Ich möchte Richard Wagner nicht persönlich begegnen. Ich glaube, ich würde mich vor ihm fürchten. Wenn er zur Tür hereinkäme mit seinen 1,66 Metern und hätte vielleicht ungewaschene Haare unterm Samtbarett und hörte nicht auf zu sächseln und zu schwadronieren, über das Wetter und den Nachtschlaf und seine Hunde Russ und Putz und Molly, über Atlasbeinkleider, Zahngeschwüre, Klistiermethoden und bevorzugte Sängerinnen – ich wäre erledigt. Desillusioniert. Nicht, weil ich ein so hehres romantisches Bild von ihm habe, sondern weil ich erkennen müsste, wie stark die Wagner-Welt auseinanderfällt: ins Wirkliche und ins Mögliche, in Musik und Realität, in den Dresdner Hofkapellmeister, zu dem Wagner es brachte, und den handwerklichen Stümper, als den er sich selbst gerne bezichtigte, und in vieles mehr.

Als Dirigent sollte man das sicher alles wissen – aber man darf es auch wieder vergessen. Je älter ich werde, desto weniger interessieren mich die Biographien von Komponisten. Ich habe ja die Partituren, und da steht alles drin. Auch das Ambivalente, das Zwiespältige, gerade das.

Wie ich mir den Menschen Wagner vorstelle? Herrschsüchtig, jähzornig, albern, sehr sendungsbewusst. Demagogisch, getrieben, verrückt. Hans Neuenfels hat einmal geschrieben, als er meinte, ihm in Bayreuth begegnet zu sein (fiktiv natürlich), er habe sich vor dem Angesicht des Meisters «wie eine Motte aufgespießt» gefühlt. Das kann ich gut nachvollziehen: Blicke wie Dolche! Augen, die alles besser wissen! Andererseits: Wagner wusste ja tatsächlich vieles besser, und seine Sehnsucht nach einer Totalität in der Kunst, nach einer Kunst, die alles bedeutet, ist mir ziemlich vertraut. Vielleicht sind wir uns am Ende gar nicht so unähnlich in unserer Leidenschaft. Allerdings fällt es mir persönlich nicht gar so leicht, die Bodenhaftung zu verlieren. Wagner dagegen phantasierte sich gern ein inneres Neuschwanstein herbei. Im «Tristan»-Jahr 1865, nach seiner ersten Begegnung mit Ludwig II. in München, notiert er: «Ich kann und muss nur in einer Art von Wolke leben. Wie ich einzig Kunstmensch bin, kann ich auch nur ein künstliches Leben führen. Dazu gehört: fast gar nicht mehr mit den Leuten verkehren; gar nicht mehr sprechen, oder nur im Scherz, nie ernsthaft, denn das wird immer gleich leidenvoll und unnütz. ‹…› Ich richte mir dann einen vollständigen Hof ein. ‹…› Unmittelbar bekümmere ich mich um nichts mehr. ‹…› und dann geht es wie zu Versailles, bei Louis XIV her: mit steifster Etikette, wie auf Fäden gezogen.»

Richard Wagner um 1871, fotografiert von Franz Hanfstaengl

Die Realität sah wohl anders aus. Wagner war bodenständig und praktisch und dabei ein «wunderlicher Hitzkopf» – das liegt bis heute in der Familie. Er schwebte nicht genieumflort auf Wolken (sonst hätte er davon nicht träumen müssen), sondern kroch unten auf der Bayreuther Bretterbühne herum und tobte, weil nichts so war, wie er es haben wollte. «Der Architekt des Festspielhauses, dieser Brückwald aus Leipzig, ist eine Null! Das Holz knarzt bei jedem Schritt! Wo bleibt das Halsstück meines in London, in LONDON gefertigten Drachen? Warum funktioniert die Maschinerie der Rheintöchter schon wieder nicht? Und wer zum Teufel hat diese geschmacklosen Provinz-Indianer-Kostüme bestellt?» Letztlich sind Wagners Kämpfe von unserem Theateralltag gar nicht so weit entfernt. Zwar trägt Siegfried auf der Bühne heute kein Bärenfell mehr, aber die Rheintöchter, so die Regie sie nicht banalisiert, machen immer noch gerne Probleme.

Auch deswegen muss ich als Dirigent nicht alles über Wagners Leben wissen. Aber was ich ihn fragen würde, wenn er unverhofft bei mir in der Tür stünde: Lieber Wagner, wie kann ein Mann von Ihrem Format und Raffinement in seinem Urteil über Felix Mendelssohn Bartholdy so daneben liegen? Und noch etwas: Warum schreiben Sie, der begnadete Praktiker, in der ersten Szene der «Meistersinger» so viel Forte im Orchester? Wer soll dazu jemals singen können?

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«Wagalaweia» und «Hojotoho!»:
Eine erste Annäherung an Wagners Musikdrama

Wagner war, was man den französischen Impressionisten gemeinhin vorwirft zu sein: ein unverschämter Parfümeur. Ein Rattenfänger, der ultimative Meister der Hexenküche. Vieles in seiner Musik wirkt regelrecht hingeworfen – und ist doch gnadenlos genau berechnet. Wagner saß vor seinem Notenpapier wie in einem Labor, überall zischte und brodelte und qualmte es, und keiner wusste, ob seine Komponierstube nicht im nächsten Augenblick in die Luft fliegen würde. Hier ein wenig mehr Strychnin, da etwas Orangenaroma, damit die böse Bittermandel nicht so durchkommt, und schließlich noch ein Schuss Bergamotte-Öl, das duftet so schön – fertig ist das Gift, ist die Droge. Fertig ist der dritte Akt des «Tristan» in seiner ganzen manisch-depressiven Radikalität; und fertig ist der zweite Akt «Parsifal» mit seinen wilden, ungebärdigen Klangmixturen.

Ausführende Musiker sind von Haus aus Praktiker, das ist ihre Rettung und bisweilen ihr Fluch, und wenn sie sich Wagner und seiner Hexenküche nähern, dann tun sie auch das auf praktische Art. Dann wird stundenlang über das dritte Horn von links diskutiert oder darüber, wo der Chor in dieser oder jener Szene stehen muss und wo er auf keinen Fall stehen darf; dann gibt es auf den ersten Blick keinerlei Voraussetzungen und keine Kunstanschauung, keine musikalische Ästhetik oder Sonstiges an Hintergrund. Das freilich täuscht, denn ohne Überblick und Hintergrund geht es nicht, gerade bei Wagner nicht. Jeder, der sich nicht fragt, woraus die Wagnersche Hexenküche eigentlich besteht, ist verloren. Woher kommen ihre Zutaten, wo hängen ihre Töpfe und Pfannen, und kocht sie noch mit Feuer oder schon mit Gas? Anders formuliert: Der Dirigent muss zunächst einmal eine genaue Kenntnis des Wagner-Orchesters haben, er sollte sich mit der Sprache in Wagners Texten beschäftigen und wissen, warum Wagner diese Stoffe wählte und keine anderen. Auf allen drei Gebieten – Orchester, Text, Stoff – hat Wagner Neuland betreten, und auf allen dreien befremdet er uns immer wieder. Das Orchester: riesig! laut! Die Texte: unverständlich! lang! Die Stoffe: altbacken! verschwurbelt! Ich denke, es wird Zeit, anzufangen und etwas Licht ins Dunkel dieser Vorurteile zu bringen.

Das Wagner-Orchester

Das Wagner-Orchester ist ein Paradox. Je größer es wird, desto feiner, leiser und kammermusikalischer klingt es; und je kleiner es ist, desto lauter klingt es. Am lautesten sind die sogenannten Jugendwerke, vom «Liebesverbot» bis zum «Fliegenden Holländer». Wagner-Orchester ist also nicht gleich Wagner-Orchester, die Instrumentierung fällt sehr unterschiedlich aus. Beim «Holländer» zum Beispiel sitzen nur vier Hörner und zwei Trompeten im Graben, und es kann ohrenbetäubend laut sein. In der «Götterdämmerung» hingegen sieht man acht Hörner (von denen zwei Tenortuben und zwei Basstuben sein können), drei Fagotte (das zweite ein Kontrafagott), eine Kontrabasstuba, drei Trompeten nebst Basstrompete sowie drei Posaunen nebst Bassposaune – und es ist mitnichten so laut. Sicher gibt es hier Stellen mit dreifachem Forte, aber sehr punktuell, sonst würde es keinen Effekt machen. Wagner wird in seiner Orchesterbesetzung immer differenzierter. Um auszudrücken, was er ausdrücken möchte, bedient er sich eines stetig wachsenden, immer reicheren und vielgestaltigeren Apparats. Das Orchester wird größer und größer, und gleichzeitig spielen die Musiker immer seltener alle auf einmal.

Was die Streicher angeht (erste und zweite Geigen, Bratschen, Celli und Kontrabässe), so schreibt Wagner gern «vorzüglich und stark zu besetzen». Grundsätzlich wollte er so viele Musiker im Graben sitzen haben, wie irgend Platz finden. Was Bayreuth betrifft, also seit 1876, bedeutet das 16, 16, 12, 12 und 8 – also 16 erste und 16 zweite Geigen, zwölf Bratschen, zwölf Celli und acht Kontrabässe. Daran ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen verlangt Wagner zwei gleich stark besetzte Geigengruppen. Das dürfte auf den abgedeckten Bayreuther Orchestergraben zurückzuführen sein, den «mystischen Abgrund», in dem die zweiten Geigen – links vom Dirigenten sitzend – gegen den Deckel anspielen müssen. Um diesen «Nachteil» auszugleichen, zählt das Orchester bei Wagner, anders als bei Mozart, Weber, Verdi oder Strauss, genauso viele zweite wie erste Geigen. Zum zweiten sieht man hier, wie wenig basslastig Wagners Musik doch ist. Acht Bässe bei 32 Geigen sind nicht viel. Der Eindruck des tiefen, dunklen, wie Lava sich ergießenden Klangs hat womöglich also ganz andere Gründe, harmonische, synästhetische oder solche des subjektiven Erlebens.

Einen Spezialfall bei den Bläsern stellt die Wagner-Tuba dar (auch Horn-, Ring- oder Rheingold-Tuba genannt), die Wagner eigens für den «Ring des Nibelungen» bauen ließ. Der Name ist irreführend, denn diese Tuba ist gar keine Tuba, sondern gehört in die Familie der Waldhörner. Ihre Bauform erinnert an das Tenorhorn: schlank und elegant in die Länge gezogen. Das Instrument kommt in zwei Größen und Stimmungen vor, in B (in der Tenorlage, dann ist es kleiner) und in F (in der Basslage, dann ist es entsprechend größer). Die Wagner-Tuba klingt wie eine Tuba, ohne die charakteristisch runde, noble Anmutung des Horns aus den Ohren zu verlieren. Ein natürliches, leicht verschattetes, fast mystisches Timbre. An ihm lässt sich ermessen, wie akribisch Richard Wagner seine inneren Klangvorstellungen umzusetzen versuchte. Seit er sich mit dem Gedanken an einen «Ring des Nibelungen» beschäftigte, seit den 1850er Jahren also, war er auf der Suche nach diesem Instrument. Der berühmte belgische Bläserspezialist Adolphe Sax (dem wir das Saxophon verdanken) kam zu wenig befriedigenden Ergebnissen, und erst mit Hilfe der Mainzer Firma Alexander gelang Anfang der 1860er Jahre die Entwicklung der gewünschten Kreuzung. In den späten Symphonien des Wagnerianers Anton Bruckner findet die Wagner-Tuba ebenso Verwendung wie in Richard Strauss’ «Frau ohne Schatten» oder in dessen «Alpensymphonie».

Und noch eine Besonderheit kennt das Wagner-Orchester: die sogenannte Beckmesser-Harfe in den «Meistersingern von Nürnberg». Auch hier handelt es sich um eine Wagnersche Eigenkreation: eine kleine, mit 20 Stahlsaiten bespannte und mit zwei Pedalen versehene Harfe, die jene Laute imitiert, mit der sich der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser im zweiten Akt als Evas Zukünftiger profilieren möchte. Zum Vergleich: Eine Konzertharfe hat 47 Saiten, zumeist aus Darm, sieben Pedale und einen viel geschmeidigeren Klang. Warum Wagner für die Beckmesserei nicht gleich eine echte Laute genommen hat? Weil diese sich gegen das opulente «Meistersinger»-Orchester (vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Basstuba und eine große Bühnenmusik) kaum durchsetzen würde. Außerdem geht es hier ums Prinzip der Parodie, um eine gewisse Künstlichkeit also. Kompositorisch mag Beckmesser die progressivste, unkonventionellste Musik der ganzen Oper abbekommen haben – eine echte Chance, Evas Herz zu gewinnen, hat er nicht, und genau das sagt die Harfe.

Als Laie stellt man sich wahrscheinlich vor, dass es viel schwieriger wäre, ein großes Orchester zu dirigieren als ein mittleres oder kleines. Aber das stimmt nicht: Oft ist es sogar leichter, am Wagner-Pult zu stehen als am Beethoven- oder Mozart-Pult. Denn ein großes Orchester ist nicht nur anonymer, sondern bietet meist auch mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Außerdem spielen ja selten alle Musiker auf einmal.

Apropos: Auch der Wagner-Chor singt nicht immer in voller Stärke. Mal ist das so komponiert, mal gehorcht es aufführungspraktischen Erwägungen. So gilt Wilhelm Furtwängler als Erfinder der Chorverkleinerung in der berüchtigten Prügelszene am Ende des zweiten Aktes «Meistersinger». In dieser Szene fallen die durch Beckmesser aus dem Schlaf gerissenen ach so braven Nürnberger Bürger nach und nach übereinander her. Musikalisch basiert das Ganze auf einem Fugato, einer fugenähnlichen Struktur. Das heißt, Wagner gibt dem größten Chaos den Anschein mathematischer Präzision – vielleicht weil die braven Bürgersleute letztlich doch nicht aus ihrer Haut können. In jedem Fall ist die Umsetzung dieser «Fuge» bei einem 130 Mann starken Chor nicht leicht, zumal auch auf der Bühne einiges an Aktion stattfindet. Furtwängler war diese Koordinationsprobleme leid und kam auf die verdienstvolle Idee, den Chor zu splitten: in einen Stamm, der sich in der Szene nicht groß bewegt und für das musikalische Gerüst sorgt, und in einzelne Gruppen, die mal singen, mal spielen und sich dabei möglichst abwechseln. Der Betrachter nimmt diese Differenzierung kaum wahr, weswegen sie bis heute gerne angewandt wird. Ganz abgesehen davon wird es ohnehin viel zu laut, wenn alle Meister, Gesellen, Lehrbuben, Nachbarn und Nachbarinnen im vollen Tutti-Ornat loslegen.

Mit der Zeit, wie gesagt, wurde das Wagner-Orchester immer reicher und größer. In der Aufführungspraxis führte diese Entwicklung dazu, dass man die Streicherstärken des «Rings» bald auch auf die früheren Werke übertrug. In einer Bayreuther «Tannhäuser»- oder «Lohengrin»-Vorstellung sitzen heute ebenfalls 16 erste und 16 zweite Geigen – ganz gleich ob diese bei den Uraufführungen 1845 in Dresden («Tannhäuser») oder 1850 im kleinen Weimar («Lohengrin») jemals Platz gehabt hätten. Wahrscheinlich war Richard Wagner seinerzeit schon mit acht Geigen pro Stimme zufrieden und gut bedient. Doch was wäre im Sinne einer historisch informierten Aufführungspraxis nun korrekt? Sich an die mutmaßliche Originalbesetzung zu halten und den Grund von Wagners Unzufriedenheiten weiter zu tradieren? Oder ihn gegen sich selbst zu verteidigen, indem man davon ausgeht, dass ihm eine «vorzügliche» und «starke» Besetzung auch in jungen Jahren bereits lieber gewesen wäre? Historische Aufführungspraxis heißt für mich immer: Mit damaligen Augen lesen und mit heutigen Ohren hören. Verstehen, was geschrieben steht, es in Relation setzen zu den vorhandenen Möglichkeiten – und die Wirkung auf heutige Umstände übertragen. Ich persönlich fände es schön, wenn man die Unterschiede zwischen einer frühen und einer späten Wagner-Oper auch in der Orchesterbesetzung hörte. Selbst dieser große Meister ist nicht als Meister vom Himmel gefallen.

Wort und Ton

Richard Wagner war von Anfang an sein eigener Librettist. Das mag pragmatische Gründe haben – sein bewegtes Leben hätte die beschauliche Zusammenarbeit mit einem Theaterdichter wohl kaum zugelassen. Vor allem aber sah seine Utopie vom «Gesamtkunstwerk» nie etwas anderes vor. Wagners Ziel war es, alle bühnenkünstlerischen Disziplinen miteinander zu synchronisieren: Text, Musik, Tanz, Dekoration und Licht. Der Gedanke mag schon zu Zeiten seiner zentralen Schriften («Die Kunst und die Revolution», 1849, «Das Kunstwerk der Zukunft», 1850, «Oper und Drama», 1851) nicht ganz neu gewesen sein, man kannte ihn aus der Antike, aus den Florentiner Urgründen der Oper im späten 16. Jahrhundert und auch aus der Romantik. Niemand aber hat ihn so konsequent und umfassend und größenwahnsinnig formuliert wie Richard Wagner. Indem er die Architektur, die künstlerischen Produktionsbedingungen und das Rezeptionsverhalten des Publikums mit einschließt, verfasst er nichts weniger als eine Gesellschaftstheorie. Sie lautet: «Das Drama ist nur als vollster Ausdruck eines gemeinschaftlichen künstlerischen Mitteilungsverlangens denkbar; dieses Verlangen will sich aber wiederum nur an eine gemeinschaftliche Teilnahme kundgeben.» Mit anderen Worten: Im Opernpublikum konstituiert sich die Öffentlichkeit der Zukunft. «Eine Bevölkerung ihren gemeinen Tagesinteressen zu entreißen, um sie zur Andacht und zum Erfassen des Höchsten und Innigsten, was der menschliche Geist faßt, zu stimmen» – das ist die Aufgabe der Kunst. Ausgelebt werden kann sie seit 1876 vorzugsweise in Bayreuth.

Dabei ist das Was genauso wichtig wie das Wie, das Wie so wichtig wie das Was. Für Wagner ist der Text, die Dichtung der «zeugende Samen» (also männlich) und die Musik das «gebärende Element» (also weiblich). Die Musik sei der Atem, heißt es an anderer Stelle, der die Sprache «zur Selbstbewegung beseele». Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, und entsprechend gestaltet sich bei Wagner das Verhältnis von Sprache und Klang: als ein symbiotisches, oft lautmalerisches. Mal treibt der Text bloß Konversation, mal beschleunigt er den Fortgang der Handlung, mal dient er als Material, als Lautfüllstoff für die Musik. Verse wie Tristans und Isoldes «gib Vergessen /daß ich lebe; /nimm mich auf /in deinen Schoß, /löse von /der Welt mich los!» beispielsweise wären vielleicht auch durch etwas anderes zu ersetzen, sie transportieren mehr Liebeslallen als wortwörtlichen Sinn. Wichtig ist hier, dass die Sänger erstens Legato singen, zweitens leise und drittens langsam – «sehr weich», schreibt Wagner in der Partitur.

Ich könnte hier massenweise Stellen anführen, über die man sich lustig machen kann, Wagner gilt in dieser Beziehung ja als ausgesprochen dankbar. Das Sächsische zum Beispiel scheint eine Rolle in seinen Texten zu spielen («mit Bappe back’ ich kein Schwert!» statt «mit Pappe» im «Siegfried»). Und dann ist da die mächtige Bastion des notgedrungen Text-Unverständlichen (woran die Oper allerdings generell krankt, nicht nur bei Wagner). Ich denke nicht, dass er das im Einzelnen so beabsichtigt oder auch nur in Kauf genommen hat, vielmehr ist er an menschliche, sängerische, artikulatorische Grenzen gestoßen, über die er noch einmal hätte nachdenken müssen. Er kann nicht geglaubt haben, dass die Tristan-Klagen im dritten Akt verständlich sind – dafür muss sich der Tenor viel zu sehr anstrengen, denn das Orchester spielt permanent Forte und Fortissimo. Und er kann nicht geglaubt haben, dass Isoldes «Entartet Geschlecht, /unwert der Ahnen! /Wohin, Mutter, /vergabst du die Macht, /über Meer und Sturm zu gebieten?» gleich in der ersten Szene des ersten Aktes je verständlich sein würde – warum sonst schrieb er in die Regieanweisung «wild vor sich hin»? Ist hier vielleicht vor allem der Gestus, der Furor, das Aufgewühltsein an sich gemeint?

Richard Wagner gehört zu den Wiederentdeckern des Stabreims im 19. Jahrhundert. Diese Spielart der Alliteration kam ihm gleich mehrfach entgegen: Seine Libretti erschienen mit ihrer Hilfe in einem authentischen kunst-mittelalterlichen Gewand, außerdem ließ sich die Sprache durch das Spiel mit den Anlauten gleichsam musikalisieren. Als wäre der Text eine Vorstufe zur Komposition. Über Wagners Stabreime lässt sich leicht lachen, und oftmals besteht dazu auch Grund. Lautliche Eigenkreationen wie das «Wagalaweia» der Rheintöchter oder das «Hojotoho» der Walküren sind längst in unseren kollektiven Wortschatz übergegangen. Aber auch bei Alberichs «garstig glattem /glitschrigem Glimmer» oder Versen wie «Der Recken Zwist /entzweit noch die Rosse!» schlägt man sich gern auf die Schenkel. Abgesehen davon, dass Wagner das feine Besteck der Ironie beherrscht und Humor genug besitzt, um sich auch über sich selbst lustig zu machen, erscheint mir das arg wohlfeil. Ein einziges «Wallala weiala weia» – und schon verabschieden wir uns von einem der großartigsten Textdichter der gesamten Operngeschichte?

Zunächst muss man Wagners Leistung anerkennen. Durch wie viele dicke Wälzer und Quellen er sich gefressen hat, durch die «Edda», die diversen Fassungen des «Nibelungenlieds», durch Gottfrieds «Tristan» und Wolframs «Parzival» und etliches mehr! Und mit welchem Überblick, welcher geradezu feldherrnartigen Souveränität er all die Stränge, Stoff- und Handlungsebenen dramaturgisch zu ordnen verstand! Auch als Theaterdichter hat Wagner Maßstäbe gesetzt, und er kann es auf diesem Gebiet mit Profis durchaus aufnehmen – mit Arrigo Boito etwa, Giuseppe Verdis Librettisten (der «Rienzi», «Tristan und Isolde» sowie die «Wesendonck-Lieder» ins Italienische übersetzt hat). Boitos und Verdis «Simon Boccanegra» oder «Otello» sind spannungsgeladene, dämonische, meisterhafte Opern, keine Frage. Das Verhältnis von Wort und Ton aber ist ein gänzlich anderes. Ohne ins Detail gehen zu wollen und die Entwicklungsschübe in beiden Œuvres zu berücksichtigen, könnte man sagen: Boito und Verdi vertonen – Wagner verklanglicht. Boito und Verdi verknappen, destillieren, dramatisieren – Wagner verströmt sich, feiert Orgien, ergreift Besitz. Bei aller Liebe zur italienischen Oper wird ein Herz wie das meine, das Herz eines Klangmenschen, immer mehr für Wagner schlagen.

Bei Wagners schieren Textmassen allerdings bleiben Unterschiede im Niveau nicht aus. Es gibt etliche Wendungen, die keiner kennt und keiner jemals hört, weil sie im Getümmel schlicht untergehen. Und das ist gut so. Um Verse wie «Die Stute /stößt mir der Hengst!» ist es nicht wirklich schade. Andererseits schreibt Wagner immer wieder sehr schöne, poetische, hoch reflektierte Texte. Brünnhildes «War es so schmählich, /was ich verbrach, /daß mein Verbrechen so schmählich du bestrafst?» ist ein Stabreim mit Gewicht, Lohengrins «Das süße Lied verhallt; wir sind allein, /zum ersten Mal allein» hat einen erotischen Duft. Oft geht die Verklanglichung der Sprache so weit, dass sich die Sänger gar nicht mehr richtig bewusst machen, was sie da eigentlich singen. Doch es ist nicht alles Gelalle bei Wagner, nicht alles nur Lautfüllstoff. Insofern halte ich einen präzisen Umgang mit dem Text für unerlässlich. Es war die Idee Walter Felsensteins, des Begründers des sogenannten realistischen Musiktheaters und langjährigen Chefs der Komischen Oper Berlin, seine Sänger vor jeder Neuinszenierung das Libretto laut lesen zu lassen (nicht nur bei Wagner). Ich rege das auf der Probe auch manchmal an: Bei deklamatorischen Problemen kann es ungemein helfen, einen Vers oder Satz einfach mal ohne den musikalischen Rhythmus zu sprechen, ganz wie die deutsche Sprache es verlangt. Denn meist hat Wagner so komponiert, wie man spricht.

Wenn er das einmal nicht tut, dann mit gutem Grund. Vor dem Quintett im dritten Akt der «Meistersinger» etwa betont er bewusst falsch. Da spricht Sachs von der «‹seligen Morgentraum-Deutweise›», in Anführungsstriche gesetzt, ein äußerst merkwürdiges Wort. Wagner, raffiniert, wie er ist, legt den Akzent weder auf «Morgen» noch auf «Weise», sondern auf «Deut» – Morgentraum-Deutweise. Warum? Um zu zeigen, dass es darum geht, das Geschehene richtig zu deuten: Evchens Liebe zu Stolzing, Sachs’ eigenen Liebesverzicht («Mein Kind: /von Tristan und Isolde /kenn’ ich ein traurig Stück:  /Hans Sachs war klug, und wollte /nichts von Herrn Markes Glück») und vor allem Stolzings Preislied, jene frisch geborene «Meisterweise», die scheinbar jedes Regelwerk sprengt und am Ende des Wettsingens doch den Sieg davonträgt. Das Neue, sagt Wagner hier mit einer einzigen augenzwinkernden Akzentverschiebung, müssen wir uns erst erarbeiten.

Ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein, wird dies weder Sängern noch Dirigenten bei Wagner gelingen. Wir leben in einer globalisierten Musikwelt, und wenn ein Dirigent kein Deutsch kann, ist es Usus, dass die Assistenten einen Teil der Arbeit für ihn erledigen: die Arbeit mit den Sängern an Aussprache und Artikulation, das Aufspüren von Witz und Ironie, überhaupt alle tiefer gehenden inhaltlichen Fragen. Das halte ich für falsch, ja für fatal. Dass Wagner das Bühnengeschehen in der eben geschilderten Weise musikalisiert beziehungsweise verklanglicht, heißt nicht, dass man sich auf die Musik allein verlassen darf. Um Verdi und Puccini besser zu verstehen, habe ich Italienisch gelernt. Bis heute aber spreche ich weder Tschechisch noch Russisch – und würde Janáček und Tschaikowsky auch nicht in der Originalsprache spielen, sondern lieber, ganz altmodisch, auf Deutsch. Das ist ästhetisch und politisch nicht sonderlich korrekt, aber wenn ich nicht weiß, ob gerade von rollenden Köpfen oder von goldenen Knöpfen die Rede ist, wenn ich am Pult rein phonetisch agiere, beraube ich mich einer entscheidenden Dimension. Der Dirigent muss wissen, was er dirigiert.

Wagner verführt und verlockt uns mit seinen Düften, seinen Klangorgien, seinen ganz speziellen Essenzen. Um uns in den psychedelischen Rauschzuständen, die er evoziert, nicht zu verlieren, haben wir nur eine Chance: Wir müssen ihn beim Wort nehmen, buchstäblich, wir müssen verstehen, was verstanden werden kann, und seine Trickkiste bis in die hintersten Winkel ausleuchten. Der Rätselrest, der dann bleibt, ist immer noch groß genug.

Die Stoffe

Wenig verführerisch, ja geradezu sperrig erscheinen uns heute oft Wagners Stoffe. Warum diese germanischen Mythenwelten voller dunkler Riten und Kulte, voller Nornen, Alben, Trolle und Walküren? Das helle Licht der antiken Götter- und Sagenwelt lassen wir uns gern gefallen, mit Wotan und Erda hingegen fremdeln wir. Man muss Wagner aber auch aus seiner Zeit heraus verstehen. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der jungen, eifernden Nationen und ihrer Symbole. Der Kölner Dom wurde nach über 600 Jahren fertiggestellt, man restaurierte die Marienburg und andere historische Baudenkmäler, in Preußen brach 1830 die Polenbegeisterung aus – und diese ganze Selbstvergewisserung im Vergangenen gipfelte schließlich 1871 in einem ebenso visionären wie spekulativen Projekt, in der Gründung des deutschen Reichs. Das ist der Geist, in den Wagner 1813 hineingeboren wurde und aus dem er bis ans Ende seines Lebens schöpfte. Wagner verstand sich als Konservativer und als Revolutionär, diese Spannung war für seine Kunst von Anfang an essentiell. Genau das ist auch der Motor, den wir bis heute spüren.

Richard Wagner wollte das Leben beschreiben, wie es ist, das ganze Leben. Dazu brauchte er Stoffe, die einerseits diesen Anspruch untermauerten und ihm andererseits genügend Freiheit ließen. Er brauchte also Mythen, doch im Grunde hat er Quellen wie die Edda, das Nibelungenlied, das «Tristan»- oder das «Parzival»-Epos nur benutzt und für seine Zwecke instrumentalisiert. Er hat sich in diese mythischen Dichtungen gehüllt wie in kostbare archaische Gewänder – um darunter ganz andere, zeitgenössische und subversive Dinge zu treiben. Wagner wollte mit dem «Ring» weder die Edda noch das Nibelungenlied vertonen, das lag ihm völlig fern. Er wollte ein Welttheater errichten und in gigantomanischer Breite erzählen, was passiert, wenn der moderne Mensch sich über dem Streben nach Besitz und Reichtum selbst vergisst. Er hatte diese Idee und suchte dazu den passenden Mythos oder Stoff, nicht umgekehrt. Das darf man als Wagnersches Prinzip wohl festhalten. Insofern hätten es statt «Tristan und Isolde» wahrscheinlich auch «Romeo und Julia» sein können, nur war die Shakespeare-Begeisterung Mitte des 19. Jahrhunderts weniger ausgeprägt als die fürs höfische Mittelalter, und das gab vermutlich den Ausschlag.

So gesehen ist Wagners Weg zum Mythos eigentlich logisch. Als Kind seiner Zeit lag das Mittelalter für ihn in der Luft, und er musste sich für die Wahl dieses oder jenes Stoffes nicht groß legitimieren. Ein «Lohengrin» oder ein «Tannhäuser» verstanden sich von selbst, schließlich identifizierte man sich mit den Vorvätern und ließ sie als Beispiele gerne leuchten. Sie galten als Garanten jener zwischenzeitlich (mehr oder weniger seit dem Mittelalter) verloren gegangenen kollektiven Identität, die man nun neu zu erringen versuchte. Wagner lieferte dafür die Vorlagen. Was er allerdings im Einzelnen aus den Figuren und ihren Geschichten machte, politisch, psychologisch, ästhetisch, das steht auf einem anderen Blatt. Das historisierende Gewand hat er wohlweislich nie verletzt.

Siegfrieds Kampf mit dem Drachen: Illustration zur Inszenierung von Wagners «Ring des Nibelungen» an der Mailänder Scala im Jahr 1899

Letztlich ist Wagners Modernität für mich aber eher eine Frage der Musik als eine der Stoffe. Insofern habe ich zu seinen Stoffen immer eine gewisse Distanz gehabt und habe sie noch, das gebe ich gerne zu. Nichts gegen die Vision vom Gesamtkunstwerk und erst Recht nichts gegen den Sprachvirtuosen und Librettisten Wagner. Vielleicht sehe ich auch nur das Kostüm, in das er schlüpft, und misstraue diesem, weil mich das, was darin oder dahinter steckt, sehr viel mehr interessiert. Auch Richard Strauss arbeitet in seinen Opern gern mit mythischen Stoffen, wenngleich nicht mit germanischen, sondern mit griechischen (man denke an «Elektra», «Ariadne» oder «Daphne»). Abgesehen davon, dass uns diese hellenische Welt wie gesagt vertrauter ist, geht es mir dabei ganz ähnlich. Nehme ich als Dirigent wirklich am Schicksal der Königstochter Ariadne Anteil, die auf Naxos ihre Liebesverlassenheit beklagt, oder zerbreche ich mir den Kopf darüber, warum Strauss diesen Stoff 1912 als Oper in der Oper vertont und was mir das Artifizielle in seiner Musik wohl sagen will? Wahrscheinlich eher letzteres, und auf keine andere Diskrepanz hatte es schon Wagner abgesehen – seinerseits in guter Tradition übrigens. Händel, Mozart, Gluck, sie alle wollten dem Musiktheater neue Bahnen eröffnen und haben es getan. Bei Wagner klaffen das Archaische (seiner Stoffe) und das Avantgardistische (seiner Musik) nur ganz besonders stark auseinander, als zeigte das eine mit dem Finger auf das andere. Was für eine Herausforderung. Und was für ein Glück.

2
«Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt»:
Wagner und seine Dirigenten

In Bayreuth sind Wagners Visionen Architektur geworden, nirgends kommt man seinem Entwurf einer anderen, gerechteren, freieren, künstlerischeren Welt so nah wie im Bayreuther Festspielhaus, schon rein gefühlsmäßig. Und was man hier vor allem spürt, ob man sich mit der Wagnerschen Theorie des Gesamtkunstwerks nun auskennt oder nicht: Jedes Rädchen im Getriebe ist wichtig, auf jeden Einzelnen kommt es an. Nur der Dirigent ragt aus dem Wagner-Kollektiv ein wenig hervor. Höher als in jedem anderen Opernhaus der Welt thront er im Bayreuther Orchestergraben über den Musikern, wie der Priester auf seiner Kanzel. Der Dirigent ist der König des Abends, der erste Stellvertreter und «Handlanger» des Komponisten, bei ihm laufen die Fäden zusammen, im übertragenen wie im praktischen Sinn. Auch deswegen möchte ich ihm hier ein eigenes Kapitel widmen. Sucht man nämlich einen Gradmesser für unseren Umgang mit den extremen Herausforderungen von Wagners Kunst, so findet man ihn zu allererst in der honorigen Reihe der Wagner-Dirigenten. Wer sie kennenlernen will, muss bei Wagner selbst beginnen. Schließlich war er – wie die meisten Komponisten seiner Zeit – auch sein eigener Interpret und hat überhaupt als Dirigent von sich reden machen.

Wagner am Dirigentenpult

Neben Mendelssohn und Hector Berlioz gilt Richard Wagner als einer der ersten Profi-Dirigenten überhaupt. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass er einen Taktstock benutzte. Dieser stellte zwar im 19. Jahrhundert keine ganz neue Errungenschaft mehr dar, brachte dem Dirigenten aber eine neue Macht und in die Musik eine neue Ordnung. Im 18. Jahrhundert lenkten meist die Instrumentalsolisten oder die Konzertmeister am ersten Geigenpult das Geschehen, und wenn überhaupt, wurde der Takt für alle hörbar geschlagen – durch Klopfen beziehungsweise Stampfen mit dem Stock auf den Boden. Legendär ist die Geschichte des französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully, der sich im Eifer des Gefechts einen solchen Stock in den Fuß rammte und an Blutvergiftung starb, weil er jede ärztliche Behandlung verweigerte. Anfang des 19. Jahrhunderts dann bewegt sich der Stock aus der Vertikalen in die Horizontale, er emanzipiert sich von der Schwerkraft, wenn man so will, ist mehr Verlängerung des menschlichen Arms als alter Schellenbaum – und macht den Dirigenten zum Dreh- und Angelpunkt der Aufführung.

Abgesehen davon, dass Lullys Missgeschick Wagner nicht passieren konnte (er wäre auch sofort zum Arzt gerannt), ist es gar nicht so leicht, sich ein Bild von seiner Kapellmeisterei zu machen. Mendelssohn soll, lese ich bei seiner Schwester Fanny, «ein nettes leichtes, mit weißem Leder überzogenes Fischbeinstöckchen» benutzt haben, Berlioz hingegen, ebenfalls nach Fannys Zeugnis, einen «mit der Rinde versehenen, ungeheuren Lindenknüppel». Auch Wagners Stock besaß offenbar nicht die fortschrittliche Schlankheit, weshalb er ihn nach älterer Manier ein Stück oberhalb des unteren Endes packte. Für einen besonders biegsamen Schlag und feinen musikalischen Pinselstrich spricht das nicht. Willi Bithorns Schattenriss von Wagner als Dirigenten bildet denn auch eher den Wirkungsfuror ab – und das typische Klischee: die Arme ekstatisch nach oben gerissen, die Frackschöße fliegen, der ganze Mensch bäumt sich auf, balanciert auf Zehenspitzen, und der Wind, den er verursacht, fährt geradewegs in die Noten. Wäre da nicht das unverkennbare Wagner-Profil, die Nase, das Kinn, man könnte meinen, man habe es mit einem jener Scherenschnitte zu tun, die Otto Böhler bald darauf von Gustav Mahler anfertigte.

So halte ich mich lieber an Gustav Adolf Kietz’ «Erinnerungen an Richard Wagner», wo es heißt: «Das Haupt erhoben, den Oberkörper unbewegt, die linke Hand an der Seite ruhend, in der rechten den Taktstock, nicht mit dem Arm, sondern mit dem Handgelenk dirigierend – so steht Wagner in der Aufführung vor dem Orchester. Seine Leidenschaftlichkeit scheint nach außen gebändigt, sie entlädt sich aber im Mienenspiel und vor allem im Blick des Auges, das er als das wichtigste Mittel der Willensübertragung bezeichnet.» Das erscheint mir persönlich eher glaubwürdig. Doch Kietz war Bildhauer: Vielleicht ist seine Darstellung mehr der Behäbigkeit seines Materials geschuldet als den musikalischen Tatsachen?

Richard Wagner dirigierend, Schattenriss von Willi Bithorn aus dem Jahr 1870

Noch schwieriger ist es, sich von Wagners Stil eine Vorstellung zu machen. An Zeugnissen mangelt es zwar nicht, Selbstaussagen und Kritiken, von Busenfreunden wie Erzfeinden, gibt es zuhauf. Demnach waren Wagners Dirigate hauptsächlich von «Temporückungen», einer ausufernden «Rubato-Technik» und großer «Expressivität» geprägt. Doch meinen diese Schlagwörter 1855 das gleiche wie heute? Der Beruf des «Dirigier-Solisten» ist damals noch jung, jedes freiere Gestalten vom Pult aus steht also per se unter Sensationsverdacht (während man heute nichts anderes erwartet). Außerdem würden wir uns über den technischen Standard der Orchestermusiker wohl die Haare raufen. Die Grenzen zwischen Subjektivität und Schlamperei, zwischen Anarchie und Dilettantismus dürften daher stark fließend gewesen sein. Und wichtig ist natürlich auch: Wagner hat sich zeitlebens als Komponist begriffen, nicht als Kapellmeister. Das Dirigieren war ihm mehr Krücke als Passion, mehr Mittel zum Zweck und Strategie. Er wollte um jeden Preis berühmt werden – um als Berühmtheit seine Musikdramen besser lancieren zu können.

Wie ihm das gelingen konnte, ist mir ein Rätsel, offen gestanden. Der Mann war nicht nur Autodidakt (was noch nichts heißt), sondern auch ein armseliger Pianist und hoffnungsloser Geiger, selbst im Partiturlesen tat er sich schwer, und das Transponieren eigener Stücke am Klavier trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Was hatte jemand mit einer so mangelhaften Qualifikation bloß vor einem Orchester verloren? Und wie kam er dazu, den Opern- und Konzertbetrieb bei jeder sich bietenden Gelegenheit als «Travestie» und «Trödel» zu beschimpfen? Woher diese Hybris?

Ein einziger Blick in die Partitur des «Tristan» oder des «Parsifal» genügt, und die Diskussion löst sich in Luft auf. Was bleibt, ist eine mächtige Diskrepanz: Derjenige, der von allen seinen Zeitgenossen am wenigsten praktizierender Virtuose ist, kein Wunderkind wie Mendelssohn, kein Dämon wie Paganini, kein Freigeist wie Franz Liszt, pflügt die musikalische Landschaft am tiefsten um. Als schöpferischer wie als nach-schöpfender Künstler, als Komponist wie als Dirigent. Man liest öfter, Wagner habe sich bewusst zum Dilettanten stilisiert: um alle Experten, alle Hüter der Tradition zu blamieren – und selber am Ende als strahlender Messias zu erscheinen. George Bernard Shaw formuliert das etwas netter: Der Musiksachverständige alter Schule müsse bei Wagner erst einmal von Grund auf alles verlernen.

Die Wagner-Schule

Nach allem, was man weiß und lesen kann, dirigierte Wagner gerne auswendig (am liebsten Beethoven-Symphonien, was ihn mir natürlich sympathisch macht). Das erklärt auch das von Kietz beschriebene «Auge», die Emotionalität, mit der er den Musikern begegnete. Der Dirigent Wagner begriff sich als Vergegenwärtiger, als kongenialen Nach-Schöpfer. Der Zuhörer sollte die Musik erleben, als würde sie vor seinen Ohren entstehen. Wagner wollte die Kunst zum Augenblick bekehren und die Welt gleich mit (und was sonst wäre das Wesen einer gelungenen Aufführung?). Viele seiner Ideen wirken bis heute nach, gerade die praktischen. Ohne den Theaterrevolutionär Richard Wagner sähe unser Theater völlig anders aus. Die Verdunklung des Zuschauerraums, die neuartige Gasbeleuchtung auf der Bühne, der Zuschauerraum, der allen gleich gute Sichtverhältnisse bescherte – all dies und noch einiges mehr verdanken wir ihm. Und ohne den Dirigenten Wagner, der so lange nicht ruhte, bis es klang, wie es klingen sollte, würden wir heute auch anders musizieren.

Zu einem Messias aber gehören Jünger – und zu Richard Wagner die «Wagner-Schule». Es ist hoch interessant, hier ein bisschen den Archäologen zu spielen. Da sind zunächst die vier Vertreter der ersten Generation: Hans Richter (der Uraufführungsdirigent des «Rings»), Arthur Nikisch (der Leiter des Leipziger Gewandhauses und der Berliner Philharmoniker), Felix Mottl (der bei der «Ring»-Uraufführung assistierte und selbst Hand an die legendären Schwimmwägen der Rheintöchter gelegt haben soll) sowie Hans von Bülow (Cosimas erster Mann, ein Vorfahre Loriots). Von Bülow nahm später den jungen Richard Strauss unter seine Fittiche, Richter und Mottl unterrichteten unter anderen Alfred Cortot und Hans Knappertsbusch, Nikisch wiederum hatte Einfluss auf Wilhelm Furtwängler wie auf Gustav Mahler, zu dessen Schülern dann Bruno Walter gehörte.

Das liest sich jetzt wie der perfekte Stammbaum des modernen Dirigenten, was es nicht ist. Schon weil es keinesfalls nur diesen einen Baum gibt. Bereits Wagner musste, apropos «Fischbeinstöckchen», Mendelssohn und Berlioz vor und neben sich ertragen, zu Furtwängler gesellte sich als Dauerantipode Arturo Toscanini. Karajan saßen seit den frühen Sechzigerjahren Nikolaus Harnoncourt & Co. im Nacken – und selbst in meiner Generation zählt man die einen ins Töpfchen und die anderen ins Kröpfchen: Die Anhänger des deutschen Klangs (was immer das heißt) werden gegen die Anhänger eines «nicht-deutschen Klangs» in Stellung gebracht, die Pathetiker gegen die Rhetoriker, die Instinktlinge gegen die Intellektuellen. Wobei ich beim besten Willen nicht weiß, wie man «instinktiv» oder «intellektuell» dirigiert. Ich weiß nur, dass wir uns vor solchen Ideologisierungen hüten sollten.

Schaut man sich unter den Dirigenten der Bayreuther Festspiele um, so trifft man anfangs auf zahlreiche Wagner-Schüler, wie sollte es auch anders sein. Versammelt sind die Bayreuth-Dirigenten allesamt in der berühmten «Verbrechergalerie», einem etwa 20 Meter langen, halb unterirdischen Gang, der das Bühnenhaus und den Restauranttrakt des Festspielhauses (die Kantine) miteinander verbindet. Eigentlich ist das Ganze mehr ein Schlauch, kalt, niedrig, merkwürdig beleuchtet, grob verputzt. Hier hängen, zu beiden Seiten, die Konterfeis aller Dirigenten, die auf dem Grünen Hügel jemals tätig waren (aktuell 73 an der Zahl), von Hans Richter, der 1876 auftrat, bis Philippe Jordan, der 2012 sein Debüt gegeben hat. Dirigenten wohlgemerkt, nicht Sänger oder Regisseure, das hat Wolfgang Wagner in den Siebzigerjahren so festgelegt. Größen wie Furtwängler, Toscanini und Knappertsbusch prangen da neben unbekannteren Namen wie Karl Elmendorff oder Thomas Schippers, Charismatiker treffen auf solide Handwerker, Glückliche auf Glücklose. In keinem anderen Opernhaus der Welt ist die Vergangenheit so allgegenwärtig, im Praktischen wie im Ästhetischen, im Mystischen wie im Sinnlichen. Wer in der Pause mal wieder Schweinsbraten mit Klößen gewählt hat statt Salatvariationen, den wird das unter den strengen Augen eines Pierre Boulez doppelt reuen, auf dem Weg zurück in eine «Götterdämmerung» oder einen dritten Akt «Meistersinger» …

Viele meiner Kollegen verstehen die Phalanx dieser schweren Jungs (ein Mädel ist bis heute leider nicht dabei) als Drohgebärde, ja als Nötigung zum Spießrutenlauf. Ich denke, die Tradition in Bayreuth hatte von Anfang an viele Gesichter, und sie alle schauen dich an. Im Eifer des Proben- und Festspielgefechts kann man ihre Blicke oft nicht erwidern. Vor einigen Kollegen aber bleibe ich von Zeit zu Zeit gerne stehen und führe kleine Kopf- und Zwiegespräche. Und es ist faszinierend, sich mit der einen oder anderen Physiognomie und Lebensgeschichte näher zu beschäftigen. Als Wagner-Dirigent muss ich wissen, auf wessen Schultern ich stehe. Ich muss es wissen, um auch das immer wieder vergessen zu können. Denn ohne Vergessen kann nichts Eigenes entstehen.

Die Bayreuther «Verbrechergalerie»

Vom Graben aus geht es rechts zunächst eine Rampe hoch, dann durch eine Schleuse hindurch, in der die Koffer und Kästen der großen Streichinstrumente lagern, der Kontrabässe und der Celli – und dann steht man auch schon vor dem ersten Gesicht. Richard Wagner, was viele denken, ist es nicht. Er hat zwar eigene Werke dirigiert, aber nie in Bayreuth. Jedenfalls nicht offiziell, dafür fehlten ihm (der beim «Ring» wie beim «Parsifal» Regie führte) die Zeit und die Konzentration. Einzig in der letzten «Parsifal»-Vorstellung des Uraufführungssommers 1882, am 29. August, übernimmt er nach der Verwandlungsmusik des dritten Aktes von Hermann Levi den Taktstock und dirigiert sein «Bühnenweihfestspiel» zu Ende – unbemerkt vom Publikum, denn der Graben hat ja einen Deckel. Im nächtlichen Gespräch mit den Kindern über «das soeben Erlebte» sei man sich einig gewesen, so heißt es bei Cosima, «wie anders das Orchester unter seiner Leitung gespielt habe und wie unvergleichlich anders H. Reichmann das: ‹Sterben, einzige Gnade› gesungen.» Amfortas’ Worte als Orakel? Kaum ein halbes Jahr später stirbt Wagner 69-jährig in Venedig an einem Herzleiden.

HANS RICHTER, Jahrgang 1843, der Uraufführungsdirigent des «Rings», ist der erste Bayreuth-Dirigent und ein enger Vertrauter Wagners seit den 1860er Jahren, als er die Druckvorlage der «Meistersinger»-Partitur herstellte. Richter isst und trinkt gern, wie man sieht, trägt einen professoralen Rauschebart und gilt als musikalisches Unikum. Er beherrscht nahezu alle Instrumente selbst und kann die Musiker unangenehmerweise sofort eines Besseren belehren, wenn diese über unüberwindliche technische Schwierigkeiten klagen. Für die Bayreuther Wiederaufnahme des «Rings» 1896 verlangt er 46 Orchesterproben – und bekommt sie! Wagner hält Richter zwar für «den Besten», grollt ihm aber wegen seiner zu langsamen Tempi: «Ich glaube wirklich auch, Sie halten sich durchgängig zu sehr am Viertelschlagen, was immer den Schwung eines Tempos hindert, namentlich bei langen Noten, wie sie in Wotans Zorn häufig vorkommen. Man schlage meinetwegen selbst die Achtel aus, wo der Präzision dadurch genützt wird: nur wird man nie ein lebensvolles Allegro durchgängig durch Viertel im Charakter erhalten.» Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Richter stirbt 1916 und liegt in Bayreuth begraben.

Gleich neben ihm hängt HERMANN LEVI, 1839 geboren, der Uraufführungsdirigent des «Parsifal», außerdem Münchner Hofkapellmeister. Er ist der Sohn eines Rabbiners. Auch Levi trägt Bart, seine Augen sehen traurig aus. Wagner wählt ihn aus Unzufriedenheit mit Richter und kann sich unschöne Antisemitismen prompt nicht verkneifen. Levi solle sich gefälligst taufen lassen, so wird verlangt, oder «vor Demut nur noch gebückt herumlaufen». Ein anderes Mal liest Wagner ihm laut einen unflätigen anonymen Brief vor, woraufhin Levi abreist. Und als dieser kurz nach der erfolgreichen Bayreuther «Parsifal»-Premiere in Depressionen verfällt und die Familie Wagner in Sorgen über ihren «Kmeister» zergeht, wird das dem Meister selbst schnell zu viel: Man dürfe mit den «Israeliten» eigentlich nicht umgehen, schimpft er in seinem venezianischen Palazzo, «entweder würden sie gemütskrank darüber, oder es drücke sich durch Hochmut ‹…› aus!» Den «Parsifal» absolviert Levi in vier Stunden und vier Minuten, was als Idealmaß gelten darf (nur Clemens Krauss war 1953 mit 3’44 noch schneller). Wagner scheint mit Levi zufrieden zu sein, bemängelt lediglich, er dirigiere zu sehr «mit dem Arm» und zu wenig aus dem Handgelenk heraus. Levi stirbt 1900 in Partenkirchen.

Über FRANZ FISCHER (1849–1918), den nächsten in der Reihe, ist es schwer, viel herauszufinden. Dann aber kommt FELIX MOTTL, 1856 in der Nähe von Wien geboren, akkurater Seitenscheitel, Schnauzbart, Kneifer auf der Nase. Er leitet 1886 die Bayreuther Erstaufführung des «Tristan» und ist der Einzige – bis heute! –, der auf dem Grünen Hügel alle zehn Musikdramen des Wagnerschen Kanons dirigiert hat, also alle Werke, die traditionell bei den Festspielen aufgeführt werden. Neben Levi, Heinrich Porges und Julius Kniese gehört Mottl 1876 der «Nibelungenkanzlei» an, jenem Kreis talentierter Nachwuchskräfte, die Wagner bei Partiturreinschriften, Klavierauszügen und überhaupt bei der Vorbereitung des «Rings» helfen. Mottls Tagebücher stellen (wie Porges’ Erinnerungen an «Das Bühnenfestspiel in Bayreuth») eine spannende Quelle dar, durch die man sich ein Bild von Wagners Ansprüchen machen kann. Zwei Probenbemerkungen des Meisters sind besonders aufschlussreich. Einmal soll er gesagt haben: «Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt, müsste das Rheingold in zwei Stunden fertig sein.» Das ist kühn, um nicht zu sagen: tollkühn. Unmöglich! Zumindest würde ich für das «Rheingold» wenigstens zweieinhalb Stunden veranschlagen. Aber es zeigt, dass Wagner immer eher flüssig unterwegs war. Und die zweite Bemerkung: «Stimmung ist gar nichts. Die Hauptsache ist und bleibt Kenntnis.» Ein Satz, dessen Tragweite man vor allem in Bayreuth begreifen lernt. Mottl, inzwischen Felix von Mottl, starb 1911 in München, nachdem er während seines 100. «Tristan»-Dirigats am Pult zusammengebrochen war. Ein halbes Jahrhundert später ereilt Joseph Keilberth das gleiche Schicksal. Ein schöner Tod? Ich weiß nicht.

Noch einen Schritt nach links, und ich stehe vor RICHARD STRAUSS, der 1864 in München geboren wurde. Strauss assistiert 1889 bei den Festspielen und leitet 1894 fünf Vorstellungen des «Tannhäuser», in denen seine spätere Frau Pauline de Ahna die Elisabeth singt. Cosima Wagner schätzt den schlaksigen Bayern sehr, was sich auch darin ausdrückt, dass sie – vergeblich – versucht, ihn mit ihrer Tochter Eva zu verkuppeln. Das Familiäre spielte auf dem Grünen Hügel eben immer schon eine große Rolle. Wie Wagner ist Strauss ein typischer Komponisten-Dirigent, berüchtigt für sein unprätentiöses Taktschlagen und seine flotten Tempi (nachzuhören in einigen historischen Aufnahmen, vor allem wenn er eigene Werke dirigiert). «Nicht ich bin im ‹Parsifal› schneller», rechtfertigt er sich später, «sondern ihr in Bayreuth seid immer langsamer geworden. Glaubt mir, es ist wirklich falsch, was ihr macht.» Das war 1933/34, als Strauss für Toscanini einsprang und neben dem «Parsifal» auch Beethovens Neunte Symphonie im Bayreuther Festspielhaus dirigierte (in Anlehnung an den 22. März 1872, als Wagner zur Grundsteinlegung des Festspielhauses selbst die Neunte dirigiert hatte, unten in der Stadt, im Markgräflichen Opernhaus). Dass mit Hitlers «Machtergreifung» im Wagnerfach nur mehr ein sentimentaler, pathetisch-wabernder, «brauner» Stil gepflegt worden sei, greift also entschieden zu kurz. Dem ideologischen Missbrauch des Werks entsprach nicht notgedrungen seine interpretatorische Entstellung. Strauss stirbt, hoch betagt und schwer vermögend, 1949 in Garmisch-Partenkirchen.

Eng befreundet ist er anfangs mit Bayreuths Thronfolger SIEGFRIED HELFERICH RICHARD WAGNER, dem einzigen Sohn Wagners, der 1869 in Tribschen zur Welt kam. Siegfried war Komponist, Dirigent, Regisseur, Bühnenbildner, Festspielleiter – wie sein Vater. Eine schillernde Figur, aber kein Genie. Vor allem als Komponist fühlt er sich verkannt und «von den Hoftheatern totgeschwiegen» und schiebt die Schuld dafür unter anderen Strauss in die Schuhe: Tieftraurig sei er, dass der «Parsifal» auf Brettern gespielt werden dürfe, «über die die ekelhafte Salome gegangen ist, und die Elektra, die man nicht anders nennen kann als eine Verhöhnung des Sophokles, eine Profanation des gesamten Klassizismus. Mein Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er von dem Niedergang erfahren könnte, der in den Opern von Richard Strauss zum Ausdruck kommt ‹…› Seit wann ist Kunst identisch mit Schmutz?» 1894 lässt Cosima ihren Sohn während einer «Lohengrin»-Probe am Pult einspringen, mit Erfolg, 1896 debütiert Siegfried als Festspieldirigent (und zwar gleich mit dem «Ring»). Seine Verdienste freilich liegen auf anderen Gebieten: Zum einen verhindert er – seiner Homosexualität zum Trotz – das Aussterben der Wagner-Dynastie, indem er als Mittvierziger die 18-jährige Winifred Williams Klindworth ehelicht und mit ihr vier Kinder zeugt: Wieland, Friedelind, Wolfgang und Verena. Zum anderen betätigt er sich sowohl in Bühnen- wie in Regiefragen als sanfter Reformer. Am wichtigsten aber ist, dass Siegfried die ökonomische Existenz der Festspiele ab 1924 sichert. 1913 (wie damals noch üblich 30 Jahre nach dem Tod des Urhebers) erlosch das «große Recht» an Wagners Werk; die Inflation galoppierte, man musste sich nach anderen Geldquellen umtun. Siegfried kündigt an, das Familienunternehmen in eine «Richard-Wagner-Stiftung des deutschen Volkes» umzuwandeln, sammelt Spenden, treibt Tantiemen für seine eigenen Werke ein, geht auf Vortragsreisen und dirigiert ausgedehnte Tourneen, die ihn bis in die USA führen (wenngleich er dort etliche potenzielle Sponsoren durch seinen Antisemitismus abschreckt). Erst 1928 steht er in Bayreuth wieder selbst im «mystischen Abgrund», dem Orchestergraben des Festspielhauses – zum letzten Mal. Er stirbt am 4. August 1930, im selben Jahr wie seine Mutter Cosima, nach einem während der Festspielproben erlittenen Herzinfarkt.

ANTON SEIDL heißt der Nächste, üppige Haartolle, bemerkenswerter Backenbart. Er wird 1850 in Pest geboren, stirbt 1898 in New York – und dirigiert nur einen Sommer lang in Bayreuth, den «Parsifal» 1897. Seidl macht vor allem als Mitglied des legendären «Wandernden Wagner-Theaters» Furore. Zu der Truppe gehören Chor und Orchester sowie eine komplette Bühnenausstattung samt Technikern. Man bereist in den 1880er Jahren ganz Europa, Seidl dirigiert 135 Mal den «Ring» – alle wollen Wagner! Auf ganz so stolze Zahlen kommt DR. KARL (CARL) MUCK nicht, dafür prägt er mit seinen ausufernden, geradezu antikischen Zeitmaßen die Ära von 1901 bis 1930, hauptsächlich als «Parsifal»-Dirigent. Muck, Jahrgang 1859, markantes Gesicht, der erste in der «Verbrechergalerie» ohne Bart, formuliert ein ziemlich pathetisches Credo: «Das Wichtigste in Bayreuth ist, dass die dort Berufenen mit dem Bayreuther Gedanken übereinstimmen; dass ihnen die in den Schriften niedergelegten künstlerischen Lehren des Meisters ebenso geistiger Besitz geworden sind wie die Partituren der Werke; und dass sie zu der Arbeit im Festspielhause die bescheidene Demut und den heiligen Fanatismus der Gläubigen mitbringen.» Muck stirbt 1940.

Zu seiner Linken: MICHAEL BALLING, 1866–1925. Der Bratschist wird von Felix Mottl entdeckt, macht sich um Wagner auf den britischen Inseln verdient und heiratet die Witwe Hermann Levis. Sehr viel mehr weiß man über ihn nicht. Und auch FRANZ BEIDLER (1872–1930) wird hauptsächlich als Ehemann bekannt, von Isolde von Bülow, der ersten Tochter Cosimas mit Richard Wagner. Da Isolde noch während Cosimas Ehe mit Hans von Bülow zur Welt kam, wurde sie als Wagner-Erbin nicht anerkannt (was die Mutter persönlich bei Gericht durchsetzte). Somit blieb auch Richard Wagners erster Enkel, Isoldes Sohn Franz Wilhelm, von der Erbfolge ausgeschlossen. Ob er die Geschicke auf dem Grünen Hügel anders gelenkt hätte?

Den folgenden Kandidaten «mögen die Wagners gar nicht!», wie die Sängerin Emmy Krüger 1924 berichtet (obwohl er so hübsch deutsch und blond aussieht). FRITZ BUSCH, 1890 in Siegen geboren, Generalmusikdirektor der Dresdner Semperoper bis 1933, tut sich schwer in Bayreuth, beklagt die mangelhafte künstlerische Qualität und gerät mit Muck wie mit Siegfried Wagner heftig aneinander. Wer Buschs Aufnahmen kennt, ahnt, dass auch seine «Meistersinger» aus dem Rahmen jeder Weihe fielen: hoch empfindsam dirigiert, akribisch in der Textbehandlung, forsche Tempi. Als er vorschlägt, für 1925 Arturo Toscanini einzuladen, wird ihm das ebenfalls wenig freundlich ausgelegt. Acht Jahre später aber, als Toscanini nach der «Machtergreifung» sein Bayreuth-Mandat aufkündigt, besinnt man sich wieder auf Busch. «Die Hand hielt mir alles hin, was ich mir gewünscht hatte; und ich wusste, dass ich es nicht nehmen würde», schreibt er wehmütig in seinen Erinnerungen. Er sagt ab, emigriert bald darauf und stirbt 1951 in London.

Während WILLIBALD KAEHLER (1866–1938) mit seiner schicken Zwanzigerjahre-Brille nur zwei Auftritte in Bayreuth vergönnt sind, avanciert der bullige KARL ELMENDORFF (1891–1962) zur regulären Stütze des Wagner-Hauses: Von 1927 bis 1942 dirigiert er fast jedes Jahr in Bayreuth. FRANZ VON HOESSLIN dagegen, Jahrgang 1885, Chefdirigent in Breslau, gerät wegen seiner jüdischen Frau, der Sängerin Erna Liebenthal, ab Mitte der Dreißigerjahre zunehmend in Schwierigkeiten. Winifred Wagner, die inzwischen die Festspiele leitet, hilft, indem sie ihn 1934 und noch einmal von 1938 bis 1940 nach Bayreuth einlädt. Im benachbarten Ausland, vor allem in Frankreich, gilt von Hoesslin als einer der «größten lebenden Meister des Taktstocks neben Toscanini». 1946 verpasst er sein Flugzeug nach Genf (wo er am selben Abend «Così fan tutte» dirigieren sollte, ein frühes Beispiel für den Jetset) und chartert eine Privatmaschine. Der Flieger stürzt über dem Golf von Lyon ab, Franz von Hoesslin und seine Frau kommen dabei ums Leben.

Damit stehe ich vor ARTURO TOSCANINI, dem legendären Leiter des NBC Symphony Orchestra in New York, dem Schwiegervater von Vladimir Horowitz, dem gefürchteten Pult-Despoten, Apolliniker und ersten «Ausländer» unter den Hügel-Dirigenten. Toscanini gibt seinen Einstand 1930 mit «Tristan» und «Tannhäuser» – und feiert Triumphe: über den offenbar eingerissenen Bayreuther Schlendrian, seinen Widersacher Muck, die klammen wirtschaftlichen Verhältnisse, das Orchester. Dieselben Musiker, über deren Köpfen er während der Proben mehrere Taktstöcke zerbrochen hatte, würden ihn nun am liebsten auf Händen aus dem Festspielhaus hinaus und um dieses herum tragen. 1931 macht «Tosca» seinem Ruf als langsamster Wagner-Dirigent der Welt alle Ehre: Vier Stunden und 42 Minuten braucht er für den «Parsifal», 23 Minuten länger als Muck, gar 38 Minuten länger als Levi bei der Uraufführung. Bis heute der absolute Rekord. Und ein Paradox: Ausgerechnet Toscanini, der Präzisionsfanatiker, der Hüter der musikalischen Sachlichkeit, treibt in seinen Tempi den von Cosima initiierten, streng museal ausgerichteten «Bayreuther Stil» auf die Spitze. Will er ihn ad absurdum führen? Oder ist die Sprache das Problem? Siegfried Wagner, der glänzend Italienisch konnte, war tot, Toscaninis Assistent überhaupt «unfähig», wie Winifred berichtet – und wer sonst hätte dem Maestro, der die Werke auswendig beherrschte, beim Übersetzen von Probenberichten, schriftlichen Äußerungen Wagners oder Vortragsanweisungen in der Partitur behilflich sein können? Furtwängler als frisch gekürter musikalischer Leiter der Festspiele beklagt, Toscanini fehlten «tiefere Einsicht, lebendigere Fantasie, größere Wärme und Hingabe an das Werk». Eifersüchteleien und Reibereien sind die Folge, der Sommer endet im Streit an allen Fronten. Für die nächsten Festspiele 1933 kann Winifred Toscanini trotzdem gewinnen, man verabredet fünf «Parsifal»- und acht «Meistersinger»-Vorstellungen. Am 1. April aber unterschreibt der Italiener in New York ein Protesttelegramm an die deutsche Regierung: Der offizielle «Judenboykott» bedrohe viele Künstlerkollegen. Am 28. Mai folgt seine Absage für Bayreuth, ebenfalls per Telegramm und «mit den Gefühlen unveränderlicher Freundschaft für das Haus Wagner» unterzeichnet. Toscanini lässt sich stattdessen für die Salzburger Festspiele verpflichten und emigriert 1937 in die USA. Dort stirbt er 1957, im Alter von fast 90 Jahren.

Die Verbrechergalerie im Bayreuther Festspielhaus

Gleich neben ihm der erklärte «Gegenpapst»: WILHELM FURTWÄNGLER. Geboren 1886, war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker in der Nachfolge von Arthur Nikisch ab 1922, außerdem seit 1933 Direktor der Berliner Staatsoper – einer der bedeutendsten und einflussreichsten Wagner-Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Toscanini nennt den geborenen Charismatiker kurzerhand einen «Hanswurst», sicher ein Seitenhieb auf Furtwänglers, nun ja, etwas unorthodoxe Zeichengebung. 1930, nachdem Karl Muck schmollend das Weite gesucht hatte, wird Furtwängler von Heinz Tietjen (auf den ich gleich zu sprechen komme) und Winifred Wagner heftig umworben. Das nutzt er weidlich aus, schließlich kann er es sich leisten. Er fordert die musikalische Leitung der Bayreuther Festspiele, erhält sie und debütiert ein Jahr später mit «Tristan und Isolde». 1936/37 folgen der «Ring», «Parsifal» und «Lohengrin», 1943/44 die «Meistersinger» sowie nach dem Krieg zweimal Beethovens Neunte. Insgesamt rund 70 Auftritte. Doch Furtwänglers Weg zu Wagner ist lang und krisengeschüttelt. Auch und gerade in Bayreuth warten zahllose Schwierigkeiten auf ihn. Machtkämpfe mit Winifred und Tietjen sind an der Tagesordnung, Zerwürfnisse ebenso, außerdem geht Furtwänglers Taktik nicht auf, sich der Nazis immer nur da zu bedienen, wo sie seiner Karriere förderlich sein können. Die Szene ist legendär und vielsagend: Furtwängler dirigiert 1942 am Vorabend von Hitlers Geburtstag vor der versammelten NS-Prominenz in Berlin Beethovens Neunte – und wischt sich hinterher die Hand ab, die er Joseph Goebbels von der Bühne herunter hat reichen müssen. Wilhelm Furtwängler, so erinnert sich seine Witwe Elisabeth viele Jahrzehnte später, habe es einfach nicht übers Herz gebracht, «seine Leute» im Stich zu lassen. Andere nicht-jüdische Kollegen wie Erich Kleiber oder Fritz Busch emigrierten frühzeitig, Furtwängler blieb da.

Begonnen hatte für ihn alles, als der Vater dem Jugendlichen Karten für den «Ring» am Münchner Hoftheater schenkte. Franz Fischer stand damals am Pult, namhafte Sänger wirkten mit. Diese vier Aufführungen, erinnert sich Furtwängler 1936, hätten seine Wagner-Illusion und -Liebe «gründlich zerstört auf Jahre hinaus». Warum? Weil ihnen jedes «echte Pathos» gefehlt habe, weil alles «Theater, nichts als Theater» gewesen sei. Überhaupt stelle es ein «tiefes Missverständnis» dar, ja eine «Fälschung», so Furtwängler drei Jahre später, 1939, wenn man den Musiker, den Dichter Wagner als «Mann des Theaters» denunziere. Mit anderen Worten: Furtwängler misstraute der Gleichberechtigung von Wort, Musik und Szene, wie sie im Wagnerschen Gesamtkunstwerk angelegt ist. Er setzte auf das Primat der Musik. Eine Einstellung, die sich natürlich auf seine Interpretationen auswirkte – und auf deren Rezeption. Furtwänglers Wagner gilt bis heute als «subjektiv», «pathosselig», «romantisch», «symphonisch» oder «wilhelminisch», seine Tempi als unstet und «willkürlich», seine Rubati als maßlos, seine Sängerbehandlung oft als nachgeordnet. Mich ärgert es, dass man hier nicht stärker differenziert. Furtwängler ist nicht gleich Furtwängler, das zeigt schon ein simpler Zeitenvergleich: Seinen ersten Bayreuther «Ring» 1936 absolviert er in 14 Stunden und 26 Minuten (davon 2’36 für das «Rheingold»), damit ist er um drei Minuten schneller als Hans Richter bei der Uraufführung. Für seinen letzten, konzertanten «Ring» hingegen, 1953 von der RAI in Rom mitgeschnitten, benötigt er 15 Stunden und sechs Minuten, also 40 Minuten länger. Und das, obwohl szenische Aufführungen grundsätzlich mehr Zeit beanspruchen und die Akustik des Bayreuther Festspielhauses traditionell zum Schleppen verführt. Furtwänglers Entwicklung dürfte daraus klar werden: breiter, langsamer, ausführlicher. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Wahl eines Tempos immer relativ ist, und nicht selten widersprechen sich absolute und gefühlte Zeiten. Vielleicht wähnte sich Furtwängler am Ende viel näher bei Wagner, als die Statistik es glauben macht und wir es wahrnehmen. Den Dirigenten Wagner jedenfalls hätte er gerne erlebt, denn, so schreibt er 1918 in einem Aufsatz über Beethoven, Wagner habe «als erster auf jenen leisen und doch beständigen Wechsel des Zeitmaßes hingewiesen, der allein imstande ist, aus dem starren, klassischen, gleichsam nach gedruckter Vorlage gespielten Stück Musik das zu machen, was es eigentlich ist, ein Entstehen und Wachsen, ein lebendiger Vorgang». Jedes einzelne Wort davon möchte ich unterschreiben. Furtwängler, der Dionysische, der «Zögerer» (wie sein Antipode und Nachfolger Herbert von Karajan ihn gern nannte), stirbt 1954.

Wie sehr der «Fu» sich seiner Stellung und seines Einflusses bewusst war, zeigt ein für beide Seiten wenig schmeichelhaftes Urteil über einen Kollegen: Dieser sei «doch kein Dirigent, sondern ein Organisator und höchstens noch ein Schleicher», so empört sich Furtwängler 1937 in einem Brief an Goebbels. Was wenig nützte: Der Bayreuther «Ring» der Jahre 1938, 1939 und 1941 ging trotzdem an Görings Protegé HEINZ TIETJEN (geboren 1881), den sagenhaften Generalintendanten aller preußischen Staatstheater seit 1927, den künstlerischen Leiter der Festspiele von 1931 bis 1944 – und den Geliebten Winifred Wagners. Sogar der bekennende Furtwängler-Freund Adolf Hitler beugte sich hier Winifreds Wünschen. Als Dirigent, Regisseur und begnadeter Strippenzieher in einer Person muss Tietjen, gutaussehend und menschenscheu, eine anachronistische Figur gewesen sein. Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Emil Preetorius leitet er in den Dreißigerjahren die ästhetische Modernisierung der Festspiele ein, oft gegen den NS-Geschmack (ein Verdienst, das nach 1951 ganz und gar Wieland Wagner zugesprochen wird). Dabei ist der Konflikt mit Furtwängler vorprogrammiert, denn Tietjens ganzer Ehrgeiz gilt der Musik. Sein Verhältnis zu den Machthabern des «Dritten Reichs» bleibt gestört, man spürt seine intellektuelle Überlegenheit, sein Taktieren und traut ihm nicht. Wielands Versuch, Tietjen Anfang der Vierzigerjahre vom Grünen Hügel zu verjagen und selbst die Macht zu übernehmen, scheitert. Politisch rehabilitiert und künstlerisch weithin anerkannt stirbt Tietjen 1967.

Über VICTOR DE SABATA (1892–1967), der auf dem Bayreuther Foto ein bisschen aussieht wie Yehudi Menuhin und der zweite Italiener auf dem Grünen Hügel ist, kann ich ebenso wenig sagen wie über RICHARD KRAUS (1902–1978). Beide sind jeweils nur einen Sommer lang vor Ort, der Mottl-Schüler HERMANN ABENDROTH (1883–1956), der neben ihnen hängt, bringt es immerhin auf zwei. Im Wechsel mit Furtwängler dirigiert der Kölner Generalmusikdirektor und Leipziger Gewandhauskapellmeister bei den «Kriegsfestspielen» 1943/44 die «Meistersinger»: in gemessenen Tempi und mit viel schönem Fliederduft. Abendroths vermeintliches Paktieren mit den politischen Mächten vor und nach 1945 wird ihm zum Verhängnis. Die Bundesrepublik Deutschland (in Gestalt von Bundeskanzler Konrad Adenauer) erklärt den einstigen NSDAP-Parteibuchträger und Staatsbürger der DDR zur Persona non grata, größere Orchester bleiben Abendroth im Westen fortan verwehrt. Im Osten ist er nach dem Krieg «nur» noch Chef in Weimar und bei den Rundfunk-Symphonieorchestern in Leipzig und Ost-Berlin. Ein deutsch-deutsches Schicksal.

Mit Abendroth habe ich nicht einmal die Hälfte erreicht, noch nicht einmal die eine Seite der Ahnengalerie ganz abgeschritten. Trotzdem muss ich kurz innehalten. Die Kriegsfestspiele von 1944 sind vorläufig die letzten Festspiele, sieben Jahre später erst, 1951, wird sich der Vorhang wieder heben, dann über «Neu-Bayreuth». Dem Festspielhaus passiert im Krieg zwar so gut wie nichts, die Villa Wahnfried aber, Richard Wagners Wohnhaus und Sitz der Familie bis 1966, wird von einer Bombe verwüstet. Und überhaupt muss nach dem Krieg alles neu geregelt werden. Kann und darf es nach dem Ende des «Dritten Reichs» in Deutschland überhaupt «neue» Wagner-Festspiele geben? Wie soll man sie finanzieren? Wer soll sie leiten? Für welches Publikum? Wo kommen die Künstler her? Alle diese Fragen mussten beantwortet werden. Fast noch spannender aber finde ich, dass man es hier mit einer doppelten Zäsur zu tun hat: Mitte des 20. Jahrhunderts nämlich endet in Bayreuth auch jene musikalische Tradition, die sich mehr oder weniger direkt auf Richard Wagner berufen konnte. Zwischen 1940 und 1950 sterben die ersten beiden Generationen der Bayreuth-Dirigenten endgültig aus. Alle, die Wagner noch selbst erlebt hatten oder Schüler seiner Schüler waren, sind plötzlich weg und mit ihnen das Wissen um viele aufführungspraktische Details. Selbst wenn es einen authentischen «Bayreuther Stil» nie gegeben hat (wann hätte Wagner ihn auch prägen sollen?), selbst wenn Cosimas Priesterinnendienste die Sache eher verfälscht und verbogen haben, so muss sich in den ersten 70 Jahren nach Wagners Tod doch eine spezifische Aura, ein Geist, ein Funke gehalten haben, aus dem heraus musiziert wurde: so etwas wie der Glaube, mit dem musikalischen Drama die Welt zwar nicht verändern, aber doch erklären zu können. Dieser Geist begann sich nun zu verflüchtigen.

Richards Sohn, Siegfried Wagner, hat die «Wagner-Schule» nicht groß gepflegt – ein wesentlicher Grund für den Traditionsbruch. Die Dirigenten kamen zunehmend von außen, und die Suche nach geeigneten, möglichst prominenten Kandidaten gestaltete sich vor wie nach dem Krieg mühselig. Einer der wenigen, die hier noch eine Brücke schlugen, war HANS KNAPPERTSBUSCH, der Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper bis 1935. Knappertsbusch, Jahrgang 1888, heuert von 1909 bis 1912 als Assistent bei Hans Richter und Siegfried Wagner an. Dass er nicht früher als Dirigent engagiert wird, ist erstens der traditionellen Konkurrenz zwischen Bayreuth und München geschuldet, zweitens Winifreds anfänglichem Faible für Fritz Busch 1924 und drittens Knappertsbuschs politischer «Unzuverlässigkeit» in den Augen der Nationalsozialisten. Erst 1951, mit 63 Jahren, feiert er sein Bayreuth-Debüt – dafür gleich mit dem «Parsifal», dem «Ring» und den «Meistersingern» im selben Jahr. Wieland Wagner führt sowohl beim «Ring» als auch beim «Parsifal» Regie und sorgt selbst für die Ausstattung. Seine charakteristische «Scheibe» auf der Bühne deutet Knappertsbusch spöttisch als «Kochplatte», und lange glaubt er, die «Parsifal»-Szene sei so karg, weil der Wagner-Enkel mit der Arbeit nicht fertig geworden sei. Bis zu seinem Tod 1965 dirigiert Knappertsbusch jedes Jahr in Bayreuth.

Knappertsbuschs Unlust zu proben ist sprichwörtlich und hat zahllose Anekdoten hervorgebracht («Meine Herren, Sie kennen das Stück, ich kenne das Stück, wir sehen uns am Abend wieder»). Wenn man ihn aber in alten Filmausschnitten dirigieren sieht, mit seinem überlangen Taktstock und der Locke in der hohen Stirn, mit diesen sparsamen, uneitlen Gesten, dann denke ich – bei aller Unterschiedlichkeit der Temperamente – manchmal an Richard Wagner und daran, wie Kietz einst über ihn schrieb. Als Dirigent zu erreichen, was Knappertsbusch konnte, hoch konzentriert nichts zu machen oder nur ganz wenig und ansonsten auf die eigene Persönlichkeit zu vertrauen, auf Suggestion, Erfahrung, Herzensbildung, Intuition – das ist für mich ein großes Ziel.

Der Bruch mit der Wagner-Tradition Mitte des 20. Jahrhunderts hatte aber noch einen anderen Grund: die neuen Medien. Durch Radio, Film und Schallplatte wurde die Augenblicksraumkunst Musik technisch reproduzierbar. Man musste nicht mehr nach Bayreuth fahren (natürlich musste und muss man das, bis heute!), um zu hören, wie Wagners «Parsifal» klingen kann und klingen soll. Oder inwiefern sich Abendroths «Meistersinger» während des Krieges von denen des jungen HERBERT VON KARAJAN nach dem Krieg unterschieden. Man konnte sich auch mit Konserven behelfen. Karajan, der 1951 den Grünen Hügel betritt und mit ihm die Bühnen der Welt, wird zur Galionsfigur des modernen Medienzeitalters. In Bayreuth allerdings, so ist in Wolfgang Wagners Autobiographie nachzulesen, will er von Anfang an mit dem Kopf durch die Wand. Zwar wird seine Forderung nach einer persönlichen Toilette noch augenrollend erfüllt, als er aber dazu übergeht, die «Tristan»-Proben 1952 mit Tonband abzuhalten (um die Sänger besser kontrollieren zu können) und die Sitzordnung im Orchestergraben zu verändern (Streicher nach rechts, Bläser nach links), ist das Ende der Zusammenarbeit gekommen. Laut Wolfgang Wagner trägt Karajans mächtiger «Prestige- und Finanzverwalter» Walter Legge daran keine kleine Schuld. Karajan (der «Mann K.», wie Furtwängler ätzt) wird Bayreuth nie wieder betreten.

Mit Herbert von Karajan ragt ein in Bayreuth, an Bayreuth Gescheiterter in meine Biographie hinein. Gäbe es nicht auch HORST STEIN, HEINRICH HOLLREISER und DANIEL BARENBOIM, die auf dem Grünen Hügel durchaus ihr Glück machten, müsste mich das wohl bekümmern. Karajan aber, den ich für die Homogenität und Durchsichtigkeit seines Wagner-Klangs bis heute hemmungslos bewundere, ist nicht der Einzige, der aneckt und Schwierigkeiten hat. Selbst CLEMENS KRAUSS, EUGEN JOCHUM und LOVRO VON MATACIC kommen nur für ein Jahr auf den Grünen Hügel, ebenso wie JOSEF KRIPS, BERISLAV KLOBUCAR, CARL MELLES (der Vater von Sunnyi Melles), ALBERTO EREDE, HANS ZENDER oder EDO DE WAART. WOLFGANG SAWALLISCH überwirft sich nach sieben erfolgreichen Jahren mit Wieland Wagner, weil er Anja Silja nicht als Eva in den «Meistersingern» akzeptiert. GEORG SOLTI hätte am liebsten den Grabendeckel abgeschraubt – und gibt seinen «Ring» bereits im zweiten Jahr, 1984, wieder auf. So vielfältig die Gründe des Scheiterns im Einzelnen sind, letztlich hat man eine Affinität zu diesem Haus – oder man hat sie nicht. Das ist meine feste Überzeugung. Erlernen, üben lässt sich Wagner in Bayreuth nur bedingt.

Sicher gab und gibt es etliche Kollegen, die bei den Festspielen fehlen. Arthur Nikisch etwa (der als Geiger 1872 unter Richard Wagner Beethovens Neunte spielte) war ein ausgesprochener Konzertdirigent, kam also nicht in Frage; der Spitzbartträger Hans von Bülow tat einen Teufel, sich bitten zu lassen – schließlich hatte Wagner ihm Hörner aufgesetzt und seine Cosima verführt; Gustav Mahler war in Wien beschäftigt und außerdem Jude; mit dem kritischen Felix von Weingartner rasselte Cosima schon aneinander, als er Assistent war; Engelbert Humperdinck war wohl nur für Hilfsdienste geeignet und Ernst von Schuch nicht willig. Auch Bruno Walter, Erich Kleiber und Otto Klemperer vermisst man später, oder heute einen Riccardo Muti, einen Mariss Jansons. Doch was nicht ist, kann ja noch werden.

Die Dirigenten der Bayreuther Festspiele sind jedenfalls eine ziemlich ehrenwerte Gesellschaft. Oft denke ich mir, vielleicht gucken die berühmten Toten uns alle zu und finden es ganz fürchterlich, was wir machen. Oder annehmbar. Oder sogar schön. Die Vorstellung, dass das Haus Augen und Ohren hat, inspiriert mich ungemein.

3
Spinnweben, Weihe, Wurstsalat:
Bayreuth und sein Grüner Hügel

Der Grüne Hügel der oberfränkischen Kleinstadt Bayreuth ist seit 1876 das Epizentrum der internationalen Wagner-Welt. Hier baute der Komponist sein legendäres Festspielhaus, hier schuf er die idealen Bedingungen für seine Kunst: geographisch, architektonisch, akustisch, politisch und künstlerisch. Ein Mekka mitten in der Provinz, im Herzen des blutjungen deutschen Kaiserreichs. Ein Ort für Mythen und selbst rasch der größte Mythos aller Wagnerei. Was Wagner-Rang und -Namen hat, gehört nach Bayreuth und will nach Bayreuth, bis heute. Publikumsschlachten wurden hier geschlagen, Ideologien missbrauchten das Festspielritual, musikalische und szenische Sternstunden setzten Maßstäbe. Richard Wagner ohne Bayreuth? Das kann ich mir noch nicht einmal abstrakt vorstellen.

Das Haus

Ich hatte immer das Gefühl, dass das Festspielhaus lebt. Es atmet, es horcht, es schaut dich an. Und es ist auf der Hut. Man muss hellwach sein, wenn man es betritt – und man muss sich ihm hingeben können. Solange man das tut, ist es treu. Jedes Fremdeln aber, jede Gleichgültigkeit verzeiht es nicht. Dann rächt es sich, dann ist es atmosphärisch und akustisch nicht mehr so anschmiegsam, dann macht es weniger Spaß, hier zu arbeiten. Das Haus ist wie ein kostbares Instrument oder eine anspruchsvolle Geliebte: Es will ernstgenommen werden. Man muss immer wieder neu um seine Gunst buhlen.

Meine erste Fahrt im Sommer hinauf auf den Grünen Hügel hat jedes Mal etwas von einer Initiation. Der schnellste und praktischste Weg aufs Festspielgelände führt über die Tannhäuserstraße, also von hinten herum. Da sind die Parkplätze, die Probebühnen und der Bühneneingang. Bin ich aber gerade erst angekommen in Bayreuth, nehme ich die Siegfried-Wagner-Allee, die «Auffahrtsallee». Ich muss das Festspielhaus einfach begrüßen, ich spüre förmlich, wie es das von mir verlangt. Und ich mag es, wie die alte Scheune da oben trotzt und thront und wie erhaben und klein zugleich man sich vor ihrem Antlitz fühlt. Manchmal bleibe ich auf halber Höhe stehen, öffne das Autofenster und hole tief Luft: Hier spielt die aufregendste Musik aller Zeiten! Hier tobt die größte Hysterie, die um ein Opernhaus je getobt hat! In der fränkischen Provinz, unter, sagen wir, familiären Bedingungen. Das Festspielhaus war und ist Tempel, Werkstatt und Wallfahrtsort zugleich. Seine unverwechselbare Mixtur aus Hemdsärmeligkeit und Heiligkeit, aus Weihe und Wagemut jagt mir bis heute Schauer über den Rücken. Und dann sehe ich wenige Tage nach meiner Ankunft die Ratten in Hans Neuenfels’ «Lohengrin»-Inszenierung über die Bühne trippeln und frage mich: Wie geht das alles bloß zusammen?

Wagners Scheune: Das Bayreuther Festspielhaus

Wie Richard Wagner nach Bayreuth kam, ist gründlich erforscht und oft beschrieben worden. Zwei Dinge trieben ihn: seine Festspielidee – und die Frage, wie er sich seinem Großmäzen, Gönner und Herzensverehrer Ludwig II. entziehen konnte, ohne ihn vollends zu verprellen (und das heißt: ohne auf sein Geld verzichten zu müssen). Gegen Wagners Willen hatte der König «Rheingold» und «Walküre» 1869/70 in München uraufführen lassen, jetzt plante er den «Siegfried». Wagner musste handeln, und zwar schnell. Im Brockhaus las er den Artikel über das Markgräfliche Opernhaus von Bayreuth und stattete dem Städtchen im April des Reichsgründungsjahres 1871 einen ersten Besuch ab. Das Barocktheater erwies sich zwar als ungeeignet, vor allem der Zuschauerraum war zu klein, der Ort aber gefiel ihm. Schon Anfang 1872 packte Wagner im schweizerischen Tribschen seine Sachen, am 22. Mai (seinem 59. Geburtstag) wurde auf dem Grünen Hügel der Grundstein fürs Festspielhaus gelegt. Es regnete in Strömen, der Meister aber ließ es sich nicht nehmen, Ludwigs Glückwunschtelegramm persönlich ins Fundament einzumauern.

Politisch hätte Wagner auf keine günstigeren Umstände treffen können. Das junge deutsche Kaiserreich lechzte nach neuen (alten) Mythen, und dem Gründerzeitethos jener Jahre war alles Spekulative und Emphatische hoch willkommen. Ökonomisch allerdings knirschte es gewaltig. Um ein Drittel wurde das auf 300.000 Taler berechnete Gesamtbudget des Festspielunternehmens am Ende überschritten, der Verkauf sogenannter Patronatsscheine zu je 1000 Talern lief schleppend, der ins Leben gerufene Verwaltungsrat sah sich rasch am Ende seines kaufmännischen Lateins. Mehrfach geriet der Bau ins Stocken, die Proben des Jahres 1876 konnten kaum bezahlt werden – und wenn Ludwig II. nicht zweimal massiv eingegriffen hätte, Wagner wäre krachend gescheitert. «Ihnen dienen will ich, so lange ich lebe und athme», schwor der König in einem späten Billett an seinen Künstler, allen zwischenzeitlichen Differenzen zum Trotz. Und so gelang, wovon die Welt bis heute zehrt: die Institutionalisierung einer anarchischen Idee. Was Richard Wagner sagen würde, wenn er wüsste, dass seine Festspiele 2013 bereits zum 102. Mal stattfinden?

Ursprünglich, ein Vierteljahrhundert vor Bayreuth, baute der Festspielgedanke noch ganz auf Vorläufigkeit. Ein Gegenmodell sollte es sein zur «Krankheit» der herrschenden «Theaterwirtschaft», eine «Feuerkur» im reinigenden, durchaus zerstörerischen Sinn des Wortes. Wagners Brief aus dem Zürcher Exil an seinen revolutionären Gesinnungsgenossen, den Dresdner Geiger Theodor Uhlig, vom 22. September 1850 ist berühmt und sagt alles (in dieser Zeit ist er mit einer Vorstufe des «Rings» beschäftigt, dem Drama «Siegfrieds Tod»): Auf «einer schönen Wiese bei der Stadt» ließe er «von Brett und Balken ein rohes Theater nach meinem Plane herstellen und lediglich bloß mit der Ausstattung an Decorationen und Maschinerie versehen ‹…›, die zu der Aufführung des ‹Siegfried› nötig sind». Die Sänger engagierte er einzeln, Chor und Orchester würden aus «Freiwilligen» rekrutiert, die Werbung für sein «dramatisches Musikfest» liefe über Annoncen «in allen Zeitungen» – und der Eintritt wäre frei. «Ist alles in gehöriger Ordnung», fuhr Wagner fort, «so lasse ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des ‹Siegfried› in einer Woche stattfinden: nach der dritten wird das Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt. Den Leuten, denen die Sache gefallen hat, sage ich dann: nun macht’s auch so!»

Abgesehen davon, dass die ökonomische Dimension in diesen ersten Entwürfen fehlt (welche Revolution fragt schon nach Bezahlbarkeit?) und das Festspielhaus bis heute nicht eingerissen wurde, hat sich am Festspielbetrieb seit Wagners Vision verblüffend wenig verändert: Die Sänger sind nach wie vor handverlesen, Chor und Orchester kommen immer noch freiwillig und opfern nicht selten die Sommerferien dafür (wie alle saisonalen Mitarbeiter der technischen Abteilungen auch). Nur Werbung im Sinne von Zuschauerwerbung braucht Bayreuth seit Jahrzehnten keine mehr, und wenngleich die Eintrittspreise im internationalen Vergleich ausgesprochen moderat sind, müssen sie doch erhoben werden. Das Verbrennen der Partituren allerdings, im übertragenen Sinn, besorgte die deutsche Geschichte: Die Handschriften der «Feen» wie des «Liebesverbots», von «Rienzi», «Holländer», «Rheingold», «Walküre» und dem dritten Akt des «Siegfried» wanderten 1939 aus dem Besitz der Wittelsbacher in einen Fonds der Reichswirtschaftskammer und von dort, zu dessen 50. Geburtstag, in die Hände Adolf Hitlers. Man weiß nicht, ob der Diktator sie in die Untiefen der «Wolfsschanze» versenkte, sie seiner privaten «Führerbibliothek» in der Villa Castiglioni am österreichischen Grundlsee einverleibte oder in den Berliner Bombenhagel warf – seit Ende des Zweiten Weltkriegs gelten sie jedenfalls als verschollen. Dem Mythos der Festspiele, dem Festhalten am Ritual tat das keinen Abbruch.

1874, nach zwei Jahren Bauzeit, bezog Wagner samt Familie das Haus Wahnfried, seinen «heimatlichen Ruhesitz» am Rande des Bayreuther Hofgartens. Die Villa war ebenfalls ein Geschenk Ludwigs II. und will mit ihrer Halle, den Marmorbüsten und dem güldenen Nibelungen-Fries oben auf der Galerie vor allem eins sein: repräsentativ. Aus Wagners lebenslangen Fluchtburgen wird eine Götterfeste. Sein Hang zum Luxus, seine Vorliebe für seidene Unterwäsche, brokatene Vorhänge und Schabracken, kostbare Instrumente, teure Möbel und dergleichen war sprichwörtlich. Der Freund könne nicht nur nicht mit Geld umgehen, schrieb der Dirigent Heinrich Esser an den Verleger Franz Schott, sondern behaupte, nicht arbeiten zu können, «wenn er nicht als Grandseigneur lebe». Als komme alle Inspiration aus dem Überschwang, dem Überbordenden. In Wahnfried («Hier, wo mein Wähnen Frieden fand – Wahnfried sei dieses Haus von mir benannt», lautet die Inschrift über dem Eingang) nahm dieser Hang dauerhafte Gestalt an.

Mich haben die Welten, die zwischen der Villa und dem Festspielhaus liegen, immer stutzig gemacht: Hier seine Walhalla, da das «schnell hergerichtete Holzbauwerk», unten Prunk, oben Protestantismus. Schon Wagner muss klar gewesen sein, dass er den Künstlern, die er sich wünschte, dem Wiener Hofkapellmeister Hans Richter oder Starsängern der Zeit wie Franz Betz und Lilli Lehmann, in Bayreuth keinen angemessenen Lebensstandard würde bieten können. Kein Grand Hotel und keine heißen Quellen und keinen Komfort, gar nichts Luxuriöses. Dabei ist es im Grunde geblieben. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden die Orchesterproben in besseren oder schlechteren Verschlägen abgehalten, es gab ja nichts anderes. Da reisten die honorigsten Musikerpersönlichkeiten an, die man sich denken konnte, die Herren Professoren Kammervirtuosen aus Wien und die Konzertmeister aus Dresden und Berlin – um in einer Bretterbude zu probieren und auf dem nächstbesten Bauernhof zu wohnen. Wenngleich heute ein paar Etablissements mehr existieren dürften in Bayreuth und das Orchester während der Probenzeit im Festspielrestaurant residiert: das Unterschreiten des eigenen «Standes», der Verzicht auf alle Privilegien gehört mit zum Festspielprinzip und hat für alle etwas sehr Entspannendes. Der Dirigent des «Fliegenden Holländers» verdient genauso viel oder wenig wie der der «Götterdämmerung», die Regiegagen halbieren sich mit jeder Wiederaufnahme (100 Prozent im Premierenjahr, 50 Prozent bei der ersten Wiederholung, 25 Prozent bei der zweiten usw.), der Lohengrin X, der ein Megastar ist, wird nicht anders bezahlt als der Lohengrin Y, der am Beginn seiner Karriere steht und eine tolle Stimme hat. Jenseits des roten Teppichs zur alljährlichen Eröffnung am 25. Juli sind die Bayreuther Festspiele absolut unglamourös, schon aus Prinzip – und selbst der Teppich wird noch in derselben Nacht wieder eingerollt. In Bayreuth sind tatsächlich alle gleich. Denn hier gibt es bis heute nur einen Star, und der ist seit 1883 tot.

Der Graben

Im Festspielhaus angekommen, führt mich mein allererster Gang immer durch den Graben. Ich muss ihn riechen, muss ihn inhalieren: das Holz, das teerige Schwarz, die Anstrengung und Mühe so vieler genialer (und weniger genialer) Stunden, den Stolz der Tradition auch, die Euphorie, wenn an einem Abend alles zusammenpasst. Seit den ersten Bayreuther Festspielen von 1876 sind hier unten, im sagenhaften «mystischen Abgrund», schätzungsweise 9700 Stunden Wagner gespielt worden, nur die Vorstellungen gerechnet, ohne Proben. Über 400 Tage Wagner am Stück! All diese Musik nistet tief in den Poren, Fasern und Ritzen. Sie hat das alte Gebälk regelrecht imprägniert, das spürt man.

Meist sind so früh in der Saison, Anfang Juni, die Stühle der Orchestermusiker noch beiseite geräumt und aufeinander gestapelt, Notenblätter liegen herum, Probenpläne vom vergangenen Jahr. Diesen Moment genieße ich sehr. Die Grabenluft ist für mich ein bisschen wie das Drachenblut, in dem Siegfried badet. Sie verleiht Mut und Stärke, sie kann ungemein beflügeln – aber auch ungemein einschüchtern. Sie sagt nicht, nur weil du heute in Bayreuth dirigierst, bist du für alle Zeit unverwundbar. Im Gegenteil: Wer in Bayreuth dirigiert und sich mit den sehr speziellen Gegebenheiten des Hauses arrangiert hat, setzt sich selbst die Grenzen. Der scheitert, wenn er scheitert, an den eigenen Möglichkeiten.

Hier, im Unterleib des Festspielhauses, ist man auch baulich nah dran an der Wahrheit. Man muss nur einmal kräftig mit dem Fuß aufstampfen: alles hohl. Da gibt es keinen festen Grund, bloß Sand, Spinnweben, loses Gestein, totes Getier. Und jede Menge Wasser (erst 2010 hat man um das Haus eine neue Drainage gelegt, um zu verhindern, dass bei Gewitter oder Platzregen in kürzester Zeit die Foyers volllaufen). Ein Blick in diese Katakomben verrät: Das Haus steht auf Stelzen, fast wie in Venedig, und bis auf die gemauerten Fundamente ist alles aus Holz. Für die Akustik ist das hervorragend, denn Holz schwingt. Und 1872 war es natürlich billiges Baumaterial, leicht zu beschaffen, leicht zu verarbeiten. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden dann Teile der Konstruktion durch Beton oder Stahl ersetzt, allerdings nur oberirdisch. Das bedeutet: Bis heute kann im Festspielhaus keine Klimaanlage eingebaut werden. Wenn es draußen heiß ist und drinnen kalt, wenn man den Räumen zu viel Feuchtigkeit entzieht, dann droht das Holz zu platzen, und alles verzieht sich. Also muss dem Zuschauerraum die 1990 installierte moderate «Zu- und Abluftanlage» genügen, und wir im Graben büßen während einer «Götterdämmerung» bei gefühlten 48 Grad alle unsere Sünden ab. Der Kollege Karl Böhm soll an solchen Tagen immer zwei Schüsseln mit kaltem Wasser geordert haben, für jeden Fuß eine. Und ich habe mir mit Wolfgang Wagners Erlaubnis zwei Luftschläuche ans Pult legen lassen. Das sieht zwar nicht besonders attraktiv aus, sorgt aber für Zirkulation. Mit seinen Lämpchen und Leuchten, seinen Kabeln und Strippen wirkt das Dirigentenpult ohnehin recht vorsintflutlich, wie ein Cockpit unter Tage – und gar nicht wie eine Kanzel oder ein Katheder. Immerhin wird das Sitzpolster des Dirigentenstuhls jeden Sommer frisch bezogen, das beruhigt mich.

Der berühmte Graben ist ein Unding und ein Unikum zugleich. Ein Schacht, steil ins Hügelinnere getrieben, ein Stollen mit doppelter hölzerner Klangblende: Die erste ist über den Blechbläsern montiert, die zweite, für das Publikum sichtbar, über den Streichern. Richard Wagner wollte keine Pulte sehen, keine Instrumente, keine Musikergesichter und erst Recht keine gestikulierende Dirigentensilhouette. Er wollte das «unsichtbare Orchester» – und hat es in Bayreuth erfunden. Musik als mystisches Ereignis, als Naturgewalt: Nichts soll vom reinen Hören ablenken. Ein Klang wie die Luft zum Atmen, einfach da. Und Wagner wusste offenbar genau, wie dieses Ideal akustisch zu erreichen war. Der Bayreuther Graben ist terrassenförmig angelegt, sechs Stufen führen vom Dirigentenpult nach unten, zuoberst sitzen die Geigen, gefolgt von den tieferen und tiefen Streichern, dann Holzbläser und Harfen, dann das leichte Blech und schließlich Tuben und Posaunen. Rechnerisch macht das 1,129 Quadratmeter pro Person samt Instrument (bei 124 Menschen auf 140 Quadratmetern), nicht eben viel Platz. Da müssen die Celli ihre Bögen und die Posaunen ihre Züge schon fein hüten, und dass bei den Tutti-Geigern die etwas beleibteren oder mit mehr Haupthaar gesegneten Kollegen eher an den hinteren Pulten arbeiten, versteht sich ohnehin von selbst.

Die Akustik

Akustisch ist dieser Graben eine Wunderkammer. Der Schall nimmt eine S-Kurve: vom Blech über Holz und Streicher aufsteigend zur Bühne und erst dann nach draußen sich ergießend, in den Saal. Die Idee stammt von Wagner selbst, wie gesagt, und war hoch spekulativ. Woher hätte er wissen können, dass sein Traum vom perfekten Mischklang aufgehen würde? Neben dem Teatro Colón in Buenos Aires bietet Bayreuth heute die beste Opernakustik der Welt. Wagner hat viel dafür riskiert, selbst als fast alles fertig war, ließ er den Graben noch einmal vergrößern, indem er die ersten beiden Reihen des Zuschauerraums opferte. Und als er baulich nicht weiter kam, fing er an, einzelne Stellen in seinen Partituren umzuinstrumentieren, auch im «Ring». Das lässt tief blicken: Nicht die Noten sind für Wagner das Maß der Dinge, sondern das «Gesamtkunstwerk». Alles mit allem, jeder mit jedem. So wie in der Bayreuther Kantine die Rezeptionistin neben dem Heldentenor sitzt und beide einträchtig ihre Bratwürste essen. Der eine ist vielleicht mehr das Herz der Festspiele, die andere mehr das Hirn, der dritte die Augen, der vierte Leber, Lunge, Milz oder Magen. Und das Herz ist keineswegs wichtiger als alles andere, die Augen dürfen nicht laut schreien, ohne uns seid ihr blind! Nein. Es ist ein Organismus. Nur zusammen ergibt sich ein Ganzes, ein vitaler Körper. Das war Wagners Vision.

Natürlich hat der Graben Tücken. Für Debütanten sowieso, aber auch für ausgefuchste Kapellmeister. Zwei Beispiele: Wenn ich oben am Pult denke, Chor und Orchester sind wunderbar zusammen, dann sind sie draußen im Saal garantiert wunderbar auseinander, dann ist der Chor nämlich zu früh. Nur einen kleinen Tick, aber zu früh. Oder wenn die Sängerin der Brünnhilde in der «Götterdämmerung» zum Schlussgesang ansetzt, dann bin ich darauf angewiesen, ihr den Text – «Starke Scheite /schichtet mir dort» – von den Lippen abzulesen, denn wirklich hören kann ich sie nicht, dafür ist das Orchester zu laut. Das bedeutet: Der Souverän sitzt in Bayreuth einzig und allein im Publikum, nur dort mischt sich auf ideale Weise, was vorne angerichtet wird. In gewisser Weise werden wir Macher, wir Interpreten in unserem Tun also entmündigt. Das Orchester vernimmt von den Sängern allenfalls ein Piepsen oder fernes Rufen – ganz abgesehen davon, dass die Musiker sich untereinander extrem schwer hören; die Sänger haben das Gefühl, gegen die Breitseiten aus dem Graben niemals ankommen zu können; und der Dirigent sieht zwar fast alle und alles, kann sich aber auf nichts so wenig verlassen wie auf seine Ohren. Deshalb steht während der Proben neben dem Dirigentenpult auch ein Telefon, so ein grauer, altmodischer Knochen mit einem roten Lämpchen dran. Das leuchtet, sobald die Assistenten, die oben im Zuschauerraum aufpassen, etwas anzumerken haben: zu laut, zu leise, zu langsam, zu schnell. Bei den Vorstellungen gibt es dieses Telefon (leider) nicht, manchmal wünschte man es sich. In Bayreuth darf der Dirigent nicht zuhören, hat Daniel Barenboim einmal richtig gesagt.

Mit Telefon bei der Probe im Bayreuther Orchestergraben (2004)

Was ist das? Ein menschenverachtendes, schizophrenes System? Die Allmachtsphantasie eines einzelnen Komponisten, der wir uns bis heute beugen, weil wir seine Musik so toll finden? Ich möchte es positiv formulieren. Bayreuth sagt: Alle müssen an einem Strang ziehen. Niemand kann sich nur auf sich selbst stellen. Jeder ist wichtig, wie gesagt, auch und gerade im Orchester. Der Hornist mit seinem Solo, der Konzertmeister, der für die Homogenität in seiner Gruppe sorgt, die Harfenistin, die auf der «Beckmesser-Harfe» so herrlich schräge Töne spielt, die Chordirigenten, die im «Lohengrin» oder im «Tannhäuser» auf den Türmen links und rechts vom Proszenium stehen und für das Bühnenvolk den Takt schlagen (weiter hinten auf der Bühne hat man keine Chance, den Dirigenten zu sehen, und je nach Bühnenbild gibt es dort auch keine Monitore). Und der Dirigent selbst ist natürlich auch nicht unwichtig – so er sich auf diese exzentrische Versuchsanordnung einlässt.

Der Bayreuth-Dirigent muss viele Dinge tun, die ihm professionell gegen den Strich gehen. Er muss sich von seinen Assistenten sagen lassen, wo das Tempo schleppt oder wo er zu laut ist, und vom Chordirektor, dass der Einsatz immer noch zu früh kommt. Er kann dem Geschehen auf der Bühne nicht einfach folgen und sich dabei auf die Intuition seiner Musiker verlassen (wie das bei sehr guten Orchestern in offenen Gräben der Fall ist), sondern wird permanent gezwungen zu antizipieren. Vor allem aber sollte er sich schleunigst von der Idee verabschieden, nur große Kunst machen zu wollen. Das nimmt einem das Haus leicht übel. Deshalb haben auf dem Grünen Hügel immer eher die guten Kapellmeister reüssiert, die handwerklich Sattelfesten und Soliden, nicht die Glücksritter, nicht die Überflieger. Wobei ein gutes Handwerk und schöne Ideen sich nicht unbedingt ausschließen.

Mit der Zeit bekommt man als Dirigent ein Gefühl für die größeren und kleineren Imponderabilien, dann weiß man, dass ein Forte im «Holländer» mit einem Forte im «Siegfried» wenig zu tun hat. Man kann dieses Haus mit seiner Akustik lernen wie eine Partitur: indem man sich raten lässt. Und, ganz wichtig, indem man die Proben der Kollegen besucht. Man fährt in Bayreuth nicht weg, wenn man ein paar Tage frei hat, sondern bleibt da und hört und vergleicht und hört noch einmal und analysiert für sich selbst. Wo gibt es das schon im Musik-Business, wo macht man das sonst? Der Grüne Hügel setzt auf die persönliche Anschauung jedes Einzelnen – und die mündliche Überlieferung. Das gehört mit zur familiären Atmosphäre und Tradition. Wer sich dem verweigert, aus Angst oder Arroganz, tritt meist böse ins Fettnäpfchen. Es gab Kollegen, die verlangt haben sollen, dass die ersten Geigen links sitzen und die zweiten rechts – wie überall sonst in der Welt. Auf dem Grünen Hügel ist das seit jeher andersherum, mit gutem Grund. Wenn ein Geiger seine Geige an den Hals setzt, zeigen die F-Löcher, aus denen der Schall dringt, nach rechts. Die ersten Geigen, säßen sie wie üblich links vom Dirigenten, würden in Bayreuth also konstant gegen den Grabendeckel spielen. Das hat Richard Wagner nicht gewollt, denn es hätte, vereinfacht ausgedrückt, die hohen Töne und Frequenzen stumpf gemacht, und deshalb wurden die Gruppen getauscht. Für den Dirigenten ist das wie der Linksverkehr beim Autofahren in England: Anfangs verwirrt es, aber man gewöhnt sich daran.

Was ebenfalls verwirrt, ist die Nachhallzeit des Festspielhauses. Die Zahlen sind da leider nicht einheitlich, manche sprechen von 1,8 oder 1,9 Sekunden, andere von märchenhaften 2,25 Sekunden (nur das Teatro Colón und die New Yorker Met bringen es auf annähernd so viel). Doch wie dem auch sei: Im Graben hat man das Gefühl, dass der Klang ewig lange steht, und das verführt zu breiten Tempi, die «draußen», im Saal, gar nicht so gut ankommen. Wenn ich Wagners Musik zu sehr knete und auswalze, ist die Folge oft jene falsche Weihe, jenes Zelebrieren, gegen das der Theaterpraktiker Wagner allergisch gewesen sein muss. Wie ermahnt er seine Sänger noch am Tag der ersten «Rheingold»-Aufführung, am 13. August 1876? «Eine letzte Bitte: !Deutlichkeit!/ – Die grossen Noten kommen von selbst: Die kleinen Noten und ihr Text sind die Hauptsache! –». Was das heißt, habe ich selbst erst vor Ort wirklich begriffen: Ich darf unten im «Abgrund» keine Nebel wallen lassen, nicht einen auf Aura machen, sondern muss peinlich genau darauf achten, was in den Noten geschrieben steht.

Auch Regisseure und Ausstatter – apropos Gesamtkunstwerk – haben mit der Akustik bisweilen zu kämpfen. Geschlossene Bühnenbilder etwa, die zu viel Wandfläche besitzen und den Schall zu stark reflektieren, sind in jedem Opernhaus ein Problem; in Bayreuth können sie katastrophale Folgen haben. Weil sich der Schall dann fängt und keine elegante S-Kurve mehr nimmt, sondern Beulen und Löcher kriegt. Das hört sich fast wie übersteuert an. Ein heikles Thema ist auch die Positionierung der Sänger auf der Bühne. Mit den üblichen Konflikten zwischen Regisseur und Dirigent – der eine will den Raum, der andere die Rampe – hat das nichts zu tun. Wenn die Sänger in Bayreuth zu weit vorne im Proszenium, sprich an der Rampe stehen, klingen viele Stimmen schrill, sogar die, die es erwiesenermaßen nicht sind. Auch hier fängt sich der Schall, und es klingt plötzlich wie ein ausgeleiertes Tonband. Ich finde das bezeichnend, denn es bedeutet: Wagner wollte kein Rampentheater. Die Opernkonventionen des 19. Jahrhunderts waren ihm seit seinen Dresdner Tagen ein Dorn im Auge und im Ohr. Insofern hat sich in Bayreuth die Mär vom fettleibigen Rampensänger frühzeitig erledigt, seit 1876 nämlich, aus rein architektonischen Gründen. Was nicht heißt, dass wir Wagner nicht immer wieder gegen seine Rezeption zu verteidigen hätten.

Meine einzige Dirigentenschule

Bayreuth ist die einzige Dirigentenschule, die ich je besucht habe. Hier habe ich gelernt, mein Herz zu domestizieren. Das Festspielhaus konfrontiert einen mit sich selbst. Das ist nicht immer angenehm, aber auf Dauer doch erhellend. Ich habe mich stets als einen eher intuitiven Musiker begriffen. In Bayreuth musste ich einsehen, dass ich meine emotionale Seite auf keinen Fall betonen darf. Sie brachte mich nicht weiter, und oft kam dabei, mit Verlaub, bloß ein gepflegter Brei heraus. Ich saß in der Genussfalle, im Grabenschaumbad. Anfangs wusste ich noch nicht, dass das Opium dieses Hauses dosiert werden will. Ich war schockiert und dachte, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Da hieß es dann, das gehe jedem Neuling so. Zwar tröstete mich das nicht sonderlich, aber ich sagte mir: Ich höre jetzt einfach auf Wolfgang Wagner und die Assistenten. Ich versuche einfach mal, brav und folgsam zu sein. Als ich mit den «Meistersingern» auf dem Grünen Hügel debütierte, war ich 41 Jahre, ein Alter, in dem man als Dirigent einigermaßen gefestigt ist. Das war ich auch, und meine künstlerischen Ansichten deckten sich sehr oft nicht mit dem, was man mir in Bayreuth nahelegte und riet. Aber dann stand Wolfgang Wagner vor mir, mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit und Erfahrung, und ich musste daran denken, dass er hier alle Großen gehört hatte, von Furtwängler über Toscanini und Knappertsbusch bis Böhm und Carlos Kleiber. Wenn so jemand sagt, er finde diesen Übergang etwas spannungslos und jenes Tempo zu breit, dann akzeptiert man das. Man nimmt es sich zu Herzen oder versucht es zumindest.

In Bayreuth (2002)

Trotzdem gab es einige Stellen, die mir absolut contre coeur gingen. Ich tat da etwas, wovon ich nicht überzeugt war – und spürte doch, es musste so sein. Eine innere Stimme sagte mir, tu’s, beiß die Zähne zusammen. Im Nachhinein denke ich: Erst im Konflikt mit meinem musikalischen Gefühlshaushalt habe ich gelernt zu disponieren. Ich musste plötzlich planen, vorausdenken, mir einiges richtig bewusst machen, ich konnte mich nicht bloß dem Augenblick überlassen. In Bayreuth bin ich, wenn man so will, erwachsen geworden.

Der Graben spricht seine eigene Sprache. Dadurch, dass die Musik hier (wie auf der Bühne auch) so anders klingt als im Saal, benötige ich als Dirigent eine Art Übersetzungshilfe. Das ist wie Vokabeln lernen: An welchen Schrauben muss ich drehen, damit ich «draußen» diese oder jene Wirkung tatsächlich auch erziele? Und das Gemeine ist: Die Übersetzung für die «Meistersinger» hat mit der «Parsifal»-Übersetzung nur bedingt etwas zu tun.

Ich saß viel in den Proben der Kollegen, bei Giuseppe Sinopoli, Antonio Pappano und Adam Fischer, bei Pierre Boulez und Peter Schneider. Meist sind es gar nicht die guten Proben, von denen man als Bayreuth-Eleve profitiert, sondern die, in denen etwas nicht funktioniert. Dann sagt mir der Assistent, das klingt so dick, weil die Geigen diese Läufe staccato spielen müssten und es nicht deutlich genug tun, oder das Forte kommt gepresst, weil zwar forte geschrieben steht, der Dirigent aber zu spät dämpft. In Bayreuth ein schönes Forte oder Fortissimo zu erzielen, ist gar nicht leicht. Das Äußerste geben minus fünf Prozent – vielleicht ist das die richtige Formel. Und so gesellt sich langsam ein aufführungspraktisches Mosaiksteinchen zum nächsten.

Eine der irritierendsten und aufregendsten Entdeckungen war für mich, dass man Richard Wagner in Bayreuth auch gegen sich selbst in Schutz nehmen muss. Oft steht fortissimo in der Partitur und man darf höchstens piano anzeigen, damit das Orchester nicht alles andere zudeckt. Ich denke, solche Spielanweisungen hätte Wagner, wenn es ihm noch vergönnt gewesen wäre, in großer Zahl geändert. Auch um es dem Dirigenten leichter zu machen: Soll der nun größtmögliche kapellmeisterliche Texttreue walten lassen oder die Noten von ihrer Wirkung her interpretieren und gegebenenfalls vom geschriebenen Text abweichen?

Die «Meistersinger» gelten auf dem Grünen Hügel als das heikelste Stück (gefolgt vom «Rheingold» und den früheren Opern). Man merkt sehr deutlich, dass sie nicht für das Festspielhaus komponiert worden sind, und wenn es kein solcher Frevel wäre, müsste man den Grabendeckel in der Tat abmontieren. Denn hier geht es nicht um alchemistische Farbmischereien wie im «Parsifal», sondern um die Mechanik des Komischen, und die muss so direkt und präzise sein wie möglich. Mit den «Meistersingern» in Bayreuth zu debütieren, ist der Sprung ins kälteste aller kalten Wagner-Gewässer. Erstaunlicherweise habe ich das 2000 gut verkraftet. Ich kann mich noch genau erinnern: Als bei der Premiere am 1. August der erste Ton des Vorspiels erklang, wusste ich, es würde klappen. Das habe ich nur ganz selten in meinem Leben erlebt. Mich reizten damals die Widersprüche: Einer Partitur, die nicht für Bayreuth gedacht ist, trotz der Bayreuther Verhältnisse und mit diesen zu ihrem Recht zu verhelfen – gab es eine bessere Methode, die Eigenheiten des Festspielhauses zu erforschen? Außerdem konnte ich mich immer damit beruhigen, dass kein anderes Werk, von Einzeltücken abgesehen, je wieder so schwer werden würde.

Noch etwas anderes gibt es, das einem die Arbeit in Bayreuth leicht und schwer zugleich macht: das Orchester. Dieses Orchester – rund 200 Musiker vorrangig aus deutschen Opern-, Rundfunk- und Symphonieorchestern, die für die Festspiele auf ihre Sommer- und Theaterferien verzichten – ist eines der heißblütigsten und eruptivsten, das ich kenne. Niemand schiebt hier Dienst, alle wollen, und sie wollen vor allem wiederkommen. Das heißt, der Bayreuther Musiker hat überdurchschnittlich viel Lust, genau das, was man sich andernorts oft sehnlich wünscht. Normalerweise ist man als Dirigent immer wieder damit beschäftigt, zu animieren und zu motivieren, spielt doch bitte mit etwas mehr Herz! In Bayreuth ist das Gegenteil der Fall, und das ist nicht unproblematisch. Hier muss man permanent zur Beherrschung mahnen – bitte nicht so viel Gefühl, nicht so viel Temperament, nicht diesen Wildwuchs! Wenn es einem allerdings gelingt zu bremsen, ohne den Musikern die Freude auszutreiben, dann kann das für beide Seiten sehr erfüllend sein.

In meinem ersten Bayreuther «Ring»-Jahr 2006 haben die Musiker mir ein T-Shirt geschenkt, auf dem in großen Lettern «Nur Forte!» drauf stand. Das war die Anweisung, die ich wohl am häufigsten gegeben hatte. Dazu muss man wissen, dass in Bayreuth vieles lauter gespielt wird als in offenen Gräben. Auftakte zum Beispiel müssen per se lauter und prägnanter genommen werden, sonst verpuffen sie, sonst werden sie draußen gar nicht wahrgenommen. Das wiederum kann dazu verleiten, grundsätzlich alles lauter zu spielen. Weil ich als Musiker plötzlich Instrumente höre, die ich zuhause nie höre. Ohnehin ist der Geräuschpegel beträchtlich, über 100 Dezibel bei den Blechbläsern (die menschliche Schmerzgrenze liegt bei 110 Dezibel). Hier droht eine gefürchtete Kettenreaktion. Um die zu verhindern, muss der Dirigent strikt darauf achten, dass die vorgeschriebene Dynamik im leisen Bereich eingehalten wird. «Nur Forte!» meinte also in erster Linie: bloß kein Dauer-Fortissimo!

Ausgesprochen lehrreich war es für mich immer wieder, mir Übertragungen von Festspielaufführungen im Radio anzuhören. Oft genug war es so, dass ich dachte: Was habe ich bei diesem oder jenem Tempo im Graben doch getrieben – und im Radio floss es ganz wunderbar, gemessen und genau richtig. Solche Beobachtungen sind extrem verunsichernd, denn normalerweise merke ich, ob die Spannung hält oder nicht. Und in Bayreuth? So viel hysterischen Aufwand für einen so homöopathischen Output?

Manchmal kommt mir der «mystische Abgrund» wie eine sehr dicke Herdplatte vor: Unten muss ich irre einheizen, damit es oben halbwegs warm wird. Und noch schwieriger ist es, die Hitze wieder zu reduzieren.

Die Wagners

Die Wagners aßen gerne Wurstsalat. Bei den Pausenempfängen, bei ihren berühmten Hauseinladungen, immer gab es Wurstsalat. Ich mag keinen Wurstsalat. Aber das war im Grunde das einzige, was zwischen uns stand.

Wenn ich an Wolfgang Wagner denke, sehe ich ihn nicht so sehr auf seinem Klappstuhl auf der linken Seitenbühne sitzen, wo er während der Vorstellungen noch hoch betagt ganze Akte zuzubringen pflegte; ich sehe ihn nicht auf dem Sterbebett, das schon gar nicht, obwohl ich einer der letzten war, die ihn noch besucht haben; und ich sehe ihn auch nicht, wie er am Stock den Zebrastreifen zwischen seiner Villa und dem Festspielhaus überquert – meist war es für ihn das zweite Mal am Tag, oft war er schon früh im Büro, ging dann fürs Frühstück noch einmal zurück und kam zu Probenbeginn wieder. Nein, ich sehe Wolfgang Wagner, wie er sich nach einer «Meistersinger»-Vorstellung vor mir aufbaut, im Smoking, und redet. Der «Alte», wie wir ihn nannten, lobte ja nicht. Der sagt nichts Nettes, hieß es immer. Und das stimmte. Wenn es hoch kommt, kann ich mich an sieben oder acht Situationen in all den Jahren erinnern, in denen er so etwas knurrte wie «locker musiziert» oder «schön durchsichtig». Aber mehr auch nicht. Gudrun Wagner hingegen stand immer ins Gesicht geschrieben, ob ihr etwas gefallen hatte oder nicht. Und sie hielt auch mit Worten, mit Kritik nicht hinterm Berg.

Normalerweise erkannte ich Wolfgang Wagner an seinem Schritt. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb er meist kurz stehen, bevor er weiter den Gang zu den Dirigentengarderoben entlang tappte. Nach der besagten «Meistersinger»-Vorstellung aber konnte ich ihn nicht hören, weil ich unter der Dusche stand. Ich trete also aus der Dusche heraus (die Garderoben heißen nicht umsonst Hasenställe), mit einem kleinen Handtuch in der Hand – und in dem Moment steht er vor mir und fängt an zu reden. Über den Chor und die Sänger und diese oder jene Stelle. Mir war das fürchterlich unangenehm, und ich versuchte, mich bemerkbar zu machen: «Wissen Sie, Herr Wagner, irgendwie fühle ich mich komisch.» Woraufhin er sagte: «Hab’ schon mal ’nen nackten Mann gesehen in meinem Leben» – und weitersprach. Es hatte gar keinen Sinn, sich ihm zu widersetzen. Nachdem er losgeworden war, was er loswerden wollte, drehte er sich um, schön’n Abend noch, und verschwand. Und ich war trocken.

Diese Szene ist für Wolfgang Wagner so typisch, weil er vor nichts zurückschreckte, wenn es um die Sache ging. Er konnte extrem jähzornig sein und aufbrausend, dann wurde er auch richtig laut. Nicht lange und niemals mir gegenüber, aber die Wände im Festspielhaus sind dünn. Über Privates haben wir nie gesprochen, trotz seiner jovialen Art war er nicht der Mensch, der sich anderen gegenüber öffnete. Ich empfand das als wohltuend professionell, ganz alte Schule. Trotzdem hatte ich zu ihm ein Verhältnis wie zu einer Vaterfigur, er erschien mir gütig, streng und liebevoll zugleich. Ich habe nicht viele Menschen kennengelernt, die so wenig Aufhebens um ihre eigene Person machten wie er. Wolfgang Wagner war sozusagen immer im Dienst. Er verkörperte die Festspiele, er war der Patriarch, der Fürst, der unangefochtene und unanfechtbare Herrscher über den Grünen Hügel und dessen künstlerische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Geschicke. Und wie es sich für einen guten Herrscher gehört, wusste er über seine «Vasallen» genau Bescheid. Hier benötigte die Frau eines Angestellten eine kostspielige ärztliche Behandlung, da ging es um die Ausbildung der Kinder, dort um Spenden für die Finanzierung eines exotischen Wagner-Vereins – die Wagners halfen viel und sprachen nicht darüber.

Wolfgang, Jahrgang 1919, war das dritte Kind von Siegfried Wagner und dessen Frau Winifred, der zweitgeborene Sohn. Auf Fotografien guckt einem ein blondes, blasses Bürschchen entgegen, ein mäßiger Schüler, wie es hieß, und schlechter Esser. Die «Wagner-Nase» (jenen Zinken, der für die Dynastie so typisch ist, seit Richard Wagner mit Cosima eine Tochter Franz Liszts geheiratet hatte) erkennt man bei ihm lange nicht. Und erst recht nicht, dass er es sein würde, der den Festspielen bis ins 21. Jahrhundert hinein seinen Stempel aufdrückte. Im Garten der Villa Wahnfried spielten die Geschwister die «Walküre» und den «Lohengrin» nach, mit kleinen geflügelten Helmen, Pappschwertern und Bärenfellen. Lange stand Wolfgang im Schatten seines zwei Jahre älteren Bruders Wieland: Er galt als weniger begabt, wollte eigentlich Dirigent werden, doch als der Krieg ein Studium verhinderte, heuerte er als Regieassistent an der Berliner Staatsoper an. 1950 übernahm er gemeinsam mit Wieland die Leitung der Bayreuther Festspiele, kümmerte sich um das Wirtschaftliche und das Organisatorische, begann zu inszenieren.

Mit Wolfgang Wagner 2002 auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses nach einer Vorstellung der «Meistersinger von Nürnberg» (Inszenierung: Wolfgang Wagner)

Als Wieland 1966 überraschend starb, mit 49 Jahren, setzte der «kleine Bruder» eigene Maßstäbe. Er überführte die Festspiele samt dem verbliebenen Familienarchiv und der Villa Wahnfried in eine Stiftung, verpflichtete aufregende Künstler (Dirigenten wie Pierre Boulez und Carlos Kleiber, Regisseure wie August Everding, Götz Friedrich und Patrice Chéreau), setzte seine Regiearbeiten fort, heiratete ein zweites Mal, bezog oben auf dem Hügel ein eigenes Haus – und sicherte sich als Festspielleiter einen Lebenszeitvertrag. Fast 60 Jahre lang hütete und verteidigte Wolfgang Wagner die Bayreuther Festspiele und führte ein strenges Regiment, nach allem, was man bis heute hört. Berüchtigt waren nicht nur seine «Hausmitteilungen», die, mit Tesafilm befestigt, an Türen und Fahrstühlen klebten, allen «Nicht-Zugangsberechtigten» den Aufenthalt untersagten und jegliche «Bild- und Tonaufnahmen» verboten. Stets waren diese Mitteilungen mit den Worten unterzeichnet, mit denen Evchen im zweiten Akt der «Meistersinger» den Schuster Sachs umgarnt: «Hier gilt’s der Kunst». Das stand auch auf den Flugblättern, die die Brüder zur Eröffnung von Neu-Bayreuth 1951 verteilen ließen: «Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen. Hier gilt’s der Kunst.» Nie wieder Missbrauch, nie wieder Propaganda.

1999, als wir uns in Chicago trafen, war Wolfgang Wagner 80 Jahre: ein alter Mann mit einer unfassbaren Vitalität. Mir kam er damals höchstens wie 50 vor. Trotzdem war er natürlich ein wandelndes Geschichtsbuch, ihn konnte man alles fragen – und er wusste auch alles, dank seines phänomenalen Gedächtnisses. Wie der Knappertsbusch vor dem Festspielhaus auf der grünen Wiese saß und Autogrammkarten verteilte; die Auseinandersetzungen mit Karajan natürlich, und zwar en detail, und warum Solti scheiterte; wie die Leute 1976 zum Chéreau-«Ring» mit Trillerpfeifen anrückten und es im Zuschauerraum zu Handgreiflichkeiten kam; wie die Familie sich nur unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen konnte und Gudrun Wagner von einem wütenden Besucher das Abendkleid zerrissen wurde. Und etliches mehr.

Manchmal trafen wir uns zu dritt oder zu viert, mit Katharina, nach der Vorstellung im alten Sitzungszimmer im Erdgeschoss (wo sich heute die Büros der Festspielleiterinnen befinden). Der lange Tisch war nett gedeckt, es gab in einer riesigen Schüssel den unvermeidlichen Wurstsalat, aber auch Brezeln und Käse, die Evi, Katharinas Kindermädchen, brachte ein paar Flaschen Bier, und dann wurden die Schuhe ausgezogen, die Hemden gelockert, und es war richtig gemütlich, oft bis tief in die Nacht. Von den Pausenempfängen hingegen hielt ich mich eher fern. Wie schaffen manche Kollegen das, frage ich mich, nach einer Stunde Smalltalk einen zweiten Akt «Walküre» zu dirigieren oder einen dritten Akt «Tristan»? Nur als Joseph Ratzinger 2003 eine «Tannhäuser»-Vorstellung besuchte, noch als Kardinal, ging ich hin, ihn wollte ich unbedingt kennenlernen. Und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder habe ich meine Aufwartung gemacht, um ihm die Situation der Berliner Opernhäuser zu erläutern.

Man hat mich oft gefragt, ob Wolfgang Wagner ein Künstler war. Ich weiß nicht, welche Antwort man von mir erwartete. Nein, er tut nur so, aus dynastischen Gründen? Nein, aber seine Inszenierungen sind die «Kröten», die wir schlucken müssen, um selber weiter auf dem Grünen Hügel arbeiten zu dürfen? Ich denke, der «Alte» war viel mehr Künstler, als er es zeigen konnte oder wollte. Dafür verstand er sich zu sehr als Respektsperson, als Familienoberhaupt im übertragenen Sinn. Mein früherer Agent Ronald Wilford sagte einmal, Wolfgang Wagner sei der «beste Intendant der Welt», und ich kann das nur bestätigen. Neben der New Yorker Met habe ich nur einen einzigen Theaterbetrieb erlebt, der ähnlich perfekt geführt und organisiert wurde: die Bayreuther Festspiele.

Über Wolfgang Wagners fränkisch hemdsärmelige Art ist mindestens so viel gespottet worden wie über ihn als Regisseur. Wenige verstanden, dass das Hemdsärmelige, Polterige für ihn auch eine Maske war, eine Rolle, in die er schlüpfte, um sich zu schützen. Und was seine Inszenierungen angeht, so habe ich seine profunde Kenntnis der Partituren und des Hauses extrem schätzen gelernt. Wolfgang Wagner konnte einem detailliert auseinandersetzen, warum er einzelne Szenen in den «Meistersingern» so und nicht anders gestellt hatte: damit der Stolzing an dieser oder jener Stelle nicht brüllen musste oder der Chor sich in der gefürchteten Prügelfuge am Ende des zweiten Aktes möglichst gut hörte. Er wusste auf Anhieb, welches Bühnenbild funktionierte und welches nicht. Und er war in musikalischen Fragen ein unverzichtbarer Ratgeber. Er war unser «bester Assistent» – und immer sehr direkt. Dann kamen die Anrufe unten im Graben: «Herr Wagner sagt, das ist zu langsam.» «Herr Wagner sagt, das ist zu laut.» Manchmal war er’s auch persönlich. Das Grabentelefon klingelt ja nicht, es blinkt, in der einen Hand hält man den Hörer, mit der anderen dirigiert man weiter. An vielen Stellen habe ich bis heute die knarrende Stimme des «Alten» im Ohr. Erst kommt das Handwerk, dann das Gefühl – auch das habe ich von Wolfgang Wagner gelernt.

Natürlich konnte er unangenehm werden, das versteht sich bei einer so großen Persönlichkeit fast von selbst. Die Tochter und den Sohn aus erster Ehe vom Hügel zu jagen, von den Kindern seines Bruders Wieland ganz zu schweigen, dazu gehörte schon einiges. Und die Regelung seiner Nachfolge zählt sicher zu den absurdesten deutschen Kultur-Krimis des 20. und 21. Jahrhunderts, vielleicht der letzte dieser Art. Seit 1987 besaß Wolfgang Wagner den erwähnten Lebenszeitvertrag als Festspielleiter und führte die politisch Verantwortlichen damit gehörig an der Nase herum. Mehrere Findungsverfahren wurden eröffnet und ergebnislos widerrufen. Erst sollte, nach Wolfgangs Wille, Gudrun die Geschäfte übernehmen, dann hatte sich die Politik Eva Wagner-Pasquier ausgeguckt, Wolfgangs Tochter aus erster Ehe. Beide Lösungen scheiterten, die Politiker bissen sich die Zähne aus, der «Alte» grollte und pochte auf seinen Vertrag – ein Patt. 2008 schließlich einigte man sich, jeder lenkte ein bisschen ein, niemand verlor sein Gesicht: Eva und Katharina sollten es gemeinsam machen. «Schwesternblut ist dicker als Kusinenwasser», schrieb damals die «FAZ» in Anspielung auf Wielands Tochter Nike, die mit ihrer Bewerbung an der Seite von Gerard Mortier gescheitert war.

Für uns, die wir in diesen Jahren auf dem Grünen Hügel gearbeitet haben, stellte sich die Situation oft schizophren dar. Die Zeitungen behaupteten, Wolfgang Wagner sei senil und zu keiner vernünftigen Entscheidung mehr fähig – und wir sahen ihn im nächsten Augenblick um die Ecke biegen, quietschfidel, und hörten, wie er sich mit dem Technischen Direktor stritt. Wir lasen, die Stimmung im Festspielhaus sei hundsmiserabel – und waren bester Laune. Wir stürzten uns 2002 auf Brigitte Hamanns Winifred-Wagner-Biographie, die nun wirklich einigen Sprengstoff bereithielt, freuten uns an dem einen oder anderen fruchtigen Kommentar dazu – und hatten trotzdem das Gefühl, die ganze Historie sei weit weg und könne uns die Freude an der Musik nicht verderben. Am Ende überschätzten die Störenfriede ihre Macht: die aufgescheuchten Politiker, die investigativen Journalisten, die von Neid und Eifersucht geplagten Familienmitglieder. Man hatte geglaubt, man könne den Fels W. W. zum Wanken bringen, aber er wankte nicht. Und je kritischer die Stimmen von außen wurden, desto stärker wuchs innen die Solidarität. Die Festungsmentalität, die man den Festspielen gerne vorwarf und vorwirft, manifestierte sich überhaupt erst in angespannten Situationen wie dieser.

Viele Festspielangestellte verehrten Wolfgang Wagner wie einen Übervater. Und ich bin überzeugt: Die Zuneigung, die ihm im Haus entgegenschlug, war echt. Bei aller Kritik, die es gab, bei allem zeitweiligen Gemurre über seinen unorthodoxen Führungsstil. Dieser Mann wurde geliebt.

Mit seiner zweiten Frau Gudrun taten sich viele schwerer. Gudrun Wagner neigte zu großer Direktheit und Offenheit, sie nahm kein Blatt vor den Mund, womit ich persönlich immer hervorragend zurechtgekommen bin. Eine gebürtige Ostpreußin und ein Berliner verstehen sich eben. Gudrun Wagner hat mir immer erzählt, sie sei am Tag der Sprengung des Tannenberg-Denkmals geboren. Die Mutter hätte also in Allenstein (heute Olsztyn) im Krankenhaus gelegen, und sobald die Fenster geöffnet wurden, seien die Detonationen im 25 Kilometer südwestlich gelegenen Hohenstein (heute Olsztynek) zu hören gewesen. Pioniere der deutschen Wehrmacht waren mit der Zerstörung des «Reichsehrenmals» betraut, um der näher rückenden Roten Armee zuvorzukommen. Eine dramatische Geschichte, zumal die kleine Gudrun mit ihrer Familie kurz darauf übers Frische Haff floh und ihre Heimat nie wiedersah. Das Problem war nur: So kann es kaum gewesen sein. Gudrun Armann nämlich, wie sie mit Mädchennamen hieß, kam bereits am 15. Juni 1944 zur Welt – und das Tannenberg-Denkmal wurde erst Ende Januar 1945, in letzter Sekunde, gesprengt. Da mischte sich seitens ihrer Mutter offenbar Erinnertes mit Erfundenem, Erzähltes mit Befürchtetem. Einer anderen Quelle zufolge erreichte die Familie bereits Mitte Juli 1944 das niederbayerische Langquaid, wo Gudrun aufwachsen sollte. Von einer Flucht über das eisige Haff kann demnach ebenfalls keine Rede sein.

Ansonsten konnte man sich auf Gudrun Wagner hundertprozentig verlassen – was man mit ihr einmal besprochen hatte, das galt. Sie war professionell, hoch engagiert und verstand wirklich viel vom Wagner-Geschäft. Sie war diesen Festspielen mit Herz, Leib und Seele verbunden. Sukzessive hatte sie sich im Betrieb hochgearbeitet, von der Sekretärin im Pressebüro über den Büroleiterinnenposten bei Wolfgang Wagner bis hin zur «heimlichen Prinzipalin», als die sie in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren bis zu ihrem Tod 2007 galt. Und sie war eine blitzgescheite Person mit einer extrem schnellen Auffassungsgabe. Bei Vorsingen war Gudrun Wagner oft die erste, die wusste, das wird was, oder das wird eher nichts.

Vor allem war sie immer da. Ich kann mich nicht erinnern, wann Frau Wagner nicht im Festspielhaus gewesen sein soll. Ich sehe noch ihren Schlüsselbund vor mir aus rotem Krokodilleder, und wie sie mittags die Tür vom Westfoyer abschließt und sagt, in einer Stunde bin ich wieder im Büro. Und sie hat mir Geschichten aus meiner Bayreuther Jugend erzählt, an die ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann. Wie ich als Barenboim-Assistent im Bayreuther Zuschauerraum immer die Beine hochgelegt haben soll, die Füße über der vorderen Lehne. Da hätte sie mich mehrfach ausgeschimpft! Später erzählte sie mir das x-mal, und es gehörte zu unserem Spiel, dass ich sagte, liebe Frau Wagner, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern, und sie dann sagte, aber ich erinnere mich ganz genau!

Ein einziges Mal sind wir beide aneinandergerasselt, 2004, als Christoph Schlingensiefs «Parsifal» Premiere feierte. Mit seiner höchst unkonventionellen Inszenierung waren die Wagners unglücklich, sie hatten das Gefühl, das Ganze sei mehr eine Installation als echte Oper, echtes Musiktheater und überhaupt viel zu statisch. Ich glaube, sie haben einfach nicht verstanden, was Schlingensief wollte, und verloren irgendwann das Vertrauen. Eines Tages kam Christoph in der Kantine auf mich zu und fragte nach den Blumenmädchen im zweiten Akt: was hier an Aktion von der Musik her möglich und zumutbar wäre. Ich antwortete ihm ganz offen: dass ich von jeder größeren und gröberen Spielastik abraten würde, das ginge auf Kosten der Koordination und würde den Dirigenten und den Chorleiter nur verärgern. Das nahm Schlingensief sich prompt zu Herzen. Jeden Vorwurf, bei ihm auf der Bühne passiere nichts, parierte er nun mit einem «Der Thielemann sagt auch …». Daraufhin war Gudrun Wagner sauer, weil sie das Gefühl hatte, ich würde mich in Sachen einmischen, die mich nichts angingen. Irgendwann stand ich dann mit einer weißen Rose vor ihr, sie saß in ihrem Büro, und die Stimmung war gar nicht gut. Ich sagte: «Stehen Sie doch bitte einmal auf, Frau Wagner!» Sie: «Wieso?» Ich: «Stehen Sie einfach auf!» Dann grummelte sie etwas und stand auf, ich überreichte ihr die Rose und umarmte sie – und alles war wieder gut.

Was haben wir in diesen Jahren auf dem Grünen Hügel für Feste gefeiert! Zu Gudrun Wagners Geburtstag im Juni etwa fand im Festspielrestaurant immer ein Empfang statt, alle waren eingeladen und gratulierten. Da gab es kalte Platten und für die, die wollten und konnten, auch ein Weinchen oder zwei. Chorfeste wurden ausgerichtet, Orchesterfeste, Technikerfeste mit einer echten Sau am Spieß – und die Wagners saßen an einem der Wirtshaustische mittenmang und waren leutselig und froh. An welchem anderen Opernhaus wäre so etwas denkbar? Wie die beiden sich ihre Arbeit teilten, war von außen schwer zu beurteilen. Er kümmerte sich wohl sehr um alle technischen Belange und Abläufe, sie mehr ums Innerbetriebliche und die Künstlerbetreuung. Er hatte die Ideen, machte die Besetzungen, sie übernahm das operative Geschäft, war seine rechte Hand und sein Gewissen. Ein klassisches Verhältnis, wenn man so will, wobei Gudrun Wagners Einfluss nicht unterschätzt werden darf.

Was Wolfgang Wagners Ruf als Festspielleiter im Nachhinein eher gefestigt als ramponiert hat, sind die neuen Strukturen der Festspiele: Aus der dynastischen Spielwiese, dem absolutistischen Ein-Mann-Betrieb ist seit 2008 ein demokratisch geführtes, modernes Unternehmen geworden. Der Bund, der Freistaat Bayern, die Stadt Bayreuth und die Mäzenatenvereinigung der «Gesellschaft der Freunde von Bayreuth» halten die Anteile an der Festspiele GmbH. Das bedeutet: mehr Kontrolle und viel mehr administrativen Aufwand. In Zeiten, in denen die Kommunen darben und sich der Umgang mit der «Hochkultur» immer weniger von selbst versteht, sehe ich das aber auch als Sicherungsmaßnahme. Deutschland fühlt sich dem Mythos der Festspiele, dem Potenzial dieses kulturellen «Leuchtturms» verpflichtet. Das war in der großen Koalition so, und unter Schwarz-Gelb ist es so geblieben. Selbst ein wenig pathosverdächtiger Mensch wie der amtierende Kulturstaatsminister Bernd Neumann wird nicht müde, das zu betonen.

Das dynastische Prinzip halte ich in Bayreuth trotzdem für unverzichtbar. Manche Stimmen behaupten ja, es habe sich erschöpft und überlebt. Sicher ist künstlerische Qualität keine Frage der Gene, doch warum sollte man mit dieser Tradition brechen, solange es Mitglieder der Wagner-Familie gibt, die willens und in der Lage sind, sie fortzusetzen? Bayreuth hat, wonach jedes Festival lechzt und dürstet und wofür weltweit viel kreative Energie und Geld aufgewendet werden: eine echte Exklusivität, ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Die Festspiele sind die Wagners – und die Wagners sind die Festspiele. Diese Identität ist ein unbezahlbar hohes Gut.

Richtig verabschiedet habe ich mich von Wolfgang Wagner nicht. Den Gedanken eines letzten Mals verbat ich mir regelrecht. Aber mehrfach besucht habe ich ihn, als er das Haus nicht mehr verließ, und ich weiß noch, wie winzig er mir vorkam, wie gläsern. Ein Mensch im Verschwinden, im Verlöschen, einer, durch den alle Wirklichkeit hindurchfloss. Selbst in diesem Zustand aber hatte er noch blitzwache Momente. Er erkannte mich immer gleich und streckte mir die Hand hin. Gesprochen hat er nicht mehr viel, dafür erzählten Katharina und ich ihm dies und das, und er hörte zu. Nicht lange, vielleicht 20 Minuten, aber man merkte, er freute sich. Besonders wenn man sagte, Herr Wagner, Sie müssen wieder rüber ins Festspielhaus, die Leute warten auf Sie!

Wolfgang Wagner starb am 21. März 2010, an einem Sonntag um zwei Uhr morgens. Drei Wochen später, am 11. April, fand im Festspielhaus bei sehr frischen Temperaturen (das Haus hat keine Heizung) eine Trauerfeier statt. Der Chor und das Orchester musizierten, das musikalische Programm hatte Wolfgang Wagner selbst zusammengestellt, ich durfte dirigieren. Lediglich ein Foto beherrschte die Bühne: der schätzungsweise 80-Jährige mit Goldrandbrille und Krawatte – so kernig, so unverwüstlich, als würde er im nächsten Augenblick von der Leinwand springen und mit einem einzigen Stockhieb die ganze Versammlung auflösen.

Der Mythos

Manchmal komme ich mir in Bayreuth vor wie im «Parsifal»: Jahr für Jahr enthüllen wir den Gral – und wissen doch nie, ob er es ist, ob wir ihn tatsächlich gefunden haben oder jemals finden werden. Und deshalb müssen wir alle immer wiederkommen: die reinen Toren und die Zauberinnen, die Blumenmädchen, die leidenden Herrscher, die Ritter und Knappen. Wagners Figuren neigen bekanntlich dazu, sich in der Wirklichkeit ihre Wiedergänger zu suchen, auch das macht Bayreuth zu einem so besonderen Ort.

Es ist wunderbar, wenn man sich wie in Bayreuth in eine Gemeinschaft der möglichst Gleichen einfügen kann; das Ziehen an einem künstlerischen Strang ist etwas, das mich beglückt. Solitäre hingegen, Einzelgänger, Eigenbrötler tun sich hier schwer – und schlechtes Benehmen fällt schneller auf als andernorts. Auch menschlich muss es nämlich stimmen, darauf wird sehr geachtet, und damit sind wir wieder beim Familiären: Was nützt mir ein Stinkstiefel, der göttlich Oboe spielt? Sicher nützt er mir als Dirigent, aber nur kurzfristig. Wenn er die Harmonie in der Gruppe stört, weil er persönlich im Graben nicht zu Rande kommt, kann das auch künstlerischen Schaden anrichten. Insofern wird jeden Sommer fast über jeden Orchestermusiker und jeden Chorsänger diskutiert und neu entschieden. Niemand hat eine Dauerfahrkarte nach Bayreuth in der Tasche.

Das bedeutet nicht, dass es auf dem Grünen Hügel keine schwierigen Persönlichkeiten gäbe oder alle pflegeleicht wären. Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini hatten bestimmt beide keine Kreide gefressen, und wer sich an Karajans WC erinnert oder an die diversen Regie-Skandale der Festspielgeschichte (von Götz Friedrichs «Holländer» bis Christoph Schlingensiefs «Parsifal»), der weiß, dass wohl eher das Gegenteil der Fall ist. Unter Gleichen zu sein, hat nichts mit «Gleichschaltung» zu tun. Bayreuth ist ein Paradox und lebt dieses Paradox, das muss man aushalten. Es ist der heiligste und freieste Ort zugleich, meint Hunnentreue und Grabschändung, Klischee und Anti-Klischee, Aufklärung und Überwältigung, Pragmatismus und Utopie. Alles ist hier möglich. Und immer auch das Gegenteil. Es ist möglich, seit 100 Jahren die immer gleichen Stücke zu spielen und in der Beschränkung zu schwelgen. Es ist möglich, aus der Welt zu fallen und die Welt zu erobern. So wie ein Sommer in Bayreuth per se ein starkes Votum gegen die Globalisierung des Musikbetriebs darstellt. Wir bräuchten so viel mehr davon. Sechs oder acht Wochen in der Provinz, kein Flieger, keine Hotels, nur ab und zu eine knusprige Landente in Gräfenthal oder ein Besuch in der Lohengrin-Therme – ist das nicht der einzig wahre Luxus?

Wenngleich Wagner uns erstklassiges Material bietet, müssen sich seine Festspiele doch permanent erneuern. Durch Regisseure und Dirigenten, die seine Stücke anders lesen, durch nachwachsende Sängergenerationen. Und auch in ihrer Außendarstellung, ihrer medialen Zeitfühligkeit: Public Viewing, Kinderoper, Oper im Kino, Live Streaming im Internet, all das gehört zum 21. Jahrhundert. Es ist so wichtig wie die Aufarbeitung der politischen Vergangenheit oder ein zeitgemäßes Museumskonzept für die Villa Wahnfried. Ein «Bayreuther Stil», ein Kurzschluss der Gehirne existiert wie gesagt nicht. Und ich bin mir sicher: Der alte Richard hält das alles aus. Er erträgt uns alle, ob wir uns ihm hingeben oder gegen ihn rebellieren. Und er wird noch viel mehr aushalten, denn er hat ganz andere Dinge überlebt. Wagner hatte einen Weltanspruch, und der zeigt sich zuallererst in seiner Qualität, die sich nicht zerstören lässt. Er fühlte sich als Schöpfer, er wollte das Leben erklären. Ein solcher Messianismus, eine solche Hybris bringt Neider auf den Plan, Ausbeuter, Gegner, Trittbrettfahrer. In seiner Rezeption ist Wagner immer besonders anfällig gewesen, darüber wird gleich noch zu sprechen sein. Doch je mehr man die Festspiele profaniert oder verteufelt, desto bedeutender werden sie; je mehr man Wagners Stücke entheiligt, desto heiliger erscheinen sie, weil sie in ihrer Magie weiterleuchten.

Wie sagte Nietzsche, als er Wagner noch gut war? «Irgendwann sitzen wir alle in Bayreuth zusammen und fragen uns, wie wir es nur irgendwo anders aushalten konnten.» Gegenüber vom Festspielhaus, am Kiosk der Markgrafenbuchhandlung, gibt es diesen Spruch heute als Postkarte zu kaufen.