Zehn


Im Prinzip ist es nur natürlich, dass ein Alkoholiker trinkt. Genauso selbstverständlich, wie ein Epileptiker Anfälle bekommt. Der Lebenssinn eines Alkoholikers besteht darin, zu trinken. Ein Alkoholiker, der nicht trinkt, ist dagegen ein unnatürliches und relativ seltenes Phänomen. Ein Mensch, der den Kampf gegen sein Verlangen gewinnen will, muss sein Verhalten jeden Tag bewusst unter Kontrolle haben, während diejenigen, die so glücklich sind, frei von solchen Trieben zu sein, den Wünschen ihres Körpers unbesorgt nachgeben können.


Körper und Seele eines gesunden Menschen sind im Gleichgewicht. Körper und Seele eines Alkoholikers befinden sich in einem ewigen Kampf miteinander, und das Zerwürfnis ist so tiefgreifend, dass niemand sagen kann, ob es der Körper des Alkoholikers ist, der die Seele hintergeht, oder ob die Seele sich darauf verlegt hat, den Körper und sich selbst zu foltern.


Die Abhängigkeit siedelt sich im Menschen in einem unbekannten Gebiet auf der Grenze zwischen Körper und Seele an.


Freilich sind sowohl Körper als auch Seele eher unzweckmäßige Begriffe. Viele sind der Auffassung, dass die Seele nicht existiert, und die Wissenschaft lehrt uns, dass der Körper in Wirklichkeit wie ein Nebel ist, denn die Moleküle nehmen viel weniger Raum ein als die Leere zwischen ihnen. Irgendwo im Nebel wohnt die Sucht.


*****


Þórhildur rührte sich nicht, als Víkingur aus dem Bett aufstand. Sie schlief immer noch, als er das Duschen, Rasieren und Ankleiden hinter sich gebracht hatte.   

 


Er machte sich selbst Vorwürfe, weil er es für selbstverständlich gehalten hatte, dass sie trocken blieb, jeden Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Er machte sich Vorwürfe, weil er nie richtig versucht hatte, ihr Ringen mit sich selbst zu verstehen, geschweige denn ihr den Rücken zu stärken. Eigentlich war ihm nicht mal der Gedanke gekommen, dass sie Unterstützung brauchen könnte. Þórhildur war eine starke Persönlichkeit. Eigentlich hatte er seinen Kampf mit der Depression und ihre Entschlossenheit, nicht mehr zu trinken, immer gleichgesetzt. Er hatte manchmal sogar ihr Los für das leichtere gehalten.


Sie musste ja schließlich nichts anderes tun, als zu beschließen, nicht mehr zu trinken. Sie hatte es selbst in der Hand.


Er aber konnte nicht einfach beschließen, nicht mehr depressiv zu sein. Er musste Medikamente nehmen, um die Krankheit in Grenzen zu halten, und sich regelmäßig bewegen.


Sie musste weder Medikamente nehmen noch sich täglich mit Gymnastik plagen.


Sie bestimmte über sich selbst. Er war irgendwelchen rätselhaften Neurotransmittern ausgeliefert, ein genetischer Defekt, an dem er selbst keine Schuld trug.


Sie war frei von diesem Erbdefekt und musste ihr Leben lang nichts anderes tun, als Alkohol und alle Stoffe zu meiden, die Einfluss auf die Stimmung haben.


Irgendwie so hatte er sich das vorgestellt. Wie egozentrisch!


Er konnte in die Apotheke gehen und bekam die Medikamente, die die Depression in Grenzen hielten, aber Þórhildur musste sich nur mit ihrer Willenskraft als Waffe den einschüchternden Botschaften ihres eigenen Körpers stellen.


Während er sich als Sieger erlebte, indem er der Depression mit Tabletten und körperlichem Training begegnete, erlebte Þórhildur sich ununterbrochen als fehlerbehaftetes Exemplar.


Und damit nicht genug, wahrscheinlich machte sie sich selbst auch noch Vorwürfe, dass sie ihre Mängel ihrem Sohn mit in die Wiege gelegt hatte. Ihrem Sohn, den sie verlassen hatte.


Víkingur schrak aus seinen Überlegungen hoch, als die Kellnerin, die ihm den Kaffee gebracht hatte, plötzlich an seinem Tisch erschien und fragte: »Darf ich den Tisch abräumen?«


Er sah sich um und bemerkte, dass er als Einziger noch im Speisesaal saß. Es war schon fast halb elf und alle Frühstücksgäste waren längst verschwunden. Das morgendliche Büffet war entfernt worden und mit ihm die fetten Würstchen, hartgekochten Eier, das Müsli, die Fruchtsäfte und all die anderen Nahrungsmittel, die Reisende aus aller Welt haben möchten, um sich dem neuen Tag stellen zu können.


»Ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie.«


Er dachte kurz daran, um eine Kanne Kaffee zu bitten, die er Þórhildur aufs Zimmer bringen könnte, beschloss aber, es nicht zu tun. Am besten wäre es, ihr nichts aufzunötigen. Ihr selbst die Entscheidungen zu überlassen.


Sie war im Bad, als er wiederkam. Er klopfte an die Tür und rief ihr etwas zu, um sich bemerkbar zu machen. Sie antwortete: »Ich mache mich gerade fertig.«


Er war erleichtert beim Gedanken, dass Þórhildur wieder so war, wie sie sein sollte. Beschloss, alle Fragen zum gestrigen Abend für einen geeigneteren Zeitpunkt aufzuheben. Ihr zu ermöglichen, den ersten Schritt zu machen, über die Dinge zu sprechen, wenn sie dazu bereit wäre.              


Víkingur zog die dicken Vorhänge auf und das Tageslicht erfüllte den Raum. Sie würden noch eine Nacht in Amsterdam verbringen und hatten einen Heimflug zu einer christlichen Zeit gebucht. Der nächste Punkt auf der Tagesordnung war, mit Þórhildur raus in den Sonnenschein zu gehen und irgendein Häppchen in sie hineinzubekommen.


Er setzte sich in einen Sessel am Fenster. Þórhildur nahm sich anscheinend viel Zeit, um sich fertig zu machen.


Plötzlich bemerkte Víkingur, dass die Tür der Minibar nicht richtig geschlossen war, sodass er sie mit der Zehe anstieß. Als er die Tür zudrückte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er stand auf und öffnete den Kühlschrank. Irgendjemand hatte ihn ausgeräumt. Die Fächer auf der Innenseite der Tür waren leer. Die kleinen Fläschchen mit Wodka, Whisky und anderen Drinks waren verschwunden.


Leider lag die Erklärung für diesen Schwund auf der Hand. Die Minibar hatte Þórhildur am Vorabend in Versuchung gebracht. Was für ein Dummkopf war er, dass er nicht beim Einchecken dazugesagt hatte, dass sie keinen Alkohol in der Minibar wünschten. Nichts wäre einfacher gewesen. Dieser unschuldig wirkende Kühlschrank war verlockend genug gewesen, um Þórhildur von ihrem Vorhaben, trocken zu bleiben, abzubringen.


Unter normalen Bedingungen hätten sie weder kleine noch große Flaschen von ihrem Weg abgebracht. Aber dieser Anreiz gepaart mit den Schwierigkeiten, die sie durchmachen musste, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Jetzt war das Unglück geschehen und man konnte nur versuchen, das Beste daraus zu machen.


*****


Víkingur stand auf und breitete die Arme aus, als Þórhildur endlich aus dem Badezimmer kam. Sie wich der Umarmung aus, indem sie den Kleiderschrank öffnete, um darin nach irgendetwas zu suchen.


»Guten Tag, mein Schatz«, sagte er.


»Uff, ja, guten Tag«, sagte sie und wandte sich ihm dann mit irgendeinem Kleidungsstück in der Hand zu.


Sie betrachtete das Kleidungsstück und vermied, ihm in die Augen zu schauen. »Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.«


»Wozu sagen sollst?« »Nun tu doch nicht so«, sagte sie. »Zu gestern Abend natürlich. Ich war wohl vollkommen weggetreten.«


»Ich hätte dich nicht hier mit der Minibar neben dem Bett allein lassen dürfen.«


»Der Minibar?«


»Ja, hat es nicht damit angefangen, dass du dir einen Drink aus der Minibar genommen hast?«


»Ich habe die Minibar nicht angefasst. Ich war gestern Abend so angespannt, dass ich beschloss, auszugehen und irgendwelche Isländer zu finden und herauszufinden, ob jemand etwas über Magnús weiß.«


»Du bist Isländer suchen gegangen? Gestern?«


»Ja, ich habe mich daran erinnert, dass der meiste Drogenhandel rund um den Leidseplein stattfindet, also bin ich dorthin gegangen, um mich nach Isländern zu erkundigen.«


»Und hast du welche gefunden?«


»Nein, ich glaube nicht«, sagte sie. »Aber ich habe mit einem Amerikaner gesprochen, der sagte, er kenne einen Isländer, der mir vielleicht helfen könnte. Er verlangte Geld dafür und ich war so dumm, ihm zu glauben. Wir sind in irgendein Restaurant gegangen und dann bat er mich, auf ihn zu warten. Ich bestellte ein alkoholfreies Bier, erst eins, dann ein zweites, weil der Mann nicht wiederkam. Irgendjemand muss Drogen in mein Bier gegeben haben, denn ich kann mich nur noch daran erinnern, dass es mir absolut elend ging.«


»Warum sollte jemand etwas in dein Bier getan haben?«, fragte Víkingur.


»Der Amerikaner hat vielleicht den Barkeeper dazu gebracht, es zu tun.«


»Und zu welchem Zweck?«


»Damit ich ihn nicht suchen würde. Er hat Geld von mir bekommen und ist dann untergetaucht. Er wird nicht gewollt haben, dass ich ihm nachkomme.«


»Du hast also gestern nichts anderes als alkoholfreies Bier getrunken«, sagte Víkingur und gab sich Mühe, die Ungläubigkeit in seiner Stimme zu unterdrücken.


»Das ist es ja, was ich nicht weiß«, sagte Þórhildur.


»Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich da gesessen und gewartet habe und auf einmal drehte sich alles vor meinen Augen und mir wurde übel. Ich erinnere mich sogar noch daran, wie das Bier hieß, Erdinger Weißbier.


Aber darüber hinaus weiß ich nicht mehr viel. Kann gut sein, dass ich etwas getrunken habe, an das ich mich nicht mehr erinnere. Aber ich saß da, stocknüchtern, und plötzlich hatte ich einen Blackout.«


»Wie hieß dieser Amerikaner? Kannst du ihn beschreiben?«


»Das war eigentlich ein ganz normaler junger Mann.«


»Ein normaler junger Mann, den du auf dem Leidseplein getroffen hast und der angeboten hat, dir gegen Bezahlung isländische Junkies zu zeigen?«


»Ist das hier ein Verhör? Warum ist es auf einmal Sache der Polizei, mit wem ich rede?« Þórhildur neigte den Kopf leicht nach hinten, wie sie es gewöhnlich tat, wenn sie sich unfair behandelt vorkam.


»Wie kommst du darauf, dass ich dich verhöre? Ich versuche nur, zu verstehen, was passiert ist.«


»Nichts weiter ist passiert, als dass ich mich habe neppen lassen.«


»Zwar ist es auch ein Vergehen, Leute zu betrügen, aber wir sprachen gerade darüber, dass man dir Drogen eingeflößt hat. Das ist eine ernste Sache.«


»Ich habe nichts davon gesagt, dass man mir Drogen eingeflößt hat.« »Wie?«


»Es kann doch genauso gut sein, dass man mir normales Bier gebracht hat anstelle des alkoholfreien, das ich bestellt hatte.«


»Glaubst du nicht, dass du den Unterschied gemerkt hättest?«


»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich trinke ja gewöhnlich kein Bier ­ weder normales noch alkoholfreies.«


»Du hast gesagt, du weißt, wie dieses Bier hieß. Essdinger.«


»Erdinger. Der Amerikaner sagte, es wäre viel besser als dieses Clausthaler, das alle Alkoholiker trinken.«


»War er auch ein trockener Alkoholiker, dieser Amerikaner?«


»Hör mal«, sagte sie, »ist mit dir noch alles in Ordnung? Mir ist gestern etwas passiert und ich habe selbst noch nicht ganz verstanden, was. Und jetzt bedrängst du mich. Was ist hier eigentlich los? Habe ich vielleicht Gesetze gebrochen oder was?«


»Ich mache mir einfach Sorgen um dich«, sagte Víkingur. »Aber wir müssen jetzt nicht weiter darüber reden, wenn du nicht willst.«


»Nur damit du Bescheid weißt: Ich weiß sehr gut, dass ich über nichts reden muss, wenn ich nicht will. Ich dachte, wir sind hierhergekommen, um nach Magnús zu suchen, und das Einzige, was dir einfällt, ist, uns hier von der Polizei von einem Leichenschauhaus zum anderen eskortieren zu lassen. Was ich gemacht habe, war, dass ich rausgegangen bin und versucht habe, jemanden zu finden, der uns auf eine Spur bringen kann. Währenddessen warst du draußen und hast dich mit irgendeinem von deinen Polizeikumpels amüsiert. Herzlichen Dank für die Hilfe.« Víkingur spürte, dass das Gespräch in eine Sackgasse geraten war. Seine Frau war mittlerweile aufgebracht.


 

Er konnte sich nicht streiten. Hatte diese Fähigkeit in ihrer Ehe bisher nie gebraucht. Þórhildur war offensichtlich aus dem Gleichgewicht geraten. Am vernünftigsten wäre es, zu versuchen, sie zu beruhigen. Er wollte nicht der Sündenbock für ihren Kummer und ihr Unwohlsein werden.  

 


»Ja, entschuldige, Liebling. Allerdings warst es du selbst, die nicht mitkommen wollte.«


»Ich bin hierhergekommen, um meinen Jungen zu finden ­ nicht, um in Restaurants zu sitzen.«


Jähzorn, Sarkasmus und Verbitterung hatte Víkingur von seiner Frau bislang nicht zu spüren bekommen. Sie stand in Abwehrhaltung da und schaute ihn feindselig an.


In Gedanken versuchte er zurückzuverfolgen, was er gesagt oder getan hatte, um diese übertriebene Reaktion zu provozieren. Er hatte gefragt, ob die Minibar sie in Versuchung geführt hätte. Die Reaktion auf diese Frage waren Zorn und Verleugnung gewesen.


Er spielte mit dem Gedanken, die Tür des Kühlschranks zu öffnen, Þórhildur auf die leeren Fächer hinzuweisen und sie zu bitten, das Gespräch noch einmal aufzunehmen. In aller Ruhe mit ihr zu reden. Ihr zu verstehen zu geben, dass er sie keineswegs hatte beschuldigen wollen.


Dass er nur versuchte, zu verstehen, was mit ihr geschehen sei.


Keine gute Idee.


Wenn er ihr vor Augen führte, dass sie die gesamte Minibar geleert hatte, würde er ihr nur ihre Lügen reinreiben, und vielleicht war ja auch alles gegen ihren guten Willen geschehen. Eine unausgesprochene Wahrheit richtet keinen Schaden an. Aber eine Lüge tut das.


Víkingur schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte.