stündlich in uns und um uns noch mehr und, ja, wenn auch menschenwürdig, zusammenziehenden doppelgehirnigen Einsamkeit hilflos voneinander abhängig, selbst in den allererbärmlichsten Handlungen und Verrichtungen … auch nach Tagen, nach Wochen nicht, getrauten wir uns miteinander über die Katastrophe zu reden; wir hielten uns, tierisch gemeinsam, noch unterhalb jeglicher Mystifizierung, nur ans Organische … in Absterbensmöglichkeiten verunglückte alles in uns, in die tiefsten Naturenergien … Im Gestöhn seines Halbschlafes erhörte ich, wie sich mein Walter oft schwer in die föhnige Selbstmordnacht heimphantasierte, vom Turm in die Herrengasse hinunter, in die unserem Selbstmord und unseren Selbstmordversuchen vorausgegangenen Tage, in das Märzliche, Schwüle, das nicht einmal einen einzigen Augenblick für uns gewesen war, immer nur gegen uns; immer noch feierlicher, zum Tod aufgelegter: Den ganzen Nachmittag des uns allen auf einmal so günstig erscheinenden Dritten hatten wir nur noch darauf gewartet, daß es, wie uns zu Willen, bald finster sei, aus sei, daß mit dem Tageslicht auch wir, Eltern, Söhne, rasch, mühelos, im Schlaf einfach untergingen und auslöschten, weg seien … Wir baten, bei überklarem Bewußtsein, nicht ohne Wörter, um eine ungewöhnliche Schnelligkeit unseres Einschlafens … von den Tabletten in unseren Gläsern erbaten wir sie … wir schauten nur noch die Gläser an, das trübe, weiße Getränk … wir wollten nicht mehr, nicht mehr sein, nichts mehr sein … Hinter geschlossenen Fenstern, zugezogenen Vorhängen waren wir, gänzlich vereinzelt und eng beisammen, schon fertig gewesen; ab und zu war uns noch ein Geräusch von der Straße herauf, ein Fuhrwerkgeräusch, ein Lachen, fernes Getöse von Büchsenhausen herüber, Mittel zur Welt gewesen … eine Tür, ein Fenster, ein Sessel … Wir hatten nichts mehr gegessen, nichts mehr getrunken … plötzlich, wie wir glaubten zum letzten Male, Gefallen an unseren Kleidern gefunden, an unseren Händen, Stimmen, Einfällen … am süßen Geruch unserer Speisekammer, die offen, aber von keinem von uns mehr betreten worden war … drei, vier, fünf Bücher hatte mein Bruder vor sich auf dem Tisch liegen gehabt … Stifter, Jean Paul, Lermontow … die von mir einmal rasch zurückgezogenen Vorhänge hatten meinen am Fenster sitzenden, mit seinen Büchern beschäftigten, wie studierenden Walter erschrocken zu mir aufschauen lassen, während ich auf der durch die Berge schon beinahe völlig verfinsterten Straße ein paar Menschen beobachtete, die ins Theater gingen … Ich beobachtete zwei Geschwistermädchen, ein Brüderpaar, zwei Professoren in schwarzen Mänteln, an ihre Stöcke gewöhnt, mit grauen, schwarzbebänderten Hüten; im Abstand von drei, vier Metern die Frauen der Professoren, auch schwarz gekleidet … diese Leute haben, wie andere ihr Mittwoch- oder ihr Samstag-, ihr Komödien- oder Tragödienabonnement, ihr Dienstagabonnement … Ich beobachtete den Zeitungsmann, unseren Nachbarn, in einer alten, in militärischem Schnitt gehaltenen Pelerine, ein Fleischhauermädchen mit einem Wurstkorb und einen Unbekannten … Traurig war, was ich sah, traurig war, was ich dachte, traurig zog ich den Vorhang zu, in der Trauer, die vom Verstand gelenkt ist … Zwischen den gegenüberliegenden Häusern hindurch hatte ich noch auf den Inn geschaut, auf das fließende, sich dauernd verändernde, doch immer gleiche Gewässer … Der Inn, die Ader, an welcher es sich ein paar flüchtige Generationen lang unter unserem Namen fürchterlich partizipierte, geheimnisvoll vorlaut … Mich umdrehend war ich dann vor der gespenstischen familiären Abbreviatur erschrocken gewesen: in Beobachtung von uns selbst waren wir, unsere Eltern und ihre Söhne, in unserem vorsorglich von den Fremden, Hausangestellten, Dienstboten, wie uns schien gesäuberten Haus, nachdem wir auch noch den Hofburschen weggeschickt hatten, aus dem Käfig hinausgelassen … nur noch einer wortlos die Abfahrtszeit eines schon längst bestiegenen Zuges abwartenden Reisegesellschaft vergleichbar gewesen … Unsere Mutter hatte, nach Wochen zum ersten Mal wieder, ihr Bett verlassen und sich zum Ofen gesetzt … als ein schweigsames Denkmal tirolischer Lebensmüdigkeit sah ich sie … In ihrem längst aus der Mode gekommenen grauen Chiffonkleid, das, wie alle Kleider von ihr, ihrer mageren Arme wegen Ärmel bis über ihre Handrücken hatte, war sie mir Ausdruck der Melancholie eines alten, von Krankheit vergrämten Geschlechts, die stille Verheimlichung einer Hölle gewesen … Wir hatten uns gegenseitig die besseren Plätze angeboten … unser Vater hatte scheinbar im Inseratenteil unserer Zeitung gelesen … mein Bruder sich von Zeit zu Zeit in die Schriften von Sterne und von Dante und Donne, die er sich zuletzt noch ausgesucht hatte, vertieft … in den Diderot … Wir erwarteten niemand, läutet es, hatten wir ausgemacht, wird nicht mehr aufgemacht … Kein Mensch fiel uns ein, der hätte kommen können … Der Abend stürzte, wie wir es immer gewohnt waren, ein riesiger toter Raubvogel, in die Straße … wir hatten dann noch die Kirchenglocken so deutlich gehört, daß wir die Herkunft der einzelnen Klänge, von Wilten, Pradl, Hötting und Amras herunter, gut unterscheiden konnten … Merkwürdig: die Leute gingen an diesem Abend in das Theater … Jeder mit, wie uns schien, genügend Tabletten in seinem Glas ausgerüstet, zogen wir uns in die Zimmer und also, wie verabredet, voreinander zurück … unseren Vater hörte ich noch aus dem Schlafzimmer lachen, Walter hatte sich schon um halb zehn an die Wand gedreht, ich selbst mich dem Schlafmittel länger als eine Stunde, dann ohne Erfolg, widersetzt, war aufgestanden und auf den Gang und ins Vorhaus hinunter und wieder zurück in das Brüderzimmer gegangen … einen Augenblick, nur einen Augenblick hoffte ich, jemand käme ins Haus und entdeckte uns … kein Mensch kam … das Innwasser schlug, sobald ich nur noch in milchigen Bildern schwamm, in hoch aufgetürmten, dann ineinandergeschobenen Wellen an die durch den Felssturz veränderte, von uns Kindern gefürchtete Uferstelle … In der Stadt war auf einmal ein Lärm, als ob Menschen erschossen würden … vom Zollamt herüber hörte ich Schritte, immer mehr und mehr Schritte, als ob die Soldaten jetzt aufmarschierten … ein sich immer noch mehr vergrößernder Vogel war plötzlich im Zimmer, verzweifelt an alle vier Wände schlagend … ich hatte Angst, ersticken zu müssen …
In dem, wie ich weiß, von unserem Onkel mit Vorliebe für die Finsternis ausgestatteten, von ihm mit den Jahren, anscheinend für sich selbst, immer noch mehr verfinsterten Turm, durchlebten wir eine einzige schlaflose, nur von unseren heftigen Körper- und Gefühlsschmerzen, Wasserund Vogelgeräuschen aufgelockerte Nacht, und die schöne, die sogenannte erhabene Kunst und die hohe Wissenschaft, als deren Nutznießer wir beide uns, so gut und solange es gegangen war, von Kindheit an in der Elternumgebung immer fast ungestört, wenn auch im Schatten unserer Krankheiten, anschauen durften, waren für uns, die wir, auf Befehl unseres Vaters aus dem Ausland (aus England), wohin wir zu Studienzwecken beordert, dann auf einmal zurückkommandiert worden waren, wegen der immer schwereren Krankheit der Mutter, auch Walters im Ausland ganz plötzlich vergröberter Krankheit wegen, auf einmal kein Mittel mehr, uns grundlegend, so, daß es heilsam gewesen wäre, von uns, von unseren entsetzlichen Krämpfen, von unseren entsetzlichen Krankheitszuständen abzulenken, geschweige denn aufzurichten … Es schien uns in diesen Wochen, als wäre uns meine Naturwissenschaft mit den Eltern gestorben, als hätte sie mit den Eltern Selbstmord begangen … als wäre auch Walters Musik seither tot; wir schauten in unsere Forschungen, in unsere erstaunlichen Theorien und Entdeckungen, in unsere Geistesprodukte auf einmal wie zwei um alles Betrogene in ein Leichenhaus; mit jedem Buch, das ich aufschlug, schlug ich einen Sarg auf … unsere ästhetischen, selbst unsere frühesten fragmentarischen Errungenschaften, Anrechte, Vorrechte für unser Leben, Beweise für unsere Geistesentwicklung, waren eingesargt … Walter, um ein Jahr jünger, von, wenn auch kranker, so doch viel kunstvollerer Natur, Harmonie, hörte, wann immer, keine noch so entfernte Musik mehr; aus ihm, dem sie alles gewesen war, der sich ein Leben ohne sie niemals auch nur hatte vorstellen können, hatte sie, die er sich erforscht hatte, sich gleichsam mit ihm erschrocken zurückgezogen … Meine Naturwissenschaft, was sie darstellte, war mir mit einem Mal nur noch ein mich verstörendes, mich für sie selber bestrafendes Mißverhältnis zu dem, was ich immer gewesen war, gewesen … Das den Turm in den späteren Märztagen auf einmal widerspenstig umgebende Wetter bestand, wichtigtuerisch, aus tausenderlei gegensätzlichen Stimmungen, Mutationen, Revolutionen, Explosionen … es hatte so, seltsam, auf uns im Turm, die wir gleichmäßig trübsinnig, plötzlich weit hinter uns selber zurück ohne jeglichen Fortschritt waren, einen furchtbaren Einfluß: wir verkrochen uns oft, wie verabredet, in den hintersten Winkel der nur ein paar Schritte von unseren Strohsäcken entfernten Schwarzen Küche … hier und da in der Dämmerung, wenn aus der tiefen eine noch tiefere, uns, wie wir glaubten, verleumdende Nacht geworden war, wenn uns die Bergschläfen, die in das Sillwasser schneidenden Wände, wenn uns das monumentale, durch die brausende Sill echolose Geklüft bis zur Unkenntlichkeit unsere Umwelt und dadurch auch unsere Innenwelt sträflich verfinsterten, verfinsterten und verkrüppelten, getrauten wir uns hervor … Wir verschoben dann, wie von uns selber verhöhnt, von den Landschaften, von den Wissenschaften, von den menschlichen Dunkelhaften und Künsten, unter närrischen, konfusen Zurufen, Sätzezerbröckelungen, bis in die Mitternacht und darüber, allein von der Wärme und von der in ihr Wurzeln schlagenden tierischen Eifersucht unserer Körper gelenkt, immer wieder die Tische und Sessel und Bänke und Kasten im Turm … einmal bohrten wir unsere Körper unter die Apfelhaufen, unter die Birnenberge, hinein in das Modrige, Faule … als wünschten wir in solcher Art Sinnenverkrüppelung langsam zu ersticken … Oft fügten wir uns an den Körpern, dann, wenn wir glaubten, wenn wir fühlten, wenn wir wußten, daß unsere Seelen, ja unsere Gehirne schon schmerzunempfindlich geworden waren, in hoher Erregung da und dort, an der Brust, auf dem Rücken, auf den Schenkeln und an den Kniegelenken, auch auf den Handflächen und an den Hinterköpfen, nicht gegenseitig, sondern jeder für sich, geschwisterlich, ausgeliefert der Schnelligkeit unserer der frühesten Frühlingsnatur entsprungenen Handlungsweise, Verletzungen zu … kontrapunktisch schlugen wir, in immer stärkerer Rhythmisierung, unsere Köpfe an alle vier Wände … mutwillig unter beschwörendem Lachen zerfetzten wir oft in der Finsternis, von Gerüchen und also Geschwüren geleitet, an nichts als an Luft, an das teuflische Oxygenische angeklammert, vor Lust unsere Kleider, unsere Hosen und Hemden … jeder für sich waren wir der zerstörende Mittelpunkt aller Zerstörung … krankhaft in unseren Gegensätzen … wir erschöpften uns rasch in unseren Exaltationen … In letzter Zeit hatten wir immer unsere Strohsäcke umgedreht, uns am faulen Geruch ihrer Eingeweide berauschend … beide entdeckten wir in solchen vom Föhn ausgelösten Zuständen in uns, in solchen Gelegenheiten, die wir auf Absprache, aber wortlos herbeiführten, eine primitive Gelenkigkeit, Katzenhaftigkeit an uns … Wir rächten uns! … Wir rächten uns gründlich an unseren eigenen Körper- und Geistesgebrechen … Es dauerte meistens Stunden, bis wir uns nach solchen Zuständen, wie von mir angedeutet, aus Hunderten solchen im Dunkeln bleibenden, wieder befreien konnten … Im Turm war es, wegen der Nähe des Sillflusses, kalt, trotzdem standen wir oft nach dem Nachtmahl, solange wir es ertragen konnten, völlig nackt, Körper an Körper, in für uns schon lange nicht mehr wunderwirkender zarter Berührung an die vor Feuchtigkeit blitzenden Mauern gelehnt, in einer Art unerfüllbaren, unsere Köpfe beschwerenden pubertären Erfrischungsmanier … Walters Haut, fleckenlos, krank, in Verlegenheit, schimmerte, wo der Lichtschein der Sill in einem beinahe spitzen Winkel, gebrochen durch einen schmalen, vom linken Fensterladen hervorgerufenen Schatten hereinfiel, am schönsten … ängstlich, ja furchtsam waren wir schweigsam in solchen Augenblicken, die, aus der frühesten Kindheit, sich von uns noch immer vertiefen und sorgsam verfeinern ließen … jetzt irritierten sie uns, immer schmerzhafter, immer unerlaubter … immer noch mehr waren wir hier im Turm auf Vermutungen angewiesen in unserem hochentwickelten Spähertum … Exzesse betrieben wir, uns gelang keine Unterhaltung.
Meine Erklärung des Chromonema zum Beispiel, der Endomitose, der Isotope und Mitochondrien, des Nucleolus, des Pleiotrops, die meinen Walter immer erstaunt, ihm Vergnügen bereitet hatte, denn ihm waren in seinem mir lieben Verhältnis zur Anschauung einer ihm ›spanischen‹ Wissenschaft Correns und Mendels Formeln und Theorien nur Poesie gewesen, zerbröckelten mir auf der Zunge … ebenso lösten Walters Rezitationen der Verse Baudelaires und Novalis’ oder auch nur der naivste Versuch einer Annäherung an die ›Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab‹ in uns nur Entsetzen aus, denn sie endeten jedesmal kläglich schon in den Ansätzen; unsere Sprechweise war, vor allem die Walters, die ich, weil ich sie nicht aus mir selber zu hören gezwungen war, am allergenauesten beurteilen konnte, früher, in unserem Elternhaus jedenfalls, immer offen, unsere Kindheit und Gymnasialzeit entlang bis zur Katastrophe von ihrem schönen Rhythmus erfüllt, immer Aufschwung für Vieles, für Alles gewesen, auf einmal knechtisch abgewürgt, getreten, in Bruchstücken panisch.
An Hollhof
Geehrter Herr, wir konstatieren eine seltsame Übereinstimmung unserer, wenn auch jetzt im Turm nur noch chaotischen Denkvorgänge: wir billigen die Handlungsweise unserer Eltern, wir verurteilen sie, zum Unterschied von der Öffentlichkeit, zum Unterschied von den Innsbrucker Zeitungen, Gerichtsmenschen, nicht … Wir wissen, was die Zeitungen schrieben und was sie schreiben, denn wir lesen sie; was in Innsbruck und was in Wilten und Amras, in Hall und in Kufstein, in Wörgl, im ganzen Inntal gesprochen wurde, gesprochen wird, denn unser Onkel berichtet uns immer darüber … Wie ungeheuerlich das nur auf Schadenfreude und auf gemeinnachbarliche Spekulationen Gegründete, das entsetzliche Gerüchtmaterial in die zersetzungslüsternen Innsbrucker Gassen einfließt, in seine Straßen und Plätze, was in Geschäften und Gasthäusern und auf den Märkten in diesen Tagen und Wochen, da wir doch beide in ganz Tirol wohlbekannt sind, schon durch Jahrhunderte wohlbekannt sind … von Mund zu Mund, von Gehirn zu Gehirn geht … Wie hätten wir, wären wir nicht von unserem Onkel nach Amras in den Turm gebracht worden, in Innsbruck und unter den Menschen zu leiden gehabt, und wie hätten wir dort zu leiden … und auch im Irrenhaus, unter den dort noch immer herrschenden Zuständen … Schon am ersten Turmtag, an dem Tag, an welchem wir aufgewacht waren, vermutete Walter, sei unser Innsbrucker Haushalt aufgelöst worden: durch die Herrengasse führen ununterbrochen Wagen mit unserem schönen Besitztum davon, schwerbeladene Wagen … er sehe sie einmal von links und einmal von rechts … er sehe ununterbrochen das ›Fürchterliche, Unabwendliche …‹ Die Verhaltensweise unseres Onkels deute auch darauf hin … Unser Onkel besucht uns Dienstag und Samstag in Begleitung des Internisten, der Walter immer mehr Medikamente verabreicht … gegen die Anfälle spritzt er ihm eine ganz neue Chemie ein … immer kommt er mit immer größeren Schachteln, die alle so kompliziert aufzumachen sind … Unser Onkel klärt uns über das in der Innsbrucker Herrengasse Vollzogene, sich schmerzhaft Vollziehende auf … doch hat es länger als eine Woche gedauert, bis unser Elternhaushalt, in dem Sie oft wochenlang unser Gast gewesen sind, die uns im Laufe der Jahre verbliebene Urzelle unseres Familienbesitzes, praktisch nicht mehr existierte … Wir hörten von Tag zu Tag von uns lieben Gegenständen, die forttransportiert worden waren, von Möbelstücken, von Bildern und Büchern, von Spiegeln, Geschirr und Wäsche. Wir hörten, daß alles, woran unsere Kindheit behutsam geheftet war, mit der Schnelligkeit der neuen offiziellen Besitzergreifer in alle Winde zerstreut, in alle Himmelsrichtungen uns in großen und kleinen Wagen, wie Walter es sich vorstellte, entführt worden ist … Wir hören jetzt nur noch von Rechtsanwälten und Leichenbestattern, von Friedhofsverwaltern, Steinmetzen, Totenscheinen … von kirchlicher und weltlicher Infamie, von entlassenen Dienstboten, von der tirolischen Engstirnigkeit … von den Praktiken Hunderter Gläubiger, Innsbrucker Journalistenkletten … Wir hätten im Juni auch noch ein Gerichtsverfahren gegen uns zu erwarten, verschiedene Zweideutigkeiten hätten der Tiroler Justiz zu denken gegeben: unsere Eltern seien nicht in, sondern neben ihren Betten, nämlich auf dem Boden, gefunden worden … Walter und ich, aneinandergedrückt, in Walters Bett … Unser Entdecker ist der Imster Geschäftsmann Lugger … Unser Onkel hat alles für uns zum besten gelenkt: Vorsprachen, Abbitten, tausenderlei Erklärungen … Landtags- und Bischofsbesuche … Bürgermeisterbesuche … Gerichtsbesuche … die plötzliche ungeheuere Korrespondenz … die Ärztekonsultationen … Zu unserem Vormund bestimmt, war er darauf bedacht gewesen, uns in Amras vor jeder Beschädigung durch die Außenwelt zu bewahren … Wir sind glücklich über das von ihm für uns Gerettete, wenn es auch wenig uns Gehörendes ist … die Liquidation ist zu schnell gekommen, die Geschwindigkeit der Gläubiger hat uns doch vor den Kopf gestoßen … Selbst von unseren Fahrrädern, Geburtstagsgeschenken unseres Onkels, haben wir uns, laut Gerichtsbeschluß, trennen müssen, denn niemand im ganzen Inntal ist so verschuldet gewesen wie unser Vater …
Gründlich, so, daß es uns weitergebracht hätte, getrauten wir uns über unser Schicksal nicht nachzudenken, geschweige denn, uns die Ursachen klarzumachen … Wir vermieden die uns verletzenden Wörter, Begriffe … doch es gelang uns nicht, uns auch nur zeitweilig schmerzfrei zu machen, uns war immer wieder der unerträglichste aller Schmerzen verursacht: die Erinnerung an die Eltern … Walter ging oft zum Fenster und schaute hinaus und sagte: ›Es ist nichts!‹, obwohl für ihn doch draußen, unter dem Turmfenster, etwas gewesen war, ein Geräusch, eine Stimme … eine Stimme hatte ihn ja zum Fenster gezogen … die Stimme unserer Mutter, die Schritte unserer Eltern im Garten, zu jeder Tageszeit, oft in der Nacht, immer wieder … jedesmal aber das gleiche ›Es ist nichts …‹, es wiederholte sich täglich in immer kürzerem Abstand, daß er vom Strohsack aufsprang und an das Fenster stürzte … dann sein Schweigen wie in fürchterlicher Ergebenheit … Unsere Kindheit, die wohl am innigsten mit unseren Eltern zusammenhing, gerade weil wir von ihnen ja niemals schockiert worden, nur immer uns selbst überlassen gewesen waren, nicht ohne ihre Erziehung, eine sehr freie und dadurch strenge Erziehung … war uns in diesen Wochen so gegenwärtig wie niemals vorher … selbst verrückt, war sie unserer Verrücktheit ein Trost … Oft saßen wir uns, von uns abgewandt, in unserer katastrophalen Körper- und Geistesverfassung, nach langen Perioden der Erschütterung unserer Gehirne, gegenüber, als plötzlich mein Walter zum Fenster sprang, von einem Rufen erschrocken … das, von einem bestimmten Zeitpunkt an auch ich hörte … aber im Garten war niemals auch nur eine Andeutung eines uns rufenden Menschen … wir hörten es aber viele Wochen lang immer gleichzeitig rufen … ganz deutlich die Rufstimmen unserer Eltern.