Manchmal habe ich Albträume. Ich träume, dass die künstlerische Qualität nicht mehr stimmt. Ich träume, dass Kunst und Musik sich selbst abschaffen – weil die Qualität nicht stimmt. Weil viel zu viel Belangloses, Leeres, Oberflächliches und Gleichgültiges grassiert und geduldet wird. Und weil keiner mehr eine echte schöpferische Muße aufbringt, weder für sich selbst noch für ein so großes Werk wie das Richard Wagners. Früher war alles besser? Solche Unkenrufe habe ich lange für das Gerede frustrierter alter Leute gehalten und nicht ernst genommen. Heute erlebe ich es am eigenen Leib: Früher war vieles besser, in der Tat, auch wenn manches verklärt wird. Wie in den Alpen die Gletscher schmelzen, schmilzt in der Kunst die Qualität. Wir haben perfekt gelernt zu funktionieren; wir haben nicht gelernt, nicht zu funktionieren oder Nein zu sagen. Das verursacht mir Albträume. Wie sagte Ronald Wilford einst über Carlos Kleiber? «He doesn’t function.» Was für ein großartiges Kompliment. Wissen wir heute überhaupt noch, dass Kunst nicht dazu da ist zu funktionieren, sondern dass sie sich ereignet?

Vielleicht ist es die Aufgabe meiner Generation, den Finger hier in die Wunde zu legen. Damit es die Jungen besser machen. Denn eigentlich wäre es so verdammt leicht. Der Künstler bestimmt den Markt, nicht der Markt den Künstler. Und warum beschäftigen wir uns denn so intensiv mit Richard Wagner, wenn wir nichts von ihm lernen? Wenn wir selbst nicht den geringsten Mut zum Widerstand aufbringen und uns bei der kleinsten Konfrontation gleich Existenzängste befallen?

Von Wagner lernen heißt für mich aber auch und vor allem: in die Tiefe gehen. Je genauer ich seine Musikdramen kenne, desto neugieriger, mutiger und sensibler werde ich. Insofern bin ich mir ziemlich sicher, dass Wagner mich für den Rest meines musikalischen Lebens begleiten wird. Natürlich lässt sich das über jede große Kunst sagen, dass sie in der Vielfalt ihrer Lesarten und Interpretationen unerschöpflich ist. Der Wagner-Interpret aber hat es darüber hinaus mit Dimensionen und Komplexitäten zu tun, die ihn schnurstracks an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit führen. Um diesen Kampf mit sich selbst nicht zu verlieren, muss er sich über die eigene Schulter blicken können. Er sorgt dafür, dass das Publikum außer sich gerät, und tut es selbst, er kasteit sich und genießt. Die Heroine oben auf der Bühne steht in ihren besten Momenten neben sich; und der Kapellmeister unten im Graben ringt mit seinen Kräften und entdeckt, wie viel Empfindsamkeit, Demut und Liebe in einer gewissen Entkörperlichung durch Erschöpfung liegen können.

Und manchmal ereignet es sich dann, das Wagner-Glück, und ist mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Weil es ganz unbescheiden auftritt und alles meint. Weil es keine existenziellere leibgeistige Erfahrung gibt als Wagners Musik. Die Wogen mögen über einem zusammenschlagen, der Mensch bleibt immer obenauf. Und dann sprühen sie, die Götterfunken – und man weiß nicht recht, gießt sich hier gerade das Licht der Erkenntnis aus, oder ist es nur der Widerschein eines ordentlichen Restaurants am anderen Ende des Tunnels? Ich bin mir sicher: Richard Wagner würde sich über beides freuen.