30 - AUFERSTEHUNG
Selbst nun, da er die Aufzeichnung zum
wiederholten Male sah, fühlte Ofenau Angst. Die ineinander
verkeilten Kitar hatten selbst über eine Entfernung von vielen
hundert Kilometern Wellen der Aggressivität ausgestrahlt, die noch
lange nach ihrer Vernichtung spürbar gewesen und erst allmählich
verebbt waren.
»Dann ist es also vorbei«, sagte Kix Karambui.
Ein Geschwader von Helfern umgab ihn. Beide Nasenarme zuckten, ein
bitterer metallischer Geruch ging vom Sekretär aus. »Gute Arbeit,
Ofenau.«
»Danke.« Der Xeniathe hielt sich so weit wie
möglich von seinem Erzeuger fern. Er wusste mittlerweile genug, um
die sinistren Absichten des Sekretärs von ARMIDORN andeutungsweise
zu verstehen. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst …«
»Moment!« Kix Karambui nahm eine lauernde
Stellung ein. »Deine Erzählungen sind äußerst lückenhaft, und über
den Tod deiner Begleiterin hast du dich bislang völlig
ausgeschwiegen. Ich wünsche, dass du mir so rasch wie möglich einen
schriftlichen Bericht zukommen lässt.«
»Nein.« Lux Daibi, der Xeno-Psychologe in ihm,
brachte die Kraft auf, dem Savoir-Roboter zu widersprechen.
»Was soll das heißen?« Kix Karambui stemmte
seinen
facettierten Leib bedrohlich in die Höhe, so dass er Ofenau um gut
und gern zwei Köpfe überragte. »Du solltest nicht vergessen, wer
dir deine Existenz ermöglicht.«
»Gib dir keine Mühe.« Ofenaus Stimme zitterte.
Auch wenn er wusste, dass ihm Kix Karambui nichts mehr anhaben
konnte - ein Rest von Unsicherheit war geblieben. »Ich war dein
willfähriger Diener und dein Werkzeug, doch diese Zeiten sind
vorbei. Von nun an gehen wir getrennte Wege. Ich habe andere Dinge
zu erledigen.«
»Andere Dinge?!« Der
Savoir-Roboter schrie, so laut, dass Ofenaus Ohren klingelten. »Ein
Befehl von mir, und du versinkst wieder in jener Ursuppe, aus der
ich dich erschaffen habe! Du gehorchst mir, und niemandem
sonst!«
»Du irrst dich.« Er brachte ein Lächeln zustande.
»Ich bin ab nun mein eigener Herr und Meister. Turil ließ meinen
Körper und meine Sparten … reinigen. Er wusste nur zu gut aus
eigener Erfahrung, wonach er suchen musste, und er fand all die
Impulsgeber, die mich zu deinem Werkzeug gemacht haben. Ich bin
frei von dir.«
»Du wagst es, an Bord von HALB zu kommen und so
mit mir zu reden? Hast du denn eine Ahnung, was ich alles mit dir
anstellen kann, wenn mir danach ist?«
»Gar nichts. Ich habe mich wohlweislich
abgesichert.« Ofenau spielte versonnen mit dem obersten Knopf des
Zeremonienmantels, der einmal Turil gehört hatte. Er hatte ihn aus
der Leere des Weltraums gefischt, nachdem die Kitar verbrannt und
verglüht waren. Die Neujustierung auf ihn hatte ohne Probleme
funktioniert, und bislang hatten weder dieses wertvolle Werkzeug
noch die GELFAR es gewagt, gegen ihn als neuen Herrn der
Schiffssphäre aufzubegehren. Doch es war wohl nur eine Frage der
Zeit, bis die Attacken begannen. Bis dahin musste er noch vieles
lernen.
Für einen Augenblick sah es so aus, als würde Kix
Karambui einen Angriff versuchen. Schließlich ließ es der
Savoir-Roboter dabei bewenden, ihm einen Batzen säurehaltiger
Flüssigkeit vor die Beine zu spucken. »Wenn du glaubst, dass du die
Macht und die Kraft hast, dich gegen mich zu stellen, dann hast du
dich geirrt. Verschwinde von hier und genieße die letzten paar Tage
deines Lebens. Ich werde dich beobachten und verfolgen lassen, und
dann, wenn du am wenigsten damit rechnest, wirst du die Rechnung
für deine Unverschämtheiten bezahlen.«
»Gib dir keine Mühe. Die GELFAR wacht über
mich.«
»Die GELFAR?! Die
Schiffssphäre?!«
»Ich bin ihr neuer Herr.«
»Du bist kein Totengräber! Sie wird dir niemals
gehorchen.«
»Wir werden sehen.« Vier der sechs Sparten
drängten ihn dazu, so rasch wie möglich zu verschwinden. Doch Lux
Daibi, der nach wie vor das Wort führte, sagte: »Achte du
gefälligst darauf, dass du mir niemals mehr wieder in die Quere
kommst, Sekretär! Die Vernichtung der Kitar lag in unser beider
Interesse. Doch damit enden unsere Berührungspunkte. Ich werde
aufmerksam beobachten, ob du ARMIDORN weiterhin für deine Zwecke
instrumentierst. Sollte es so sein, werde ich eingreifen. Verlass
dich darauf.«
»Das sind große Worte für ein wertloses
Experimentalgeschöpf.«
»Fordere mich heraus, Kix Karambui. Tu mir bitte
schön den Gefallen. Gib mir einen Grund, dir wehzutun …«
Die Worte bereiteten allen Sparten ein ungeheures
Maß an Befriedigung, und umso schöner war es, die Reaktion des
Savoir-Roboters zu beobachten: Er duckte sich und ging in eine
Abwehrstellung. Er hatte Angst. Oder war
alles nur Theater? Zog Ofenaus Schöpfer nach wie vor an den
Strippen und hatte ihn genau dort platziert, wo er ihn haben
wollte? Hatte er all dies vorhergesehen und harrte nun der Dinge,
die folgen mochten?
Ofenau begann sich unbehaglich zu fühlen. So
rasch wie möglich verließ er HALB und ließ sich vom
Zeremonienmantel zurück zur GELFAR transportieren. Es würde
sicherlich einige Zeit dauern, bis er das Kautium unter Kontrolle
hatte und sich bequemer transferieren konnte.
Ofenau betrat die Halle der Erinnerungen; jenen
Raum, der so leer wirkte und dennoch so voll von Wissen, Ideen,
Vorstellungen, Träumen und Fantasien war. Keiner der Kreavatare
ließ sich blicken. Sie alle fürchteten sich vor den Veränderungen
an Bord der GELFAR, sie vermochten die Ambitionen ihres neuen Herrn
nicht einzuschätzen.
»Ich muss mit dir reden!«, rief er laut.
Eine formlose Gestalt schwebte herbei. Sie
strahlte golden, und eine Wolke der Wehmut ging von ihr aus. »Wie
hat es Kix Karambui aufgenommen?«, fragte Turil.
»So, wie du es einschätztest. Er ist sich seiner
Macht bewusst, aber er fürchtet die Möglichkeiten der
Schiffssphäre. Er ist sich seiner Sache nicht sicher.«
»Gut, gut. Das wird ihn für einige Zeit
zurückhalten, Unsinn zu machen. Mit ein wenig Glück können wir Atem
holen und uns vorbereiten auf die Dinge, die da kommen
werden.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Es ist weniger Glaube als Hoffnung.« Turil
schwebte näher. Humanes-ähnliche Züge zeigten sich im Antlitz des
Kreavatars. »Wir haben so viel zu erledigen …«
»Und du glaubst, wir schaffen es?«
»Hast du vergessen, dass ich keinen Schlaf mehr
benötige?« So etwas wie ein Lachen ertönte. »Ich lerne, rund um die
Uhr. Ich beginne zu verstehen. Ich spüre die GELFAR und ich weiß,
wie man ihr beikommen kann. Solange du in regelmäßigen Abständen zu
mir kommst, kann ich dich vor ihr schützen und verhindern, dass sie
dich hintergeht. Irgendwann einmal wirst du ausreichend
selbstständig sein, um alleine mit ihr fertigzuwerden. Und dann
werden wir die Schiffssphäre dazu nutzen, den Kampf um Friedenshof
Grau zu beenden; zur Zufriedenheit beider Seiten.«
»Obwohl du zeit deines Lebens benutzt und
hintergangen wurdest, möchtest du den Totengräbern helfen?«
»Ich bin nun mal ein Produkt thanatologischer
Erziehung. Außerdem bin ich neugierig. Es gibt nach wie vor so
viele Ungereimtheiten in meinem Leben, die ich aufklären
möchte.«
»Bist du … glücklich, Turil?«
»Ich hoffe, es einmal sein zu können. Wenn du
mich jetzt bitte entschuldigst, Ofenau. Ich möchte nachdenken. Ruh
dich aus. Morgen beginnen wir mit deiner Ausbildung. Du wirst einen
formidablen Lenker abgeben.«
»Und wenn ich dich betrügen wollte? Warum bist du
dir meiner so sicher? Ich könnte die GELFAR jederzeit
verlassen.«
»Ich würde es zu verhindern wissen. Letztendlich
bin ich der oder das Einzige, das zwischen dir und der
Schiffssphäre steht. Nur ich kann die GELFAR zügeln.«
Ofenau blieb stumm. Er verließ leise die Halle
der Erinnerungen, wusste aber nicht, über welche Fähigkeiten Turil
der Kreavatar verfügte: ob er diesen Raum tatsächlich verlassen und
die GELFAR beherrschen konnte und welche Pläne er wirklich
verfolgte.
Unsicherheit würde Ofenau von nun an bei all
seinen Schritten begleiten. Doch es hatte sich, so musste er sich
eingestehen, nichts geändert. Er war und blieb das Werkzeug eines
anderen, und die Situation würde sich noch weiter verschärfen,
sobald Turil über alle Informationen hinsichtlich der Verpflanzung
seines Bewusstseins in die freigebliebene Sparte von Ofenaus Gehirn
verfügte.
Licht erwartete ihn am Ausgang der Halle. Sie
warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu, und Ofenau freute sich
auf die kommende Ruheperiode.