Respekt Den Toten

9.1

»Meine Güte, schmeckt das scheußlich.« Marco spie einen Mundvoll des uralten Schokoriegels aus, den Wu im Minimarkt aufgetrieben hatte; die Schokolade zerbröselte wie Pulver, und die Füllung schmeckte wie karamellisierte Pisse. »War sonst nichts mehr da? Müsliriegel zum Beispiel?«

»Der Laden ist ausgeräumt, Doktor.«

Marco verzog das Gesicht. Der Hunger, der in seinen Eingeweiden wühlte, machte sich nun schon zum dritten Mal innerhalb einer Minute bemerkbar. Er hörte förmlich, wie der Magen ihn anflehte: Halt’s Maul und friss.

Er leckte sich die Lippen und biss noch ein Stück ab. Ekelhaft.

Er hatte sich gegen das Quad gelehnt; es war unter dem Dach einer Tankstelle abgestellt, die ungefähr dreißig Kilometer vom Bill’s entfernt war, wo das Massaker stattgefunden hatte. Den letzten überlebenden Leichen zu entkommen war eine leichte Übung gewesen. Mit Wu auf dem provisorischen Rücksitz war Marco auf der staubigen Straße nach Norden gefahren und hatte die Vororte der schäbigen kalifornischen Stadt passiert. Tote Bürger waren aus baufälligen Häusern aufgetaucht und die Seitenstraßen entlanggewankt – Frühaufsteher in Schlafanzügen und zerlumpten Nachthemden. Aber das Quad war einfach viel zu schnell, und der brüllende Motor hatte ihre Aufmerksamkeit nur so lange erregt, bis das Frühstück ihnen mit achtzig Stundenkilometern davongefahren war. Wer rastet, der rostet.

Und überhaupt, sagte Marco sich, stellten die Toten nicht die größte Gefahr dar. Nicht mehr.

Nun hatten sich durchgeknallte Soldaten und fremde Regierungen an den Anfang der Liste gesetzt.

Eine Viertelstunde lang hatte weder er noch Wu ein Wort gesprochen, während das Quad mit hoher Geschwindigkeit unter der aufgehenden Sonne nach Norden fuhr. Ein weißes Straßenschild diente immerhin als Anhaltspunkt. CA 111 N. Marco registrierte es nur vage; er steckte in einem imaginären Teerkessel der Reue, in dem er bei lebendigem Leib gekocht wurde. Der qualvolle Todesschrei des bärtigen Soldaten hallte ihm noch immer in den Ohren und wollte einfach nicht verstummen. Er hatte solche Schreie zuvor schon gehört, hatte auch Menschen auf genauso grausame Art und Weise sterben sehen – doch dieser Tod unterschied sich in einem Punkt grundlegend von allen anderen.

Ich habe es getan. Ich habe ihn dort zurückgelassen. Ich habe ihn den verdammten Zombies zum Fraß vorgeworfen.

Und Wu. Der Sergeant hatte dem Soldaten die Handschellen angelegt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne Gnade. Marco schauderte. Was für ein Mensch tut so etwas nur?

Wu, der hinter ihm auf dem Quad saß, war genauso schweigsam. Vielleicht ordnete er seine Gedanken oder diagnostizierte seine Verletzungen. Aber er trauerte ganz bestimmt nicht um seinen gefallenen Feind – dessen war Marco sich sicher.

Doch selbst wenn Wu ein unbelastetes Gewissen hatte, sein Körper sah fürchterlich aus. Gesicht und Arme waren mit dunklem, klebrigem Blut überzogen, und Fetzen von totem Fleisch klebten an seinem stoppelbärtigen Kinn wie Reste von Hackfleisch. Seine Augen waren sichtlich geschwollen, und er schien jedes Mal zusammenzuzucken, wenn er blinzelte. Über die Schulter verlief eine kurze Furche, wo die Kugel des Soldaten ihn gestreift hatte; die Haut war an den zerfetzten Wundrändern rot und schwarz – verbrannt und blutig zugleich. Er sollte sich besser säubern, sagte Marco sich. Bei den ganzen Leichensäften, die über Wus Gesicht und Arme verteilt waren, bestand durchaus die Gefahr, dass er sich durch die Schussverletzung infizierte.

Er hat es aber auch verdient, dachte Marco – und errötete dann.

Niemand hat so etwas verdient.

Also setzten die Männer ihre stumme Fahrt auf der Route 111 fort und nahmen Kurs auf die Berge, die in der Ferne verschwommen aufragten. Irgendwann stieß Wu einen Ruf aus, der das Motorengeräusch übertönte. Marco zuckte auf seinem Sitz zusammen.

»Da runter!« Er hieb Marco auf den Rücken und deutete auf eine verwunschen wirkende Tankstelle, die hundert Meter vor ihnen auf der rechten Seite aufgetaucht war. Die Fenster waren dunkel, und hohes Gras wucherte im rissigen Asphalt zwischen den Tanksäulen. Neben der Straße verkündete ein rotes Schild mit fehlenden Buchstaben und Zahlen längst nicht mehr aktuelle Spritpreise.

In jeder Hinsicht irrelevant.

Marco hatte eigentlich keine Lust anzuhalten, doch Wu hatte recht. Sie mussten sich erst einmal sammeln und überlegen, wie zum Teufel sie weiter vorgehen sollten. Er nahm die Kurve schärfer als nötig – damit wollte er sich bei Wu revanchieren, weil der ihn ständig herumkommandierte –, und das Quad fuhr aufs Tankstellengelände.

Es kam zwischen vier ramponierten alten Zapfsäulen zum Stehen – zwei zur linken, zwei zur rechten. Er umklammerte noch immer den Gasgriff; er würde Vollgas geben, sobald irgendein toter Freak in einem verdammten Tankwart-Overall um die Ecke gerannt kam.

Doch nichts geschah. Sie wurden nicht aus dem Hinterhalt überfallen. Marco stellte den Motor ab und sondierte das Terrain – wieder eine Geisterstadt mit ein paar Einwohnern und einer verödeten Hauptstraße mit Billigläden, die in der Wüste allmählich zerfielen. Eine schmuddelige mexikanische Cantina, deren Ziegelsteinmauer hellblau angestrichen war, stand wenig einladend auf der anderen Straßenseite. Marco beäugte sie argwöhnisch. Er hatte sich an diesem Tag schon mit genügend Betrunkenen herumärgern müssen. An die Cantina schlossen sich ein Pfandleihhaus mit heruntergelassenen Sicherheitsgittern und ein Kautionsbüro an, das auf einem zerrissenen Banner über der zersplitterten Glastür einen 24/7-Super-Service versprach.

Auf der anderen Straßenseite befand sich hinter einem Wellblechzaun ein großer Platz – ein Schrottplatz, der mit großen rostigen Rohren und unidentifizierbaren, kompliziert aussehenden landwirtschaftlichen Geräten angefüllt war, deren Funktion sich Marco nicht erschloss. Weiter nördlich sah man Telefonmasten und vereinzelte Palmen. Einen Straßenzug weiter entdeckte er eine Honda-Vertretung mit Autos, die wie stählernes Vieh eingezäunt waren; bunte Bänder hingen schlaff an einem hohen Fahnenmast, an dem die Flagge fehlte. Die Bänder kräuselten sich in der Brise. Das war die einzige Bewegung, soweit er zu sehen vermochte.

»Tanken Sie voll«, wies Wu ihn an und rutschte vom Quad herunter. »Ich werde mal drinnen nachsehen.«

»Drinnen? Wozu denn?«

Wu sah ihn herablassend an. »Man hat auf mich geschossen, Doktor. Sollte ich Ihrer qualifizierten ärztlichen Meinung nach vielleicht nach einem Heftpflaster suchen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, humpelte er zu dem Minimarkt, der an die Tankstelle angeschlossen war. »Mein Rucksack war im Zug, als der Führerstand explodierte«, sagte er über die Schulter. »Mein GPS ist weg. Ich werde auch nach einer Landkarte suchen.«

Er verschwand im Gebäude und ließ Marco allein draußen stehen.

Arschloch.

Marco versuchte, Benzin zu zapfen. Weil die Tankstelle aber keinen Reservegenerator hatte, war es unmöglich, Druck in der Leitung aufzubauen. Seit der Auferstehung hatte er mehr über die Funktionsweise von Zapfsäulen gelernt als jeder andere mit einem medizinischen Abschluss. Doch heute half ihm das auch nicht weiter. Die Speichertanks waren versiegelt, und selbst die Leitung war trocken, als er die Schläuche durchschnitt – nichts außer einem Schwall von Benzindämpfen, bei denen ihm schummrig im Kopf wurde. Er warf den abgetrennten Füllstutzen frustriert auf den Boden und zuckte beim lauten Scheppern zusammen.

Meine Güte. Läute doch gleich die Kirchenglocken, du Arschloch.

Die Benzinpumpe war noch eine altmodische Ausführung mit einem mechanischen Zählwerk, das bei 20,96 $ stehen geblieben war. Er betrachtete nachdenklich die Ziffern und ließ der Fantasie freien Lauf. Irgendein Mann oder eine Frau hatte in panischer Angst genau hier gestanden, wo er sich jetzt befand – an dieser Pumpe. Wann? In den letzten Tagen der Evakuierung? Vor seinem geistigen Auge sah er, wie dieser Mensch zitternd vor Angst die letzten paar Tropfen absaugte. Er fragte sich, wie weit er mit seiner Einundzwanzig-Dollar-Tankfüllung wohl gekommen war.

In den letzten vier Jahren war er auf all seinen Reisen oft über diese kleinen Überreste von Leben gestolpert. Jedoch hatte er das immer als deprimierend empfunden. Es war, als ob man die erste Seite eines unvollendeten Romans las. Und wenn man dann umblätterte, sah man nur noch Hunderte Seiten unbeschriebenen weißen Papiers.

Hatte der Held überlebt? Oder war er einen schrecklichen Tod gestorben?

Er schauderte – unschlüssig, ob es besser war, das Ende zu kennen oder nicht.

Er hörte Wu im Minimarkt durch die Gänge streifen, das Knirschen von Glasscherben unter seinen Stiefeln und das erstaunlich laute Knistern von Chipstüten. Ein Schild im Fenster pries eine Schachtel Marlboro für 7,59 $ an. Ein Münztelefon hing mit abgerissener Schnur neben der Tür; der schwarze Hörer lag auf dem Betonweg. Ein fettiges Haarbüschel klebte an der Sprechmuschel. Wahrscheinlich hatte jemand den Hörer dazu benutzt, einer Leiche einen Scheitel zu ziehen.

Er wünschte, Wu würde sich etwas beeilen.

Neben dem Telefon lagen ein zerdrückter Kaffeebecher aus Styropor und zehn oder zwölf alte, verwitterte Rubbellose. Sie waren noch nicht aufgerubbelt, wie Marco feststellte. Nur so zum Spaß hob er eins auf. Wüsten-Dollars stand in goldenen Lettern über einem Kaktus von der Form eines Dollarzeichens. Mit dem Daumennagel kratzte er die silbernen Rechtecke ab. Er hatte tatsächlich zwei Dollar gewonnen. Er lachte freudlos und warf das Los weg. Es flatterte wieder auf den Gehweg.

Er spähte in den dunklen Laden und verspürte eine zunehmende Ungeduld. Komm schon, Wu.

Im Minimarkt war es nun still.

In plötzlicher Besorgnis spitzte er die Ohren, hörte aber nichts außer dem An- und Abschwellen seines eigenen Atems. Irgendwo, ein paar Gebäude weiter, krächzte eine Krähe.

»Wu?«, rief er mit gedämpfter Stimme, um keinen unnötigen Lärm zu machen.

Er machte sich am Gepäcknetz des Quads zu schaffen und nahm den Rucksack des bärtigen Soldaten heraus. Hastig überprüfte er den Inhalt. Feldflaschen, Munitionsstreifen, Ferngläser …

Da ist sie ja. Seine Hand schloss sich um die Glock.

Und in diesem Moment schwang die Tür des Minimarkts auf, und Wu kam heraus. Er trug eine Plastiktüte, die er vor Marco auf den mit Ölflecken übersäten Betonboden fallen ließ.

»Es war nicht mehr viel da«, meldete er. Er bückte sich und wühlte in der Tüte. »Aber hier habe ich etwas. Essen Sie das.« Er holte einen uralten Schokoriegel hervor und reichte ihn Marco.

Und nun würgte Marco den letzten Bissen hinunter; er verspürte plötzlich einen starken Brechreiz, doch er unterdrückte ihn ein paar Sekunden lang, und schließlich verging er. Wu hatte sich wieder über die Plastiktüte gebeugt und holte Verbandsmull und Bandagen heraus, während Marco griesgrämig zusah.

»Es gab keinen Alkohol mehr«, sagte Wu beinahe zu sich selbst. »Ich werde Benzin zur Desinfektion verwenden.«

Marco schüttelte den Kopf. Wu bemerkte nun erstmals den abgetrennten Einfüllstutzen, der noch immer dort lag, wo Marco ihn hingeworfen hatte. »Kein Benzin mehr?«, fragte er. In seiner Stimme schwang unüberhörbar Besorgnis mit.

»Kein Tropfen«, sagte Marco. »Das heißt, es gibt noch was – nur dass wir nicht drankommen. Wir bräuchten schon einen schweren Montageschlüssel, um die Ankermuttern am Boden zu lösen.«

Wu verzog das Gesicht. »Der Tank des Quads ist noch halb voll. Damit werden wir nicht mehr weit kommen.«

»Schon richtig, aber wie weit müssen wir überhaupt noch fahren? Haben Sie eine Ahnung, wo wir jetzt sind?«

»In Salton, Kalifornien. Laut dem Gewerbeschein hinter dem Tresen.«

Mit Papierhandtüchern wischte Wu sich das Blut vom Gesicht und den Armen, bis er so sauber war, wie das ohne Wasser eben möglich war. Dann legte er den Verbandsmull auf die nässende Wunde in der Schulter. Er stieß ein Zischen aus, als er das Material andrückte. Ein roter Kreis erschien im weißen Rechteck. Wu wickelte den Verband ab, schlang ihn um den Oberarm und führte ihn schließlich unter der Achselhöhle hindurch, damit er nicht verrutschte.

»Ich habe Straßenkarten gefunden, mit denen wir nach Sarsgard kommen«, fuhr er fort, während er sich verarztete. »Wir nehmen aber nur Nebenstraßen – auf den nächsten hundert Meilen wird es von Reitern nur so wimmeln.« Er registrierte Marcos verwirrtes Stirnrunzeln. »Reiter, wie unser Freund in der Bar. Eine kalifornische Miliz, bestehend aus Anarchisten mit Verbindungen zu Terroristen im Iran und in Kasachstan. Sind Sie ihnen hier draußen noch nie begegnet?«

»Nein, definitiv nicht. Ich bin schon seit einer Weile nicht mehr in Kalifornien gewesen.«

»Da können Sie von Glück sagen. Reiter sind nämlich gefährlich.«

»Was soll der Name bedeuten? Und der Schädel am Quad?«

Wu zuckte die Achseln. »Ein biblischer Bezug. Wie bei den vier …«

»… apokalyptischen Reitern«, beendete Marco den Satz. »Ich verstehe. Eroberung, Krieg, Hungersnot und Tod. Sehr nett. Was sind das also für Typen – religiöse Fanatiker?«

Wu musterte ihn. »Lassen Sie sich nicht von dem Namen beirren, Doktor. Das ist martialisches Gebaren, um die Leute einzuschüchtern. Mit Gott haben die Reiter nichts am Hut. Sie sind Diebe und Plünderer. Sie streben nach Geld und Macht, und sie bedienen sich der Auferstehung, um beides zu erlangen.«

»Eroberung«, erinnerte Marco sich. »So hatte der Typ mit dem Bart sich am Funkgerät gemeldet. »Conquest Drei, habe ich ihn sagen hören.«

»Ja«, sagte Wu. Er wirkte etwas konsterniert. »Sie sind auch hinter Ballard her – sie wissen aber nicht, wo er ist. Deshalb sollten Sie sie zu ihm führen.«

»Ich wünschte, ich wäre in der Highschool auch so ein gefragter Typ gewesen.«

Wu ignorierte den Scherz. »Dieser Reiter hat per Funk unseren Standort durchgegeben. Wir sollten also besser weiterfahren. Durch den Tod des Spähers haben wir uns nur einen kurzen Vorsprung verschafft.«

Die Erinnerung an die Hinrichtung des bärtigen Soldaten löste bei Marco wieder Gewissensbisse aus. Für Wu bedeutete die Ermordung des Mannes überhaupt nichts – das war nur Teil einer Strategie, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Ja, es war logisch, es war rational … und trotzdem sträubte Marco sich mit jeder Faser dagegen.

Wu zog den Verband noch einmal stramm und fixierte ihn mit den Metallclips. Marco schaute zu und fühlte sich auch nicht bemüßigt, ihm zu helfen. Wahrscheinlich sollte er ihm dankbar sein; Wu hatte sich immerhin eine Kugel eingefangen, um ihn vor dem feindlichen Soldaten zu retten – dem Reiter. Zugleich erkannte Marco aber auch instinktiv, dass Wu nicht aus Menschenfreundlichkeit gehandelt hatte. Er hatte Marco aus höchst selbstsüchtigen Motiven gerettet.

Aber was genau waren das für Gründe?

Marco erinnerte sich an seine Antwort im Zug, kurz vor der Explosion der Gasgranate.

»Auf die Frage schulden Sie mir noch eine Antwort«, sagte er nun. »Wer sind Sie wirklich?«

9.2

Marco sah, dass Wu sich anspannte und es vermied, ihm in die Augen zu schauen.

»Wie meinen Sie das, Doktor?«, fragte Wu und überprüfte den Sitz des Verbands.

»Sie sind nicht bloß irgendein popliger Unteroffizier. Dieser ganze Mist, den Sie verzapft haben, von wegen, wir seien nur das dumme Fußvolk. Scheint so, als ob Sie verdammt viel mehr wüssten, als Sie durchblicken lassen. Verzeihung, wenn ich naiv klinge, aber alles, was Sie mir im Zug erzählt haben, hat sich nach höchster Geheimhaltung angehört. Nicht die Art von Information, die die Armee ihren Wasserträgern zukommen lässt.«

Wu tippte auf den Verband und hob vorsichtig den Arm, um seine Beweglichkeit zu prüfen. Er zuckte zusammen. »Entspannen Sie sich, Doktor«, sagte er. »Die Wahrheit ist nicht so dramatisch, wie es sich bei Ihnen anhört.«

»Was ist dann Sache?«

»Ich bin vom militärischen Nachrichtendienst.« Wu sah ihm in die Augen. »Ich bin dem AAE-Team zugeteilt worden, das sich mit Ihnen treffen sollte. Osbourne brauchte nachrichtendienstliche Erkenntnisse, um auf dieser Grundlage militärische Entscheidungen zu treffen. Das ist meine Rolle. Auf Ihre Rolle beziehungsweise auf unser Verhältnis wirkt sich das überhaupt nicht aus. Es ist im Grunde so belanglos, dass ich es auch nicht vor Ihnen verheimlichen muss – zumal Sie sowieso schon einen Verdacht hegen. Sind Sie jetzt zufrieden?«

Marco betrachtete ihn skeptisch. Stück für Stück nahm das Bild dieses Mannes, Ken Wu, Gestalt an. Doch er war sich nicht sicher, ob es ihm auch gefiel. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, hatte Marco seit gestern nicht mehr losgelassen: ein nagendes Unbehagen, als hätte er ein Steinchen im Stiefel. Doch wenigstens trug Wus Beichte zur Klärung der Sache bei.

»Soll ich Sie noch immer Sergeant‹ nennen?«, fragte er.

Wu zuckte die Achseln. »Wenn Sie wollen. Das war zumindest mein Dienstgrad, bevor ich zum militärischen Nachrichtendienst gewechselt bin.« Er bückte sich und legte das restliche Verbandszeug ordentlich wieder in die Plastiktüte.

Marco biss sich auf die Lippe. Er war noch nicht ganz bereit, zu vergeben und zu vergessen. Denn in einem Winkel seines Bewusstseins hallte noch immer der Todesschrei des bärtigen Soldaten nach.

»Was haben Sie zu ihm gesagt?«, fragte er Wu.

Wu sah verwirrt auf. »Zu wem?«

»Zum Reiter. Bevor Sie ihn dort zurückließen, hatten Sie ihm irgendetwas ins Ohr gesagt.«

Wu schien zu erstarren und blickte Marco mit frostiger Miene an. Wieder hatte Marco das Gefühl, dass eine Rechenmaschine hinter den grünen Augen des Mannes ansprang und ratterte und klickte – als wäre dort, wo andere Menschen ein Gehirn hatten, ein Computer eingebaut.

»Ich habe ihm gesagt«, sagte Wu tonlos, »dass es meine Pflicht wäre, ihn zu vernichten.«

»Super.« Marco schnitt eine Grimasse. »Sehr patriotisch von Ihnen.«

»Höre ich etwa Kritik aus Ihren Worten heraus, Doktor?«

»Weil Sie ihn haben krepieren lassen? Verdammt noch mal ja, und wie ich das kritisiere.«

»Unser Leben hatte ihm auch nichts bedeutet. Ihm ist nichts Schlimmeres widerfahren als das, was er uns zugedacht hatte.«

»Deshalb haben Sie ihn also einfach umgebracht.«

»Ja. Ich habe schon viele Männer wie ihn getötet. Man muss nur wissen, wann es erforderlich ist.« Wus Blick flackerte warnend, als rechnete er mit Widerspruch.

Doch Marco hatte innerlich bereits den Rückzug angetreten. Ich kann das nicht machen, sagte er sich. Ich stecke tief in der Scheiße. So gottverdammt tief, dass man schon ein U-Boot bräuchte, um mich zu finden. Er sah Wu an, wobei vor seinen Augen alles in der Hitze verschwamm, und schluckte mit einem elenden Gefühl.

»Ich habe noch nie jemanden getötet«, sagte er. »Bis heute nicht.«

Dieses Geständnis schien Wu zu überraschen. Der Soldat runzelte die Stirn.

»Zumindest keine lebenden Menschen«, fuhr Marco fort. »Nur Leichen. Was ich damit sagen will – ich habe noch nie einen Menschen lebend gefangen genommen und ihn dann getötet. Ich mache nur Tote noch toter‹, und das ist schon schlimm genug. Wie Cassandra Pearson – sie war eine tote Grundschülerin. Das war wirklich krass. Sie … sie saß im Freizeitpark Knott’s Berry Farm in der Achterbahn, wie zur Salzsäule erstarrt wartete sie in dem Wagen am Einstieg.«

Er zog die Mundwinkel nach unten. Wieso erzähle ich ihm das überhaupt?

Weil es ein gutes Gefühl ist, die Beichte abzulegen, wurde er sich bewusst.

»Wie dem auch sei«, sagte er, verdrängte die Erinnerung und sammelte sich, »das von heute übertrifft das noch. Ich meine, ich weiß, dass er ein übler Kerl war oder was auch immer. Aber … er war lebendig, noch immer ein richtiger Mensch, und ich …«

Er seufzte klagend und gab es auf. »Sei’s drum. So eine Scheiße passiert halt, nicht wahr?«

Wus Gesicht umwölkte sich. Er beugte sich über die Tüte und holte einen Stapel Straßenkarten heraus. Dann ging er mit der Tüte zum Quad und verstaute sie im Gepäcknetz an der Seite. Als er sich wieder zu Marco umdrehte, hatte seine Körpersprache sich verändert. Die hochgezogenen Mundwinkel suggerierten beinahe Empathie – obwohl dieser Ausdruck doch zu aufgesetzt wirkte, um authentisch zu sein. Er reichte Marco die Landkarten.

»Suchen Sie Sarsgard«, wies er ihn an und blickte in der Richtung, aus der sie gekommen waren, über den Highway. »Wir halten uns schon viel zu lange hier auf.«

Marco warf abwesend einen Blick auf die Landkarten. Ein Straßenatlas von Kalifornien und ein paar kleinere gefaltete Karten. Palm Springs … Victorville & Barstow …

Er erstarrte, als er die dritte Karte im Stapel sah.

Hemet & Perris.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. Hemet, Kalifornien.

Mein Gott, wie nah war er an Hemet? Die anderen Karten glitten ihm aus der Hand, als er sich hinkniete und das zerknitterte Papier auf dem Betonboden ausbreitete. Hemet. Da war es. Er tippte mit der Fingerspitze auf einen kleinen schwarzen Punkt und verspürte das Hochgefühl des Entdeckers. Dann überflog er das alphabetische Verzeichnis der Städtenamen. Salton … Salton …

Dort.

Er versuchte, die Entfernung bis nach Hemet per Augenmaß zu bestimmen. Vielleicht hundertvierzig Kilometer.

Sollte er es versuchen?

Natürlich sollte er es versuchen. Wie auch nicht? In die Aufregung mischten sich Bedenken, die sich als ein flaues Gefühl im Magen bemerkbar machten.

Aber du willst doch nicht wirklich dorthin zurückkehren, oder?

Er ignorierte die innere Stimme und konzentrierte sich wieder auf die Karte. Das Gefängniskrankenhaus Sarsgard befand sich viel weiter nördlich; eine Fahrt von Salton nach Hemet wäre ein großer Umweg und würde sie in südlicher Richtung auf einer einsamen Strecke durch das Wüstengebirge führen, bevor sie wieder nach Norden einschwenken konnten.

Das würde die ganze Reise vielleicht um einen verdammten halben Tag verlängern.

Andererseits hatte Wu explizit von Nebenstraßen gesprochen.

Plötzlich spürte er, dass Wu ihn beobachtete. Er räusperte sich, hob die Karte auf und klemmte sie sich unter den Arm. »Wir werden vorläufig noch auf dieser Straße, der Route 111, bleiben. Ein paar Kilometer weiter können wir dann aber vom Highway herunterfahren und einsamere Straßen abseits der Hauptstrecken benutzen. Ich würde sagen, es sind etwas mehr als dreihundert Kilometer bis Sarsgard.«

Ach ja, und wir werden zufällig auch durch eine Stadt namens Hemet kommen. Ich habe ganz vergessen, das zu erwähnen. Ich sage dir aber Bescheid, wenn wir dort ankommen.

Hemet. Danielles Heimatstadt, wo sie geboren war, wo sie aufgewachsen war. Wo ihre Eltern begraben waren. Der Friedhof, auf dem …

Fast hätte er überrascht aufgeschrien, als Wu ihn am Handgelenk packte und hinter die nächste Zapfsäule zerrte.

»Au«, sagte er. Ein stechender Schmerz schoss durch die Schnittwunden am Arm. »Ausgerechnet an der Stelle, wo die Handschellen …«

»Psst!«, unterbrach Wu ihn und wies auf einen Punkt auf dem Highway, der hundert Meter von der Tankstelle entfernt war. Marco lugte zwischen den Zapfsäulen hindurch. Er sah nichts.

Doch dann hörte er es.

Motoren.

Trotz der Wüstenhitze lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.

Zunächst war das Geräusch noch schwach, wie das Summen einer Mücke; doch dann schwoll es immer stärker an, bis es sich anhörte, als würde gleich ein ganzer Schwarm aus nördlicher Richtung um die Kurve biegen.

Hau ab, sagte Marco sich. Versteck dich im Minimarkt, und zwar sofort

Doch ehe er sich regen konnte, erschienen fünf lärmende Reiter-Quads in seinem Blickfeld und rasten auf die Tankstelle zu. Die Fahrer machten einen wilden und verwegenen Eindruck; sie trugen dunkle Motorradbrillen und grüne Helme. Sie bildeten eine Lumpenarmee – keine zwei Männer waren identisch bekleidet; einer trug eine Wüstenuniform, der nächste eine schwere Motorradlederjacke, während ein Dritter in einem zerrissenen blauen Pilotenoverall steckte, der im Wind flatterte. Und sie hatten Waffen umgehängt – Gewehre in unterschiedlicher Ausführung und schwarze Maschinenpistolen, deren Läufe wie tödliche Skorpionstachel anmuteten. Nur die Quads waren identisch: das gleiche schmutzig braune Modell, das auch der bärtige Soldat gefahren hatte. Wahrscheinlich alle aus demselben militärischen Fuhrpark gestohlen. Und an der Haube jedes Quads ein Pferdeschädel, ausgebleicht und gesprungen.

Das ist wie eine Stampede aus der Hölle, dachte Marco.

Das fünfte Quad unterschied sich jedoch von den anderen – es war länger und hatte einen Geschützturm hinter dem Fahrersitz. Ein zweiter Mann war Herr über ein schweres Maschinengewehr, eine Browning mit einem endlos langen Patronengurt. Der Schütze war ein robuster Typ; er hatte offenbar das Kommando und brüllte dem Fahrer Befehle zu. Noch auf diese Entfernung spürte Marco die Autorität des Mannes. Im Gegensatz zu den zerlumpten Reitern war der Kommandant mit einer schneidigen schwarzen Uniformjacke mit roten Schulterstücken bekleidet. Er hatte eine große, gekerbte Nase, die offenbar schon einmal gebrochen war; die Augen waren so scharf wie die eines Falken auf einer Felsklippe. Er trug als Einziger keinen Helm, und sein kahler Kopf schien aus Stein gemeißelt – er hatte ein schmales Gesicht mit markanten Konturen, aber einen ungewöhnlich ausladenden Schädel. Oberhalb der Ohren verbreiterte sich sein Schädel und die Haut spannte sich, als wäre dort ein zusätzliches Knochenstück eingesetzt worden.

Marco schüttelte sich und duckte sich noch tiefer, um sich so klein wie möglich zu machen. Er spürte, dass der neben ihm kauernde Wu angespannt war und den Atem anhielt. Neben der Zapfsäule, nur notdürftig vor Blicken von der Straße geschützt, stand ihr gestohlenes Quad. Es wirkte geradezu riesig, schien sich auf das Doppelte der normalen Größe aufgebläht zu haben.

Scheiße. Sie werden es sehen, sie werden es sehen

Doch die fünf Quads rasten in südlicher Richtung an der Tankstelle vorbei.

Wu stieß den Atem aus. Wahre Sturzbäche von Schweiß hatten saubere Furchen über seine schmutzige Stirn gezogen. »Da haben wir noch mal Glück gehabt«, sagte er. »Sie sind zum Zug unterwegs, um sich mit ihrem Kameraden zu treffen. Ich bezweifle, dass sie schon wissen, dass er tot ist. Und wenn wir noch mehr Glück haben, werden sie auch in einen Hinterhalt dieser Leichen geraten. Das würde unsere Chancen verbessern.«

»Ich habe eine Neuigkeit für Sie«, sagte Marco. Er hatte noch immer ein flaues Gefühl im Magen. »Unsere Chancen stehen beschissen. Haben Sie ihn gesehen? Diesen Typen mit dem bizarren Kopf?«

»Ja, allerdings«, antwortete Wu. »Der Rottenführer der Reiter.«

»Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, dass wir den zum Gegner haben. Er ist Furcht einflößend.«

Wu sparte sich eine Antwort. Er stand auf und überprüfte noch einmal die Beweglichkeit seines Arms. Er hob ihn so hoch, wie die verletzte Schulter es erlaubte – bis zu einem Winkel von fünfundvierzig Grad. Er grunzte, biss sich auf die Lippe, setzte sich wieder rückwärts aufs Quad und stellte die Füße auf die hintere Stoßstange.

»Sie fahren«, sagte er. »Bevor Ihr Freund Monsterschädel zurückkommt.«

»Nett. Monsterschädel. Danke, dass Sie meinem Albtraum einen Namen gegeben haben.« Marco steckte die Karte von Hemet in seine Gesäßtasche. »Alles klar. Packen wir’s an.«

Auf geht’s. Vergiss die Reiter.

Dem eigentlichen Albtraum entgegen. Der Friedhof in Hemet.

Eine Stippvisite.

Er hatte plötzlich das Gefühl, seine Brust würde eingeschnürt.

Vielleicht kommst du ja auch zu Besuch, Delle?

9.3

Die Route 111, die nach Norden aus Salton herausführte, war trostlos und deprimierend: eine zweispurige Straße, von noch öderen Nebenstraßen gekreuzt, die in der wie ausgestorben daliegenden Wüste verschwanden. Marco fuhr mit einer Geschwindigkeit, bei der das Motorengeräusch des Quads noch einigermaßen gedämpft war. Er hielt sich ganz rechts auf der Fahrbahnbankette und wäre sofort abgebogen, falls wieder ein Reiter-Konvoi vor ihnen auftauchte. Es war eine anstrengende Fahrt. Sein Kiefer schmerzte, und er war so erschöpft, dass er sich unwillkürlich gegen Wu lehnte. Die beiden Männer saßen Rücken an Rücken: Marco war der Fahrer und Wu der Beobachter – für den Fall, dass die Reiter umgekehrt waren, nachdem sie ihren toten Kameraden beim Zug entdeckt hatten.

Oder das, was von dem Mann noch übrig war – was nicht mehr viel gewesen sein dürfte.

Marco konzentrierte sich aufs Fahren und ignorierte nach besten Kräften die sporadischen Leichen, die verkrümmt auf den gelben Fahrbahnmarkierungen des Highways lagen. Klumpen aus vertrockneter Haut und ausgebleichten, von Geiern angenagten Knochen. Wie überfahrene Tiere, dachte er deprimiert.

In den Außenbezirken der Stadt wurde er dann langsamer und steuerte vorsichtig durch ein Chaos aus kollidierten Fahrzeugen – acht oder zehn –, deren verrostete Türen offen standen. Sie waren überstürzt verlassen worden. Als das Quad an einem roten Ford-Pick-up vorbeirollte, sprang plötzlich eine Leiche mit aufgeblähtem Bauch und einem Cowboyhut auf der Ladefläche auf. Die Wangen waren mit pulsierenden Blasen übersät – Fliegen hatten Eier unter der Gesichtshaut gelegt, aus denen dann Maden geschlüpft waren. Die Leiche schwankte und streckte die Arme aus, als ob man ihr die Hand reichen sollte, damit sie vom Fahrzeug heruntersteigen konnte. Ja, das hättest du wohl gern. Marco betätigte den Gasgriff und raste über die Kreuzung. Die Leiche grunzte und setzte sich wieder auf die Ladefläche.

Nach acht Kilometern erschien ein blaues Hinweisschild für die Interstate 10, doch Marco bog nach links ab. Der Plan sah vor, dass sie vorerst noch auf der 111 blieben. Auf der Interstate würden sie irgendwann auffallen und nur ein unnötiges Risiko eingehen. Monsterschädel – der Name war förmlich in Marcos Kopf gemeißelt – und die Reiter würden auf den Highways patrouillieren. Und es würde dort noch mehr Geisterstaus geben, hatte er Wu erklärt. Und haufenweise Leichen.

Wu war einverstanden gewesen und hatte nicht einmal einen Blick auf die Karten werfen wollen, sondern nur kräftig genickt. »Gut. Fahren wir los.«

Und obwohl Marco sich das nur höchst ungern eingestand, fühlte er sich bestätigt – als ob er irgendwie auf Wus Zustimmung angewiesen wäre. Toll, sagte er sich schaudernd. Der eiskalte Killer mag mich.

Marco holte tief Luft. Bei dieser Geschwindigkeit würden sie Hemet in etwa zwei Stunden erreichen. Ein Teil von ihm wünschte sich, es würde noch vier dauern. Oder acht. Oder hätte es nicht noch bis morgen Zeit?

Beim Hineinfahren nach Palm Desert raste plötzlich sein Puls. Diese Stadt hatte mehr Einwohner gehabt als die Orte, durch die sie bisher gekommen waren. Die Straße führte durch ein Viertel mit dichter Bebauung aus Ziegelsteingebäuden, eine Einkaufsmeile mit Geschäften aller Art, die nun verlassen dalag, geradezu verwunschen wirkte und die Straße wie eine bedrohliche Front säumte. Gott allein mochte wissen, wie viele Leichen hinter dunklen Glastüren und Ladentheken lauerten und nur auf eine Gelegenheit warteten. Doch die Stadt schien ruhig. Der nächste Straßenzug bildete eine unheimliche, düstere Kulisse aus rußgeschwärzten Grundmauern und verkohltem Holz – das Stadtgebiet war auf einer Fläche von über einem Hektar verwüstet. Ein gewaltiger Feuersturm musste hier getobt haben. Es schwebten noch immer Ruß- und Aschepartikel in der Luft, die wie winzige Nadeln in Marcos Nase stachen. Langsam fuhr er mit dem Quad an einer ausgebrannten Postfiliale vorbei. Rußverschmierte Paketfahrzeuge dekorierten den Parkplatz.

Falls es hier irgendwo Leichen gab, sah Marco sie jedenfalls nicht.

Das machte ihn immer nervös – wenn man sie nicht sah, waren sie am gefährlichsten.

Vielleicht empfand Wu das Gleiche. »Geben Sie Gas«, rief er und hielt sich am Quad fest. »Wir sind jetzt weit genug von der Hauptstraße entfernt – auf das Motorengeräusch kommt es nicht mehr an.«

»Die Reiter werden es vielleicht nicht hören«, erwiderte Marco, »aber ich würde nur ungern jede Leiche im Umkreis von fünf Kilometer aufwecken. Wenn sie uns kommen hören, werden sie eine Straßensperre für uns errichten.«

Trotzdem gab er Gas, und als das Quad losschoss, entspannte er sich sogar etwas. Eine kühle Brise fächelte ihm über die Stirn und trocknete den Schweiß, der ihm vor lauter Nervosität ausgebrochen war. Vor ihnen erhob sich ein hellbrauner Gebirgszug. Er bog wieder links ab und richtete den Blick nach oben.

Sein Herzschlag stockte.

Die Rasenflächen und Hecken der geschlossenen Wohnanlagen, die früher akkurat gepflegt wurden, waren nun völlig verwahrlost – das Gras war zu Stroh geworden, und die Hecken waren zu formlosen, vertrockneten Haufen gewuchert. Die Straßen waren mit Leichen übersät. Ein Hispano stand mit einer Heckenschere im Nacken unter einer Palme. Ein verwahrloster Teenager mit einem schwarzen Oakland-Riders-Trikot saß im Schneidersitz an einer Mauer, und ein barfüßiger Mann mit freiem Oberkörper und einer blutigen Anzughose ging den Gehweg entlang. Marco fuhr ohne Schwierigkeiten an ihnen vorbei und sah dann vor sich eine weitere Leiche.

Widerlich.

Auf dem Gehweg lag eine fette, nackte Frau in einer obszönen Pose auf dem Bauch, ohne dem Quad Aufmerksamkeit zu schenken. Die Augen waren auf den Boden direkt unter ihrer gebrochenen Nase gerichtet. Die Leiche holte schwarze Ameisen aus einem Spalt im Beton, stopfte sie sich ins Maul und knabberte sie wie Popcorn – und zugleich marschierten Ameisen in Kolonnen über den wabbelnden nackten Arsch und zwickten mit ihren Beißwerkzeugen winzige Stückchen davon ab, um ihre Kolonie mit Nahrung zu versorgen.

Die tote Frau schien das nicht zu kümmern. Es war ein faires Geschäft. Nahrung gegen Nahrung. Sie würden diesen Tauschhandel so lange betreiben, bis eine Seite nichts mehr besaß.

Marco schauderte und gab noch einmal Gas, bevor die Leichen ihnen gefährlich nahe kommen konnten. Das Quad verließ schnell dieses Viertel.

»Was macht die Schulter?«, rief er Wu zu.

»Alles klar«, erwiderte Wu so schnell, dass Marco wusste, er musste höllische Schmerzen haben. »Alles klar« bedeutete: »Ich will nicht darüber nachdenken, also halten Sie bitte die Klappe.«

Die Straße zog sich immer höher in die Berge hinauf, bis sie die Zivilisation schließlich hinter sich ließen; Marco hätte beinahe gelacht, als ihm bewusst wurde, dass dieser Begriff praktisch obsolet war. Das Quad schraubte sich immer höher und verbrannte wertvollen Kraftstoff. Ein braunes Straßenschild auf zwei Pfosten sagte ihnen aber, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

State Route 74

Landschaftlich schöne Nebenstrecke

»Von den Kiefern zu den Palmen«

Langsamer Verkehr

Umkehrschleife benutzen.

Umkehrschleife, dachte Marco verdrießlich. Wenn man die Verhältnisse auch so ohne Weiteres umkehren könnte.

Er hatte diese Straße schon befahren, aber noch nie den östlichen Teil; er war aus der Gegenrichtung gekommen, wenn er mit Danielle von L.A. zum Lake Hemet hinausgefahren war. Auf der Karte sah die Straße enggewunden aus wie eine wilde Achterbahnfahrt durch die San Jacinto Mountains. Und als er sie nun entlangfuhr, bewahrheitete sich dieser Eindruck. Das Quad schlingerte in einer eintönigen Landschaft aus Geröll und verdorrtem Gestrüpp durch die Kurven. Links fielen Felswände senkrecht ab. Wu klammerte sich am Gepäcknetz fest; er musste aufpassen, dass er nicht hinunterfiel. Die Achterbahnfahrt verlief weiter bergauf. Die Landschaft wurde zusehends bewaldet. Sie bot grandiose Ausblicke, und Marco war froh, dass dieser majestätische Anblick ihn von den Schrecken in der Ebene ablenkte. Dort unten gab es nur Tod und Leichen und Schmerz, doch in dieser Höhe war die Luft kristallklar und frisch, und die Bäume wuchsen unbeschwert vom Zustand der von Menschen gemachten Welt in den Himmel. Zuckerpinien ragten bis zu sechzig Meter hoch auf, wie die Stacheln eines riesigen Stachelschweins, und Ponderosas verzierten mit ihrer orangefarbenen Rinde, die im Sonnenlicht leuchtete, den Horizont. Die San Bernardino Mountains begrüßten ihn auf der anderen Seite des Tals. Kleine braune Flecken huschten über das Gestein: Bergziegen, die sich einen Weg über die Felsvorsprünge bahnten. Dort oben waren sie vor lebendigen Menschen und Leichen gleichermaßen sicher.

Und dann wurde Marco sich bewusst, dass sie den höchsten Punkt der Strecke überwunden hatten. Das Quad neigte sich nach vorn, die Schwerkraft zog ihn zur Lenkstange hin, und Wus Rücken berührte seinen. Die Straße führte wieder bergab. Er trat auf die Bremse, und sein Hochgefühl verflog.

Es ging abwärts. Er spürte förmlich, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, wie die Achterbahn den Scheitelpunkt überwand und ihn tiefer in seine Gedanken versenkte, als er es wollte. Die Straße führte am Abzweig zum Lake Hemet vorbei. Er und Danielle hatten in dem Jahr, in dem sie sich kennengelernt hatten, dort einmal ein Picknick gemacht – über hundertfünfzig Kilometer von Los Angeles entfernt. Er erinnerte sich noch daran, wie sie an jenem Tag ausgesehen hatte – nachdem sie eine Stunde geschwommen war, klebte ihr das nasse kastanienbraune Haar hinter den Ohren am Kopf, und in der Hand hielt sie diesen albernen Strohhut, mit dem sie Bienen von ihrem Salat verscheuchte. In dem türkisfarbenen Badeanzug hatte sie einen fantastischen Anblick geboten, und er erinnerte sich, dass er aufgeregt an einem alten hölzernen, mit Vogelkot bedeckten Picknicktisch gesessen und insgeheim gehofft hatte, dass die anderen Gäste zu ihnen hinüberschauten und sie erkannten.

Hey, seht mal alle her. Das ist Danielle Pierce, die Schauspielerin. Sitzt hier bei dem langweiligen und unbeliebten Henry Marco! Dem Typen, den in der Schule niemand leiden konnte!

Danielle hatte ihn immer dazu inspiriert – dass er sich wie ein Schuljunge diesen blöden Tagträumen hingab. Blöd, doch zugleich auch stimulierend. Das musste wohl an dem Feenstaub liegen, mit dem er an dem Tag bestäubt worden war, als sie sich bei Tech Town kennenlernten; das verdammte Zeug ging einfach nicht mehr ab.

Und er hatte es geliebt.

Er umklammerte die Griffe der Lenkstange, als das Quad am See vorbeifuhr. Es wäre fast einen Abstecher wert, um einmal nachzuschauen … ob sie noch immer dort war und noch immer Bienen verscheuchte. Aber er wusste, dass Wu nicht mitspielen würde – denn sie machten doch schon einen Abstecher, und er hatte Wu noch nicht einmal von seinem Plan erzählt, in Hemet haltzumachen –, und überhaupt verspürte er nun einen viel stärkeren Drang, der ihn dazu bewog, weiterzufahren. Hemet. Der Friedhof. Sie ist dort.

Sein Magen verkrampfte sich. Durch den Fahrtwind, der ihm ins Gesicht blies, tränten die Augen sowieso schon, und nun spürte er, wie zwei Tropfen auf die Nasenwurzel fielen.

Emotionale Geografie, richtig? Mit diesen Worten hatte er Osbourne die Erinnerungsverknüpfung beschrieben. Die Art und Weise, wie das Gehirn die intensivsten Erlebnisse markierte – als ob man Orte auf einer Landkarte mit Fähnchen kennzeichnete, um sie jederzeit wiederzufinden. Schön ordentlich, und das Gehirn glaubt, dass es einem einen Gefallen damit tut. Doch eine Sache übersieht es dabei.

Manchmal entführen die Emotionen einen zu – zu schönen Orten. Zum Lake Hemet.

Und manchmal führen sie einen zu Orten, die mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden sind.

Zu Orten, die man eigentlich nie wieder aufsuchen wollte.

Der Friedhof. Sie ist dort. Ich kann es spüren.

Die Fahrt war zu Ende. Die Route 47 führte in die Ebene hinab und aus dem dichten Wald hinaus, und bis Hemet waren es nur noch gut anderthalb Kilometer. Sein Herz verkrampfte sich, und er schluckte einen Brocken des Mageninhalts hinunter, der ihm hochgekommen war. Genau das passiert nämlich am Ende der Achterbahnfahrt, sagte er sich. Man versucht, den Brechreiz zu unterdrücken.

Er dachte an die Glock, die im Holster unter seinem Arm steckte. Es befand sich noch eine Kugel im Magazin. Das genügte aber auch.

Danielle brauchte nur eine.

9.4

Das Quad beschrieb erst eine abrupte Linkskurve, dann eine Rechtskurve, sodass Wu wie ein Lämmerschwanz zitterte.

Er krallte sich mit aller Kraft am Gepäcknetz des »Ebers« fest. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, und er verzog das Gesicht. Bei jedem Schlagloch und bei jedem Stein oder herumliegenden Ast, der unter die Räder geriet, wurde er brutal durchgeschüttelt. Die Schusswunde in der linken Schulter schmerzte höllisch, als ob die Kugel ein Entlüftungsventil in den Körper gerissen hätte. Vor seinem geistigen Auge sah er heißes Gas ausströmen. Jeden Moment müsste er wie ein Teekessel pfeifen.

Sein Kopf hing wie ein totes Gewicht zwischen den Schultern, und er fühlte sich alt. Träge und steif. Dabei war er erst achtunddreißig. In seinem Leben hatte er schon zwei Schussverletzungen erlitten, er war ausgepeitscht worden, und in Nordkorea hatte man ihm mit einem Bajonett den Oberschenkel durchstoßen. Man hatte ihn gefoltert, ihm Brandwunden zugefügt und Sandkörner unter die Augenlider geschoben. Man hatte ihm den Daumen umgebogen und gebrochen. Und doch, dachte er, hatte er sich noch nie so zerschlagen gefühlt wie jetzt. Schlaf, sagte er sich. Schlaf war das Problem.

Er hatte seit sechzig Stunden nicht mehr geschlafen. Vielleicht würde er auch die nächsten sechzig Stunden ohne Schlaf auskommen müssen. Er hatte noch eine gewaltige Aufgabe vor sich: Er musste die Ballard-Leiche finden und erledigen. Dann musste er eine DNA-Probe nehmen, bevor er die Leiche zu Asche verbrannte – sodass sie für jede andere Nation unbrauchbar wurde, die vielleicht auch auf der Suche nach ihr war. Dann musste er die wertvolle DNA nach Süden bringen, nach Mexiko, und zwar über dieselbe ungesicherte Grenze, die auch von den Reitern überschritten wurde. In der menschenleeren Wüste außerhalb von Tijuana sollte er dann von einem MSS-Bergungsteam aufgesammelt werden.

Der Gedanke an all das, was noch vor ihm lag, erschöpfte ihn noch mehr. Sein Smartphone war weg, durch die Explosion des Zuges vernichtet worden, deshalb hatte er keine Möglichkeit mehr, sich mit dem Team in Verbindung zu setzen. Er würde sich eine andere Lösung einfallen lassen müssen. Doch vor allen Dingen musste er bei Kräften bleiben. Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie sein Körper sich von selbst heilte und die Wunde sich schloss. Konzentration. Grelle Lichtpunkte tanzten im Rhythmus des schaukelnden Quads in der Dunkelheit. Er ließ die Gedanken schweifen und stellte sich vor, dass er lose Fadenstränge zwischen den Fingern hielt; er zog sie stramm und verdrillte sie.

»Was macht Ihre Schulter?«, fragte der Amerikaner und durchbrach die Trance.

»Alles klar«, rief Wu verärgert. Er war ein Meister im Unterdrücken von Schmerzen – und wenn es ihm einmal nicht gelang, sie zu unterdrücken, dann vermochte er sie zumindest zu kaschieren. Henry Marco hatte kein Recht, ihn so etwas zu fragen. Kheng Wu hat alles unter Kontrolle.

Seine Hände kribbelten, und er wurde sich bewusst, dass sein Blut sich staute, weil er die metallenen Griffstangen so fest umklammerte. Er lockerte den Griff.

Er sog die kühle Luft ein, als die Straße sich in die Berge hinaufzog. Zum zehnten Mal ließ er die Szene vor dem Zug vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Wie er gegen den bärtigen Soldaten gekämpft hatte und dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen war – Marco hatte ihn in letzter Sekunde gerettet, indem er den Reiter mit dem Quad gerammt hatte. Der Amerikaner hatte einen wachen Geist, wie Wu zugeben musste.

Er war entschlussfreudig. Und kaltblütig, wenn es darauf ankam.

Er verzog das Gesicht. Je öfter er an diesen Morgen dachte, desto wärmer wurde ihm ums Herz. Aber es war ein unwillkommenes Gefühl, amorph und fremdartig wie ein Tumor. Es war … Anerkennung, wurde er sich bewusst und war sofort wütend auf sich selbst. Ja. Das war es, eine diffuse Dankbarkeit gegenüber dem Amerikaner, der ihm das Leben gerettet hatte. Er wünschte, er könnte sich in den Schädel greifen und dieses Gefühl herausreißen.

Doch er konnte sich der Wahrheit nicht verschließen. Der Amerikaner hatte ihn gerettet. Und ohne seine Hilfe wäre Wu nun tot, und China würde vielleicht auch in einer Welt der Auferstehung verrotten.

Wu stieß die Luft aus und machte sich klar, worum es eigentlich ging. Hier in dieser Ödnis verfolgten er und Marco ein gemeinsames Ziel: Überleben. Und wenn Überleben bedeutete, gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzustehen, dann war das eben so. Das MSS ist auch nicht im Besitz des Steins der Weisen, dachte er. In den fernen, sicheren Büros in Peking war es wohlfeil, nationalistisches Credo und Ideologie zu predigen. Doch hier draußen, unter diesen extremen Umständen, sollten solche Vorbehalte vielleicht ruhen. Natürlich nur vorläufig …

Das Kinn fiel ihm auf die Brust. Schlafen, sagte er sich wieder. Er musste sich ausruhen und erholen. Er musste wieder genesen. Die kommenden Stunden würden ihm alles abverlangen.

Die Berge ragten wie eine Wiege um ihn herum auf. Und schließlich spürte er, wie er emporschwebte, den Körper und die Schmerzen unter sich zurückließ. Er stieg auf wie ein luftig-leichter Drachen. Hoch empor und immer höher.

Doch losgelöst von seinem Körper, bar jeder Kraft … war er verwundbar.

Er erinnerte sich an den Ausspruch des Amerikaners: Ich habe noch nie jemanden getötet.

Beim ersten Mal fällt es noch schwer, antwortete Wu im Traum. Die Empathie in seiner Stimme erstaunte ihn. Doch dieser Wu war nicht achtunddreißig. Dieser Wu war neunzehn, noch mit dem ungestümen Elan der Jugend.

Wer war Ihr erstes Opfer?, fragte der Amerikaner.

Ein Mann namens Tenzin Dawa. Ein Mönch in Tibet. Ich habe ihm für mein Heimatland die Kehle durchgeschnitten.

Verstehe, sagte der Amerikaner.

Ja. Dawa war ein Gegner der Eisenbahn, erklärte der junge Wu. Die Qinghai-Tibet-Eisenbahn. Als vor zwanzig Jahren dieses edle Unterfangen geplant wurde, den Westen Chinas zu erschließen. In seiner regen Fantasie sah Wu kühne Metallkonstruktionen, die sich zwischen den Bergen spannten. Man hatte sie errichtet, um in den noch unerschlossenen Regionen Industrie anzusiedeln und ihnen Wohlstand zu bringen – auch dem Dorf seiner Kindheit –, und doch hatten Tibeter wie der heilige Mann Dawa dagegen protestiert. Die Schienen seien eiserne Fesseln, klagten sie, ein Instrument der politischen Kontrolle, um Tibet mit unwillkommenen chinesischen Einwanderern zu überfluten. Dawa hatte eine Protestbewegung organisiert, die mit der Zeit zu groß und lästig wurde, und das MSS hatte befunden, dass eine verdeckte Operation erforderlich sei.

Also haben Sie ihn getötet, stellte die Stimme des Amerikaners fest. Den Mönch.

Ja.

Und bereuen Sie es?

Ich … ich hatte meine Befehle. Ich bin nicht derjenige, der etwas bereuen muss.

Doch als Sie dann allein in Ihrem Hotel waren – haben Sie geweint?

Ja. Ja, ich habe geweint.

Wu setzte sich ruckartig auf. Er verspürte einen stechenden Schmerz, und er erduldete ihn. Er lachte spöttisch und leckte sich die Lippen, als wollte er einen schlechten Geschmack vertreiben. Die Nebel des Traums lichteten sich, verzogen sich wie die schwarzen Abgase des Quads.

Das war lange her. Eine Erinnerung, die er lange unterdrückt hatte.

Machen Sie nur keinen Fehler, Doktor Marco, dachte er. Er war wieder hellwach und erzürnt.

Töten ist ganz einfach.

Das werde ich Ihnen noch zeigen.

9.5

Auf den ersten anderthalb Kilometern, die sie durch Hemet fuhren, erkannte Marco nichts wieder. Er wusste aber, dass diese gnädige Ahnungslosigkeit nicht lange anhalten würde. Es war, als würde man sich in die Hand schneiden: Es dauerte eine Weile, bis man das Blut fließen sah. Alles wirkte geradezu penetrant vertraut – ein Einkaufszentrum, ein italienisches Restaurant namens Bella, eine Drogerie, eine Fahrschule, ein Toyota-Händler und sogar so profane Details wie Ampeln und Hydranten. Er hatte das Gefühl, dass sein Gedächtnis sich mit der Schulter gegen eine geschlossene Tür im Bewusstsein stemmte, um etwas zurückzuhalten. Er konzentrierte sich auf die Straße; die doppelte gelbe Linie zwischen den Fahrspuren hatte eine beruhigende Wirkung. Er konnte sich darauf fixieren, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.

Bis der Versuch, die Erinnerungen zu verdrängen, schließlich scheiterte und er von ihnen überwältigt wurde. Es gab hier zu viele Phantome, vor allem in der Innenstadt, die ihre geisterhaften Arme um ihn schlangen. Er zuckte bei der Erinnerung zusammen. Die Eisdiele, die er und Danielle in einer schwülen Julinacht besucht hatten. Das schäbige Kino, wo sie sich eine zweite Uraufführung ihres ersten Films, Next to Nothing, angesehen hatten. Yale Street – ein paar Kilometer südlich in dieser Straße hatte ihr Vater gewohnt. Die Straßen und Gebäude machten einen tristen und desolaten Eindruck, waren mit Abfall und Schmutz übersät. Schaufenster waren eingeschlagen.

Plötzlich stach ihm eine seltsame Gestalt ins Auge. »Was zum Teufel ist das?«, fragte er grunzend.

Auf dem Gehweg vor einem Waschsalon war eine Leiche ohne Arme. Sie lag auf dem Rücken in einem eingedickten Morast aus schwarzem Blut und sonstigen Körperflüssigkeiten. Sie sah tot aus – mausetot. Sie regte sich nicht. Man hatte ihr den Bauch aufgerissen, sie ausgeweidet und die Organe entnommen. Die glitschigen Rippen ragten aus dem Torso, und es fehlte auch ein großes Stück des Halses. Der Hirnstamm war durchtrennt worden. Die Wundränder waren zerfetzt. Bisswunden. Sie waren noch frisch. Ganz frisch.

»Interessant«, bemerkte Wu. Marco fuhr herum. Er hatte fast vergessen, dass er den Sergeant als Mitfahrer hatte; in der letzten Stunde hatte er kein einziges Wort gesagt. Doch nun war Wu wieder wach und präsent. »Ich wusste gar nicht, dass sie sich auch gegenseitig auffressen.«

»Das tun sie auch nicht. Nicht dass ich wüsste. Das muss wieder so ein Trick sein.«

Die Leiche starrte mit toten Augen in den Himmel. Von ihr war keine Antwort zu erwarten.

»Fahren wir«, sagte Marco, den ein mulmiges Gefühl beschlichen hatte. Er beschleunigte und fuhr in westlicher Richtung davon.

Einen Straßenzug weiter hörte er irgendwo eine andere Leiche heulen, und ihm sträubten sich die Nackenhaare. Er warf einen Blick zum Himmel; es war für kalifornische Verhältnisse ein ungewöhnlich grauer und bewölkter Tag, ohne den üblichen hellen Sonnenschein. Gott sei Dank waren aber keine Geier zu sehen.

Die gelbe Linie brach an der Kreuzung zur San-Jacinto-Avenue ab. An der Ecke war ein Lieferwagen mit dem Logo eines Blumenladens gegen die Ampel geprallt.

Marco hielt den Atem an und bog rechts ab.

»Doktor! Sie sind vom Weg abgekommen.« Wus körperlose Stimme hinter ihm war wie ein Ordnungsruf des Gewissens, der ihm in den Ohren dröhnte. Vom rechten Weg ab! Vom rechten Weg ab!

Er ignorierte Wu. Im nächsten Moment verspürte er einen eisenharten Griff um den Ellbogen.

»Die Route 74 führt geradeaus weiter«, sagte Wu knurrend.

»Ich weiß. Ich muss aber mal anhalten.«

»Da ist eine Tankstelle …«

»Ja, das auch. Aber ich muss vorher noch etwas überprüfen. Etwas anderes.«

Bis zur Hälfte des nächsten Straßenzuges hielt Wu still, obwohl seine Missbilligung das Kreischen des Quad-Motors zu übertönen schien.

»Wohin fahren wir, Doktor?«, fragte Wu schließlich in angespanntem Ton. Marco hörte die unausgesprochene Drohung aus der Frage heraus. Sie sollten mir lieber eine zufriedenstellende Antwort geben.

Fick dich, erwiderte Marco stumm. Er hatte genug von Wus Schwachsinn. Ich habe meine eigenen Probleme, und Roger Ballards toter, kalter Körper kann noch warten. Wu und Osbourne konnten auch noch warten. Meine Güte, sie schuldeten ihm diesen Abstecher …

Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz im Nacken, als wäre er mit einer Rasierklinge geschnitten worden.

Es war aber eine Messerklinge.

Wu hatte das Messer zwischen Marcos erstem und zweitem Halswirbel angesetzt, direkt unter dem Kopf. Wenn er nur noch etwas fester zudrückte, würde die Haut aufgeschlitzt. Und tschüss, Rückenmark.

Wu, du Hurensohn, dachte Marco wütend. Du bluffst doch nur.

»Wu …«, sagte er warnend.

»Ich frage Sie noch einmal, Doktor. Wohin …«

»Wir sind schon da«, sagte Marco und bremste das Quad ab.

Die grüne Rasenfläche des San Jacinto Valley-Friedhofs breitete sich im Norden aus, so weit das Auge der Männer reichte. Das Gras war zwar in die Höhe geschossen, aber noch grün – wie eine wilde Wiese, die von städtischen Straßen, Gehwegen und einer roten Ziegelsteinmauer, die sich um das gesamte Gelände herumzog, eingerahmt wurde. Aus der üppigen Vegetation ragten Grabtürmchen und Kreuze hervor, die Granitgrabsteine krönten. Eine breite, mit Pflastersteinen belegte Zufahrt öffnete sich einladend vor ihnen; Palmen säumten den Weg zu beiden Seiten wie riesige Sargträger, die darauf warteten, den nächsten Sarg zu seiner letzten Ruhestätte zu geleiten.

Marco spürte, dass das Messer von seinem Nacken zurückgezogen wurde. Er drehte sich zu Wu um. Der Sergeant sah mit schräg gelegtem Kopf, womit er Argwohn und Neugier zugleich zum Ausdruck brachte, zum Friedhof. Hinter der Mauer flatterte ein blauer Schmetterling über den hohen Grashalmen.

Schließlich runzelte Wu die Stirn und musterte Marco mit einem durchdringenden Blick, mit dem er ihn zum Geständnis eines jeden Täuschungsmanövers hätte bewegen können. »Sie haben hier jemanden liegen«, sagte er. Das war eine Feststellung, nicht etwa eine Frage.

»Ja«, antwortete Marco nur. Was hätte er auch sonst sagen sollen? Er fragte sich, ob Wu über Danielle Bescheid wusste, und falls ja, ob Wu ihn jetzt für verrückt hielt. Er wartete.

Wu atmete ein und wieder aus. Sein Atem ging schwer – wahrscheinlich war die Nase mit geronnenem Blut verstopft. »Und danach«, sagte er zur Klärung, »weiter nach Sarsgard. Ohne Zwischenstopps.«

»Ja.«

Wu verarbeitete die Information. »Einverstanden«, sagte er schließlich und tippte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Eine Viertelstunde. Dann geht’s weiter.«

»In Ordnung«, sagte Marco und nickte. »Danke«, fügte er nach einer kurzen Pause noch hinzu.

Wu verengte die Augen.

»Fahren Sie schon los«, sagte er.

Erleichtert fuhr Marco mit dem Quad durchs Friedhofstor. Der Weg, der sich vor ihnen erstreckte, verlief zwischen Bäumen hindurch und führte an reich verzierten Grabmalen mit griechischen Säulen und versiegelten Türen vorbei. Er wusste, wohin die Straße sie bringen würde. Einen sanften Hügel hinauf, am Friedhofsbüro und einer kleinen, beschaulichen Kapelle mit einem Turm vorbei, der von einem goldenen Kreuz verziert wurde. Er fuhr langsam und ließ den Blick nach rechts und links schweifen; er hatte plötzlich das Gefühl, vom Haupttor abgeschnitten zu sein. In der Tiefe des Friedhofs wurde man der umliegenden Stadt beinahe entrückt. Es gab nichts außer Trauerweiden, wucherndem Gras und Engelsskulpturen auf Grabsteinen, die ihn mit ausdruckslosen weißen Augen ansahen, als er vorbeifuhr. Die Äste der Bäume schienen überall mit Seide behangen zu sein; Raupen hatten ihre weißen Kokons in den Bäumen gesponnen, sodass der Hain trotz der Hitze fast winterlich anmutete.

Nachdem die Straße einen Halbkreis beschrieben hatte und in Gegenrichtung zurückführte, stoppte Marco das Quad. Zur Rechten verlief ein mit Steinplatten ausgelegter Pfad und verschwand im Gestrüpp. Die steinerne Treppe erstreckte sich ein paar Meter in die Tiefe und wurde dann von wild wucherndem Gras und Efeuranken verschluckt.

»Hier«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Wu.

Er stellte den Motor ab. Seine Ohren dröhnten in der plötzlichen Stille. Der Geruch von Benzin und Öl wurde ihm von einer leichten Brise in die Nase geweht, und er hörte, dass Wu sich auf dem Sitz hinter ihm bewegte. Er betrachtete den Pfad, der in der Vegetation verschwand. Nichts regte sich.

Doch – dort, bei dem rosafarbenen Marmorobelisken, schlug das hohe Gras Wellen, als würde es von irgendetwas aufgewühlt, das sich im Schutz des Grases auf Bodenhöhe hindurchbewegte.

Ein Hinterhalt, sagte er sich und zog die Glock.

Ein paar Sekunden lang sondierte er das Terrain. Die Grashalme beruhigten sich wieder.

Nein, da lag keine Leiche im Hinterhalt. Es war nur der Wind gewesen.

»Die Zeit läuft, Doktor«, sagte Wu. Er zuckte zusammen, grunzte und rutschte vom Quad herunter. Dann krümmte er sich. Seine geschundenen Muskeln hatten sich während der Fahrt verspannt, vermutete Marco, und nun brach auch die verschorfte Schusswunde wieder auf, als er sich streckte.

Mit bebenden Nasenflügeln steckte Wu sein Messer in die Scheide. »Sie gehen voran«, sagte er.

»Einen Moment.« Marco war plötzlich kurzatmig, als hätte er sich sehr angestrengt. Er nahm die AK-47 von der Waffenhalterung und durchwühlte den Rucksack des Reiters. Er holte drei volle Stangenmagazine heraus und steckte sie sich in die Gesäßtasche. »Ich weiß, dass das ein Friedhof ist, aber ein paar dieser toten Kameraden gehören vielleicht zu der oberirdisch wandelnden‹ Sorte.«

Mit Wu im Schlepptau ging Marco den Pfad entlang. Das weiche, dichte Gras reichte ihm bis zur Hüfte und federte unter den Stiefeln. Er sah keinerlei Anzeichen von Leichen – weder zertrampelte Grashalme noch abgerissene Ranken, die darauf hingedeutet hätten, dass vor ihm schon jemand hier entlanggegangen war. Es gab jede Menge Spinnweben, die sich wie Schranken über den Pfad spannten. Er zerriss sie resolut und dachte, dass das nichts bedeuten musste – dass Danielle natürlich noch immer dort vorne sein konnte.

Oder etwa nicht? Doch, sagte er sich, vielleicht war sie vor ein paar Monaten dort hineingegangen und dann nicht wieder herausgekommen und ihre Spuren waren vom Gras überwuchert und die Spinnen hatten den Weg überspannt.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals und drohte schier zu zerspringen. Er hatte die Vorstellung von einem riesigen roten, hämmernden Muskel, der so stark angeschwollen war, dass er ihm die Rippen zu brechen drohte …

In Abständen von vier bis fünf Metern ragten verwitterte Grabsteine aus dem Gras. Marco hatte San Jacinto immer gemocht, weil es eben kein Friedhof mit dem Charme eines Lagerhauses war, bei dem die Grabstellen dicht aneinandergequetscht waren. Hier hatte man die Gräber weitläufig verteilt und ihnen sogar noch ein großzügiges Rasenstück zugestanden. Das verlieh dem Friedhof eine persönliche und pietätvolle Anmutung. Wenn man ihn besuchte, konnte man tatsächlich glauben, dass die Toten in Frieden ruhten.

Er rieb sich die Augen und schluckte.

Er war fast da. Die Kalaschnikow zitterte schon in seinen Händen, bevor er sich dessen überhaupt bewusst wurde. Er hasste das – und wie er das haste …

Bitte, Delle. Bitte sei einfach hier.

Der Pfad verlief in einer Kurve um einen knorrigen Eichenbaum – er hatte einmal mit Danielle unter diesem Baum gesessen, sie an seine Brust gedrückt, während ihre Tränen sein Hemd benetzt hatten …

… und etwa fünfzehn Meter vor ihm standen zwei Grabsteine direkt nebeneinander.

Nur die Grabsteine.

Danielle war nicht da.

Er stieß heftig die Luft aus und gab ein gequältes Stöhnen von sich. Sein Gesicht schien Feuer zu fangen und zugleich von Tränen überströmt zu werden.

Gottverdammt. Gottverdammt, gottverdammt, gottverdammt.

Es gelang ihm immerhin, weiterzugehen und seine Seelenqualen vor Wu zu verbergen, der ihm auf dem Pfad folgte. Er konzentrierte sich darauf zu atmen … langsam die kühle Luft in die Lunge zu saugen …

Das ist in Ordnung. Es ist schließlich schon lange her.

Du wirst weiter nach ihr suchen, und du wirst sie irgendwann auch finden. Es werden sich noch viele Chancen ergeben.

Als er die Grabsteine erreichte, hatte er sich wieder gefangen – jedenfalls fast. Und dann flatterte wieder sein Herz, und er wurde in einen noch heftigeren Strudel gerissen, in eine noch schwärzere Tiefe. Er geriet in Panik.

Er hatte geglaubt, dem gewachsen zu sein. War er aber nicht.

Er ging am linken Grabstein vorbei. Amanda Pierce. Danielles Mutter.

Dann trat er noch einen Schritt vor und blieb direkt vor dem zweiten Stein stehen.

Er war kleiner und neuer. Eine steinerne Taube saß mit gespreizten Schwingen auf dem Grabstein, als wollte sie jeden Moment davonfliegen.

Der Raum schien sich um Marco auszudehnen, bis er schließlich den Eindruck hatte, der Grabstein zu seinen Füßen wäre kilometerweit von seinem hämmernden Kopf entfernt.

Und ganz weit unten, in schwarzen Buchstaben eingraviert, stand auf dem Stein:

Hannah Isabelle Marco.

7. Dezember 2012 – 9. Dezember 2012

Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Der Magen stülpte sich um.

Er schloss die Augen. Die Dunkelheit war zeitlos. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen miteinander, und plötzlich war Danielle neben ihm in dieser Leere. Lebendig – so wie er sie von diesem letzten Morgen im Juni in Erinnerung hatte, als sie sich auf der Fahrt von Kalifornien nach Arizona von ihrer Tochter verabschiedet hatten.

Das Jahr, nachdem sie Hannah beerdigt hatten.

Das können wir nicht machen, Henry. Wir können sie doch nicht hierlassen. So ganz allein.

Baby … wir lassen sie nicht allein. Deine Mutter, deine Mutter wohnt doch auch hier.

Das ist aber kein Ersatz für uns. Ist kein Ersatz für mich

Delle. Baby, wir müssen gehen … Ich verspreche dir, dass sie nicht allein ist.

Sie braucht mich hier.

Sie möchte, dass du glücklich bist.

Ich werde nie mehr glücklich sein.

Er schlug die Augen wieder auf. Sie waren rot und glasig. Er schniefte und putzte sich die Nase; es war ihm egal, dass Wu inzwischen neben ihm stand. Scheiß drauf. Warum soll ich ihm noch etwas vormachen. Soll Wu das ruhig sehen – Wu, der keinen verdammten Funken Gefühl im Leib hatte.

Wu senkte neben Marco den Kopf, als er die Grabsteininschrift las. Er faltete die Hände vor dem Körper und erwies den Toten damit seine Ehre.

»Ihre Tochter«, sagte er.

»Ja.«

Wu nickte und schürzte die Lippen. »Das Kind, das Baby, das unter Roger Ballards Obhut gestorben ist …«, fragte er nach kurzem Zögern.

»Ja.«

Wu blinzelte, speicherte die Information in seinem Kopfcomputer und reagierte dann, indem er einen Schritt zurücktrat und kaum merklich den Kopf senkte. »Es tut mir lei…«

Ein lautes Blätterrascheln unterbrach ihn.

Beide Männer richteten sich blitzschnell auf und wirbelten herum, um die Quelle des Geräuschs ausfindig zu machen. Das hohe Gras im Westen schlug nach links und rechts Wellen und teilte sich dann in der Mitte.

Irgendetwas – etwas Großes – bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit durch das Gras auf sie zu.

9.6

Sie hatten keine Zeit mehr zum Nachdenken. Marco richtete blitzschnell die Kalaschnikow auf den sich nähernden Angreifer; was auch immer da kam, es kam schnell und würde gleich durch die grünen Halme brechen. Wu nahm neben ihm Kampfstellung ein; die Messer funkelten in seinen erhobenen Händen.

Die Männer wechselten Blicke. Wu nickte und biss die Zähne zusammen.

Los geht’s.

Nun brach etwas aus dem Unterholz …

… ein knurrender gelber Mastiff mit schmutzverkrustetem, struppigem Fell tauchte auf und rannte wie tollwütig auf sie zu. Marco verspürte plötzlich ein Gefühl der Schwerelosigkeit, als wäre er von einer Klippe gefallen, und ein Schrei entrang sich seiner Kehle. Im ersten Moment war er wie gelähmt und vergaß völlig die Waffe in der Hand. Frankie beherrschte sein ganzes Denken; der Mischlingshund der Nachbarn, der explosionsartig durch die Hecke gebrochen war, ihn angegriffen und ins Ohr gebissen hatte, als er sieben war …

Er wird mich fressen.

… und der Mastiff las irgendwie seine Gedanken, spürte seine Schwäche und wählte ihn anstelle von Wu. Er sprang Marco an, schnappte nach seiner Kehle, und Marco schloss mit dem Leben ab …

… und schrie überrascht auf, als der riesige Hund neben ihm herabstürzte und sich an Hannahs Grabstein die Rippen brach. Der Mastiff jaulte und wälzte sich vor Schmerz auf dem Boden.

Wu stand auf einem Bein da; das rechte Bein war ausgestreckt. Er hatte den Hund mitten im Sprung mit einem mörderischen Tritt erwischt. Er nahm das Bein herunter und warf Marco einen erstaunten Blick zu. »War doch nur ein Hund«, tadelte er ihn. »Die sind nicht kugelsicher, falls Sie das noch nicht wussten.«

Marco schaute auf die Kalaschnikow in seinen Händen und spürte, dass er errötete. »Ich mag keine Hunde.«

Er blieb stehen, runzelte die Stirn und lauschte angespannt. Seine glühenden Wangen kühlten sich plötzlich wieder ab.

Überall hinter Wu geriet das Gras nun in Wallung.

»Hunde …«, sagte er. Oh Gott.

Viele Hunde. Sie kamen aus dem Gestrüpp hervor, das Fell gesträubt und die Köpfe zur Jagd gesenkt. Alle Größen und Arten von Hunden – Promenadenmischungen, schwarz und gefleckt, mit gespitzten Ohren, die Mäuler mit braunem Geifer verschmiert, auch reinrassige Züchtungen, Deutsche Schäferhunde, Golden Retriever, Jagdhunde mit hochgezogenen Lefzen, die lange, gekrümmte Reißzähne enthüllten. Dreißig, vierzig, fünfzig Hunde brachen aus den Tiefen des Friedhofs hervor – eine große, hungrige Meute. Sie stießen ein tiefes, grollendes Knurren aus.

Und sie alle trugen Halsbänder und Hundemarken.

Haustiere, erkannte Marco.

Das heißt, sie waren einmal Haustiere gewesen. Sie waren verwildert, und ihre animalischen Instinkte hatten wieder die Oberhand gewonnen. Die Auferstehung befiel nur Männer und Frauen; die Hunde blieben allein zurück. Es war niemand mehr da, der sich um die Tiere kümmerte und sie mit Nahrung versorgte. Er stellte sich vor, wie die Hunde in Hemet nach der Evakuierung durch die Straßen gestreunt waren und irgendwie zu überleben versucht hatten. Und sich zu einem Jagdrudel zusammengeschlossen hatten, um nicht zu verhungern.

Sie ernährten sich von Eichhörnchen, Vögeln, Katzen …

Schaudernd erinnerte er sich an die ausgeweidete Leiche, die er in der Stadt gesehen hatte.

Dann war dieses arme Schwein also Hundefutter geworden.

Die Tiere verteilten sich weiträumig, bildeten einen Halbkreis um die Männer und warteten nur noch auf einen instinktiven Angriffsimpuls. Ein Dalmatiner mit schmutzverkrustetem Fell sprang mit gefletschten Zähnen vorwärts und zog sich dann wieder in die Reihe zurück. Dann folgte ein zweiter Hund seinem Beispiel. Und ein dritter.

Sie stachelten sich gegenseitig auf. Jeden Moment würden sie angreifen.

»Das sind selbst für Ihre Kung-Fu-Künste zu viele, Sergeant.« Die Zunge lag Marco wie ein trockenes Stück Holz im Mund.

»Und zu viele, um sie zu erschießen«, sagte Wu. Er deutete auf eine Dänische Dogge mit geifernden Lefzen, die fast so groß war wie ein Bär. »Verpassen Sie dem Vieh da eine Kugel. Und dann rennen Sie.«

»Ich werde mich an Ihre Fersen heften.« Zitternd zielte Marco auf den riesigen Hund. Dem Tier fehlte das rechte Auge; das entzündete Augenlid war zugeschwollen, und es sickerte eine Flüssigkeit heraus. Marco zögerte.

Jemand hatte diese arme Kreatur einmal geliebt.

Seufzend richtete Marco die Kalaschnikow in die Luft und feuerte.

Der Warnschuss zerriss die morgendliche Stille mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Die Dänische Dogge warf sich flach auf den Boden und verdrehte entsetzt das gesunde Auge. Die Hundemeute legte die Ohren an die verfilzten Köpfe und zerstreute sich. Sie waren verwirrt – aber das würde nicht lange anhalten.

»Los!« Wu hieb Marco auf den Arm und rannte den mit Steinplatten ausgelegten Pfad entlang.

Und dann ergriff auch Marco die Flucht und rannte, von Adrenalin und Angst beflügelt, mit ausladenden Schritten durchs Gras. Hinter sich hörte er das Bellen der Hunde; sie hatten sich wieder gesammelt und nahmen die Verfolgung auf. Hundert Pfoten trommelten auf dem weichen Erdboden, und er hörte das Klimpern der Hundemarken, als die Tiere ihn hetzten und von hinten anspringen wollten. Er feuerte mit der Kalaschnikow wild um sich und mähte eine breite Schneise ins Gras, bis das Magazin leer war. Doch diesmal ließen die Hunde sich nicht mehr abschrecken, und das Bellen wurde immer lauter.

Sein Vorsprung schwand zusehends. Das Gras knirschte unter den Stiefeln, und er geriet immer wieder ins Stolpern. Wu war ungefähr sechs Meter vor ihm; er war in der Kunst des Entkommens geschult und rannte so flink wie eine Gazelle. Seine Wunden schienen ihn nicht sehr zu behindern.

Das Überleben des Stärkeren, sagte Marco sich demoralisiert. Und Wu ist der Stärkere.

Er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt noch auf dem Pfad befanden. Das Gras wucherte so dicht, dass man den Boden nicht sah, und in seiner Panik schienen sich auch die Bäume verändert zu haben; er erinnerte sich nicht an diesen Hügel und an diesen Grabstein mit der Statue eines Mannes, der ein Buch hielt …

»Wu!«, rief er. »Der falsche Weg!«

Er drehte hektisch den Kopf hin und her und suchte den Pfad …

… und sollte nie erfahren, worüber er im Gras stolperte – vielleicht über einen Stein oder einen heruntergefallenen Ast. Auf jeden Fall stürzte er. Er schrie entsetzt auf, purzelte den Hang hinunter und prallte unten gegen einen mit Moos bewachsenen Grabstein. Er blieb mit dem Gesicht auf dem Erdboden liegen und biss ins feuchte Gras.

Hilfe, dachte er benommen …

… denn jeden Moment würden die Hunde über ihn herfallen, ihn in saftige, zuckende Fleischstücke reißen und sich um seine Organe balgen – wie bei der Leiche in der Stadt.

Er hätte fast geschrien, als die ersten Zähne sich in seinen Arm schlugen …

… aber es war nur Wu, der ihn wieder aufrichtete.

»Schnell«, sagte Wu. »Da drüben.« Er deutete auf ein schlichtes weißes Gebäude in etwa dreißig Metern Entfernung. Die Friedhofskapelle. Auf ihrer wilden Flucht waren sie quer über das Friedhofsgelände gelaufen und näherten sich der Kapelle nun von hinten.

Die Hunde erschienen oben auf dem Hügel und hetzten in blinder Gier den Hang hinunter.

Marco spuckte Gras aus und rannte mit wild rudernden Armen auf die Kapelle zu. Gottverdammt, er hatte beim Sturz die Kalaschnikow verloren, doch das spielte im Moment keine Rolle – du musst nur die Kapelle erreichen, lauf zur Kapelle, bitte, bitte mach, dass die Tür nicht verschlossen ist!

Er kam mit einem Vorsprung von zwei Schritten vor Wu dort an. Ihm stockte das Herz, als er gegen die Eichentür schlug und hektisch an der Messingklinke herumfummelte. Der Riegel öffnete sich – Gott sei Dank –, und die Tür ging auf; er rannte hinein, Wu direkt hinter ihm, und warf die Tür zu.

Sofort war die Holztür einem Angriff von draußen ausgesetzt: Die Hunde sprangen dagegen und kratzten mit den Krallen über das Holz. Gebell und Geheul dröhnten in Marcos Ohren.

»Meine Güte!« Marco trat einen Schritt von der Tür zurück und wäre fast zusammengebrochen. Er stützte atemlos die Hände auf die Knie. »Was meinen Sie«, sagte er und atmete tief durch, »werden sie uns nun belagern oder wieder verschwinden?«

Der schweißgebadete Wu zuckte die Achseln. »Sie werden verschwinden, glaube ich. Es muss draußen auf dem Friedhof noch eine langsamere Beute für sie geben. Wie die Leichen, die wir in der Stadt gesehen haben.«

»Dieser Gedanke kam mir auch schon.«

»Die eigentliche Frage lautet«, sagte Wu, »ob es hier drin Leichen gibt?«

Ernüchtert ließen die Männer den Blick durch die Kapelle schweifen. Sie standen in einem kleinen, mit Marmor verkleideten Vorraum neben einem Tisch, der mit Schriften über den Tod und das Leben nach dem Tod bestückt war. Eine große Vase stand in der Ecke; von den Blumen, die sich einmal darin befunden hatten, waren nur noch steinharte Stiele übrig.

Das Licht war trübe und hatte einen blauen und roten Farbstich; die Butzenscheiben filterten das Sonnenlicht. Marco schielte im Zwielicht. Die Einrichtung war relativ spärlich – es gab einen Block aus sechs Kirchenbänken, einen kleinen braunen Altar auf einem Podest und dahinter eine große Christusstatue an einem Kreuz. Ein roter Teppich führte vom Vorraum in den Hauptraum und gabelte sich dort, wobei beide Wege parallel zu einer Wendelrohrheizung oben in den Seitenschiffen verlief.

Die Luft war stickig, und es roch modrig – wie der Inhalt einer Bettpfanne.

Und nach noch etwas. Marco schnüffelte. Es roch irgendwie ranzig und verwest.

Ein Muskel an seiner Kinnlade zuckte.

Da saß ein toter Mann auf der ersten Bank.

Es war definitiv eine Leiche – die kahle Kopfhaut war ledrig, und am Hinterkopf war die Haut bereits verwest und enthüllte ein wurmstichiges Stück des Schädels. Die Leiche trug ein Polohemd, und über dem Kragen drangen die Knorpel der oberen Halswirbel durch die verweste Haut im Nacken.

»Ist sie lebendig?«, fragte Wu und runzelte die Stirn angesichts dieser Fragestellung. »Sie wissen schon, wie ich das meine.«

»Ja, sie ist auferstanden«, antwortete Marco im Flüsterton. Trotz aller Vorsicht hallten die Worte laut von den Marmorwänden des Vorraums wider. »Sehen Sie – sie rührt sich.«

Die Leiche bewegte leicht den Kopf; sie senkte und hob ihn wie jemand, der sich krampfhaft wach zu halten versuchte. So ging das noch drei- oder viermal, und dann rührte sie sich nicht mehr.

»Wieso steht sie denn nicht auf?«, fragte Wu.

»Ich weiß auch nicht. Wir haben doch einen Höllenlärm veranstaltet, als wir reinkamen.«

Draußen setzten die Hunde derweil die Belagerung der Kapelle fort. Marco hörte, wie sie mit hungrigem Bellen auf dem Pfad hin und her liefen. Die Viecher waren ausgesprochen frustriert.

»Warten Sie hier«, sagte Wu und durchquerte den Vorraum. Er zog kräftig an der Tür, um sich zu vergewissern, dass sie auch fest verschlossen war. Und nur um sicherzugehen, kippte Wu den Tisch um, wobei die erbaulichen Schriften auf den Boden fielen – hundert Exemplare von Verluste bewältigen und Trauerarbeit leisten –, und verrammelte damit die Tür.

Dann kam er mit gezückten Messern zu Marco zurück.

»Langsam weitergehen«, sagte er und betrat den Teppichläufer. Kleine Staubwolken quollen aus dem roten Filz auf, als er mit den Stiefeln darauftrat.

»Einen Moment – was haben Sie überhaupt vor?«, fragte Marco.

»Ich will mal nachsehen.«

Marco schüttelte skeptisch den Kopf. Aber verdammt noch mal, er war auch neugierig.

Er zog die Glock – eine Kugel hatte er noch – und folgte Wu in die Kirche.

Sie bewegten sich vorsichtig durchs Seitenschiff. Marco behielt aufmerksam die stille Leiche im Blick. Der tote Mann wackelte noch einmal mit dem Kopf, doch das war auch schon alles. Die Männer gingen an den Bankreihen vorbei nach vorn. Marco richtete die Glock auf jede Reihe – er rechnete mit einem Hinterhalt und befürchtete, dass ein toter Pastor oder eine Nonne zischend unter den Gesangbüchern hervorsprangen.

Am Rand der ersten Reihe blieben sie stehen.

»Heilige Scheiße«, murmelte Marco.

Es war eine ältere Leiche, ein Mann in den Siebzigern. Die Gesichtshaut war lose und schlackerte wie eine schlecht sitzende Maske. Die Knollennase wurde von purpurroten Adern durchzogen. Die Leiche trug eine gestreifte Krawatte mit einem dicken Knoten über einem blutverschmierten Hemd. Die Hosenbeine waren an den Waden ausgebeult; schwarze Socken hingen über den zerfressenen Businessschuhen und gaben den Blick auf zwei milchig-weiße, haarige und spindeldürre Unterschenkel frei, die kaum bis zum Boden reichten.

Neben der Leiche lag ein Gehstock aus Aluminium.

Die toten Augen der Leiche waren auf das Kreuz hinter dem Altar gerichtet. Die ausgetrockneten Lippen berührten sich mit einem schmatzenden Geräusch, und der Kopf wackelte erneut. Sie drehte sich nicht einmal um, als Wu sprach.

»Was macht sie da?«, fragte er.

Marco spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. »Ich … Ich glaube, dass sie vielleicht betet.«

Wu musterte Marco kurz. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«

»Also, ich meine, eigentlich betet der Mann nicht – aber er verharrt in dieser Stellung. Er muss ein religiöser Mensch gewesen sein. Die Kirche war sehr wichtig für ihn. Emotionale Geografie.«

Wu starrte ihn an. »Emotionale Geografie?«

»Schon gut, das ist eine lange Geschichte«, beschied Marco ihm. »Die Kurzfassung lautet, dass diese Leiche aus dem gleichen Grund hier ist, weshalb Roger Ballard dort ist, wo auch immer er sein mag.«

Wu betrachtete die wie erstarrt dasitzende Leiche. »Will sie uns denn nicht fressen?«

»Ich weiß nicht. Sollte man eigentlich meinen. Aber … vielleicht ist ihr das wichtiger.«

Das darf doch nicht wahr sein, dachte Marco. Was rede ich denn da?

Diese Leiche soll eine höhere Berufung gefunden haben?

Er hatte das Bedürfnis zurückzurudern. »Auf jeden Fall sollten wir ihr nicht die Hand in den Mund stecken. Ich schlage vor, dass wir uns ein paar Reihen zurückziehen und sie von dort aus beobachten.«

Wu nickte. »Ja.«

Sie schlichen durch das Seitenschiff zurück und setzten sich auf die letzte Bank.

Die Hunde draußen waren hartnäckig; die ganze Kapelle hallte von unablässigem Winseln und dem gelegentlichen Knurren miteinander kämpfender Tiere wider. Und alle paar Sekunden war ein Kratzen an der Holztür zu vernehmen.

»Warum machen wir es uns nicht gemütlich«, sagte Wu. »Könnte sein, dass wir eine Weile hier festsitzen.«

»Hoffentlich nicht zu lang. Wir hätten nämlich ein Problem, falls auch noch der Rest der Kirchengemeinde hier auftaucht.«

Sechs Reihen vor ihnen in der Dunkelheit zitterte die alte Leiche in ihrer Nachahmung eines Gebets, und Marco stellte sich eine Frage: Falls Gott wirklich existierte, was zum Teufel dachte Er sich bei alledem?

9.7

»Das ist ein schlechter Witz«, fand Marco. Er saß neben Wu auf der muffigen Holzbank, hatte die Hände im Schoß gefaltet und die Beine an den Fußknöcheln übereinandergeschlagen. Das Licht, das durch die bunten Scheiben fiel, war um ein paar Stufen heller geworden; die Sonne hatte schließlich doch über die Wolken gesiegt. Marco schätzte, dass es jetzt gegen Mittag war. Sein Magen knurrte wieder – ein Protest, der peinlich laut in der stillen Kapelle widerhallte.

Er drückte eine Hand auf den Bauch und fuhr fort: »Ein Brocken toten Fleisches, der eine große Gipsstatue von Jesus anbetet. Ohne die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass das sein Leben nach dem Tod ist und dass sein Gott eine Illusion ist.«

»Aus Ihrem Ton schließe ich, dass das Ihre pauschale Beurteilung aller Religionen ist«, sagte Wu.

Marco lachte freudlos. »Ja. Genau.«

»Sie glauben nicht an Gott.«

»Nicht unbedingt.«

»Ich dachte, Sie würden gequälten Seelen Frieden bringen. Ist das denn nicht Ihr Handwerk?«

Ein bitteres Lächeln huschte über Marcos Gesicht. »Das ist Marketing, mein Freund. Wohlfeile Worte, um eine Dienstleistung zu verkaufen. Ich bezweifle, dass die Leichen ’nen Scheiß drauf geben.« Und er bereute diese Worte sofort bitter. Denn vor seinem geistigen Auge war plötzlich ein Bild von Danielle erschienen – ausgezehrt, mit eingefallenem Gesicht, auf einem unbekannten höllischen Leidensweg, mit herausgerissenen Eingeweiden und vom Drang gequält, rohes Fleisch zu essen …

Er schloss fest die Augen und löschte das Bild aus dem Bewusstsein. Lichtschlieren tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern. Irgendwo in diesen amorphen Gebilden hörte er noch immer den Reiter-Soldaten schreien.

Ob Danielle jemals einen Menschen so brutal abgeschlachtet hatte?

Er zuckte entsetzt zusammen und öffnete blinzelnd die Augen. Er wurde sich bewusst, dass der Morgen ihn deprimiert und ihm einen kräftigen spirituellen Tritt in den Arsch versetzt hatte. Er hatte starke Schmerzen in der Brust, als wäre Hannahs Grabstein auf ihn gefallen und würde sein Herz erdrücken.

Er wurde sich bewusst, dass Wu ihn neugierig ansah.

»Entschuldigung«, sagte Marco. »Ich hab heute irgendwie einen schlechten Tag.«

Die Männer warteten vor der Geräuschkulisse der bellenden Hunde hinter den Butzenscheiben. Es vergingen fünf Minuten, dann zehn. Wus Atmung wurde langsam und gleichmäßig, und Marco glaubte schon, er wäre in den Schlaf abgeglitten; soweit er wusste, hatte der Sergeant seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen.

»Ich entstamme einer chinesischen Familie«, begann Wu dann stockend und bedächtig, als ob ein unausgesprochener Gedanke die Worte begleitete. »Einer traditionsbewussten Familie. Am Tag meiner Geburt hat man mir keinen Namen gegeben. Mein Onkel Bao Zhi hatte meinen Geschwistern gesagt, dass sie mich nur als ein Tier‹ bezeichnen sollten. Nicht etwa, weil er ein grausamer Mensch gewesen wäre – er liebte mich sehr –, sondern um mit diesem Trick böse Geister zu täuschen, von denen man glaubte, dass sie Neugeborene entführen würden. Als ich ein paar Wochen alt war, ehrte er mich mit dem Namen meines Vaters, Kheng Wu, der noch vor meiner Geburt gestorben war. Als Kind sagte man mir dann, dass meine Leistungen in diesem Leben den Geist meines Vaters erfreuen würden.«

Der Sergeant hob den Kopf und studierte eingehend die Abbildungen der Heiligen und die Wunder, die auf den Butzenscheiben der Kapellenfenster verewigt waren. Marco wartete. Er war sich nicht sicher, was Wu ihm überhaupt mitteilen wollte. Wu schien seine Unsicherheit zu spüren.

»Worauf ich hinauswill, Doktor«, fuhr Wu fort, »ist, dass die Toten wirklich nen Scheiß darauf geben‹, wie Sie es ausdrücken. Die Kultur meines Onkels hat ein anderes Verhältnis zum Tod als die Amerikaner. Die traditionsbewussten Chinesen glauben, dass die Toten und die Lebenden gemeinsam existieren – Seite an Seite auf ein und derselben Ebene und nicht etwa in strikt getrennten Sphären wie euer Himmel und eure Hölle. Unsere Toten sind nicht von uns gegangen. Sie weilen buchstäblich unter uns; auch wenn sie nur Geister sind, haben sie dennoch körperliche Bedürfnisse.«

»Bedürfnisse?«

Wu nickte. »Als Kinder haben wir sie mit Essen und Wasser versorgt, haben ihnen Zahnbürsten und Kämme hingelegt und Geister-Geld‹ verbrannt und in der Luft verstreut, damit sie es einsammeln und sich dafür etwas kaufen konnten. Wenn mein Onkel Bao Zhi noch leben würde – er ist vor ein paar Jahren gestorben –, könnte er uns das erklären. Er würde uns vielleicht sagen, dass in den Evakuierten Staaten die Geister auch körperliche Gestalt angenommen haben. Lebende Tote. Das ist beängstigend, aber wir müssen ihnen trotzdem Respekt erweisen. Weil die Toten unsere Verbindung zu Gott sind.«

Marco kniff sich nachdenklich in das vom Hundebiss gezeichnete Ohr.

Geister in einer körperlichen Gestalt

»Zu welcher Schlussfolgerung gelangen Sie also?«, fragte er stirnrunzelnd. »Dass die Auferstehung eine Art chinesisches Leben nach dem Tod sei? Dass wir die Toten ehren sollen, indem wir uns von ihnen auffressen lassen?«

Wu schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie haben mich falsch verstanden, Doktor. Ich behaupte gar nicht, die Auferstehung zu verstehen. Ich wollte Ihnen nur versichern, dass es hier auf Erden Geister gibt, richtige Geister. Manche bleiben unsichtbar, wie es seit jeher ihre Art war, und manche sind nun in verwesenden Körpern unterwegs – welchen Zweck auch immer das Universum damit verfolgt.«

»Deshalb«, fügte er hinzu und spannte zuerst die linken, dann die rechten Halsmuskeln an, »halte ich es für meine Pflicht, die Toten zu respektieren. Sie in Ehren zu halten, wie mein Onkel es mich gelehrt hat – so wie ihr das Leben respektiert. Zum Beispiel heute Morgen. Für Sie war es eine Abscheulichkeit, dass ich den Reiter-Soldaten tötete. Sie hätten ihn verschont, obwohl er eine große Gefahr für uns beide darstellte.«

Marco errötete. Er hatte nicht geahnt, dass Wu ihn so durchschaut hatte.

»Jetzt möchte ich Ihnen einmal eine Frage stellen, Henry Marco, Auftragskiller für Leichen«, sagte Wu. »Würde es Sie überraschen, dass ich noch nie eine Leiche getötet habe?«

Marco hob eine Augenbraue. »Was meinen Sie damit – nie?«

»Nie wie niemals.«

»Keine einzige Leiche seit der Auferstehung?«

»Nein.«

»Meine Güte«, sagte Marco. »Das ist wirklich kaum vorstellbar.«

»Nicht aus meiner Perspektive.«

Marco runzelte die Stirn. »Maricopa«, sagte er. »Als Sie die brennende Leiche von mir herunterzogen – ich habe mich sowieso schon gefragt, weshalb Sie nicht Ihre Waffe benutzten.«

»Ja. Wenn mein eigenes Überleben auf dem Spiel steht, nehme ich den Kampf gegen eine Leiche auf und mache sie notfalls auch unschädlich – aber wenn ich sie tötete, würde ich meinem Vater Schande machen.« Er zuckte die Achseln. Dann verzog er das Gesicht, legte sich eine Hand auf die Schulter und strich sanft über die Schusswunde, als wollte er den Schmerz lindern. »Bei Menschen habe ich solche Hemmungen nicht. Ich habe in meinem Leben gelernt, die Menschen, die mir in die Quere kommen, ohne zu zögern zu töten …«

Er verstummte, überwältigt von Müdigkeit und Unbehagen, und verzog angewidert die geschwollenen Lippen. Er verdrehte die Augen und schloss sie halb wie in Trance. Vielleicht führte er das Gespräch in seinem Kopf fort; Marco wusste es nicht, aber es herrschte plötzlich ein betretenes Schweigen, als wäre ein Streit abgebrochen, aber nicht beigelegt worden. Bekümmert richtete Marco wieder den Blick auf die erste Bank.

Dort vorne wackelte die ältere Leiche schon wieder mit dem Kopf – wie oft wollte sie das denn noch machen, bevor der Schädel einfach vom Rückgrat abbrach und zum Altar kullerte? –, und ein schmerzerfülltes, pfeifendes Geräusch drang aus ihrem verfaulten Mund.

Marco spürte, wie das Pistolenholster unter seinem Arm scheuerte.

Er dachte an die Glock und die eine Kugel, die noch im Magazin war.

Er konnte einfach hingehen und die Leiche von ihrem Elend erlösen. Den Lauf direkt an diese braune Stelle am Schädel halten und den Abzug betätigen.

Wäre das wirklich eine Schande? Unethisch? Hatte Wu vielleicht doch recht?

Nein. Marco konnte das nicht akzeptieren.

Ich helfe ihnen doch, sagte er sich. Ich gebe sie zurück.

Doch wohin werden sie zurückgegeben?, wandte eine andere Stimme – verräterisch und subversiv – in seinem Bewusstsein ein. Was, wenn sie eigentlich hier sein sollten?

Nein. Er schüttelte den Gedanken ab wie eine Spinne, die ihm über die Haut krabbelte.

Danielle braucht mich. Meine Hilfe.

Wenn ich sie finde, werde ich sie zurückgeben. Das ist ehrenhaft. Das ist Liebe.

Er zog schniefend den Rotz in der Nase hoch, als die Kirchenbank unter ihm knarrte.

Dann neigte er den Kopf und wurde sich bewusst, weshalb die Stille ihn so irritiert hatte.

»Man hört nichts mehr von den Hunden«, sagte er.

Das stimmte. Das Heulen, das Knurren, das Jaulen … es hatte aufgehört.

Wu reagierte sofort auf Marcos Stimme. Er setzte sich aufrecht hin und griff zu den Messern. Er atmete schnell, als würde er verfolgt. Marco fragte sich, was Wu in seinen Albträumen wohl sah.

»Die Hunde«, sagte Marco noch einmal beruhigend. »Ich glaube, dass sie weg sind.« Er erhob sich von der Kirchenbank und schlich zum Vorraum, um die Hunde nicht durch seine Schritte wieder anzulocken. Er legte das Ohr an die Eichenholztür und lauschte. Nichts.

Er schob den Tisch weg und drückte dann zögernd und mit angehaltenem Atem den Messingtürgriff herunter. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Er lehnte sich mit der Schulter gegen das Holz und war bereit, sie sofort wieder zuzuschlagen, falls sich geifernde, zähnefletschende Schnauzen durch den Spalt zwängten.

Nichts. Er lugte nach draußen.

Die Hunde waren nicht mehr da. Ausgerissene Fellbüschel rollten wie Steppenhexen über den Weg, und dunkles feuchtes Erdreich war vor den Wänden angehäuft, wo sie gegraben hatten. Braune Pfotenabdrücke überquerten den Pfad und verschwanden im Unterholz. Er sondierte das Terrain.

»Alles klar«, sagte er schließlich. »Wir sollten jetzt verschwinden.«

»Doktor.«

Er registrierte einen feierlichen Ton in Wus Stimme. Der Sergeant stand am Rand des Teppichs im Durchgang zwischen dem Haupt- und Vorraum.

»Was ich Ihnen über meinen Vater und die Toten erzählt habe …«, sagte Wu, verstummte kurz und fuhr dann fort: »… ich wollte Ihnen damit Trost spenden.«

Diese Bemerkung kam völlig unerwartet für Marco. Er blinzelte verständnislos.

»Ich meine damit«, sagte Wu, »dass Ihre Tochter nicht von Ihnen gegangen ist. Sie befindet sich auch auf dieser Reise – sie begleitet Sie und wacht über Sie. Sie legt beim Universum ein gutes Wort für Sie ein, auch wenn Sie, wie Sie sagen, nicht daran glauben. Sie ist der Grund, weshalb Sie überhaupt bis heute überlebt haben.«

Marco wurde blass. Eine Hitzewelle stieg in ihm auf und ließ ihm Tränen in die Augen treten.

Er erinnerte sich, wie er an jenem Tag mit Danielle am Grab gestanden hatte.

Das können wir nicht machen, Henry. Wir können sie doch nicht hierlassen. So ganz allein.

Delle. Baby, wir müssen gehen. Ich verspreche dir, dass sie nicht allein ist.

»Ich würde das nur zu gerne glauben«, gestand er schließlich mit belegter und heiserer Stimme.

Wus zerschlagenes Gesicht schaute ihn im trüben Licht an. Er lächelte nicht – doch zum ersten Mal, seit Marco sich erinnern konnte, wirkte er zumindest nicht unfreundlich. Der Sergeant nickte und richtete mit einem resoluten Griff die Messer am Gürtel aus, womit er Marco bedeutete, dass das Gespräch beendet war. Er schob sich an ihm vorbei zur Tür.

»Wir sollten uns lieber beeilen«, sagt er. »Die Hunde kommen vielleicht noch einmal zurück.«

»Ja.« Marco rieb sich den Nacken und drehte sich ein letztes Mal zu den Kirchenbänken um. Die fromme Leiche hatte sich immer noch nicht bewegt. Sie würde bis in alle Ewigkeit hier sitzen bleiben und darauf warten, dass ihre Gebete erhört würden.

Kurz wünschte er sich, er würde den Namen der Leiche kennen.

Vielleicht würde er eines Tages bei der Erledigung eines Auftrags hierher zurückkehren.

Friede sei mit dir. Das hatte er immer als Kind gesagt, bevor er mit seinem Vater die Kirche verlassen hatte. Friede sei mit dir. Und mit dir auch.

Sie gingen nach draußen. Die Sonne schien nun hell, und die Wolken hatten sich verzogen. Die Männer liefen den gewundenen Weg entlang und achteten mit allen Sinnen auf irgendwelche Anzeichen von streuenden Hunden oder Leichen. Einmal blickte Marco noch sehnsüchtig zu dem Hügel mit Hannahs Grab hinauf und wurde von der Vorstellung gequält, dass er Danielle nur um ein paar Minuten verpasst hatte. Was, wenn sie kurz nach meinem Verschwinden aufgetaucht ist?, fragte er sich und verdrängte diesen Gedanken gleich wieder. Er wusste, dass er sich nur verrückt machen würde.

Als sie um die Kurve bogen, sah er hundert Meter vor sich das Quad. Es stand noch genauso da, wie sie es verlassen hatten. Die Straße verlief schnurgerade durch einen klaustrophobischen Tunnel aus tief hängenden Kiefernästen und Gras auf beiden Seiten. Er zögerte kurz und fragte sich, ob er nicht in eine perfekte Falle lief, wobei das Quad als Köder diente … aber was zum Teufel sollte er sonst tun? Er rannte die letzten hundert Meter wie ein Sprinter zur Ziellinie in der Gewissheit, dass die Hunde jeden Moment durch die Bäume brechen und über ihn herfallen würden. Doch er erreichte das Quad völlig unbeschadet.

»Wir müssten jetzt in Sicherheit sein«, sagte Wu, der ihn eben erst einholte. »Ich habe aus der anderen Richtung Gebell gehört und etwas, das wie eine kreischende Leiche klang. Die Hunde haben wohl etwas zu fressen gefunden.«

»Der arme tote Kerl. Sogar ich habe Mitleid mit ihm.«

»Werfen Sie einen Blick auf die Karte«, sagte Wu mit versteinertem Gesicht. »Wir müssen wieder auf den richtigen Weg zurück.«

Welche Regung auch immer Wu in der Kapelle erweicht hatte – sie war verschwunden, wie Marco feststellte. Der Sergeant hatte wieder seinen strengen soldatischen Habitus angenommen.

»Alles klar«, sagte Marco. Nach dem Aufenthalt in der düsteren Kirche wurde auch er durch die frische, nach Gras riechende Luft und die optimistisch stimmende Sonne wieder mit neuer Energie erfüllt. Er holte die Landkarte aus seiner Gesäßtasche und breitete sie auf dem Sitz des Quads aus.

»Wie weit noch bis nach Sarsgard?«, fragte Wu.

»Hmmm … noch etwas mehr als hundertfünfzig Kilometer.«

»Gut. Bringen Sie uns hin, bevor es dunkel wird.« Wu nahm seinen angestammten Platz in der Heckmulde des Quads ein.

Marco faltete die Karte zusammen und setzte sich auf den Fahrersitz. Er wurde sich bewusst, dass er Wus knappen Anweisungen inzwischen widerspruchslos Folge leistete und nicht mehr das Bedürfnis verspürte, ihm zu widersprechen. Wu wusste, was er tat, dachte Marco. Daran bestand kein Zweifel.

Und doch …

»Es gibt im Zivilleben ein immer noch gebräuchliches Wort, müssen Sie wissen. Es heißt bitte‹«, sagte er sarkastisch und drehte sich nicht einmal um, um zu sehen, wie Wu diese Zurechtweisung aufnahm. »Wie dem auch sei, wir werden bei der ersten Tankstelle außerhalb der Stadt noch einmal haltmachen. Und dann geht es nonstop weiter bis zum Ziel.«

Er startete das Quad und wendete. Das durchgeschwitzte Hemd klebte ihm am Körper; er freute sich schon darauf, weiterzufahren und sich vom Fahrtwind abkühlen zu lassen. Bereitwillig beschleunigte das Quad und fuhr die von Rissen durchzogene Friedhofstraße entlang. Nach wenigen Sekunden rasten sie durch das Haupttor und tauchten wieder in die Welt aus Häusern und Straßen und Gehwegen ein. Dieser Übergang war irgendwie unheimlich, denn die Stadt wirkte noch lebloser als der Friedhof.

Er gestattete sich einen letzten Blick zurück auf den in der Ferne verschwindenden Friedhof. Ein letzter Abschiedsgruß für Hannah.

Ich liebe dich. Ich werde dich wieder besuchen. Das verspreche ich dir.

Plötzlich verspürte er Schuldgefühle. Er wusste doch gar nicht, ob er dieses Versprechen überhaupt würde einlösen können.

Aus dem Friedhof trottete ein kleiner schwarzer Hund mit weißem Brustfell auf den Gehweg und sah ihnen nach. Seine Schnauze triefte von einem dunklen, sämigen Saft – Leichenblut.

Mach’s gut, Hundchen, dachte Marco. Schade, dass das mit dem »besten Freund des Menschen« diesmal nicht so ganz zugetroffen hat. Er gab Gas und raste durch die leeren Straßenzüge.

Zu Roger Ballard.

Marcos Augen tränten im Wind, und sein Herz schmerzte. Eines wusste er jedoch mit Sicherheit.

Er sollte sich lieber auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrieren, sonst würde das Gefängnis von Sarsgard ihn bei lebendigem Leib auffressen.