9

 

Edward Johnson marschierte energisch den langen Korridor hinunter auf die blaue Tür mit der Aufschrift DISPATCHERBÜRO zu. Er blieb abrupt stehen, zündete sich eine Zigarre an und probierte verschiedene Gesichtsausdrücke aus, während er sein Spiegelbild in einer Glastür beobachtete.Dann entschied er sich für einen, aus dem seiner Überzeugung nach Geringschätzigkeit und Ungeduld sprachen. Johnson starrte sein Spiegelbild noch einige Sekunden lang an. Energisches Kinn, graue Schläfen, kalte eisgraue Augen. Eine Führungskraft. Der für den Flugbetrieb zuständige Vizepräsident der Trans-United Airlines, um es genau zu sagen. Er hatte sich viel von der Robustheit und dem Durchsetzungsvermögen des Frachtarbeiters bewahrt, als der er angefangen hatte, aber er hatte auf der anderen Seite gelernt, sich so zu benehmen, daß er von den Angehörigen der gesellschaftlichen Oberschicht akzeptiert wurde. Als er jetzt mit dem Eindruck zufrieden war, den sein Gesichtsausdruck auf die Dispatcher machen würde, marschierte er weiter.

Die blaue Stahltür am Ende des Korridors ragte vor Johnson auf. Wie viele Male war er schon diesen Gang hinuntermarschiert? Und zu welchem Zweck? Nach 27jähriger Tätigkeit bei der gleichen Fluggesellschaft wußte er aus Erfahrung, daß fast alle diese Anrufe Fehlalarme gewesen waren. Der letzte wirkliche Notfall hatte sich vor über drei Jahren ereignet – und selbst damals hatte Johnson nur seine Zeit vergeudet. Schon bevor er benachrichtigt worden war, waren Besatzung und Passagiere der verunglückten Maschine Fischfutter gewesen.

Johnson fragte sich, was diesmal passiert sein mochte. Wahrscheinlich hatte jemand an Bord der Straton sein Lunchpaket verloren – oder irgendein Dispatcher konnte seine Bleistifte nicht wiederfinden. Er blieb vor der Tür stehen und streckte eine Hand nach der Klinke aus.

Dann ließ er die Hand sinken und ging in Gedanken durch, was er bisher wußte. Das war nicht viel. Nur ein kurzer Anruf, der ein wichtiges Arbeitsessen in dem der Geschäftsleitung vorbehaltenen Speisezimmer des Kasinos unterbrochen hatte. Ein junger Dispatcher namens Evers oder Evans. Ein Notfall, Mr. Johnson, Flug 52. Aber die Sache ist vermutlich nicht allzu schlimm. Weshalb war er dann angerufen worden? Das war die Frage, die Johnson bewegte. Wegen eines Notfalls, der »vermutlich nicht allzu schlimm« war, brauchte man doch nicht gleich einen Vizepräsidenten zu belästigen!

Edward Johnson wußte, daß Flug 52 eine Straton 797 war. Das Flaggschiff der Trans-United-Flotte. Die Königin der Lüfte. Aber aus seiner Sicht waren die 412 Tonnen schweren, 87 Millionen teuren Maschinen nur eine Belastung. Er mußte zugeben, daß die drei Straton 797 zuverlässig waren und Gewinne einflogen, aber als Leiter des Flugbetriebs interessierten ihn Gewinn- und Verlustrechnungen erst in zweiter Linie. Das verdammte Flugzeug war zu teuer und erregte deshalb zuviel Aufmerksamkeit beim Vorstand und bei den Vertretern der Medien. Es machte ihn zu sichtbar, zu verwundbar. Noch schlimmer wurde die Sache dadurch, daß er zu den Leuten gehörte, die für den Kauf der Straton 797 gestimmt hatten. Aber das hatte er nur getan, weil sich eine Mehrheit abgezeichnet hatte, denn Edward Johnson stand immer auf der Seite der Mehrheit.

Er stieß die Tür auf und stapfte ins Dispatcherbüro. »Wer ist der Schichtleiter?« erkundigte er sich. In dem halbleeren Büro herrschte verlegenes Schweigen, das nur durch das Klingeln eines Telefons unterbrochen wurde. Johnson nahm die Zigarre aus dem Mund. »Wo, zum Teufel, stecken alle?« Er merkte, daß seine Einschüchterungsmethoden diesmal gut wirkten, aber er war andererseits nicht so unempfindlich, daß er die hier fast greifbare Angst nicht gespürt hätte. »Wo stecken die anderen?« fragte er merklich leiser.

Jerry Brewster, der Johnson am nächsten stand, fand als erster seine Stimme wieder. »In der Nachrichtenzentrale, Sir. Der Schichtleiter ist Mr. Ferro.«

Johnson ging rasch zu dem von Glaswänden abgeteilten Raum hinüber. Er nahm die Zigarre wieder zwischen die Lippen, stieß die Tür auf und betrat den überfüllten Raum.

»Ferro? Sind Sie hier?«

»Ja, hier drüben«, antwortete Jack Ferro, als schlagartig Schweigen herrschte.

Mehrere Dispatcher traten zur Seite, um Johnson durchzulassen. Zwei oder drei verließen rasch den Raum. Auch Dennis Evans zog sich unauffällig in Richtung Tür zurück. Jerry Brewster kam widerstrebend herein.

Johnson blieb neben dem Data-Link-Gerät stehen und sah auf Ferro herab. »Okay, was gibt’s also?«

Ferro hatte sich genau zurechtgelegt, was er sagen wollte. Aber als Johnson jetzt leibhaftig vor ihm stand, konnte er nur stumm auf den Bildschirm zeigen.

Der Vizepräsident starrte den Bildschirm an. Dann runzelte er die Stirn und überflog ihn nochmals.

AN FLUG 52: SEHR GUT GEMACHT. WEITERE ANWEISUNGEN FOLGEN. RUHE BEWAHREN. WIR TUN UNSER BESTES, UM EUCH HEIMZUHOLEN.

»Was heißt ›sehr gut gemacht‹, Ferro?« knurrte Johnson unwillig. »Und wer soll ›Ruhe bewahren‹? Seit wann haben unsere Piloten solche Ermahnungen nötig?«

Ferro sah zu dem Bildschirm auf. Da er seit endlos langer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, mit diesem Problem beschäftigt war, konnte er sich nicht vorstellen, daß jemand nicht wissen sollte, was passiert war. »Die Straton wird nicht von einem unserer Piloten geflogen.«

»Was? Was soll das heißen, verdammt noch mal?«

Jack Ferro riß das Ende des bedruckten Papierstreifens von der Rolle, zog die ganze Schlange aus dem Ablagekorb und hielt sie Johnson hin. »Hier steht alles drauf. Mehr wissen wir auch nicht. Sie sehen daraus, was wir … unternommen haben.« Er machte eine Pause. »Die Sache scheint leider schlimmer zu sein, als wir ursprünglich angenommen haben.«

Johnson griff nach der Papierschlange und begann von Anfang an zu lesen. Zigarrenasche fiel auf das Papier, ohne daß er darauf achtete. Auch als er längst fertig war, gab er noch vor, den ausgedruckten Text zu studieren.

Der kanadische Lachs, den Edward Johnson zum Mittagessen gegessen hatte, lag ihm schwer im Magen. Vor weniger als einer halben Stunde hatten sie noch darüber gesprochen, daß er möglicherweise die Nachfolge des jetzigen Präsidenten der Trans-United Airlines antreten werde. Und jetzt das hier! Katastrophen konnten rasche Aufstiegsmöglichkeiten bieten, aber auch einen ebenso raschen Sturz einleiten. Man mußte die sich bietenden Gelegenheiten geschickt wahrnehmen, wenn man dadurch weiterkommen wollte. Johnson machte ein ausdrucksloses Gesicht, als er den Kopf hob. Er starrte Jack Ferro einige Sekunden lang prüfend an. »Sie haben veranlaßt, daß sie umkehren.« Das war eine nüchterne Feststellung, die weder Tadel noch Zustimmung erkennen ließ.

Ferro erwiderte unerschrocken seinen Blick. »Ja, Sir. Sie sind umgekehrt.«

Johnson brauchte eine Sekunde, um diese kryptische Antwort zu enträtseln, und eine weitere, um zu überlegen, ob sie etwa unverschämt gemeint war. Dann lächelte er, was selten genug vorkam. »Ja, sie sind umgekehrt. Gut gemacht!«

Der Dispatcher nickte wortlos. Er fand es merkwürdig, daß der Leiter des Flugbetriebs sich nicht näher zu den Ereignissen an Bord der Straton 797 äußerte. Andererseits war Edward Johnson dafür bekannt, daß er im allgemeinen kein überflüssiges Wort verlor.

Der Vizepräsident sah sich in dem kleinen Raum um. Auf beinahe perverse, aber durchaus vorhersehbare Art genossen die Anwesenden es geradezu, Zeugen dieses Dramas zu sein. Aus Situationen solchen Kalibers entstanden Legenden, die in die Geschichte einer Fluggesellschaft eingingen. Jede seiner knappen Bemerkungen, jede Veränderung seines Gesichtsausdrucks würde unendlich oft wiedergegeben und geschildert werden. Nur Jack Ferro und einer der jungen Dispatcher schienen die Situation nicht zu genießen.

»Sir?« Das war Jerry Brewster. Er trat zögernd einen halben Schritt auf Johnson zu.

»Was gibt’s?« Johnson merkte, daß der junge Assistent nervös war.

»Ich fürchte, daß ich … daß ich das Problem verschlimmert habe.« Brewster sprach rasch weiter, als gehe es ihm darum, sein Geständnis so schnell wie möglich loszuwerden. »Ich habe den ersten SOS-Ruf leider nicht sofort weitergemeldet. Ich habe ihn für einen schlechten Scherz gehalten.«

»Für einen Scherz?« Johnson zog die Augenbrauen hoch. »Wie kann ein SOS-Ruf ein Scherz sein, verdammt noch mal?«

»Na ja, ich dachte, jemand wollte mir einen Streich spielen …« Brewster senkte den Kopf und schien sich an seinem Schreibbrett festzuhalten. »Aber ich habe nicht sehr lange gewartet. Ich bin zurückgekommen, sobald …«

»Jede Verzögerung ist unerträglich«, unterbrach Johnson ihn.

»Wir sprechen uns später, Brewster!« fügte er aufgebracht hinzu und entließ den jungen Mann mit einer herrischen Handbewegung. Er wandte sich an die übrigen Dispatcher. »Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie alle daran erinnern, Gentlemen, daß es bei unserer Arbeit keine ›Scherze‹ oder ›Streiche‹ geben darf. Nichts darf als schlechter Scherz behandelt werden. Niemals!«

Brewster wandte sich mit hochrotem Kopf ab und verließ den Raum.

Johnson machte eine nachdenkliche Pause. Er war froh, daß er jetzt mindestens einen Sündenbock hatte, falls die Sache schiefging. Aber er konnte noch weitere brauchen. »Jack, wen haben Sie verständigt? Wer ist bisher informiert worden?«

»Das hat Evans übernommen.«

Evans meldete sich rasch zu Wort. »Ich habe mich an unser Handbuch gehalten, Sir. Darin stehen die Stellen, die zu verständigen sind.«

»Also keine Reporter?«

»Keine Reporter, Sir«, bestätigte Evans. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Nun hatte er eine Chance, Punkte zu machen, und wollte sie sich nicht verderben, indem er etwas Dummes sagte oder tat. Andererseits hatte er zuvor etwas Gewagtes riskiert. Evans holte tief Luft und bemühte sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. »Ich habe mich an die Vorschrift gehalten – bis zu einem gewissen Punkt.«

Johnson trat einen Schritt auf ihn zu. »Was, zum Teufel, soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ich nur Sie und Mr. Metz von der Beneficial Insurance Company, unserer Haftpflichtversicherung, angerufen habe.« Evans sah rasch zu Ferro hinüber.

Ferro starrte ihn aufgebracht an.

»Ich habe auch den Kaskoversicherer nicht angerufen«, fuhr Evans fort, »weil wir den Schaden vorerst noch nicht beurteilen können. Und ich habe es unterlassen, die Firma Straton zu verständigen.«

Johnson verzog keine Miene. »Sie haben wohl auch nicht unseren Präsidenten und unsere Pressestelle angerufen?«

Der Dispatcher nickte. »Ganz recht, Sir. Ich habe nur Sie und Mr. Metz angerufen.«

»Warum?«

»Die anderen Anrufe sind mir weniger wichtig erschienen, Sir. Ich wollte warten, bis Sie eingetroffen waren. Ich habe gewußt, daß Sie aus dem Kasino herüberkommen würden. Sie sollten selbst entscheiden können, wer zu benachrichtigen ist. Wir haben es hier nicht mit einem Absturz zu tun. Die Dinge sind noch im Fluß, nicht wahr, Sir? Außerdem hat die Sache anfangs nicht allzu schlimm ausgesehen. Das alles hat mich zu meinem Schritt bewogen, Sir.«

»Tatsächlich?« Johnson nahm die Zigarre aus dem Mund und streifte die lange Asche achtlos ab. Er ließ einige Sekunden verstreichen. »Einverstanden. Gut überlegt, Evans.«

Dennis Evans strahlte.

Johnson sah sich langsam um. »Alles herhören!« forderte er die Anwesenden auf. »Keiner tut was, ohne mich vorher gefragt zu haben. Nichts. Verstanden?«

Die Männer nickten.

»Außer Ferro arbeiten alle wie gewöhnlich weiter«, ordnete der Vizepräsident an. »Evans, Sie übernehmen die Pazifikflüge

– abgesehen von Flug 52. Den übernehme ich selbst. Wer danach fragt, wird an mich verwiesen.«

Ferro hatte plötzlich das Gefühl, in eine Art Niemandsland abgeschoben worden zu sein. Er war zu einem bloßen Handlanger herabgesunken. Er wünschte sich, er wäre wieder an seinem Arbeitsplatz oder sonstwo, nur nicht in Johnsons Nähe.

Johnson machte mit der Zigarre in der Hand eine weitausholende Bewegung. »Niemand, ich wiederhole, niemand darf irgendwas weitererzählen. Keine Telefongespräche mit Ehefrauen oder Bekannten. Außerdem wird die jetzige Schicht unbegrenzt verlängert. Mit anderen Worten: Keiner fährt nach Hause. Dafür gibt’s Zuschläge für Nachtarbeit und Überstunden. Die nächste Schicht bleibt im Aufenthaltsraum, bis sie abgerufen wird. Ich möchte, daß möglichst wenige Leute eingeweiht werden. Wir haben es hier mit einem vierhundert Tonnen schweren Verkehrsflugzeug zu tun, das mit einem Sonntagsflieger am Steuer und dreihundert toten oder verletzten Passagieren an Bord nach Kalifornien zurückfliegt. Weshalb das vorerst nicht bekannt werden soll, brauche ich wohl nicht eigens zu erklären.« Er sah sich um. »Kapiert?«

Die Dispatcher murmelten zustimmend.

»Okay, dann sorgt dafür, daß das auch draußen bekannt wird. Zurück an die Arbeit!«

Die Männer verließen rasch den heißen, schlecht belüfteten Raum.

Evans blieb etwas hinter den anderen zurück. »Mr. Johnson, falls ich noch etwas …«

»Sie haben schon genug getan, Evans. Sie haben Eigeninitiative bewiesen.«

Evans lächelte. »Danke, Sir.«

»Und wenn Sie sich mal wieder nicht an die Vorschriften halten, bin ich hoffentlich wieder damit zufrieden, Evans, sonst fliegen Sie raus. Verstanden?«

Evans’ Lächeln verschwand. »Ja, Sir.« Er ging rasch hinaus.

Johnson wandte sich an Ferro. »Na, dann wollen wir mal, alter Junge.«

Ferro nickte schweigend. Johnson und er kannten sich seit vielen Jahren. Da sie jetzt keine Zuschauer mehr hatten, konnte Johnson aufhören, seine Rolle zu spielen. Als ob Johnson dieseÜberlegung bestätigen wollte, ließ er seine Zigarre fallen und trat sie auf dem PVC-Bodenbelag aus. Ferro glaubte zu wissen, daß der andere gar keine Zigarren mochte, aber Warenzeichen wie der Trans-United Schriftzug und Edward Johnsons Zigarren mußten zu mühsam aufgebaut werden, als daß man einfach auf sie verzichten konnte.

Johnson warf einen Blick auf die zusammengefaltete Papierschlange in seiner Hand. »Eine miese Sache, Jack.«

»Das kann man wohl sagen!«

»Eine Bombe! Warum, zum Teufel, wollen Leute ein Flugzeug in die Luft jagen? Scheiße.« Er ging unruhig auf und ab. »Hören Sie, Jack, glauben Sie, daß diese Leute eine Chance haben?«

Ferro sah zu dem Bildschirm auf, bevor er Johnsons Blick erwiderte. »Anfangs habe ich ihnen keine Chance zugebilligt. Aber jetzt … vielleicht. Der Pilot – dieser Berry – hat sich bisher gut gehalten. Er hat sich nicht unterkriegen lassen, sondern hat das Steuer übernommen, Verbindung mit uns hergestellt und eine Kurve geflogen. Das beweist Mut und Geschicklichkeit. Der Mann ist in Ordnung! Sie brauchen nur seine Meldungen zu lesen. Nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Das zeigen auch seine Mitteilungen.«

Johnson trat an die Pazifikkarte, die vorher aufgehängt worden war, und betrachtete das eingezeichnete Kreuz. »Ist das ihre geschätzte Position?«

»Richtig, aber wir sind mehr oder weniger auf Vermutungen angewiesen.« Ferro stand auf und trat ebenfalls an die Wandkarte. Er zeigte auf einen zweiten markierten Punkt. »Das ist die letzte von der Straton gemeldete Position. Diesen anderen Punkt hat Jerry Brewster extrapoliert. Wir sind im Augenblick dabei, eine neue Positionsberechnung vorzunehmen. Brewster wird …«

Das Klingelzeichen des Data-Link-Geräts unterbrach ihn. Die beiden Männer gingen rasch an den Fernschreiber zurück.

»Das muß die Antwort sein!« sagte der Dispatcher aufgeregt. »Kurz bevor Sie gekommen sind, habe ich ihn aufgefordert, ›Tote und Verwundete, alle geistig behindert‹, zu erklären. Damit hat er sich verdammt lange Zeit gelassen.« Ferro las den gedruckten Text, während Johnson sich auf den Bildschirm konzentrierte.

VON FLUG 52: ALLE FÜNF ÜBERLEBENDEN HABEN SICH WÄHREND DES DRUCKABFALLS IN UNTER ÜBERDRUCK STEHENDEN KLEINEN RÄUMEN AUFGEHALTEN. DIE MEISTEN PASSAGIERE LEBEN NOCH; VERMUTE JEDOCH HIRNSCHÄDEN ALS FOLGE LÄNGEREN SAUERSTOFFMANGELS. FLUGGÄSTE ZUM TEIL UNRUHIG UND GEWALTTÄTIG. WOLLEN ÜBER TREPPE IN SALONCOCKPIT VORDRINGEN, ABER STEIN WEHRT SIE AB.

Ferro hob langsam den Kopf. »Um Himmels willen …«, murmelte er betroffen.

Johnson schlug sich mit der rechten Faust klatschend in die linke Handfläche. »Verdammter Mist! So ein verdammtes Pech!« Er wandte sich an Ferro. »Ist das möglich? Kann das passiert sein?« Johnsons Fachkenntnisse waren lückenhaft, und er hatte es nie für nötig gehalten, sich in dieser Beziehung zu verstellen.

Jack Ferro verstand plötzlich genau, was passiert war. Eine Bombe hatte zwei Löcher – zwei große Löcher – in den Rumpf der Straton 797 gerissen. Wären sie kleiner gewesen, hätte der Kabinendruck sich vielleicht lange genug gehalten. Wäre diese Dekompression bei einem gewöhnlichen Verkehrsflugzeug aufgetreten, hätten Besatzung und Fluggäste wegen der niedrigeren Flughöhe mit Sauerstoffmasken atmen können. Aber in 62 000 Fuß, wo die einzigen Zivilflugzeuge die Concorde, die Tu 144 und die Straton 797 waren, mußte ein schlagartiger Druckabfall Hirnschäden hervorrufen. Ferro hätte vermutet, daß die Dekompression in solchen Höhen tödlich wäre, aber Berry hatte gemeldet, die meisten Passagiere lebten noch. Aber wie? Er stand auf und spürte, daß er weiche Knie hatte. »Ja«, antwortete er mit schwacher Stimme, »das ist möglich.«

Johnson sah nach draußen. Die Dispatcher und ihre Assistenten im Hauptbüro versuchten, die neue Mitteilung auf dem Bildschirm durch die Glaswand hindurch zu entziffern. Er gab Ferro ein Zeichen. »Den Bildschirm brauchen wir nicht mehr. Wir benützen nur noch den Fernschreiber.«

Ferro drückte wortlos auf einen Knopf. Der Bildschirm wurde dunkel.

Johnson ging zur Tür und schloß ab. Er kam zurück, blieb neben dem Data-Link stehen, stellte den rechten Fuß auf einen Stuhl und beugte sich nach vorn. »Schreiben Sie eine Anfrage, Jack.«

Der Dispatcher schrieb, was Johnson diktierte.

AN FLUG 52: SUCHEN SIE TRÄGHEITSNAVIGATIONSSYSTEM. ES BEFINDET SICH IM RADIOPULT UND IST MIT »INS« BEZEICHNET. GEBEN SIE DANACH IHRE POSITION AN. BESTÄTIGEN SIE.

Die Antwort kam unerwartet rasch.

VON FLUG 52: HABE »INS« SCHON ZUVOR IDENTIFIZIERT. GERÄT MUSS OFFENBAR NEU PROGRAMMIERT WERDEN. ES ZEIGT IM AUGENBLICK NICHTS AN. ERBITTE ANWEISUNGEN ZUR »INS«-PROGRAMMIERUNG.

Johnson trat erneut an die Pazifikkarte und starrte sie an. Er hatte nur vage Navigationskenntnisse und keine Ahnung, wie man ein Trägheitsnavigationssystem programmierte. »Antworten Sie ihm, daß die Anweisungen später folgen«, wies er Ferro an, ohne den Blick von der Karte zu nehmen.

Jack Ferro schrieb bereitwillig.

Der Vizepräsident drehte sich ruckartig nach ihm um. »Dieser Berry kann die Maschine nicht wirklich landen, stimmt’s?«

»Keine Ahnung«, gab Ferro zu. Solche Fragen gingen über seinen Horizont als Dispatcher. Er konnte niemand eine INS-Programmierung erklären, hatte keine visuelle Vorstellung von dem Cockpit einer Straton 797 – und wußte, daß Johnson noch ahnungsloser als er selbst war. »Warum holen wir nicht Fitzgerald her?«

Johnson dachte an den Chefpiloten. Kevin Fitzgerald gehörte zu seinen Konkurrenten im Rennen um den Präsidentensessel der Trans-United Airlines. Natürlich wäre es gut, einen Piloten hinzuzuziehen – aber nicht ausgerechnet Fitzgerald. Und einen anderen konnte er kaum anfordern, ohne den Chefpiloten und die Männer, die hinter ihm standen, vor den Kopf zu stoßen. Warum sollte er Fitzgerald Gelegenheit geben, sich als Held aufzuspielen? Nein, am besten beteiligte er ihn erst möglichst spät. Innerhalb der Gesellschaft war bekannt, daß der jeweils andere in eine Sackgasse abgeschoben werden würde, falls einer von ihnen Präsident wurde. Johnson war sich darüber im klaren, daß er ebensogut Leiter der Gepäcknachforschungsstelle wie Präsident werden konnte. Er sah zu Ferro hinüber und schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, entschied er. »Sobald die Straton bis auf … zweihundert Meilen an die Küste herangekommen ist, holen wir Fitzgerald.« Er überlegte kurz. »Falls er nicht zu erreichen ist, lassen wir unseren Ausbildungsleiter kommen. Der wäre ohnehin besser geeignet, glaube ich.«

Ferro wußte, daß es am besten gewesen wäre, Berry sofort Anweisungen für Flug, Navigation und Landung zu erteilen. Das hätte einer der beiden Männer tun können. Aber Ferro wußte auch, daß Johnson keine streng rationalen Entscheidungen traf. Hinter Edward Johnsons Entschlüssen steckten jedes-mal nur ihm selbst bekannte Motive. »Ist’s nicht allmählich Zeit für eine erste Pressemitteilung?«

»Nein.«

»Sollen wir veranlassen, daß unsere PR-Leute die Angehörigen der Passagiere verständigen? Wir können sie nach San Francisco holen und …«

»Später.«

»Warum nicht gleich?«

Johnson starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

»Weil wir hier keinen Medienzirkus brauchen können, Jack. Hier handelt’s sich nicht um irgendein billiges Fernsehdrama, und die Öffentlichkeit hat nicht das geringste Anrecht darauf, schon jetzt informiert zu werden. Es gibt keinen einzigen verdammten Reporter oder hysterischen Verwandten, der einen nützlichen Beitrag zur Lösung dieses Problems leisten könnte. Es wird allmählich Zeit, daß Privatangelegenheiten in diesemLande wieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit behandelt werden. Diese Sache geht nur Trans-United und bedauerlicherweise die Federal Aviation Agency an, die wir demnächst benachrichtigen werden. Was Pressemitteilungen betrifft, ist eigentlich nur eine notwendig: die abschließende.«

»Ed, mir geht’s jetzt nur darum, die Maschine heil nach Hause zu bringen«, wandte Ferro ein. »Die Unannehmlichkeiten, die später daraus entstehen können, interessieren mich herzlich wenig.«

Der Vizepräsident runzelte die Stirn. »Sie sollten sich aber dafür interessieren …« Dann klopfte er Ferro plötzlich auf die Schulter. Er hatte sich dazu gezwungen, die Tonart zu wechseln. »Okay, Sie haben recht. Wir müssen die Maschine heimbringen, bevor wir uns über andere Dinge den Kopf zerbrechen.«

Ferro wandte sich ab und trat an die Pazifikkarte. Ein mit Fettstift markiertes rotes Kreuz auf hellblauem Untergrund repräsentierte über 300 Schwerkranke und Verletzte auf dem Heimflug. Und der Gedanke, daß ihr Schicksal in den Händen Edward Johnsons lag, war nicht beruhigend. Ferro konnte nur hoffen, daß John Berry ein außergewöhnlich fähiger und urteilskräftiger Mann war.

Wayne Metz lehnte sich behaglich in die Polster seines silbergrauen Mercedes 500 SE zurück, während er auf der Interstate 280 die rechte Fahrspur benützte. Er stellte seinen Stereorecorder so ein, daß Benny Goodmans »One O’Clock Jump« genau richtig klang. Dann warf er einen Blick in den Innenspiegel. Die zwei Stunden Tennis von gestern hatten seinem sportlichen Teint gutgetan.

Er passierte Balboa Park und sah auf die Quarzuhr am Armaturenbrett. Er würde den San Francisco Golf Club so rechtzeitig erreichen, daß er sein Verhandlungskonzept nochmals durchsehen konnte, bevor er mit Quentin Lyle zu spielen begann. Er sah zum Himmel auf. Ein herrlicher Junitag. Genau das richtige Wetter für einen Vertragsabschluß auf dem Golfplatz. Bevor sie das neunte Loch erreichten, würde Lyle seine Fabriken bei der Beneficial Insurance Company versichert haben. Und bevor das Spiel zu Ende war, wollte Metz auch Lyles Speditionsunternehmen dazugewonnen haben. Er summte die Melodie aus dem Recorder mit, als er durch ein noch lauteres Summen unterbrochen wurde – durch den Rufton seines Autotelefons. Metz stellte die Musik leise und nahm den Hörer ab. »Ja?«

Im Hintergrund waren atmosphärische Störungen zu hören, bevor sich seine Sekretärin meldete. »Mr. Metz, hier ist Judy. Eben ist ein Anruf von Trans-United Airlines gekommen.«

Metz runzelte die Stirn. »Ja?«

»Ein Mr. Evans hat angerufen. Ich soll Ihnen ausrichten, daß Flug fünf-zwo, eine Straton sieben-neun-sieben, Trans-United eine Beschädigung des Flugzeugs gemeldet hat. Aber die Maschine fliegt und sendet noch, so daß der Schaden nach Mr. Evans Meinung nicht allzu groß sein kann.«

»Mehr hat er nicht gesagt?«

»Richtig, Sir.«

»Nicht allzu groß?«

»Ja, das hat er gesagt.«

»Augenblick, bitte.« Metz legte den Hörer in seinen Schoß, während er über die Alternativen nachdachte, die sich ihm boten. Aber im Grunde genommen existierten sie gar nicht. Trans-United war ein viel zu wichtiger Kunde, als daß er hätte vorgeben können, er sei unterwegs und nicht zu erreichen. Die Beneficial Insurance Company hatte nichts mit der Flugzeugversicherung zu tun; sie war nur für Haftpflichtschäden zuständig. Falls niemand zu Schaden gekommen war, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Metz griff wieder nach dem Hörer. »Okay, ich rufe gleich direkt an. Unter Umständen muß ich selbst hinfahren. Rufen Sie Mr. Lyle im Club an und entschuldigen Sie mich wegen eines Notfalls. Bestellen Sie ihm, daß ich versuchen werde, zur zweiten Runde dazusein – vielleicht schon früher. Geben Sie sich Mühe, damit die Sache nach einer Katastrophe klingt – aber lassen Sie die Trans-United aus dem Spiel. Haben Sie das alles? Ich rufe später zurück.«

»Ja, Sir.«

Metz legte auf und fuhr an der Ausfahrt San José Avenue vorbei. Mit etwas Glück brauchte er doch nicht auf dem Flughafen zu erscheinen. Er nahm den Fuß vom Gas und griff erneut nach dem Telefonhörer. Diesmal ließ er sich von der Zentrale mit New York verbinden und gab die Nummer des Präsidenten der Beneficial an. Sekunden später war Wilford Parkes Sekretärin am Apparat und verband ihn weiter.

»Wayne? Sind Sie’s?«

Metz hielt den Telefonhörer vom Ohr weg. Parke sprach wie viele ältere Männer etwas zu laut, wenn er telefonierte. »Ja, Sir.« Er warf einen Blick auf die Uhr. In New York gingen die Angestellten um diese Zeit nach Hause. »Tut mir leid, daß ich Sie so spät noch belästigen muß, aber …«

»Schon gut, Wayne. Gibt’s dort draußen irgendwelche Probleme?«

Metz lächelte unwillkürlich. Dort draußen. Die meisten New Yorker bezeichneten alles, was westlich des Hudson Rivers lag, als dort draußen. Für Wilford Parke begann westlich der Fifth Avenue ein anderes Sonnensystem. »Möglicherweise, Sir. Ich wollte Sie gleich auf dem laufenden halten.« Metz war in Gedanken bereits zwei Sätze voraus. »Ich habe einen Anruf von der Trans-United bekommen. Irgendwelche Schwierigkeiten mit einer ihrer Maschinen. Einzelheiten sind noch nicht bekannt, aber es hat geheißen, der Schaden sei nicht allzu schlimm und betreffe vielleicht nur den Rumpf. Trotzdem ist ein Haftpflichtschaden natürlich nicht auszuschließen. Deshalb wollte ich Sie anrufen, solange Sie noch im Büro sind.« Und bevor du von anderer Seite davon hörst, dachte er.

»Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Wayne.«

»Ja, Sir. Und ich wollte selbst hinfahren und mich um die Sache kümmern.«

»Ausgezeichnet, Wayne. Halten Sie mich weiter auf dem laufenden? Ich freue mich, daß Sie sich der Sache persönlich annehmen. Von wo aus rufen Sie übrigens an? Von einer Tankstelle aus?«

Metz unterdrückte ein Lachen. »Nein, Sir, ich habe ein Autotelefon im Wagen. Ich bin auf der Fahrt zum Flughafen.«

»Tatsächlich? Das freut mich, Wayne. Lassen Sie von sich hören, sobald Sie Näheres wissen.«

»Wird gemacht, Sir.«

»Bis später, Wayne.«

»Wo sind Sie später zu erreichen, Sir?« fragte Metz rasch.

»Später? Ah, ganz recht – im Atrium Club in der East Fiftyseventh Street.«

Metz war es ziemlich gleichgültig, wo sich der Club befand. »Kann ich Sie dort anrufen lassen? Steht die Nummer im Telefonbuch?«

»Ja, natürlich. Sie kennen den Club, Wayne. Wir sind erst im Februar dort gewesen. Wir haben einen 59er Château Haut-Brion getrunken. Dort bin ich gegen neun Uhr zu erreichen.«

Metz legte auf. Wilford Parke schwankte zwischen senil und brillant. Jedenfalls hatte er den Alten gern und genoß jede Unterhaltung mit ihm. Parke war ein echter Gentleman der alten Schule. Ein Mann, der für die Firma lebte und seine Vertrauten, zu denen Wayne Metz gehörte, mit allen Privilegien elitärer Führungskräfte ausstattete. Metz hatte ihm gegenüber häufig betont, daß er auf Long Island aufgewachsen war und wie Parke in Princeton studiert hatte. Aber der Alte war ihm vor allem deshalb sympathisch, weil Wayne Metz bei ihm einen großen Stein im Brett hatte. Das war schon immer so gewesen

– noch bevor sich bei Parke Gedächtnislücken bemerkbar gemacht hatten. Metz konnte nur hoffen, daß der Präsident lange genug im Amt bleiben würde, bis seine nächste Beförderung gesichert war.

Der Mercedes schoß vorwärts, als Metz das Gaspedal durchtrat, weil er es plötzlich eilig hatte. Er wußte, daß er Glück gehabt hatte, weil er den Anruf auf der Autobahn in der Nähe des Flughafens bekommen hatte. Von seinem Stadtbüro aus wäre er eine Stunde länger unterwegs gewesen. Einer Häufung solcher glücklicher Zufälle verdankte Metz seinen Aufstieg zum Bezirksdirektor für die Westküste. Trotzdem würde er diesmal vielleicht den Termin mit Quentin Lyle nicht einhalten können. Das war unter Umständen ein schlechtes Omen. Metz glaubte halbwegs an Omen, und obwohl er nichts von Astrologie hielt, lasen viele seiner Freunde jeden Morgen ihr Horoskop. Geld kann beschwerlich sein. Gehen Sie ihren Lieben mit gutem Beispiel voran. Tun Sie, was Sie für angemessen halten. Haben Sie den Mut, der Stimme Ihres Herzens zu folgen.

Aber Metz bildete sich ein, nicht nur Glück gehabt zu haben, sondern auch Talent zu besitzen. Wilford Parke hatte schon vor Jahren etwas in ihm erkannt, das dem jungen Mann keineswegs bewußt gewesen war. Wayne Metz war in der von Ränken und Verschwörungen geprägten Firmenhierarchie erstaunlich rasch aufgestiegen. Er war ein Meister der Andeutung, des stummen Signals. Und er besaß die fast unheimliche Gabe, Vorlieben und Antipathien anderer zu spüren, fast bevor die anderen sie selbst wahrnahmen. Eine erstaunliche Fähigkeit, die sogar sein Psychiater an ihm bewunderte. Das Autotelefon summte erneut. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. »Metz.«

»Wayne, hier ist Ed Johnson.«

Metz fuhr zusammen. Wenn der für den Flugbetrieb zuständige Vizepräsident anrief, mußten die Dinge schlimm stehen. »Ich wollte dich eben anrufen, Ed. Wie sieht’s aus?«

»Schlecht«, antwortete Johnson lakonisch. »Es handelt sich um eine Straton 797.«

»Ach, Scheiße!« Johnson und er hatten einmal in einer Bar zusammengesessen und sich mit ihrer gegenseitigen Gefährdung durch das Straton-Programm aufgezogen. Metz hatte sich sehr darum bemüht, daß die Trans-United Airlines die Haftpflichtversicherung für ihre ganze Flotte bei seiner Gesellschaft abschlossen. Er hatte niedrigere Prämien als die Konkurrenz geboten und auf die Vorteile verwiesen, die sich daraus ergaben, daß der übliche, aber oft umständliche Versicherungspool wegfiel. Und Johnson hatte zu den Befürwortern dieses Abschlusses gehört. Außerdem hatte er Metz einmal – nach dem dritten Martini – anvertraut, seine Karriere sei aus verschiedenen Gründen eng mit dem Erfolg oder Mißerfolg der Überschallmaschinen verknüpft. »Wo ist sie abgestürzt? Wie viele sind tot?«

»Sie ist auf dem Flug nach Japan gewesen. Eine gute Nachricht ist, daß die Maschine noch fliegt und daß es nicht viele Tote gegeben hat … noch nicht. Aber die schlechte Nachricht ist viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst.« Johnson machte eine kurze Pause. »Eine Bombe hat zwei Löcher in den Rumpf gerissen, und der Kabinendruck ist schlagartig entwichen. Die Passagiere sind einer explosiven Dekompression ausgesetzt gewesen. Wie du vielleicht weißt, ist der Luftdruck dort oben so gering, daß selbst Sauerstoffmasken wirkungslos sind.«

Davon wußte Metz nichts. Niemand hatte ihm gegenüber von dieser Möglichkeit gesprochen, und er hatte es unterlassen, sichüber die Gefahren des Überschallflugs zu informieren. Er holte tief Luft. »Was weißt du über die Verfassung der Passagiere?«

Johnson antwortete nicht gleich. »Wir wissen nichts Bestimmtes, verstehst du, aber wir hier unten – und die dort oben

– sind uns darüber einig, daß sie hirngeschädigt sein müssen.« »Großer Gott! Wißt ihr das bestimmt?« »Ich hab’ dir doch gesagt, daß wir nichts Bestimmtes wissen,

Wayne. Aber ich würde jede Wette darauf eingehen.«

Metz erkannte, daß er noch längst nicht alles begriffen hatte.»Die Überlebenden … wie haben sie …«

»Wir stehen mit ihnen über das Data-Link-Gerät – eine Art Fernschreiber – in Verbindung. Die Funkgeräte sind ausgefallen. An Bord gibt es offenbar nur fünf geistig normale Überlebende. Sie scheinen alle auf der Toilette gewesen zu sein.«

»Warum gerade dort?«

»Weil sich der Druck dort am besten gehalten hat, Wayne«, antwortete Johnson. »Ich schlage vor, daß du so schnell wie möglich herkommst – und ein dickes Scheckbuch mitbringst!«

Metz schüttelte seine Benommenheit ab. »Hör zu, Ed, diese Sache kann uns beiden das Genick brechen. Wie viele Menschen sind an Bord?«

»Die Maschine ist praktisch voll besetzt. Ungefähr dreihundert Passagiere.«

»Wann landet sie?«

»Vielleicht nie.«

»Was soll das heißen?«

»Sie wird von einem der Passagiere geflogen. Unsere …«

»Langsam, Ed!« unterbrach Metz ihn. »Habe ich richtig verstanden, daß ein Passagier am Steuer sitzt?«

»Unsere Piloten sind bewußtlos«, bestätigte Johnson. »Von der Besatzung sind nur zwei Stewardessen einsatzfähig. Der Passagier am Steuer – ein gewisser Berry – ist ein Sportflieger. Er scheint mit der Straton zurechtzukommen. Sie befindet sich inzwischen auf dem Rückflug, aber ihre genaue Position ist unbekannt. Außerdem bezweifle ich, daß Berry eine so große Maschine landen kann.«

Wayne Metz war buchstäblich sprachlos. Er drückte den Telefonhörer ans Ohr und sah auf die Straße, aber in Gedanken war er Tausende von Kilometern entfernt – im mittleren Pazifik. Er versuchte, sich die Szene vorzustellen. Irgendwo über dem endlosen Meer flog eine riesige Straton 797 mit zwei Löchern im Rumpf und zahllosen Toten und Hirngeschädigten an Bord … ein Toten- und Narrenschiff, das von einem angeblich normalen Passagier gesteuert wurde.

»Wayne? He, bist du noch da?«

»Was? Ja. Ja, ich bin hier. Laß mich nachdenken. Augenblick, Ed.« Während er die unglaublichen Tatsachen, die er eben gehört hatte, zu verarbeiten versuchte, hatte er unwillkürlich den Fuß vom Gas genommen. Sein Mercedes rollte jetzt mit weniger als 40 Meilen auf der linken Fahrspur dahin.

Der Mann in dem schrottreifen blauen Ford hinter Metz hupte empört, überholte dann rechts und starrte den Mercedesfahrer aufgebracht an. Metz nahm den Ford kaum wahr, weil er anderweitig beschäftigt war. Er hatte eine Idee. Sie war noch nicht ausgereift, aber sie zeichnete sich bereits schemenhaft ab. Auch der schrottreife blaue Ford prägte sich ihm aus irgendeinem Grund ein. Metz räusperte sich. »Hör zu, Ed, ich hab’s gleich. Wer weiß von dieser Sache? Ist die Presse schon informiert?«

»Nein, bisher wissen nur wenige davon. Einer unserer Dispatcher hat zum Glück nur mich angerufen. Das bedeutet, daß wir noch etwas Manövrierraum haben.«

»Ausgezeichnet! Du darfst vorläufig niemand anders anrufen. Wenn wir schon nicht die Situation kontrollieren können, haben wir wenigstens den Informationsfluß unter Kontrolle … und das kann ebenso wichtig sein.«

»Richtig, das finde ich auch. Aber du mußt dich beeilen.«

»Schon unterwegs!« Metz legte auf. Er starrte nach vorn und gab Gas. Dann stellte er den Tempostat auf 70 Meilen ein, griff erneut nach dem Telefonhörer und ließ sich mit New York verbinden. Parke war noch in seinem Büro. »Schlechte Nachrichten, Mr. Parke«, begann Metz ohne weitere Vorrede. »Es handelt sich um einen schweren Unfall einer Straton 797 der Trans-United Airlines.«

»Sind wir nicht die Alleinversicherer?« erkundigte Parke sich sofort.

Metz zuckte zusammen. »Ja, Sir. Wir tragen die Haftpflichtversicherung. Mit der Kaskoversicherung haben wir nichts zu tun.« Dieser Alleinabschluß war unkonventionell und riskant gewesen, aber Metz hatte eine Abneigung gegen umständliche Versicherungspools. Er hatte die Beneficial in monatelanger Arbeit davon überzeugt, daß die Trans-United und vor allem das Straton-Programm sehr sicher war. Sie brauchten sich die hohen Prämien mit niemand zu teilen. Aber jetzt war auch kein Partner verpflichtet, einen Teil ihres Verlustes zu tragen.

»Das ist sehr bedauerlich, Wayne. Ich habe das Risiko von Anfang an für etwas zu hoch gehalten, aber ich will Ihre Entscheidung nicht nachträglich kritisieren. Der Vorstand hat sie damals gebilligt. Der Vorschlag – Ihr Vorschlag – ist als vorteilhaft erkannt und angenommen worden. Nach einem Verlust in dieser Größenordnung müssen wir natürlich unsere Vertragspolitik revidieren. Sie werden dazu vor dem Vorstand erscheinen müssen. Aber darüber können wir später ausführlicher sprechen.«

Metz spürte, daß ihm der Schweiß ausbrach. Er stellte die Klimaanlage kälter. »Ja, Sir.«

»Sind übrigens alle Fluggäste und Besatzungsmitglieder beim Absturz umgekommen? Wissen Sie schon, wie viele Tote es gegeben hat? Lassen sich unsere Verpflichtungen abschätzen?« Wayne Metz zögerte. »Wie ich von einem leitenden Mann der Trans-United erfahren habe, ist die Maschine nahezu voll besetzt gewesen«, antwortete er dann mit fester Stimme. »Das wären etwa dreihundert Passagiere und Besatzungsmitglieder.« Parke machte eine nachdenkliche Pause. »Hmmm … Alle tot,

haben Sie gesagt?«

Das hatte Metz keineswegs behauptet. »Der Unfall hat sich erst vor kurzem über dem Pazifik ereignet«, sagte er ausweichend. »Die Einzelheiten sind noch unklar, und die Presse weiß vorerst nichts davon. Die Sache wird streng vertraulich behandelt«, fügte er hinzu. »Mein Gewährsmann hat nicht am Telefon darüber reden wollen.«

»Gut, ich verstehe. Wir halten hier auch den Mund.«

»Ja, Sir.«

»Na ja, ein schwarzer Tag für viele Leute – auch für uns. Geben Sie sich keine Mühe, schon jetzt den Schaden zu errechnen, Wayne. Bei der Trans-United wird’s ziemlich drunter und drüber gehen. Ich veranlasse hier das Nötigste. Da die Maschine sich über dem Pazifik befunden hat, dürften wohl keine Drittschäden zu befürchten sein?«

»Ganz recht«, log Metz. »Drittschäden sind nicht zu erwarten.« Er brachte es nicht über sich, Wilford Parke mitzuteilen, daß die Straton sich in diesem Augenblick auf dem Rückflug nach San Francisco befand – mit der größten Anzahl Dauergeschädigten in der Geschichte der Luftfahrtversicherung.

»Rufen Sie mich an, sobald Sie mehr wissen«, forderte Parke ihn auf. »Ich bin in meinem Club zu erreichen. Ich esse dort mit einigen Vorstandsmitgliedern. Wir lassen uns ein Telefon an den Tisch bringen. Falls Sie Unterstützung brauchen, kann ich Ihnen zur Verstärkung ein paar Leute aus Chicago schikken.«

»Danke, ich komme auch so zurecht, Sir. Ich habe hervorragende Mitarbeiter.«

»Ausgezeichnet. Noch etwas, Wayne …«

»Ja, Sir?«

»Ich weiß, daß dies Ihr erster Verlust in dieser Größenordnung ist. Dreihundert fällige Lebensversicherungen sind keine Kleinigkeit. Ich bin froh, daß die Maschine nicht über bewohntem Gebiet abgestürzt ist.«

»Ja, Sir.« Das kann noch kommen.

»Und ich bin erleichtert, daß wir nicht auch das Flugzeug versichert haben. Was kostet ein Überschallflugzeug – 100 Millionen?«

»Ungefähr, Sir.« Auf seinem Schreibtisch lag der erste Entwurf eines Memorandums, in dem Metz vorschlug, die Beneficial Insurance Company solle die Trans-United Airlines gegen genau dieses Risiko versichern. Sobald er in sein Büro zurückkam, würde es in den Reißwolf wandern, noch bevor er seine Jacke ausgezogen hatte!

»Damit will ich sagen, Wayne, daß es keinen leitenden Versicherungsmann gibt, dessen Name nicht irgendwann mit einem Großschaden verknüpft gewesen wäre. Ich weiß, daß das peinlich ist, aber der Betrag, mit dem wir rechnen müssen, ist durchaus noch aufzubringen. Sie haben eben Pech gehabt. Lassen Sie sich dadurch nicht unterkriegen, mein Junge. In unserer Branche weint man nicht wegen verschütteter Milch. Man versichert sich gegen das Verschütten und zahlt die Milch mit den Prämien. Der Vorstand wird murren, aber das schadet Ihnen nicht weiter. Wir haben nur Glück«, fügte Parke freundlich hinzu, »daß der Schaden nicht größer ist.«

»Ja, Sir«, antwortete Metz tonlos. Er ließ den Hörer sinken. Das Flugzeug bringt 300 Hirngeschädigte zurück, die Versorgungsansprüche gegen uns haben. Und die Beneficial muß für jeden einzelnen bis ans Ende seiner Tage sorgen …