Im Prinzip ist es nur natürlich, dass ein Alkoholiker trinkt.
Genauso selbstverständlich, wie ein Epileptiker Anfälle bekommt.
Der Lebenssinn eines Alkoholikers besteht darin, zu trinken. Ein
Alkoholiker, der nicht trinkt, ist dagegen ein unnatürliches und
relativ seltenes Phänomen. Ein Mensch, der den Kampf gegen sein
Verlangen gewinnen will, muss sein Verhalten jeden Tag bewusst
unter Kontrolle haben, während diejenigen, die so glücklich sind,
frei von solchen Trieben zu sein, den Wünschen ihres Körpers
unbesorgt nachgeben können.
Körper und Seele eines gesunden Menschen sind im Gleichgewicht.
Körper und Seele eines Alkoholikers befinden sich in einem ewigen
Kampf miteinander, und das Zerwürfnis ist so tiefgreifend, dass
niemand sagen kann, ob es der Körper des Alkoholikers ist, der die
Seele hintergeht, oder ob die Seele sich darauf verlegt hat, den
Körper und sich selbst zu foltern.
Die Abhängigkeit siedelt sich im Menschen in einem unbekannten
Gebiet auf der Grenze zwischen Körper und Seele an.
Freilich sind sowohl Körper als auch Seele eher unzweckmäßige
Begriffe. Viele sind der Auffassung, dass die Seele nicht
existiert, und die Wissenschaft lehrt uns, dass der Körper in
Wirklichkeit wie ein Nebel ist, denn die Moleküle nehmen viel
weniger Raum ein als die Leere zwischen ihnen. Irgendwo im Nebel
wohnt die Sucht.
*****
Þórhildur rührte sich nicht, als Víkingur aus dem Bett aufstand.
Sie schlief immer noch, als er das Duschen, Rasieren und Ankleiden
hinter sich gebracht hatte.
Er machte sich selbst Vorwürfe, weil er es für selbstverständlich
gehalten hatte, dass sie trocken blieb, jeden Tag, Monat für Monat,
Jahr für Jahr. Er machte sich Vorwürfe, weil er nie richtig
versucht hatte, ihr Ringen mit sich selbst zu verstehen, geschweige
denn ihr den Rücken zu stärken. Eigentlich war ihm nicht mal der
Gedanke gekommen, dass sie Unterstützung brauchen könnte. Þórhildur
war eine starke Persönlichkeit. Eigentlich hatte er seinen Kampf
mit der Depression und ihre Entschlossenheit, nicht mehr zu
trinken, immer gleichgesetzt. Er hatte manchmal sogar ihr Los für
das leichtere gehalten.
Sie musste ja schließlich nichts anderes tun, als zu beschließen,
nicht mehr zu trinken. Sie hatte es selbst in der Hand.
Er aber konnte nicht einfach beschließen, nicht mehr depressiv zu
sein. Er musste Medikamente nehmen, um die Krankheit in Grenzen zu
halten, und sich regelmäßig bewegen.
Sie musste weder Medikamente nehmen noch sich täglich mit Gymnastik
plagen.
Sie bestimmte über sich selbst. Er war irgendwelchen rätselhaften
Neurotransmittern ausgeliefert, ein genetischer Defekt, an dem er
selbst keine Schuld trug.
Sie war frei von diesem Erbdefekt und musste ihr Leben lang nichts
anderes tun, als Alkohol und alle Stoffe zu meiden, die Einfluss
auf die Stimmung haben.
Irgendwie so hatte er sich das vorgestellt. Wie
egozentrisch!
Er konnte in die Apotheke gehen und bekam die Medikamente, die die
Depression in Grenzen hielten, aber Þórhildur musste sich nur mit
ihrer Willenskraft als Waffe den einschüchternden Botschaften ihres
eigenen Körpers stellen.
Während er sich als Sieger erlebte, indem er der Depression mit
Tabletten und körperlichem Training begegnete, erlebte Þórhildur
sich ununterbrochen als fehlerbehaftetes Exemplar.
Und damit nicht genug, wahrscheinlich machte sie sich selbst auch
noch Vorwürfe, dass sie ihre Mängel ihrem Sohn mit in die Wiege
gelegt hatte. Ihrem Sohn, den sie verlassen hatte.
Víkingur schrak aus seinen Überlegungen hoch, als die Kellnerin,
die ihm den Kaffee gebracht hatte, plötzlich an seinem Tisch
erschien und fragte: »Darf ich den Tisch abräumen?«
Er sah sich um und bemerkte, dass er als Einziger noch im
Speisesaal saß. Es war schon fast halb elf und alle Frühstücksgäste
waren längst verschwunden. Das morgendliche Büffet war entfernt
worden und mit ihm die fetten Würstchen, hartgekochten Eier, das
Müsli, die Fruchtsäfte und all die anderen Nahrungsmittel, die
Reisende aus aller Welt haben möchten, um sich dem neuen Tag
stellen zu können.
»Ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie.«
Er dachte kurz daran, um eine Kanne Kaffee zu bitten, die er
Þórhildur aufs Zimmer bringen könnte, beschloss aber, es nicht zu
tun. Am besten wäre es, ihr nichts aufzunötigen. Ihr selbst die
Entscheidungen zu überlassen.
Sie war im Bad, als er wiederkam. Er klopfte an die Tür und rief
ihr etwas zu, um sich bemerkbar zu machen. Sie antwortete: »Ich
mache mich gerade fertig.«
Er war erleichtert beim Gedanken, dass Þórhildur wieder so war, wie
sie sein sollte. Beschloss, alle Fragen zum gestrigen Abend für
einen geeigneteren Zeitpunkt aufzuheben. Ihr zu ermöglichen, den
ersten Schritt zu machen, über die Dinge zu sprechen, wenn sie dazu
bereit wäre.
Víkingur zog die dicken Vorhänge auf und das Tageslicht erfüllte
den Raum. Sie würden noch eine Nacht in Amsterdam verbringen und
hatten einen Heimflug zu einer christlichen Zeit gebucht. Der
nächste Punkt auf der Tagesordnung war, mit Þórhildur raus in den
Sonnenschein zu gehen und irgendein Häppchen in sie
hineinzubekommen.
Er setzte sich in einen Sessel am Fenster. Þórhildur nahm sich
anscheinend viel Zeit, um sich fertig zu machen.
Plötzlich bemerkte Víkingur, dass die Tür der Minibar nicht richtig
geschlossen war, sodass er sie mit der Zehe anstieß. Als er die Tür
zudrückte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er stand auf und
öffnete den Kühlschrank. Irgendjemand hatte ihn ausgeräumt. Die
Fächer auf der Innenseite der Tür waren leer. Die kleinen
Fläschchen mit Wodka, Whisky und anderen Drinks waren
verschwunden.
Leider lag die Erklärung für diesen Schwund auf der Hand. Die
Minibar hatte Þórhildur am Vorabend in Versuchung gebracht. Was für
ein Dummkopf war er, dass er nicht beim Einchecken dazugesagt
hatte, dass sie keinen Alkohol in der Minibar wünschten. Nichts
wäre einfacher gewesen. Dieser unschuldig wirkende Kühlschrank war
verlockend genug gewesen, um Þórhildur von ihrem Vorhaben, trocken
zu bleiben, abzubringen.
Unter normalen Bedingungen hätten sie weder kleine noch große
Flaschen von ihrem Weg abgebracht. Aber dieser Anreiz gepaart mit
den Schwierigkeiten, die sie durchmachen musste, war der Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Jetzt war das Unglück
geschehen und man konnte nur versuchen, das Beste daraus zu
machen.
*****
Víkingur stand auf und breitete die Arme aus, als Þórhildur endlich
aus dem Badezimmer kam. Sie wich der Umarmung aus, indem sie den
Kleiderschrank öffnete, um darin nach irgendetwas zu
suchen.
»Guten Tag, mein Schatz«, sagte er.
»Uff, ja, guten Tag«, sagte sie und wandte sich ihm dann mit
irgendeinem Kleidungsstück in der Hand zu.
Sie betrachtete das Kleidungsstück und vermied, ihm in die Augen zu
schauen. »Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.«
»Wozu sagen sollst?« »Nun tu doch nicht so«, sagte sie. »Zu gestern
Abend natürlich. Ich war wohl vollkommen weggetreten.«
»Ich hätte dich nicht hier mit der Minibar neben dem Bett allein
lassen dürfen.«
»Der Minibar?«
»Ja, hat es nicht damit angefangen, dass du dir einen Drink aus der
Minibar genommen hast?«
»Ich habe die Minibar nicht angefasst. Ich war gestern Abend so
angespannt, dass ich beschloss, auszugehen und irgendwelche
Isländer zu finden und herauszufinden, ob jemand etwas über Magnús
weiß.«
»Du bist Isländer suchen gegangen? Gestern?«
»Ja, ich habe mich daran erinnert, dass der meiste Drogenhandel
rund um den Leidseplein stattfindet, also bin ich dorthin gegangen,
um mich nach Isländern zu erkundigen.«
»Und hast du welche gefunden?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte sie. »Aber ich habe mit einem
Amerikaner gesprochen, der sagte, er kenne einen Isländer, der mir
vielleicht helfen könnte. Er verlangte Geld dafür und ich war so
dumm, ihm zu glauben. Wir sind in irgendein Restaurant gegangen und
dann bat er mich, auf ihn zu warten. Ich bestellte ein
alkoholfreies Bier, erst eins, dann ein zweites, weil der Mann
nicht wiederkam. Irgendjemand muss Drogen in mein Bier gegeben
haben, denn ich kann mich nur noch daran erinnern, dass es mir
absolut elend ging.«
»Warum sollte jemand etwas in dein Bier getan haben?«, fragte
Víkingur.
»Der Amerikaner hat vielleicht den Barkeeper dazu gebracht, es zu
tun.«
»Und zu welchem Zweck?«
»Damit ich ihn nicht suchen würde. Er hat Geld von mir bekommen und
ist dann untergetaucht. Er wird nicht gewollt haben, dass ich ihm
nachkomme.«
»Du hast also gestern nichts anderes als alkoholfreies Bier
getrunken«, sagte Víkingur und gab sich Mühe, die Ungläubigkeit in
seiner Stimme zu unterdrücken.
»Das ist es ja, was ich nicht weiß«, sagte Þórhildur.
»Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich da gesessen und
gewartet habe und auf einmal drehte sich alles vor meinen Augen und
mir wurde übel. Ich erinnere mich sogar noch daran, wie das Bier
hieß, Erdinger Weißbier.
Aber darüber hinaus weiß ich nicht mehr viel. Kann gut sein, dass
ich etwas getrunken habe, an das ich mich nicht mehr erinnere. Aber
ich saß da, stocknüchtern, und plötzlich hatte ich einen
Blackout.«
»Wie hieß dieser Amerikaner? Kannst du ihn beschreiben?«
»Das war eigentlich ein ganz normaler junger Mann.«
»Ein normaler junger Mann, den du auf dem Leidseplein getroffen
hast und der angeboten hat, dir gegen Bezahlung isländische Junkies
zu zeigen?«
»Ist das hier ein Verhör? Warum ist es auf einmal Sache der
Polizei, mit wem ich rede?« Þórhildur neigte den Kopf leicht nach
hinten, wie sie es gewöhnlich tat, wenn sie sich unfair behandelt
vorkam.
»Wie kommst du darauf, dass ich dich verhöre? Ich versuche nur, zu
verstehen, was passiert ist.«
»Nichts weiter ist passiert, als dass ich mich habe neppen
lassen.«
»Zwar ist es auch ein Vergehen, Leute zu betrügen, aber wir
sprachen gerade darüber, dass man dir Drogen eingeflößt hat. Das
ist eine ernste Sache.«
»Ich habe nichts davon gesagt, dass man mir Drogen eingeflößt hat.«
»Wie?«
»Es kann doch genauso gut sein, dass man mir normales Bier gebracht
hat anstelle des alkoholfreien, das ich bestellt hatte.«
»Glaubst du nicht, dass du den Unterschied gemerkt
hättest?«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich trinke ja gewöhnlich kein Bier
weder normales noch alkoholfreies.«
»Du hast gesagt, du weißt, wie dieses Bier hieß.
Essdinger.«
»Erdinger. Der Amerikaner sagte, es wäre viel besser als dieses
Clausthaler, das alle Alkoholiker trinken.«
»War er auch ein trockener Alkoholiker, dieser
Amerikaner?«
»Hör mal«, sagte sie, »ist mit dir noch alles in Ordnung? Mir ist
gestern etwas passiert und ich habe selbst noch nicht ganz
verstanden, was. Und jetzt bedrängst du mich. Was ist hier
eigentlich los? Habe ich vielleicht Gesetze gebrochen oder
was?«
»Ich mache mir einfach Sorgen um dich«, sagte Víkingur. »Aber wir
müssen jetzt nicht weiter darüber reden, wenn du nicht
willst.«
»Nur damit du Bescheid weißt: Ich weiß sehr gut, dass ich über
nichts reden muss, wenn ich nicht will. Ich dachte, wir sind
hierhergekommen, um nach Magnús zu suchen, und das Einzige, was dir
einfällt, ist, uns hier von der Polizei von einem Leichenschauhaus
zum anderen eskortieren zu lassen. Was ich gemacht habe, war, dass
ich rausgegangen bin und versucht habe, jemanden zu finden, der uns
auf eine Spur bringen kann. Währenddessen warst du draußen und hast
dich mit irgendeinem von deinen Polizeikumpels amüsiert. Herzlichen
Dank für die Hilfe.« Víkingur spürte, dass das Gespräch in eine
Sackgasse geraten war. Seine Frau war mittlerweile
aufgebracht.
Er konnte sich nicht streiten. Hatte diese Fähigkeit in ihrer Ehe bisher nie gebraucht. Þórhildur war offensichtlich aus dem Gleichgewicht geraten. Am vernünftigsten wäre es, zu versuchen, sie zu beruhigen. Er wollte nicht der Sündenbock für ihren Kummer und ihr Unwohlsein werden.
»Ja, entschuldige, Liebling. Allerdings warst es du selbst, die
nicht mitkommen wollte.«
»Ich bin hierhergekommen, um meinen Jungen zu finden nicht, um in
Restaurants zu sitzen.«
Jähzorn, Sarkasmus und Verbitterung hatte Víkingur von seiner Frau
bislang nicht zu spüren bekommen. Sie stand in Abwehrhaltung da und
schaute ihn feindselig an.
In Gedanken versuchte er zurückzuverfolgen, was er gesagt oder
getan hatte, um diese übertriebene Reaktion zu provozieren. Er
hatte gefragt, ob die Minibar sie in Versuchung geführt hätte. Die
Reaktion auf diese Frage waren Zorn und Verleugnung
gewesen.
Er spielte mit dem Gedanken, die Tür des Kühlschranks zu öffnen,
Þórhildur auf die leeren Fächer hinzuweisen und sie zu bitten, das
Gespräch noch einmal aufzunehmen. In aller Ruhe mit ihr zu reden.
Ihr zu verstehen zu geben, dass er sie keineswegs hatte
beschuldigen wollen.
Dass er nur versuchte, zu verstehen, was mit ihr geschehen
sei.
Keine gute Idee.
Wenn er ihr vor Augen führte, dass sie die gesamte Minibar geleert
hatte, würde er ihr nur ihre Lügen reinreiben, und vielleicht war
ja auch alles gegen ihren guten Willen geschehen. Eine
unausgesprochene Wahrheit richtet keinen Schaden an. Aber eine Lüge
tut das.
Víkingur schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte.