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Kein Kind von Traurigkeit

Ich bin ein Fisch aus dem Wald. Nicht, dass ich meine Tage nach dem Horoskop ausrichte, aber ich bin nun einmal geboren in dem Sternzeichen, konkret am 19. März 1952, in der Semmelweisklinik in Wien. Von dort hat man mich sofort nach Pressbaum verfrachtet. Der Ort liegt fünfundzwanzig Kilometer von Wien entfernt, mitten im Wienerwald.

Man kann es nicht als veritable Erinnerung bezeichnen, aber das Erste, was ich von damals noch im Gedächtnis habe, ist ein komisches Gefühl. Ich war ungefähr zwei und meiner Mutter Schilderungen zufolge ein sehr lebhaftes Kind, ohne Unterlass dabei, die Gegend zu erkunden. Links den Bach, rechts die Straße, dazwischen das Haus und vor allem die Regentonne genau davor.

An der Regentonne haben die Frauen das Wasser für die Gartenarbeit geholt. Damit sie ihre Gießkannen eintunken und wieder herausheben konnten, brauchten sie drei Stufen, sonst hätten sie nicht über die Tonne gereicht, die waren ja alle irrsinnig klein. Über diese Stufen bin aber auch ich als Gschrapp so weit hinaufgekommen, dass ich mich mit beiden Händen über den Rand ziehen konnte und natürlich kopfüber hineingefallen bin. Untergetaucht in das von der Sonne gewärmte Wasser, ich bin praktisch gefloatet da drin. Was mich allerdings nicht darüber hinweggetäuscht hat, dass mir langsam die Luft ausging.

Ich war drauf und dran zu ersaufen. Die Rettung kam in Gestalt meiner Mutter, sonst wäre das letal ausgegangen. Sie war Lehrerin, hatte gerade Hefte verbessert und zwei Sekunden nicht aufgepasst. Man muss das verstehen, sie war extrem beschäftigt, es waren halt andere Zeiten. Wir haben null gehabt, jeder musste arbeiten. Aber mit ihrem Instinkt wird sie doch was gespürt haben, ist in den Garten gelaufen und hat mich rausgezogen. Ich war fortan extrem mutterbezogen, vielleicht ja auch wegen dieser Episode.

Bald darauf sind wir übersiedelt, auf die andere Seite des Wientals, in die Linke Bahngasse direkt neben der Eisenbahn. Das muss für einen kleinen Buben toll gewesen sein, die Züge so vor der Nase, dass man hingreifen hätte können. Aber hängen geblieben ist mir was anderes. Es war eine Riesenaufregung, alle Leute aus dem Häuschen sozusagen. Sie sind raus aus ihren Gärten und in Trauben neben der Bahn gestanden, wo auf der Straße entlang des Bahngleises unendliche Mengen von Soldaten marschierten. Es waren die Russen, die 1955 abgezogen sind.

Es war das Ende der Besatzungszeit in Österreich, die ich da miterlebt habe, aber das habe ich natürlich erst später begriffen. Ich thronte auf irgendjemandes Schultern mittendrin in diesem Menschenauflauf, ich hörte, wie sie alle Hurra!, Hurra! schrien, und sah, wie der endlose Zug dahintrottete und die Soldaten im Pressbaumer Bahnhof in den Zug stiegen, einer nach dem anderen.

Meine nächste Station war Rekawinkel. Wir sind in der Zeit alle zwei Jahre umgezogen, diesmal in eine Schule, weil mein Vater dort Lehrer war. Das Haus steht heute noch, auf einem steilen Hang etwas oberhalb der Straße. Das Spannende war, dass die Nachbarsfamilie eine Tochter in meinem Alter hatte, die Marianne, mit der ich mich angefreundet und in weiterer Folge dann Doktor gespielt habe. Wir hatten viel Platz im Garten und damit viel Freiheit. Da konntest du irgendwo in den Bäumen verschwinden, es hat sich niemand so recht drum gekümmert. Es konnte sich auch niemand so recht kümmern, weil alle irrsinnig damit befasst waren, das Wirtschaftswunder in Gang zu bringen. Jeder hat geschaut, dass er irgendwo bleibt, und wir Kinder haben eine feine Kindheit gehabt.

Die zweite Attraktion neben der Marianne war ein Tretroller. Ganz primitiv aus Holz, ich weiß gar nicht, ob auf den Rädern schon Gummi drauf war. Mit dem hat’s mich fulminant zerlegt. Was jetzt einmal keine Schwierigkeit darstellt in der Gegend. Oben auf dem Rekawinkler Berg hast du das Wirtshaus, damals auch noch einen Greißler, danach geht die Straße wieder bergab und halb rechts führt fast parallel dazu ein schmaler Weg zu unserem Haus hinauf.

Das war natürlich ein Traum für mich. Ich bin auf dem Roller gestanden wie ein Ritter und habe mich hinuntergestürzt, den Tod verachtend. Nur einmal halt doch eine Spur zu wild und es hat mich aufgeprackt, ich hab mich überschlagen und war von oben bis unten zerschunden. Autoverkehr gab es noch kaum, aber trotzdem hatte ich immenses Glück, dass es mich nur auf dem Schotterweg zerbröselt hat und ich nicht auf die Straße geflogen bin, sonst wäre mir vielleicht doch ein Goggomobil über den Schädel gefahren. Das war der allererste richtige Stern, den ich gerissen hab.

Der zweite kam gleich im darauf folgenden Winter, in dem ich meine ersten Skier gekriegt habe. Mein Vater hat hinter dem Haus eine Piste freigetreten, mich hinaufgezogen, hingestellt und gesagt: »Da! Schneepflug fahren!«

Ich bin im Schuss runter. Mir hat es die Füße auseinandergerissen, Arme und Beine waren dort, wo sie von Natur aus auf keinen Fall hingehören. Ich weiß nur noch schemenhaft, dass ich meine Mutter schreien gehört habe, ich war damals nicht älter als vier.

Leser: »Unterbeschäftigt waren deine Schutzengel ja nie.«

Sicher sind da ein paar Dinge passiert, die ich hätte vermeiden können. Trotzdem will ich mir keinen akuten Leichtsinn unterstellen. Bei allem, was mir zugestoßen ist, war es nie so, dass ich einen Unfall herbeiführen wollte. Und bis heute habe ich mir dabei nie einen Knochen gebrochen, nicht einmal den kleinen Finger.

Leser: »Kompliment an deine Mutter, normalerweise hat man kein Einzelkind, um das man sich Sorgen für zwei machen muss.«

Das Kompliment verdient sie über die Maßen, aber anders, als du glaubst. Ich bin nämlich kein Einzelkind, ich habe einen Bruder, und die Sorgen, die sie mit ihm haben musste, sind von ernsterer Natur. Der Michl kam am 13. April 1956 auf die Welt, ebenfalls in der Semmelweisklinik. Er war zu früh dran, ein Sieben-Monate-Kind, was heute ein Klacks wäre. Dort und damals war es kein Klacks. Mein Bruder hatte einen Hüftschaden und nichts wurde dagegen unternommen. Um es kurz zu machen: Der Michl ist heute schwer behindert, nicht geistig, Gott sei Dank, aber er hat Koordinationsprobleme und ist Spastiker. Und das alles völlig unnötig. Er lebt heute in Ungarn.

Leser: »Habt ihr Kontakt zueinander?«

Na, freilich. Hin und wieder kommt er her, und wenn es sich ausgeht, fahre ich zu ihm. Ich habe mich immer gefreut, einen Bruder zu haben. Auch damals als Fünfjähriger, als er geboren wurde. Obwohl ich, wie vermutlich jedes Kind, das ein jüngeres Geschwisterl kriegt, bald einmal gespürt habe, dass ich eindeutig nicht mehr die erste Geige spiele. Und dass von mir erwartet wird, ich möge mich um den Michl kümmern.

Was ich auf meine Art auch getan hab. Ich habe ihn mitgeschleift. Von seinen Einschränkungen hat man anfangs nichts bemerkt. Der Michl war vielleicht ein bissel langsamer, aber das hat keine Rolle gespielt, für mich war das ganz normal. Wir waren ja nur Buben. Er war einfach dabei. Erst irgendwann viel später, er war sicher schon neun oder zehn, konnte er auf einmal nimmer dabei sein.

Am Land laufen die Dinge anders ab. Man nimmt sie hin und aus. Man akzeptierte sein Los und das der anderen als etwas Gottgewolltes. Ein Unterschied war schon fühlbar, vor allem seitens meines Vaters, aber den konnte wahrscheinlich auch nur ich erkennen, weil ich fünf Jahre lang das allein herrschende Kind in dieser Familie war.

Meine Mutter hat ihr Schicksal angenommen, das ist sie von klein auf gewohnt. Sie stammt aus dem Waldviertel und war das letzte von sieben Kindern. Wie sie noch ganz klein war, hat ihre älteste Schwester schon das erste Kind gekriegt. Sie hat gelernt: Beschwerlichkeiten und jede Art von Anstrengung trägt man, ohne sich groß zu beklagen. Sie steckt alles weg. Bis zum heutigen Tag habe ich von ihr nie ein Jammern gehört. Das verbindet uns. Jetzt ist sie über achtzig, fit und nach wie vor eine beeindruckende Erscheinung. Für mich ist sie eine Heldin. Und eine treue Seele. Die Ehe meiner Eltern hat bis zum Ende bestanden, da gab es für sie nie einen Hauch von Zweifel.

Mein Vater war übrigens gleichzeitig mein Lehrer. Knapp vor meinem Schuleinstieg sind wir zur Abwechslung wieder einmal übersiedelt. So oft, wie wir unseren Hausrat in Kisten gepackt haben, ist es erstaunlich, dass ich kein Spediteur geworden bin, aber gut. Der Vater bekam einen Posten als Oberlehrer der einklassigen Volksschule von Wolfsgraben und dazu eine Dienstwohnung auf der Hinterseite des Gebäudes, in die wir eingezogen sind mit Bomben und Granaten. In einer Schule habe ich auch schon in Rekawinkel gewohnt, diesmal habe ich in meiner Schule gewohnt.

Und ich habe zum ersten Mal ein eigenes Zimmer gehabt. Wobei eigenes Zimmer womöglich ein wenig zu hoch gegriffen ist. Es war sehr klein, ein Durchgangszimmer auf dem Weg von der Küche in den Wohnraum. Aber es hat sich angefühlt, als würde mir auf einen Schlag ein ganzes Haus gehören.

Eine schönbrunnergelbe Villa mit zwei Etagen. Aufgestockt, mit Stufen vor dem Haupteingang, so etwas hatte ich bis dahin überhaupt noch nie. Gleich oben war das Klassenzimmer und dahinter das Lehrmittelkammerl. Von der Wohnung bin ich hinten raus, über eine steinerne Treppe und linker Hand in die Klasse. Das war mein Schulweg, vier Jahre lang.

Und gleich vor der Haustür begann die große, weite Welt. Ein noch riesigerer Garten als in Rekawinkel und noch mehr Freiheit. In Wahrheit: Freiheit ohne Ende. Keine Zäune, keine Grenzen. Es war ein Leben in sagenhafter Unbeschwertheit. Ich war sechs und damit so weit, dass ich meiner Wege gehen konnte. Ich habe den Wald erforscht und in den folgenden Jahren all das erlernt, was ich heute weiß.

Außerdem gab es einen Tischler im Ort, den alten Herrn Lechner, bei dem habe ich eine ganz eigene Lehre gemacht. Er mochte mich gern und ich bin stundenlang bei ihm in der Werkstatt gesessen, habe gerochen, geschaut, zugehört. Er hat mir alles über Bäume erzählt und worauf man aufpassen muss, wenn man das Holz bearbeitet. Wie man es in die Säge steckt, wie es sich verformt, wie es als sauberes Stück herauskommt. Die Effizienz seines Tuns, dieses Augenscheinliche hat mich fasziniert, es war für mich klar, dass ich Tischler werden wollte.

Was man sonst noch in dem Alter wissen muss, hat mir mein Vater beigebracht. In einer einklassigen Volksschule unterrichtet ein Lehrer alle vier Schulstufen, und zwar synchron. Da sitzen in der einzigen Klasse an die dreißig Kinder, praktisch alle Sechs- bis Zehnjährigen aus dem ganzen Dorf. Die erste Klasse war links vorne platziert, die zweite Klasse rechts davon, die dritte links hinten und die vierte rechts daneben. Als Schüler bist du in vier Jahren also in einem Z versetzt worden. Und der Lehrer musste alle gleichzeitig abfertigen.

Ohne System bist du da aufgeschmissen. Mein Vater hat das souverän gemacht, da war er großartig, fast genial. Er stand hinter dem Katheder und beschäftigte die Kinder wie ein Dirigent. Inklusive dem eigenen Sohn.

Leser: »Das war sicher …«

Nein.

Leser: »Du weißt doch noch gar nicht, was …«

O ja. Fragt man mich ja immer wieder: War das nicht seltsam, der Vater gleichzeitig auch der Lehrer? Es war in keiner Weise seltsam. Jeder im Dorf hat gewusst, dass Lehrer auch Kinder haben und dass es keine andere Möglichkeit gab, als sie selber zu unterrichten. Was hätte er auch tun sollen? Mich jeden Tag nach Pressbaum führen, damit er mich nicht bei sich in der Klasse hat? Und ich möchte schon sagen, mein Vater hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich etwas Besonderes wäre, das muss ich ihm schon zu hundert Prozent zugutehalten. Er war weder besonders streng noch besonders nachsichtig. Und meine Aufgaben hat auch nicht er kontrolliert, das hat meine Mutter erledigt.

Lang habe ich mich sowieso nicht mit schulischen Belangen aufgehalten. Mein Leben hat sich draußen abgespielt, im Freien. So schön das Haus war, ich war immer schon mehr in der Natur daheim als irgendwo zwischen Mauern. Der steile Hang, der an der Rückseite des Gebäudes anstieg, führte direkt ins Abenteuer, das unter jedem Baum lauerte, angefangen bei den drei mächtigen Linden oben auf meinem Hügel. Ich kannte alles und jeden in meinem Freiluftparadies. Den erdkellerartigen Holzschupfen, eine dieser Baulichkeiten, wie es sie im lockeren Sandgestein des Wienerwaldes oft gibt. Ich konnte die Vögel unterscheiden, ich hätte jeden Wurm, den sie gefressen haben, mit Namen rufen können. Dort in Wolfsgraben, hinter meinem Schulhaus, habe ich mich glücklich gefühlt.

Und dann waren da noch die Nachbarskinder. Treffpunkt war die Kaisereiche, die steht heute noch. Eine Eiche in Form einer Pappel, ein ganz seltenes Gewächs. Hat nicht lange gedauert, und wir haben eine Bande gegründet, eine böse. Der Hösl-Peppi, der Weißmann-Franzi, der Berry und ein gewisser Wowo. Der war schon zehn, wir anderen waren erst sieben oder acht, deshalb hat er typisch auf Leithammel gemacht. Unser Hauptrevier war ein kleiner Steinbruch hinten beim Friedhof. Dort haben sie vor dem Krieg Steine herausgeklopft, für Bildhauer, wie mir gesagt wurde. Für uns war’s ein Klettergarten, ein Bubenspielplatz, eigens für uns in Stein gemeißelt.

Mit meiner Mutter bin ich auch öfter dort gewesen. Sie ist eine Schwammerlhex, von ihr weiß ich alles über Schwammerln. Die Pilze hat man hier nicht suchen müssen, die sind einem entgegengewachsen. Ich kannte sie auswendig, die guten und die giftigen.

Leser: »Vermutlich, weil du sie alle probiert hast.«

Nein, die Schwammerln nicht. Aber die Tollkirschen. Irgendwann hat irgendwer gesagt, die sind giftig, das war schon einmal interessant. Schuld daran, dass ich sofort eine gefressen hab, war aber was anderes. Es war der Schreck fürs Leben.

Ich war allein unterwegs mit meinem selbst geschnitzten Pfitschipfeil und wollte einen Hasen erschießen. Es gab Unmengen von Hasen in der Gegend rund um den Steinbruch, getroffen hab ich keinen einzigen. Auf einmal höre ich ein Geräusch, steig vom Rad ab, nähere mich dem Unterholz, in dem Moment macht’s Waaaap und es entsteigt dem dichten Gebüsch ein Wildschwein. Wie es mich so anstiert, weiß ich, das ist das Gefährlichste. Dem gehst du weit aus dem Weg. Aber ich steh da, mit dem Rücken zum Baum, mein Radl irgendwo da hinten. Der Eber schaut mich an, ich schau den Eber an. Dann macht er Prraaah und verschwindet im Gebüsch. Ich kann mich kaum rühren vor Erleichterung, auf einmal bleibt er wieder stehen. Und frisst die Tollkirschen, in rauen Mengen. Und was ist? Nix. Denk ich mir: Wenn die Wildsau das Zeug vertragt, wird’s mich schon nicht umbringen.

Geschmeckt hat’s fürchterlich, gespürt hab ich nichts. Aber irgendwie war es hui, vielleicht war ich schwer auf Trip, aber dafür fehlt dir ja das Bewusstsein in dem Alter, deshalb steckst du’s locker weg. Bist halt vergiftet, hab ich mir gedacht, na ja.

Zwischen all den Begegnungen mit Hasen und Hirschen, den Wildsäuen und sonstigen Viechern im Wald bin ich Ministrant geworden. Da gab es kein Entkommen, das ist so am Land. Ratschen und Heilige Drei Könige waren die Highlights. Wir sind um die Häuser gezogen und haben überall was gekriegt. Kein Geld, nur Fressereien. Das war nicht so eine Bettelaktion wie heute, das war ganz normal. Ratschenbuam gibt man was, damit sie halt ratschen. Schokolade, winzige Ein-Schilling-Milkas und Eier, vor allem Eier. Jeder von uns hat sein Rucksackerl gehabt und damit haben wir uns dann an unserem geheimen Treffpunkt beim Transformatorhäuschen eingefunden und alles verputzt. Wir haben Eier hineingestopft, bis wir fast zerplatzt sind.

Aber Ministrant hin oder her, unser heiligster Ort blieb immer noch der Steinbruch. Das war unser Reich, sogar der Förster hat uns in Ruh gelassen. Was vielleicht keine so gute Idee war, weil wir dort klarerweise auch Feuer gemacht haben. Der Wowo hat das gut gekonnt, bei ihm hat es auch gebrannt, wenn der Untergrund nass war. Einmal im Jahr wurde unsere Idylle allerdings für eine Woche gestört.

Da ist eine Horde Pfadfinder eingefallen, hat den Steinbruch als Lagerplatz benutzt, zwanzig Zelte aufgestellt, ein Riesenfeuer gemacht und wir waren ausgebootet. Irgendwann sind wir zu dem Schluss gekommen, es muss was geschehen. Jetzt vertreiben wir sie, die Sozialisten aus Wien, unsere Feinde. Kann ja nicht so schwer sein in Kenntnis der Umgebung, und die in Unkenntnis. Der Anschlag sollte mitten in der Nacht vonstatten gehen, dazu hat natürlich jeder von uns von daheim ausreißen müssen.

Das Treffen ist hochgradig konspirativ. Fünf Attentäter, die einen Überfall beschließen, sobald alle schlafen. Wir schleichen hinten durch den Wald den Berg hinauf bis an den Rand des Steinbruchs, wo es ganz schön runtergeht. Von dort beobachten wir das Geschehen.

Zwei Wächter sitzen beim Lagerfeuer. Sie unterhalten sich und merken nichts. Wir tricksen sie mühelos aus. Wir robben an ihnen vorbei zu den Zelten, ziehen alle Heringe heraus, zack, zack, zack, und schneiden die Schnüre durch, pack, pack, pack.

Die Zelte fallen nicht augenblicklich zusammen, sie stehen bloß wackelig da. So haben wir uns das nicht vorgestellt. Andererseits verschafft uns das Zeit, wir sabotieren noch fünf, sechs Zelte. Auf einmal ist Aufruhr im Lager. Irgendwer hat uns entdeckt. Wir nix wie weg in den Wald, der Finsternis in die schützenden Arme. Dort können sie uns moscherln mit ihren Taschenlampen und sonst keiner Ahnung. Wir häkerln sie noch ein bissel, ein Rascheln hier, ein Zischeln da, die stehen schön auf der Schaufel. Erwischen lassen wir uns nicht.

Mein Vater dürfte etwas geahnt haben. Er ist mir gekommen mit der Sprache des Gewissens. Es habe da eine Beschwerde auf der Gemeinde gegeben, die Pfadfinder hätten was beanstandet, ob ich dazu irgendwas zu sagen hätte?

Ich habe mich empört: »Was? Ich? Nein. Ich habe es auch schon gehört. So was.«

Und das war’s dann. Die Pfadfinder sind nie mehr gekommen.

Insgeheim wird uns der Bürgermeister dankbar gewesen sein. Die Pfadfinder haben sich ihren Proviant mitgenommen und in der Gegend nichts gekauft, was der Wirtschaft in Wolfsgraben dienlich gewesen wäre.

»Schauen Sie«, wird der Bürgermeister dem Fähnchenführer eröffnet haben, »ich kann Ihnen da leider gar nicht helfen, ich weiß nichts, aber scheinbar wird’s so sein, dass Sie hier nicht besonders erwünscht sind.«

Das ist höhere Politik. Wahrscheinlich anbefohlen von den Bundesforsten, weil das Lager ja mitten im Wald war. Eigentlich waren wir dann die Helden.

Es gab überhaupt fast keinen Tag, an dem wir nicht in irgendeiner Mission unterwegs waren. Einmal hatten der Weißmann-Franzi und ich einen Einsatz an dem Bacherl, das beim sogenannten Taborberg fließt, dem Hausberg von Wolfsgraben. Auf einmal greift der Franzi ins Wasser, hält mir ein paar Metallstücke hin und sagt: »Das sind Patronen.« Er hat das schon besser gewusst, weil ihm sein Vater viel vom Krieg erzählt hat. Meiner ja weniger.

»Für was sind Patronen?«, frag ich.

»Das ist das, was im Gewehr drinnen ist«, sagt der Franzi. »Mit dem kannst du schießen. Wenn’s nicht im Gewehr drinnen ist, passiert nichts.«

Sicherheitshalber machen wir trotz dieser Erklärung ein Feuer, ein relativ großes. Wir schmeißen die Patronen hinein, gehen in Deckung, sehen, dass wirklich nichts passiert, und schlafen ein. Wie wir aufwachen, ist das Feuer heruntergebrannt, und plötzlich geht’s los. Puff-puff-puff, paff-paff, tschuhi. Wir sind ganz schnell wieder ganz flach gewesen.

Die Patronen haben uns lange Freude gemacht, die waren ein Hammer. Immer wieder haben wir Feuer gemacht, eins heißer als das andere, und die Patronen dann schon todesmutig auf die Glut gelegt. Es ist nicht so, dass da die Kugeln fliegen, weil das Projektil ja eine Richtung braucht. Meistens hat es nur die Munition zerrissen. Aber manchmal sind Stückerln abgegangen, da hat es die Trümmer schon schön durch die Gegend gepfeffert. Wir haben am Taborberg ein wichtiges Munitionslager entdeckt mit Hunderten Patronen. Heute liegen dort keine mehr. Wir haben alle ins Feuer geworfen. Das war unsere größte Gaudi.

Und unser Geheimnis. Nicht nur vor den Eltern, vor allen. Insbesondere die Schmuck-Buam hätten uns da nie draufkommen dürfen. Das war unsere Gegenbande. Der Schmuck-Fritzl und sein Bruder, und die Hartwegers, der Fritz und der Max, auch zwei Brüder. Einer war der Moderatere, aber böse waren sie alle. Die Underdogs im Dorf, von denen hältst du dich fern, hat es geheißen. Letztlich waren sie halb so wild. Außerdem waren wir dann schon annähernd zwölf und von einem viel dramatischeren Umstand abgelenkt.

Der Mitterstöger, der Wirt, bei dem die Jungen von ganz Wolfsgraben verkehrten, hat das Dorf in Unruhe versetzt, indem er eine Musicbox aufgestellt hat. Die hat alles verändert, mein Leben am meisten.

Die Jukebox war die Innovation des Jahrzehnts. Plötzlich gab es Musik, wann immer man wollte. Normalerweise spielt ein derartiges Gerät nur, wenn man Geld hineinschmeißt, so hat sich das der Wirt ja auch vorgestellt. Aber weil wir nichts hatten, fanden wir einen Weg, das Wunder ohne Geld zu bewerkstelligen, und der alte Mitterstöger hat das zugelassen. Jeden Tag sind wir ins Wirtshaus und haben die Maschine in Gang gesetzt, bevor die älteren Herrschaften gekommen sind, die gesagt haben: »Dreht’s ab die neue Musik.«

Alles haben wir uns angehört, also alles, was die Box hergab. Die ersten Beatles-Lieder, die ersten Stones-Lieder, die Easybeats und die Animals. Ich war fasziniert, vom ersten Augenblick an. Vor allem von House of the Rising Sun und Satisfaction. Da konnte ich nicht widerstehen.

Der Mitterstöger war eine Art Pionier für uns. Alle sind wir bei ihm gesessen, die Guten wie die Bösen. Was damals die Jugend trotz aller Raufereien, die an der Tagesordnung waren, vereint hat, hat er uns zur Verfügung gestellt. Vom Hula-Hoop-Reifen bis zur Jukebox. Im Hula-Hoop war ich übrigens so gut wie unschlagbar. Konnte alle Moves, vom Handgelenk bis runter zu den Knöcheln und wieder rauf. Und im Hintergrund hat Mick Jagger dazu I can’t get no satisfaction gesungen. Die perfekte Untermalung zu einem Leben, das sich noch spielerisch im Kreis dreht, und einer Sehnsucht nach einer Erfüllung von etwas, das man noch gar nicht kennt. Genau das war es, was mein Lebensgefühl ausgemacht hat, damals Mitte der sechziger Jahre.