12. Die
große Künstlerin
Als Martine und Philippa die Haustür zuschlossen, besannen sie sich
plötzlich auf Babette. Eine kleine Woge der Zärtlichkeit und des
Mitleids erfüllte sie. Babette als einzige hatte keinen Teil gehabt
an den Segnungen des Abends.
Sie gingen hinüber in die Küche, und Martine sagte zu Babette: «Das
war wirklich ein nettes Essen, Babette.»
Ihre Herzen füllten sich unvermutet mit Dankbarkeit. Es wurde ihnen
bewußt, daß keiner der Gäste auch nur ein Wort über die Bewirtung
gesprochen hatte. Auch sie selber, und wenn sie sich die größte
Mühe gaben, konnten sich an keines der Gerichte erinnern, die
aufgetragen worden waren. Martine kam die Schildkröte in den Sinn.
Die war ja gar nicht auf den Tisch gekommen, sie schien plötzlich
weit entfernt und nur wie eine blasse Erinnerung – womöglich war
sie überhaupt nur ein Nachtmahr gewesen.
Babette saß auf dem Hackklotz, umgeben von ruß geschwärzten und
fettverschmierten Töpfen und Pfannen in einer Anzahl, wie ihre
Herrinnen sie nie auf einem Haufen beisammen gesehen hatten. Sie
war so weiß im Gesicht und so zu Tode erschöpft wie in jener Nacht,
als sie in Berlevaag erschien und an der Tür der Propsttöchter
zusammengebrochen war. Es verging eine lange Zeit, dann blickte sie
zu den Schwestern auf und sagte: «Ich bin Köchin im Café Anglais
gewesen.»
Martine wiederholte: «Das haben wirklich alle gefunden, ein nettes
Essen!» Als Babette mit keinem Wort darauf einging, setzte sie
hinzu: «Wir werden alle den Abend im Gedächtnis behalten, wenn du
wieder in Paris bist, Babette.»
Babette erwiderte: «Ich gehe nicht nach Paris.»
«Du gehst nicht nach Paris zurück?» rief Martine
erstaunt.
«Nein», sagte Babette. «Was soll ich in Paris?
Sie sind alle fort, ich habe alle verloren, Mesdames.»
Die Schwestern erinnerten sich, welches Schicksal Monsieur Hersant
und sein Sohn erlitten hatten, und sagten: «Ach ja, Babette, du
Arme!»
«Alle sind sie fort», sagte Babette. «Der Herzog von Morny, der
Herzog Decazes, der Fürst Naryschkin, der General Galliffet,
Aurélien Scholl, Paul Daru, die Fürstin Pauline! Alle
fort!»
Die fremden Namen und Titel von Menschen, deren Verlust Babette
beklagte, versetzten die beiden Damen in eine gewisse Verwirrung;
doch sprach aus der Aufzählung ein solches Übermaß von tragischen
Verwicklungen und Perspektiven, daß sie in ihrem Mitgefühl Babettes
Verlust als ihren eigenen empfanden und ihre Augen sich mit Tränen
füllten.
Nach einem weiteren langen Schweigen lächelte Babette plötzlich ein
wenig und sagte: «Außerdem, wie soll ich denn nach Paris
zurückfahren, Mesdames? Ich habe kein Geld.»
«Kein Geld?» riefen die Schwestern wie aus einem Munde.
«Nein», sagte Babette.
«Aber die zehntausend Francs?» fragten die Schwestern, vor
Schrecken atemlos.
«Die zehntausend Francs sind ausgegeben, Mesdames», sagte
Babette.
Die Schwestern mußten sich setzen. Eine Minute lang verschlug es
ihnen die Rede.
«Aber zehntausend Francs?» begann Martine schließlich mit einer
Flüsterstimme.
«Was wollen Sie, Mesdames», sagte Babette, und viel Würde sprach
aus ihren Worten.
«Ein Diner für zwölf Personen im Café Anglais, das hat immer seine
zehntausend Francs gekostet.»
Den Damen fiel immer noch nichts zu sagen ein. Was ihnen da
eröffnet worden war, entzog sich ihrem Verständnis. Aber
schließlich waren viele Dinge am heutigen Abend auf die eine oder
andere Weise über ihr Verständnis hinausgegangen.
Martine besann sich auf eine Geschichte, die ein Freund ihres
Vaters aus seiner Missionarszeit in Afrika erzählt hatte. Er hatte
der Lieblingsfrau eines alten Stammeshäuptlings das Leben gerettet,
und zum Zeichen seiner Dankbarkeit hatte ihn der Häuptling mit
einem üppigen Essen regaliert. Erst lange Zeit später erfuhr der
Missionar von seinem schwarzen Diener, was er dort gespeist hatte,
war ein gut durchwachsenes kleines Enkelkind des Häuptlings
gewesen, zubereitet zu Ehren des großen christlichen Medizinmannes.
Martine schauderte.
Philippa aber fühlte sich bis ins tiefste Herz gerührt. Sie hatte
das Empfinden, daß hier ein unvergeßlicher Abend seine Krönung
erfahren sollte in einem unvergeßlichen Beispiel menschlicher Treue
und Selbstaufopferung.
«Liebe Babette», sagte sie freundlich, «das hättest du aber nicht
tun sollen: unsertwegen alles hergeben.»
Babette warf der Herrin einen tiefen Blick zu, einen seltsamen
Blick – lag nicht Mitleid, vielleicht sogar Verachtung, auf seinem
Grunde?
«Ihretwegen?» versetzte sie. «Nein. Meinetwegen.»
Sie erhob sich vom Hackklotz und stellte sich den Schwestern
gegenüber.
«Ich bin eine große Künstlerin!» sagte sie.
Sie wartete einen Augenblick und wiederholte: «Ich bin eine große
Künstlerin, Mesdames.»
Von neuem breitete sich für längere Zeit ein tiefes Schweigen in
der Küche aus. Dann sagte Martine: «Also bleibst du nun arm fürs
ganze Leben, Babette?»
«Arm?» sagte Babette. Sie lächelte wie zu sich selbst.
«Nein. Arm bin ich nie. Ich habe Ihnen gesagt, ich bin eine große
Künstlerin. Eine große Künstlerin, Mesdames, ist niemals
arm.
Wir haben etwas, Mesdames, wovon andere Leute nichts
wissen.»
Während die ältere Schwester darauf nichts mehr zu sagen wußte,
begannen in Philippas Herz tiefe, vergessene Saiten zu vibrieren.
Sie hatte schon einmal gehört, lang lang war’s her, von diesem Café
Anglais. Sie hatte schon einmal, vor langer Zeit, Babettes
tragische Namensliste vernommen. Sie stand auf und trat einen
Schritt auf die Dienerin zu.
«Aber alle diese Leute, die du da erwähnst», sagte sie, «diese
Fürsten und hohen Herrschaften aus Paris, Babette – gegen die hast
du doch gekämpft! Du warst doch Kommunarde. Der General, von dem du
sprichst, hat deinen Mann und deinen Sohn erschießen lassen. Wie
kannst du diesen Leuten nachtrauern?»
Babette kehrte Philippa ihren dunklen Blick entgegen.
«Ja», sagte sie, «ich war Kommunarde! Gott sei Dank war ich
Kommunarde. Und die Leute, Mesdames, die ich genannt habe, waren
bös und grausam. Sie haben das Volk von Paris hungern lassen, sie
haben die Armen unterdrückt und gekränkt. Gott sei Dank habe ich
auf der Barrikade gestanden und habe für das Mannsvolk die Gewehre
geladen.
Aber trotzdem, Mesdames, will ich nicht nach Paris zurück, wenn die
Leute, von denen ich gesprochen habe, nicht mehr dort
sind.»
Sie stand regungslos da, in Gedanken versunken.
«Sie müssen verstehen, Mesdames», sagte sie schließlich, «diese
Leute gehörten zu mir, es waren meine Leute. Sie waren dazu erzogen
und geübt, mit größerem Aufwand, als Sie, meine lieben Damen, auch
nur begreifen und glauben können, dazu erzogen, daß sie verstehen
konnten, was ich für eine Künstlerin bin. Ich konnte sie glücklich
machen. Wenn ich mein Allerbestes gab, konnte ich sie vollkommen
glücklich machen.»
Sie schwieg einen Augenblick.
«So war es auch mit Monsieur Papin», sagte sie.
«Mit Monsieur Papin?» fragte Philippa.
«Ja, mit Ihrem Monsieur Papin, Sie Arme!»
sagte Babette. «Er hat es mir selbst gesagt.
Für einen Künstler, hat er gesagt, ist es schrecklich und
unerträglich, wenn er dazu ermutigt wird, nur sein Nächstbestes zu
geben und dafür noch Beifall bekommt. Durch die ganze Welt, hat er
gesagt, schallt unablässig der eine Schrei aus dem Herzen des
Künstlers: Erlaubt mir doch, daß ich mein Äußerstes
gebe!»
Philippa trat vollends auf Babette zu und umschlang sie mit ihren
Armen. Der Leib der Köchin war anzufühlen wie ein steinernes
Denkmal; aber sie selber zitterte und bebte vom Kopf bis zu den
Füßen.
Eine Zeitlang fand sie keine Worte. Dann flüsterte sie: «Aber dies
ist nicht das Ende. Ein Gefühl sagt mir, Babette, daß dies nicht
das Ende ist. Im Paradies wirst du die große Künstlerin sein, als
die Gott dich schuf. Und ein Entzücken», fügte sie hinzu, und die
Tränen liefen ihr über die Wangen, «ein Entzücken, Babette, für die
Engel!»